DAS MOZART-DILEMMA „Die so genannten authentischen Aufführungen sind für mich ein Ding der Unmöglichkeit“, sagt Wundergeigerin Anne-Sophie Mutter. „Wir haben einfach andere Hörgewohnheiten als Mozarts Zeitgenossen und leben nicht in einem Vakuum. Ich kann nicht so tun, als könnten wir die Zeit zurückdrehen und wieder so hören wie die Menschen vor 250 Jahren. Ich bin absolut für die moderne Besaitung der Geige, denn das Instrument erhält ein größeres Spektrum im Hinblick auf das Volumen und auf Klangfarben und Schattierung.“ Aber sie sagt auch: „In einigen späten Mozartsonaten verlangen die schnellen Sätze rasche Tonwiederholungen, und die damaligen Instrumente boten dazu bessere Möglichkeiten als unsere modernen und hatten zudem viel weniger Resonanz. Das sind Aspekte von Mozarts Musik, die wir neu umsetzen müssen. Man spielte also auch einen langsamen Satz in zügigerem Tempo, weil der Klang sonst zu dünn und kaum noch hörbar wurde. Auf einem modernen Klavier und in einem großen Saal muss das Instrument atmen und die Töne aussingen, weil sie sonst überlappen. Ähnliches gilt für die Finalsätze, die wir leider nicht so schnell spielen können, wie es auf einem Instrument aus Mozarts Wie wird man dem großen Universalisten gerecht, fragt sich Peter Korfmacher. Anne-Sophie Mutter bietet einige Antworten. Zeit möglich gewesen wäre.“ Da sind wir also mittendrin im Dilemma. Dass nämlich selbst der Zeitloseste, der Überzeitlichste, selbst Mozart, doch wieder eingeklemmt ist zwischen die Stil- und Besetzungsfragen, die als Ballast der Jahrhunderte auf einer musikalischen Praxis lasten, die sich vor allem anderen mit dem Einst auseinander setzt. Und es immer wieder neu saugfähig machen muss für die Bedürfnisse des Heute. Fürs Hören, Fühlen, Denken von Menschen, die so ganz anders hören, fühlen, denken als die, die lebten, als Mozart seine Musik empfand und erfand. Aber genau das zeichnet sie ja aus. Dass sie es zulässt. Dass es ein letztgültiges „Richtig“ nicht gibt bei diesen wenigen Tönen, die die Welt bedeuten können. Egal ob es die von früher ist oder die von heute. Dass Mozart in allem ist und alles aus Mozart. Mutter: „Seit ich als 13-Jährige bei meinem Debüt mit Herbert von Karajan das wundervolle G-Dur-Konzert aufnahm, gehört Mozart einfach zu meinem täglichen Leben. Sein Geist ist immer präsent. Selbst wenn ich zeitgenössische Werke spiele, und ich habe ständig neue Versuche unternommen, ihm näher zu kommen. Er ist der Komponist, mit dem ich aufgewachsen bin, der immer auf mich gewartet hat, an jedem Punkt meiner Laufbahn.“ Das könnten viele gesagt haben, denn wie sonst nur Bach, Beethoven und (aber nur bei den Pianisten) Chopin ist Mozart der große Universalist. Und weil er der große Universalist ist, lässt er so viel zu. Gardiner und Karajan. Perlman und Mutter. Barenboim und Staier. So unterschiedlich all diese Herangehensweisen sind, so kommen sie doch aus einer gemeinsamen Geisteshaltung: Sie nähern sich Mozart, indem sie bei Mozart beginnen. Beim Notentext, bei der Struktur, ja beim Stil, der erst den Weg zur Seele zeigt. Andere Seelen, andere Wege aber, werden sie beschritten von ernsthaften Könnern, führen immer zum Ziel. Auch Anne- Sophie Mutter hat sich neu auf den Weg gemacht. Ein groß angelegtes Mozart-Projekt schenkt sie sich und uns zum Mozart-Jahr. Mit den Konzerten und den Trios ging es schon im Oktober los. Und der Auftakt ist bemerkenswert. Weil Mutters neuer Weg sie eben doch respektiert, die Segnungen der Originalklangbewegung. Er folgt ihnen nicht sklavisch, aber er saugt allen strukturellen Nektar aus der vermeintlichen Historical Correctness. Und gerade darum geht es doch recht eigentlich. Die ernst zu Nehmenden unter den Darmsaitlern hatten sich nicht auf die Fahnen geschrieben, sie wollten die Musik so klingen lassen, wie sie einst tönte. Das weiß niemand – und wahrscheinlich will es auch niemand wissen. Denn die Bedingungen, mit denen sich Bach, Mozart, auch Beethoven herumzuplagen hatten, wa- ren erheblich unbefriedigender als die, die wir heute vorzufinden gewohnt sind. Gleich, ob wir sie als Interpreten oder als Hörer suchen. Es geht mehr um stilistische Integrität als um Originalklonerei. Und dafür ist es zunächst einmal eher unerheblich, ob die Instrumente modern sind oder alt. Nur muss sich jeder Interpret darüber im Klaren sein und sich Rechenschaft darüber ablegen, dass es damals andere waren. Mutter tut dies. Und sie braucht keine Darmsaiten. Die Musiker vom London Philharmonic Orchestra, das sie selbst leitet, brauchen sie auch nicht. Weil sie die Eigentümlichkeiten von Phrasierung, Dynamik, Tempo, Klang, Atmung übersetzen. Weil sie Mozart aus Mozart schöpfen. Integer, sinnlich, berauschend. Es ist dies ein durchaus neuer Mozart. Einer, der das Beste zweier Welten zusammenbringt. Für Puristen ist er nicht – eher für Kenner, aber das hat ja noch nie geschadet. Und im Übrigen spiegelt sich diese elektrisierend diesseitige und doch geistig durchdrungene Musizierhaltung in der neuen Foto-Ästhetik der Cover, die die Mutter grafisch zwischen Jugendstil und Postmoderne, zwischen Schlichtheit und Üppigkeit, zwischen Symbolismus und Verspieltheit festklemmen. Peter Korfmacher ist Feuilleton- Chef der „Leipziger Volkszeitung“. KlassikLink: mutter www.deutschegrammophon.com/ mutter-mozart www.KlassikAkzente.de 11
Magazin Die Welt vermessen: ULRICH MATTHES Foto: Tim Richmond / Decca 12 www.KlassikAkzente.de