Was heißt „interkulturelle Literatur“? - bei DuEPublico - Universität ...
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ingen? Anstatt die Unterscheidung von majeure und mineure, d.h. von Zentrum und Peripherie,<br />
grundsätzlich zu hinterfragen, erlaubte es die theoretische Ar<strong>bei</strong>t von Deleuze und Guattari viel-<br />
mehr, den kolonialisierten Schriftsteller als subversiven Innovator zu beschreiben, der die Spra-<br />
che des Feindes untergräbt, um sie so den eigenen Zwecken gefügig zu machen.<br />
Doch wenn man einen Begriff verwendet, muss man, ganz im Sinne der allgemeinen Iterabilität<br />
von Sprache, damit rechnen, dass dieser seinen früheren Gebrauch sowie die Potentiale seines<br />
möglichen Gebrauchs mitführt. So ist der Begriff der littérature mineure in sehr heterogener Weise<br />
in den theoretischen Diskurs aufgenommen worden und dies sogar in offenem Widerspruch zur<br />
gerade genannten grundsätzlichen Definition 76 . Beispielsweise wendet ihn Bernard Leuilliot auf<br />
den mittelalterlichen Unterschied zwischen lateinischer Literatur- und Hochsprache und (franzö-<br />
sischer) Volkssprache an und bedient sich damit gerade der von Deleuze und Guattari ausdrück-<br />
lich ausgeschlossenen Möglichkeit littérature und langue mineure zu verbinden 77 .<br />
Ein zweites mögliches Verständnis des Begriffs, das nicht durch die Ausführungen Deleuzes und<br />
Guattaris gedeckt ist, ist die in ihm angelegte Engführung von Literatur und ästhetischem Wert:<br />
eine littérature mineure wäre in diesem Sinne eine unbeachtete, nicht kanonisierte Literatur 78 . Gera-<br />
de dieser Aspekt verdient erhöhte Aufmerksamkeit, denn er scheint sich aufzudrängen, vor allem<br />
vor dem Hintergrund, dass Deleuze und Guattari mit ihrem Konzept der littérature mineure aus-<br />
drücklich auch deren politischen Impetus beschreiben wollten. Diese Assoziation ist verlockend,<br />
doch irreführend, denn Deleuze und Guattari entwickeln ihre Gedanken ja an Kafka, einem Au-<br />
tor, den man schwerlich nicht zu den kanonisierten rechnen kann 79 . Réda Bensmaia weist auf<br />
diesen Umstand zwar ausdrücklich hin (BENSMAIA 1994, 213), doch verfolgt sie im Laufe ihres<br />
Textes eine Strategie, Kafka als literarhistorisch subversiv herauszustellen, da er als Teil des Ka-<br />
nons gerade die Idee des Kanons radikal verworfen habe (215).<br />
All diese Überlegungen sind für Kafka sicherlich fruchtbar, doch die Frage ist, ob das Deleu-<br />
ze/Guattarische Konzept in dieser Weise gelesen werden kann. Vielleicht hat sich die Rezeption<br />
deshalb so sehr auf diese Aspekte beschränkt, weil sie sich vor allem auf das dritte Kapitel von<br />
Kafka. Pour une littérature mineure bezog, in dem Deleuze und Guattari die drei für sie grundlegen-<br />
den Erkennungsmerkmale einer littérature mineure erläutern: Deterritorialisation, politische Dimen-<br />
sion, kollektiver Wert. Diesen Dreischritt möchte ich im folgenden anhand des Textes von De-<br />
leuze und Guattari untersuchen und da<strong>bei</strong> nahe legen, die genannten Merkmale nicht zuletzt in<br />
ihrer Bedeutung für die Textproduktion wahrzunehmen. Die Rezeption des Konzepts kapriziert<br />
76 Ich beschränke mich hier zum größten Teil auf die Diskussion des Begriffs im Zusammenhang mit der interkulturellen<br />
Literatur, da es ja genau diese Wechselwirkung ist, die mich vordringlich interessiert.<br />
77 Vgl. z.B. LEUILLIOT 2000, 245.<br />
78 In diesem Sinn gebrauchen den Begriff z.B. DESSONS 2000, 213, VAILLANT 2000, 193ff und BENSMAIA 1994,<br />
214f.<br />
79 Der Proceß ist ja sogar Bestandteil des <strong>bei</strong> Suhrkamp 2002 herausgegebenen Kanons Marcel Reich-Ranickis.<br />
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