Nr. 112 «Eric» - Frühling 2023 (CH)
Die Vögelchen zwitschern, die ersten Sonnenstrahlen wärmen: Sag dem Frühjahr hallo und schnapp dir deine druckfrische Ausgabe mit hintergründigen Reportagen, spannenden Interviews und jeder Menge LGBTIQ-News. Die Vögelchen zwitschern, die ersten Sonnenstrahlen wärmen: Sag dem Frühjahr hallo und schnapp dir deine druckfrische Ausgabe mit hintergründigen Reportagen, spannenden Interviews und jeder Menge LGBTIQ-News.
Deine Community, dein Team. Nr 112 Frühling 2023 mannschaft.com Eric Glod bringt mehr Queerness in den Profisport Seite 28 Jonathan Groff: «Hollywood steckt gerne in Schubladen» Seite 64 Auf in den Frühling: Der für dich richtige Detox existiert! Seite 42 CHF 20
- Seite 2 und 3: TICKETS AB 14.4. ERÖFFNUNG & CLOSI
- Seite 4 und 5: Mannschaftsaufstellung In dieser Au
- Seite 6 und 7: Story — 1 1 Witze sind ihre Waffe
- Seite 8 und 9: Story — 1 Wenn du schnell beleidi
- Seite 10 und 11: Story — 1 Voller Körpereinsatz:
- Seite 12 und 13: Story — 1 «Mal ein Video lösche
- Seite 14 und 15: ALTER EGO Schreien oder nicht schre
- Seite 16 und 17: LIFESTYLE TREND BIS TRASH Zusammeng
- Seite 18 und 19: KOLUMNE Meine Vatersprache Letztens
- Seite 20 und 21: MANNSCHAFT+ ARTS Foto: zvg Der pink
- Seite 22 und 23: +B MANNSCHAFT+ - WERBUNG BRANDS Bil
- Seite 24 und 25: MANNSCHAFT+ COMMUNITY Bild: zVg War
- Seite 26 und 27: Sei dabei 26. - 29. Juli 2023 eurog
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- Seite 40 und 41: SERIEN Licht am Ende des Tunnels -
- Seite 42 und 43: Story — 3 3 Welche Detox- Blüte
- Seite 44 und 45: Story — 3 Welche Detox-Blüte bis
- Seite 46 und 47: Story — 3 Damit du gleich Beschei
- Seite 48 und 49: Bild: CC BY-SA 4.0 Der digitalfreie
- Seite 50 und 51: Interview Bild: Clifford Prince Kin
Deine Community, dein Team.<br />
<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
mannschaft.com<br />
Eric Glod bringt<br />
mehr Queerness in<br />
den Profisport<br />
Seite 28<br />
Jonathan Groff:<br />
«Hollywood steckt<br />
gerne in Schubladen»<br />
Seite 64<br />
Auf in den Frühling:<br />
Der für dich richtige<br />
Detox existiert!<br />
Seite 42<br />
<strong>CH</strong>F 20
TICKETS AB<br />
14.4. ERÖFFNUNG<br />
& CLOSING NIGHT<br />
17.4. FESTIVAL<br />
25.4. — 4.5.23<br />
ZÜRI<strong>CH</strong><br />
–<br />
5.5. — 7.5.23<br />
FRAUENFELD<br />
–<br />
QUEERES FILMFESTIVAL<br />
Wir leben Diversity.<br />
Auch als Hauptpartnerin von Pink Apple. Die nahe Bank.<br />
zkb.ch/pinkapple
Deine Community, dein Team.<br />
<strong>CH</strong>F 20<br />
Deine Community, dein Team.<br />
<strong>CH</strong>F 20<br />
EDITORIAL<br />
9 Storys,<br />
9 Farben<br />
Der US-Künstler Gilbert Baker<br />
entwarf 1978 die Regenbogenfahne<br />
mit acht Farben<br />
als Symbol für die LGBTIQ-<br />
Community. 2017 – kurz vor<br />
seinem Tod – fügte er der<br />
Fahne eine neunte Farbe hinzu:<br />
Lavendel. Die Farbe solle nach<br />
der Wahl von US-Präsident<br />
Donald Trump ein Zeichen für<br />
Vielfalt setzen, so Baker.<br />
Neun Storys bilden das Herzstück<br />
der MANNS<strong>CH</strong>AFT und<br />
stehen jeweils für eine Farbe<br />
dieser neuen Regenbogenfahne.<br />
Nach wie vor im Magazin<br />
vertreten sind unsere verschiedenen<br />
Rubriken zu Film,<br />
Lifestyle, Literatur, Musik und<br />
Serien sowie aktuelle Meldungen<br />
aus der Community.<br />
MANNS<strong>CH</strong>AFT MAGAZIN<br />
<strong>Nr</strong>. <strong>112</strong>, Frühling <strong>2023</strong><br />
Das LGBTIQ-Magazin für die<br />
Schweiz, Deutschland, Österreich<br />
und Liechtenstein.<br />
Eric Glod bringt<br />
mehr Queerness in<br />
den Profisport<br />
Seite 28<br />
Jonathan Groff:<br />
«Hollywood steckt<br />
gerne in Schubladen»<br />
Seite 64<br />
Auf in den Frühling:<br />
Der für dich richtige<br />
Detox existiert!<br />
Seite 42<br />
<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
mannschaft.com<br />
Kelela: «Kirche<br />
und Club sind beides<br />
Orte der Erlösung»<br />
Seite 50<br />
Mit Comedy rüttelt<br />
Shaden Fakih<br />
den Libanon auf<br />
Seite 6<br />
Auf in den Frühling:<br />
Der für dich richtige<br />
Detox existiert!<br />
Seite 42<br />
<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
mannschaft.com<br />
Foto: Raffi p.n. Falchi<br />
Liebe Mannschaft<br />
Im Englischen gibt es einen Ausdruck, der mir besonders gefällt:<br />
«Trailblazer». Wortwörtlich übersetzen lässt sich die Bezeichnung<br />
etwa mit «Pionier», «Vorreiter» oder «Wegbereiter». Inhaltlich<br />
sind es korrekte Übersetzungen, figurativ greifen sie jedoch etwas<br />
kurz. Unter «blazing» verstand man ursprünglich das Markieren<br />
von Bäumen mit einem Messer, um einen neuen Trail, einen Weg,<br />
zu signalisieren. «Blaze» bedeutet auf Englisch aber auch «loderndes<br />
Feuer» oder «lichterloh brennen». Somit ist das Bild eines<br />
Trailblazers in meiner Vorstellung ziemlich lebhaft: Eine Person,<br />
die sich mit Feuer und Flammen einen neuen Weg brennt, wo es<br />
vorher keinen gegeben hat.<br />
In unserer Frühlings-Ausgabe wimmelt es nur so von Trailblazern.<br />
Da wäre zum einen Eric Glod, professioneller Tischtennisspieler,<br />
der Queerness im Profisport sichtbar machen will<br />
(Seite 28). Zum anderen haben wir Shaden Fakih, die als Stand-up-<br />
Comedienne Korruption, toxische Männlichkeit und die Unterdrückung<br />
der Frau im Libanon anprangert (Seite 6). Schauspieler<br />
Jonathan Groff und Ben Aldridge bringen in M. Night Shyamalans<br />
Film «Knock at the Cabin» eine Regenbogenfamilie mit einer<br />
Selbst verständlichkeit auf die Leinwand, die in Holly wood-<br />
Produktionen ihresgleichen sucht (Seite 64). Torsten Poggenpohl<br />
klärt auf über bipolare Störungen und die Selbststigmatisierung<br />
von Menschen mit HIV in der Community (Seite 74). Last but not<br />
least sind auch die unzähligen trans Aktivist*innen unerschütterliche<br />
Trailblazers, die nicht nur einen Weg, sondern gleich eine Autobahn<br />
brennen für kommende Generationen von trans Personen<br />
(Seite 56).<br />
Du siehst, unsere Frühlings-Ausgabe ist vollgepackt mit<br />
inspirierenden Geschichten. Die ganze Redaktion wünscht dir<br />
eine anregende Lektüre.<br />
Eric<br />
Foto: Agnieszka Tunnissen<br />
Kelela<br />
Foto: Justin French<br />
<br />
Greg Zwygart, Co-Chefredaktor<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
3
Mannschaftsaufstellung<br />
In dieser Ausgabe haben unter anderem diese Personen<br />
für uns geschrieben und fotografiert<br />
Was findet sich in einem<br />
Laden, der sich auf<br />
Kondome und Erotikartikel<br />
spezialisiert hat? Cesare<br />
Macri hat für uns die<br />
Condomeria besucht.<br />
→ Seite <strong>112</strong><br />
Stella<br />
Männer<br />
Die Journalistin Stella Männer<br />
lebt seit zwei Jahren im Libanon<br />
und berichtet aus Krisenländern.<br />
Am liebsten erzählt<br />
sie Geschichten von Menschen,<br />
die etwas verändern wollen. So<br />
wie die Comedienne Shaden<br />
Fakih. → Seite 6<br />
Martin Busse, unser Fachmann<br />
in Sachen Seelenleben und Musik,<br />
hat die heissesten unter den neuen<br />
queeren Alben ausgewählt und<br />
eine Frühjahrsplaylist zusammengestellt.<br />
→ Seite 54<br />
Julia Monro ist Menschenrechtsaktivistin,<br />
die<br />
sich für geschlechtliche<br />
Vielfalt engagiert, um<br />
Transfeindlichkeit abzubauen<br />
und einen sensiblen<br />
Umgang mit trans<br />
Personen zu fördern. Sie<br />
hat für uns über den<br />
Transgender Day of<br />
Visibility geschrieben.<br />
→ Seite 56<br />
Sarah Stutte ist Radio- und<br />
Filmjournalistin. Als Kind zog<br />
sie mit ihrer Familie von<br />
Deutschland in die Schweiz: in<br />
ein kleines Dorf im Kanton<br />
Wallis. Wie das für sie war, hat<br />
sie in einem persönlichen<br />
Essay beschrieben.<br />
→ Seite 122<br />
In Steffen Rüths Terminkalender<br />
stehen Namen wie Adam Lambert, Jessie<br />
Ware oder Herbert Grönemeyer. Für uns<br />
hat der freie Journalist mit Avantgarde-<br />
Star Kelela gesprochen. → Seite 50<br />
Kolumnen:<br />
Bi the way, 18<br />
Die trans Perspektive, 82<br />
Reden ist Gold, 99<br />
4 Frühling <strong>2023</strong>
Storys<br />
1 2 3<br />
Libanon<br />
Witze sind<br />
ihre Waffe<br />
6<br />
4 5 6<br />
Community<br />
Der trans<br />
Tag<br />
56<br />
7<br />
Die Schlacht<br />
um den<br />
Stern<br />
Sport<br />
«Im Profisport<br />
müssen wir<br />
unseren<br />
eigenen Weg<br />
gehen dürfen»<br />
28 42<br />
Gesundheit<br />
Wenn die<br />
Synapsen<br />
Karneval<br />
feiern<br />
74 84<br />
8 9<br />
Zu Besuch<br />
bei Madame<br />
Condomeria<br />
Lifestyle<br />
Welche<br />
Detox-Blüte<br />
bist du?<br />
Fotografie<br />
Sprache Lust Essay<br />
«Ich zeige<br />
den verborgenen<br />
Teil der<br />
Welt»<br />
Im Paradies<br />
des Teufels<br />
100 <strong>112</strong> 122<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
5
Story — 1<br />
1<br />
Witze<br />
sind ihre<br />
Waffe<br />
6 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 1<br />
Text: Stella Männer<br />
Fotos: Aline Deschamps<br />
Für die libanesische Comedienne<br />
Shaden Fakih gibt es keine Tabus:<br />
Auf der Bühne macht sie Witze über<br />
die korrupte Elite ihres Landes, toxische<br />
Männlichkeit, die Menstruation<br />
und Sex. Damit ist sie zum Star der<br />
queeren Szene und zur Provokation<br />
für die libanesischen Behörden geworden.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
7
Story — 1<br />
Wenn du schnell beleidigt bist, ist diese Veranstaltung nichts<br />
für dich – dieser Satz steht in dicker weisser Schrift auf einem<br />
schwarzen Aufsteller vor dem Eingang des Théâtre Tournesol im<br />
Beiruter Stadtteil Tayouneh. Er ist Warnung und Versprechen zugleich:<br />
Der heutige Abend wird abseits gesellschaftlicher Normen<br />
verlaufen.<br />
Drinnen, auf der Bühne des ausverkauften Theaters, steht die<br />
30-jährige Comedienne Shaden Fakih und erzählt, dass sie eine<br />
eineiige Zwillingsschwester hat. Die Leute würden immer gleich<br />
reagieren, sagt sie. Immer würden sie wissen wollen, ob ihre<br />
Zwillingsschwester auch lesbisch sei. «Wer hat denn überhaupt<br />
gesagt, ich sei lesbisch?», ruft Shaden ins Publikum. «Meine Mutter<br />
sagt doch, es sei alles nur eine Phase.» Sie macht eine kurze<br />
Pause, dann fügt sie hinzu: «Es ist wie mit dem Staatsversagen<br />
im Libanon – alles nur eine Phase». Applaus und Lachen aus dem<br />
Publikum.<br />
Wirtschaftskrise, politisches Machtvakuum, Explosion im<br />
Hafen – der Libanon gerät oft wegen negativer Ereignisse<br />
in die Medien.<br />
Sie spricht aus, was andere sich nur zu denken trauen<br />
Shaden Fakih ist eine der wenigen weiblichen Comediennes im<br />
Libanon. Vor gerade mal sechs Jahren stand sie das erste Mal<br />
auf einer Bühne, mittlerweile ist fast jede ihrer Shows in Beirut<br />
ausverkauft. 2022 tourte sie durch Europa, trat unter anderem in<br />
Paris, Berlin und Amsterdam auf. Und Shaden ist eine der wenigen<br />
Personen des öffentlichen Lebens im Libanon, die über ihre<br />
Homosexualität spricht. Auf der Bühne macht sie Witze über die<br />
Menstruation, queeren Sex und korrupte libanesische Politiker.<br />
Shaden ist Teil einer Gruppe junger Libanes*innen, die in den<br />
Medien neben den Meldungen über die Wirtschaftskrise, den<br />
politischen Zerfall des Landes und die Explosion im Hafen von<br />
Beirut 2020 kaum Gehör findet. Es ist eine Generation, der Frauen-<br />
und LGBTIQ-Rechte wichtiger sind als eine Politik entlang<br />
alter religiöser Konfliktlinien. Shaden spreche Dinge aus, die sich<br />
viele Libanes*innen nur zu denken trauen, sagen ihre Fans.<br />
Auf der Bühne des Theaters ist Shaden zum ersten Mal seit<br />
einer dreiviertel Stunde für einen kurzen Moment still. Sie wirft<br />
ihren Kopf vorne über, bindet die langen braunen Haare hoch<br />
und fächert sich mit der Hand Luft zu. Während sie erzählt hat,<br />
ist sie in energischen Schritten über die Bühne gelaufen und hat<br />
das Mikrofon benutzt, um einen Penis zu imitieren. Jetzt läuft ihr<br />
Schweiss über Gesicht und Nacken. Als nächstes erzählt Shaden<br />
einen Witz, den sie lieber nicht in einer Zeitschrift abgedruckt<br />
sehen möchte. Es geht um Gott und um Sex.<br />
Für ihre Witze musste sie sich vor dem<br />
Militärgericht verantworten<br />
Begonnen hat Shadens Karriere vor sechs Jahren bei einem Poetry-Slam-Event.<br />
Shaden sass damals im Publikum und hörte den<br />
Speaker*innen zu. Als die Bühne zum Schluss der Veranstaltung<br />
8 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 1<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
9
Story — 1<br />
Voller Körpereinsatz:<br />
Während<br />
sie spricht, läuft<br />
Shaden mit energischen<br />
Schritten<br />
über die Bühne.<br />
10 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 1<br />
«Comedy ist mein Anteil<br />
im Kampf für einen sozialen<br />
und politischen Wandel.»<br />
für das Publikum geöffnet wurde, ging sie spontan zum Mikrofon<br />
und erzählte von ihrem Coming-out. Die Ironie, mit der sie ihre<br />
Worte wählte, brachte das Publikum zum Lachen. «Ich wusste<br />
damals noch nicht, dass meine Art zu Erzählen Stand-up-Comedy<br />
ist. Es hat sich einfach natürlich angefühlt. Für mich war es<br />
normal, Pointen in meine Sätze zu packen. Ich habe erst später<br />
verstanden, was an meinen Sätzen die Leute zum Lachen bringt»,<br />
erinnert sie sich.<br />
Nach ihrem Auftritt fragten die Veranstalter sie als Speakerin<br />
für ihr nächstes Event an. Shaden sagte zu, genau wie zum nächsten<br />
Angebot, einem 30-Minuten-Auftritt bei einem Fundraising-<br />
Event. Zwei Wochen vor dem Auftritt bekam sie plötzlich Panik:<br />
«Ich hatte noch nie zuvor ein Stand-up-Programm geschrieben,<br />
wie sollte das gehen?», erinnert sie sich. Also versuchte sie, den<br />
Auftritt abzusagen. Doch der Veranstalter hatte bereits die Poster<br />
mit ihrem Namen gedruckt. Es war zu spät. «Das war mein<br />
Glück», sagt Shaden. «Dieses 30-Minuten-Programm war der Anfang<br />
von allem.» Als sie auf der Bühne stand, war die Panik verflogen<br />
und in Shadens Kopf nur noch ein Gedanke: «Das ist es, das<br />
ist meine Bestimmung.»<br />
Es folgten erste Auftritte in Bars und Theatern. Bald bekam sie<br />
immer höhere Gagen und in ihrem Kopf wuchs ein neuer Gedanke:<br />
«Fuck this! Ich werde meinen Job kündigen». Shaden arbeitete<br />
als Texterin in einer Werbeagentur. Ihre Kreativität zu nutzen,<br />
um mit Werbung den Kapitalismus anzukurbeln – davon hatte sie<br />
schon lange genug. Also ging sie zu ihrem Vorgesetzten, kündigte<br />
und gab ihm bei der Gelegenheit den Tipp mit auf den Weg, einen<br />
respektvolleren Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen zu lernen.<br />
«Dann versuch doch, anderswo mehr Geld zu verdienen», habe<br />
ihr der Chef zum Abschied gesagt. «Und es hat geklappt», sagt<br />
Shaden und lacht. Sich Vollzeit auf Stand-up-Comedy konzentrieren<br />
zu können, habe ihrer Karriere einen «Boost» gegeben.<br />
Sie fragte die Sicherheitsbeamten nach Slipeinlagen<br />
Doch nicht allen gefällt Shadens Erfolg. 2021 nahmen die libanesischen<br />
Behörden sie fest und verhörten sie. Der Vorwurf: Shaden<br />
habe dem öffentlichen Ansehen der Sicherheitskräfte geschadet.<br />
Sie beriefen sich auf ein Video, das Shaden während des Corona-Lockdowns<br />
auf ihrem Instagram-Account gepostet hatte. Die<br />
libanesische Regierung hatte damals spät auf die Coronavirus-<br />
Pandemie reagiert. Nach der Explosion im Hafen der Hauptstadt<br />
stand der Wiederaufbau der Stadt im Vordergrund. Während es<br />
in vielen anderen Teilen der Welt Ausgangssperren gab, führten<br />
die libanesischen Politiker kaum Beschränkungen ein. Erst als<br />
die Infektionszahlen Anfang 2021 extrem anstiegen, verhängte<br />
die Regierung von einem Tag auf den anderen einen mehrwöchigen<br />
kompletten Lockdown. Das Haus zu verlassen war fortan<br />
verboten, nicht einmal die Supermärkte durften öffnen. Viele in<br />
der Bevölkerung fragten sich, wie sie sich versorgen sollten.<br />
Also wählte Shaden die Nummer der libanesischen Sicherheitskräfte<br />
und fragte die Militärbeamten auf der anderen Seite,<br />
ob sie ihr Slipeinlagen vorbeibringen könnten. Sie habe ihre Tage,<br />
könne aber nirgends Periodenprodukte kaufen. Das Video des<br />
Anrufs, das Shaden auf Instagram veröffentlichte, ging viral. Im<br />
Juni 2022 folgte auf ihre Festnahme ein Prozess vor dem Militärgericht.<br />
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International<br />
kritisierte die Vorladung als Angriff auf die Meinungsfreiheit. In<br />
der Verhandlung wurde Shaden zu einer Geldstrafe von 1,8 Millionen<br />
libanesischen Pfund verurteilt, was etwa dem Monatslohn<br />
eines Soldaten entspricht. Durch die Inflation war der Betrag damals<br />
auf dem Schwarzmarkt allerdings nur noch knapp 50 Euro<br />
wert.<br />
«Das war es wert», sagt Shaden heute. «All diese Männer in<br />
dem verdammten Gericht mussten sich in der Verhandlung anhören,<br />
wie ich über die Periode spreche, was für ein Erfolg!» Shaden<br />
lacht, ihre rauchige Stimme klingt mittlerweile heiser. Die<br />
Show im Théâtre Tournesol ist zu Ende. Shaden sitzt vor der Eingangstür<br />
des Theaters. Während sie von der Verhandlung erzählt,<br />
zieht sie immer wieder an einer Zigarette. Hatte sie keine Angst<br />
vor schlimmeren Konsequenzen? «Ich fühle keine Angst», sagt<br />
Shaden. «Wirklich nicht».<br />
«Sie verdrängt die Gefahr nur», Shadens Zwillingsschwester<br />
Bane unterbricht das Gespräch. Während der Show hat sie im<br />
Publikum gesessen, sie hat gewartet, als Shaden Fotos mit ihren<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
11
Story — 1<br />
«Mal ein Video<br />
löschen, ok,<br />
aber aufhören?<br />
Niemals! »<br />
«Alle um sie herum leben in ständiger Angst, dass Shaden etwas zustossen könnte»,<br />
sagt Bane (unten) über ihre Zwillingsschwester Shaden (oben).<br />
12 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 1<br />
Fans gemacht hat, jetzt möchte sie eigentlich los. «Alle um sie herum<br />
leben in der ständigen Angst, dass Shaden etwas zustossen<br />
könnte», führt sie fort. «Es gibt so viele Fanatiker da draussen, die<br />
Menschen im Namen Gottes umbringen, für Dinge, die viel harmloser<br />
sind als die Witze, die Shaden erzählt.»<br />
Unter Shadens Videos auf Youtube ist allzu sichtbar, wovon<br />
Bane spricht. Neben Zuspruch («Du bist die Beste») sammeln sich<br />
hier auch Hasskommentare. Menschen bezeichnen sie als «Schande»<br />
und als «moralischen Abschaum», drohen ihr, sie solle Allah<br />
aus ihren Witzen raushalten und sprechen ihr das Recht ab, Muslima<br />
zu sein.<br />
Und der Hass bleibt nicht im Internet: Die gewaltbereite rechtsradikale<br />
christliche Gruppe Jnoud el-Rabb drohte damit, einen ihrer<br />
Auftritte zu stürmen. Die selbsternannten Soldaten Gottes sehen<br />
Homosexualität als das Werk Satans an und kämpfen für die<br />
Ausrufung eines sogenannten «christlichen Staates» im Libanon.<br />
Um Shaden zu schützen, war auch an diesem Abend ein Team<br />
aus Bodyguards vor Ort. Vor dem Einlass kontrollierten die Männer<br />
die Taschen aller Zuschauer*innen, während der Show liefen<br />
sie durch die Reihen und stellten sicher, dass niemand Ton- oder<br />
Videoaufnahmen machte, die an die Öffentlichkeit geraten und<br />
gegen Shaden verwendet werden könnten. Und sie standen vor<br />
der Bühne, um zu verhindern, dass jemand auf Shaden springt.<br />
«Ich glaube nicht, dass ich jemals aufhören werde», sagt Shaden.<br />
«Mal ein Video löschen, ok, aber aufhören? Niemals! »<br />
Die Kindheit ist geprägt vom kreativen Spiel<br />
Ein paar Wochen später in Hamra, einem muslimischen Stadtteil<br />
am anderen Ende von Beirut. Shadens Zwillingsschwester Bane<br />
sitzt auf dem Balkon der Familie Fakih. Hinter ihr geht die Sonne<br />
im Mittelmeer unter. «Shaden war schon immer selbstbewusst»,<br />
erzählt sie, und: «Sie war schon immer eine Performerin.» Ihre<br />
gemeinsame Kindheit sei von kreativen Spielen geprägt gewesen.<br />
Als Kinder entwickelten Shaden und Bane fiktive Charaktere, die<br />
sie in Theaterstücken auftreten liessen, als Teenager gründeten sie<br />
eine Band: Bane spielte Gitarre und Shaden sang. Aus dieser kindlichen<br />
Kreativität könnten sie beide noch heute in ihre Arbeit<br />
schöpfen, erzählt Bane. Die 30-Jährige arbeitet als Drehbuchautorin<br />
für internationale Film- und Serienproduktionen.<br />
«Unsere Eltern haben diese Kreativität gefördert, selbst wenn<br />
wir Müll produziert haben. Wollte eine von uns ein selbstgemaltes<br />
Bild wegwerfen, haben sie gesagt: Ich möchte es kaufen», erinnert<br />
sich Bane. «Unsere Band war maximal mittelmässig. Trotzdem<br />
haben sie all ihre Freunde zu unseren Auftritten eingeladen.»<br />
Nicht immer seien die Eltern einer Meinung mit ihren Töchtern<br />
gewesen, erzählt Bane, aber sie hätten sie immer ernst genommen.<br />
Etwa als sie sich als erste der beiden Schwestern als<br />
lesbisch outete. Stundenlang habe ihr Vater mit ihr diskutiert,<br />
erinnert sich Bane. «Das Gespräch hat er aber mit den Worten begonnen:<br />
Du kannst werden, wer du willst, ich werde dich immer<br />
lieben.» Die Eltern schärften auch das Bewusstsein ihrer Kinder<br />
für die politischen Geschehnisse im Land. Als 2005 der libanesische<br />
Ministerpräsident Rafiq Hariri bei einem Sprengstoffattentat<br />
getötet wurde, in das höchstwahrscheinlich Mitglieder des<br />
syrischen Geheimdienstes verwickelt waren, nahm die Mutter sie<br />
mit auf eine Demonstration gegen die politische Einflussnahme<br />
anderer Länder im Libanon. «Mein Vater hat sich mit uns hingesetzt,<br />
eine 14-teilige Dokumentation über den libanesischen<br />
Bürgerkrieg mit uns geguckt und danach all unsere Fragen beantwortet»,<br />
erinnert sich Bane.<br />
Der Blick für das Politische um sie herum ist Shaden geblieben:<br />
«Politik in Comedy zu verpacken, macht sie zugänglicher»,<br />
erklärt sie. «Die Menschen im Libanon sind müde. Wir mussten<br />
mit ansehen, wie die Verbrecher, die für die Explosion im Hafen<br />
verantwortlich sind, einfach so ins Parlament zurückgekehrt<br />
sind, ohne juristisch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit<br />
Comedy kann man Menschen noch erreichen. Comedy ist mein<br />
Anteil im Kampf für einen sozialen und politischen Wandel.»<br />
Schöpfen heute<br />
aus ihrer kreativen<br />
Kindheit: Bane<br />
(Mitte) und Shaden<br />
(rechts).<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
13
ALTER EGO<br />
Schreien oder nicht schreien –<br />
das ist hier die Frage<br />
Ich bin mit unserem Weimaraner in einem bei Hunden ebenso<br />
wie ihren Menschen beliebten Wald unterwegs und schätze<br />
einmal mehr, dass in unserer Stadt keine allgemeine Leinenpflicht<br />
herrscht. Zu spät sehe ich allerdings, dass die Dame, die mir<br />
entgegenkommt, ihr Pudelchen an der Leine hält und es panisch<br />
hochhebt, als unser Hund auf sie zusteuert.<br />
Dame: Rufen Sie bitte Ihren Hund zurück!<br />
Alter Ego: Oh nein, bitte nicht schon wieder.<br />
Ich pfeife, aber das Verhalten der Frau hat unseren Hund<br />
natürlich erst recht neugierig gemacht. Verzweifelt streckt sie den<br />
Pudel, der nicht weiss, wie ihm geschieht, in die Höhe.<br />
Dame (lauter): Jetzt rufen Sie Ihren Hund ab!<br />
Ich (beruhigend): Sie brauchen keine Angst zu haben.<br />
Dame (zu unserem Hund): Kschsch! Geh weg! Geh weg!<br />
Ich: Er will doch nur Hallo sagen. Er ist wirklich ganz lieb.<br />
Dame (giftig): Ja, das sagen immer alle.<br />
Alter Ego: Jetzt ganz ruhig bleiben. Nicht provozieren lassen.<br />
Ich: Ist Ihre Hündin denn läufig, oder was?<br />
Alter Ego: Lass das doch!<br />
Dame (empört): Es ist ein Rüde!<br />
Alter Ego: Okay, Fifi will nicht spielen. Gehen wir weiter.<br />
Ich: Dann lassen Sie ihn doch runter, damit sie sich beschnüffeln<br />
können.<br />
Alter Ego: *Seufz*<br />
Dame: Nein, ich mag das nicht. Das ist ekelhaft.<br />
Alter Ego (schliesst die Augen): Bitte, bitte, sag jetzt nichts.<br />
Ich sage nichts, weil mir die Spucke weggeblieben ist.<br />
Die Dame versucht hektisch, ihren Pudel ausser Reichweite<br />
unseres Hundes zu halten, was dieser als Aufforderung zum<br />
Spielen interpretiert und fröhlich bellt.<br />
Dame: Es gibt Regeln, wissen Sie? Wenn ein Hund an der<br />
Leine ist, leint man seinen auch an. Ein Rüpel sind Sie!<br />
Ich knirsche mit den Zähnen.<br />
Dame: Manche Leute sollten einfach keine Hunde haben!<br />
Ich bleibe stehen.<br />
Alter Ego: Geh. Bitte. Weiter.<br />
Ich drehe mich um.<br />
Alter Ego: Nein, nein, nein!<br />
Die wüstesten Beschimpfungen tanzen mir schon<br />
auf der Zunge. Ich möchte Drohungen und Verwünschungen<br />
ausstossen.<br />
Ich: Sie sind . . . Sie sind . . .<br />
Mein Alter Ego hält sich die Ohren zu.<br />
Ich: Sie tun mir leid.<br />
Und damit lasse ich die Frau stehen.<br />
Mein Alter Ego schaut mich erstaunt an.<br />
Alter Ego: Siehst du, es geht doch auch souverän.<br />
Ich: Ach, halt doch die Klappe!<br />
Text: Mirko Beetschen<br />
Illustration: Dominik Schefer<br />
Dame (kreischend): Nehmen Sie Ihren verdammten Köter weg!<br />
Sie versucht, nach unserem Hund zu treten. Alarmiert<br />
laufe ich hin, nehme ihn an die Leine und ziehe ihn weg.<br />
Alter Ego: Gut, und jetzt Abgang.<br />
Mit einem zornigen Blick zu der Frau wende ich<br />
mich ab und gehe.<br />
Mirko Beetschen ist Schriftsteller<br />
– ausgezeichnet mit dem<br />
Literaturpreis des Kantons Bern.<br />
Er liebt Design und Architektur,<br />
seinen Weimaraner Adalbert und<br />
Kater Elliot.<br />
– alterego@mannschaft.com<br />
14 Frühling <strong>2023</strong>
Queere News,<br />
jeden Tag!<br />
Die APP jetzt herunterladen und informiert bleiben.<br />
mannschaft.com
LIFESTYLE<br />
TREND BIS TRASH<br />
Zusammengestellt von der<br />
MANNS<strong>CH</strong>AFT-Redaktion.<br />
Fisch frische Fische<br />
Na, wie läuft dein Dating-Leben so? Falls du nur faule<br />
Fische an Land ziehst, könnte der Trend «Open Casting»<br />
interessant für dich sein. Öffne dich für Personen,<br />
die auf den ersten Blick nicht dein*e Typ*in sind und<br />
«give personality a chance».<br />
Raus aus dem mickrigen Dating-Pool,<br />
auf ins offene Menschenmeer.<br />
Bild: Keyi Tech<br />
Bild: Withings<br />
Loona,<br />
das Robo-Haustier<br />
Für einsame Seelen, die es gern bequem haben, womöglich<br />
das perfekte Haustier: Loona ist ein Roboter, der sich wie ein<br />
Haustier verhält, spielt, niest, Gegenstände neugierig untersucht,<br />
zudem tanzt, beatboxt und für Fotos posiert.<br />
An alle Golden Retriever und Hauskätzchen<br />
da draussen: Haltet die Ohren steif.<br />
Krasse Kondome<br />
Wie viel ist uns die Umwelt wert? Wollen wir<br />
Kondome, die aussehen wie intergalaktische<br />
Waffen, die gereinigt und wiederverwendet<br />
werden können? Und wie das wohl die<br />
sexnachfolgende Person findet?<br />
Irgendwie: Nö. Autsch. Pfui.<br />
Bild: SXOVO<br />
16 Frühling <strong>2023</strong>
LIFESTYLE<br />
Bild: Nova Audio<br />
Perlen, die singen und klingen<br />
Audio-Ohrringe aus München erobern gerade das Internet. Es sind die<br />
weltweit ersten Kopfhörer, die in ein Paar Perlenohrringe integriert<br />
sind. In Silber oder Gold, zum Anstecken oder für gepiercte Ohren.<br />
Aber Ohrbacht: Für die dollen Dinger greifen die<br />
Finger tief, tief in den Geldbeutel.<br />
Bild: AdobeStock<br />
Bild: Ron Lach, Pexels<br />
Pinkel dich<br />
gesund<br />
Stell dir vor, du urinierst ins Klo<br />
und dein Handy sagt dir, welche<br />
Nährstoffe dir fehlen, ob du<br />
mehr Wasser schlürfen sollst<br />
oder Gemüse knabbern? U-Scan,<br />
die Urinanalyse für zuhause, kann<br />
genau das und kommt in der zweiten<br />
Jahreshälfte auf den Markt.<br />
Pinkeln wir uns bald gesund<br />
oder verrückt?<br />
Schwarz, schwarz,<br />
schwarz . . .<br />
. . . sind alle meine Kleider. Schwarz,<br />
schwarz, schwarz ist alles, was ich hab.<br />
Darum lieb ich alles, was so schwarz ist,<br />
weil mein Schatz ein*e Trendsetter*in ist.<br />
Nach dem quietschpinken Barbie-Core<br />
kommt die schwarze<br />
Wednesday-Welle.<br />
Bild: Loewe<br />
Sprechende Schuhe<br />
Diese Saison sind Schuhe ein Statement. Zwischen Absätzen<br />
wie Skulpturen, Materialen von glitzerglatt bis wuschelweich<br />
und anderweitigen extravaganten Experimenten irritierte uns<br />
etwa das Luftballon-Modell von Loewe.<br />
Zu schreienden Schuhen empfehlen wir leise<br />
Leibchen und schlichte Kleidchen.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
17
KOLUMNE<br />
Meine Vatersprache<br />
Letztens moderierte ich ein Podium,<br />
und einer meiner Gäste, eine<br />
nicht-binäre Person, erklärte dem Publikum:<br />
«Meine Elternsprache ist Französisch.»<br />
Da realisierte ich: Ja, klar, das Wort<br />
«Muttersprache» ist gegendert. Ein Tag<br />
nach der Moderation lerne ich: In vielen<br />
anderen Sprachen sagt man ebenfalls<br />
«Muttersprache». Fachpersonen vermuten,<br />
dass das mit der Ansicht zu tun hat,<br />
dass es die Mutter sei, die einen aufzieht,<br />
und dass die Sprachentwicklung ja schon<br />
im Mutterleib beginne.<br />
Versteht mich nicht falsch, das ist<br />
jetzt nicht ein Riesending oder so, aber:<br />
Das Beispiel zeigt uns doch sehr fest, welche<br />
Konzepte von Geschlecht in unserer<br />
Wortwahl verborgen sind. Angefangen<br />
beim «Mutterleib»: Ich erinnere uns alle<br />
gern daran, dass Körper kein Geschlecht<br />
haben und dass auch nicht-binäre Menschen<br />
und trans Männer schwanger sein<br />
können (und dass es Mütter gibt, die<br />
selbst nicht schwanger waren). Schwangerschaft<br />
ist nicht dasselbe wie Mutterschaft.<br />
Die Ansicht, dass ein Kind von der<br />
Mutter aufgezogen wird, ist in Wirklichkeit<br />
auch nur eine von sehr vielen Möglichkeiten,<br />
aufzuwachsen – hat ein Kind mit zwei<br />
Vätern denn eine Vatersprache?!<br />
Viel mehr Sinn würde es machen,<br />
bei Eltern unterschiedlicher Herkunft von<br />
Mutter- und Vatersprache zu reden. Meine<br />
Muttersprache etwa ist Schweizerdeutsch,<br />
genauer: Zürcher Dialekt, auf<br />
den meine Mutter stets bestand, während<br />
wir in der Ostschweiz aufwuchsen (Dialekte<br />
in der Schweiz: ein ernstes Thema).<br />
Meine Vatersprache hingegen ist Hebräisch;<br />
nicht, weil ich zweisprachig aufgewachsen<br />
wäre, sondern weil mein Vater,<br />
gebürtiger Israeli, mit seinen Freund*innen<br />
und Verwandten Hebräisch sprach;<br />
meine Kindheit war geprägt vom Zuhören<br />
bei stundenlangen Telefonaten, Hebräisch<br />
war allgegenwärtig, wurde mir aber<br />
nie beigebracht. Das führt zu einem lustigen<br />
Phänomen: Wenn ich irgendwo Hebräisch<br />
höre, überkommt mich ein kindliches<br />
Gefühl der Vertrautheit – aber<br />
verstehen tu ich beinahe nichts. Ich glaube,<br />
wenn mich irgendwer mal bezirzen<br />
und zu etwas überreden wollen würde,<br />
hätte die Person auf Hebräisch am meisten<br />
Chancen. Ich würde zwar nicht verstehen,<br />
worum es geht, aber ich wäre voll<br />
dabei.<br />
Gleichzeitig gibt es immer wieder<br />
Momente, in denen meine Vatersprache<br />
in mein Leben grätscht. Seit ich in Zürich<br />
wohne (dem Zentrum meines Mutterdialekts),<br />
ist Fahrradfahren ein verkehrsintensives<br />
Abenteuer. Manchmal warte ich<br />
darauf, dass ein Auto vor mir endlich losfährt,<br />
ein Lichtsignal nach gefühlten<br />
Stunden auf Grün springt, Velofahrende<br />
vorwärts machen. Dann höre ich mich<br />
plötzlich «nu!» rufen, ein Ausdruck der<br />
Ungeduld, den ich auf Deutsch vergebens<br />
suche. Nu!, ein uralter jiddischer<br />
Ausspruch, der mich als Kind passiv begleitet<br />
hat. Jetzt, in Momenten der Ungeduld,<br />
des Geschehens, ist er plötzlich<br />
präsent.<br />
Das also ist meine Vatersprache.<br />
Sie hat wenig mit Blutsverwandtschaft<br />
und viel mit Nähe und Kultur zu tun.<br />
Es ist, als wäre Elternschaft eine Frage<br />
der Sozialisierung – nicht der natürlichen<br />
Ordnung.<br />
Rosa Buch<br />
In ihrem «Rosa Buch – Queere<br />
Texte von Herzen» feiert Anna<br />
Rosenwasser die Vielfalt,<br />
schreibt gegen herrschende Normen<br />
an und plädiert für die Liebe,<br />
dazuzulernen, ohne Angst zu haben<br />
vor Fehlern.<br />
BI THE WAY<br />
«Bisexuell, Berufsaktivistin<br />
und Büsi*-Fanatikerin.<br />
Anna Rosenwasser ist<br />
Polit-Influencerin und<br />
lebt in Zürich.»<br />
anna@mannschaft.com<br />
*Büsi ist Schweizerdeutsch für Katze<br />
Illustration: Sascha Düvel<br />
18 Frühling <strong>2023</strong>
Bastian tobt sich gerne modisch aus und<br />
hat mit George seine Muse gefunden.<br />
DU BIST<br />
EINMALIG<br />
UND DAS SOLLTE DEINE<br />
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Egal für welche Therapie du dich entscheidest – besprich mit<br />
deiner Ärztin oder mit deinem Arzt, was zu dir passt.
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ARTS<br />
Foto: zvg<br />
Der<br />
pinke<br />
Apfel<br />
Drei Blaumänner<br />
Die Blue Man Group ist mit der brandneuen Show «Bluevolution»<br />
auf Tour. Die drei blauen Männer kommen vom 29. März bis<br />
2. April für ein exklusives Gastspiel ins Theater 11 nach Zürich.<br />
Ein Spektakel aus Kunst, Musik, Comedy und nonverbaler Kommunikation<br />
– skurril, intelligent, optisch überwältigend. Diese<br />
Herren sind längst ein Phänomen, weltweit bisher von über 40<br />
Millionen Menschen bewundert.<br />
– musical.ch/bluemangroup<br />
Die 26. Ausgabe des queeren Filmfestivals<br />
Pink Apple findet vom<br />
25. April bis 4. Mai in Zürich statt,<br />
anschliessend geht es weiter in<br />
Frauenfeld vom 5. bis 7. Mai. Das<br />
Festival zieht jedes Jahr 10 000<br />
Besucher*innen an und zeigt queere<br />
Kurz- und Langfilme – zumeist<br />
Schweizer Premieren, die zu einem<br />
grossen Teil bei uns nie ins Kino oder<br />
ins Fernsehen gelangen.<br />
– pinkapple.ch<br />
Bild: zVg<br />
Hörbuch – Linus<br />
kämpft weiter<br />
Linus Giese veröffentlichte sein Memoire «Ich bin Linus»<br />
vor drei Jahren: ein Bestseller, mit dem er Zuspruch erntete,<br />
aber auch viel Hass. Mit seinem Zweitling möchte er nun<br />
allen trans Menschen Mut machen. In «Lieber Jonas oder<br />
der Wunsch nach Selbstbestimmung» entwirft Giese ein<br />
Szenario, wie wir leben würden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung<br />
in Deutschland für alle gesetzlich verankert<br />
wäre. Und er fordert das Ende der Pathologisierung der<br />
Geschlechterdiversität. Zeitgleich mit dem Buch ist das<br />
Hörbuch erschienen, vom Autor selbst eingelesen:<br />
20 Frühling <strong>2023</strong><br />
So Damn<br />
Easy Going<br />
Das Kino Rex in Bern zeigt in seinem<br />
«Uncut»-Programm regelmässig neue<br />
Spiel- und Dokumentarfilme (manchmal<br />
auch Filmklassiker) von queeren<br />
Filmemacher*innen oder Filme mit<br />
lesbischem, bisexuellem, schwulem<br />
oder trans Bezug. Am 25. und 26. April<br />
läuft «So Damn Easy Going», eine<br />
tragikomische Coming-of-Age- und<br />
Coming-out-Geschichte aus Schweden<br />
und Norwegen. Darin kompensiert eine<br />
18-jährige Schülerin, die an ADHS<br />
leidet, ihre Krankheit mit unverbindlichem<br />
Sex und ständiger körperlicher<br />
Bewegung. – rexbern.ch
KAUFLEUTEN ZÜRI<strong>CH</strong>, MONTAG 12. JUNI <strong>2023</strong>, 20.00 UHR<br />
CASINOTHEATER WINTERTHUR, DIENSTAG 13. JUNI <strong>2023</strong>, 20.00 UHR<br />
Verzaubert<br />
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BRANDS<br />
Bild: zvg<br />
Komm, wann<br />
du willst<br />
Skandalös,<br />
dieses Parfum<br />
Mit MyHixel kann Mann trainieren, wann er<br />
kommen möchte. Es ist ein Produkt, das<br />
Stimulation und App kombiniert und zwei<br />
verschiedene Programme bietet, die<br />
entweder auf eine verlängerte Dauer des<br />
Geschlechtsverkehrs (MED, 245.90 Franken)<br />
spezialisiert sind oder auf die Kontrolle der<br />
Ejakulation (TR, 299.15 Franken). Je nach<br />
Variante ist es den Nutzern gelungen,<br />
den Sex um das Sieben- bis Dreifache zu<br />
verlängern. Erhältlich hier:<br />
– schlafwellness.productvision.ch<br />
Dieser Duft hat es in sich. Seine Ingredienzien: Mandarine,<br />
Geranien, brauner Karamell, Tonkabohne und eine Nacht<br />
voller Versprechen. Jean Paul Gaultier schickt seinen<br />
amtierenden Liebling auf eine krasse Comeback-Tour:<br />
«Scandal Pour Homme Le Parfum». Ein Duft, der antritt, um<br />
ein skandalöses Spiel zu spielen, und wer ihn an sich trägt,<br />
wird gerochen, versprochen.<br />
Bild: zvg<br />
Bild: zvg<br />
Goldiges<br />
Geschäft<br />
Inklusive Klamotten<br />
Zalando und die in Amsterdam ansässige Luxus Streetwear Marke<br />
Filling Pieces haben sich zusammengetan und eine geschlechtsneutrale<br />
Capsule Kollektion namens «You are invited» herausgebracht:<br />
bestehend aus Korsett, Lederhose, Gilet, Strick-Rollkragenpullover,<br />
sportlichem Langarmshirt (XS bis XXL), zudem Sneakern,<br />
Halbschuhen und Stiefeln (35–46).<br />
«E luda!» rufen Berner*innen, wenn sie<br />
etwas Schönes entdecken. Diese Art<br />
freudiger Überraschung wollen Christa<br />
Wittwer und Ursula Rickli bei ihren<br />
Kund*innen hervorrufen: in ihrem<br />
Goldschmiedeatelier in der Berner<br />
Länggassstrasse 28. Dort fertigen sie<br />
Ringe (auch Trauringe für alle Paare),<br />
Anhänger, Colliers, Ohr-, Arm- und<br />
sonstigen Körperschmuck an, aus<br />
zertifiziertem Oeko-Gold aus recyceltem<br />
Altgold. «E luda», wie goldig.<br />
– eluda.ch<br />
22 Frühling <strong>2023</strong>
SHOW- UND MUSICAL-HIGHLIGHTS <strong>2023</strong><br />
04. – 23. April <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />
20. – 23. April <strong>2023</strong> Musical Theater Basel<br />
29. März – 02. April <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />
05. & 06. Mai <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich Schweizer Tournee <strong>2023</strong> Diverse Spielorte<br />
S<strong>CH</strong>ENKEN SIE<br />
UNVERGESSLI<strong>CH</strong>E MOMENTE!<br />
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12. Juli – 26. August <strong>2023</strong> Seebühne Thun<br />
Ab November <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />
musical.ch
MANNS<strong>CH</strong>AFT+<br />
COMMUNITY<br />
Bild: zVg<br />
Warmer<br />
Mai<br />
Seit 20 Jahren feiert der «translesbischschwulqueere»<br />
Kulturmonat «Warmer<br />
Mai» in Zürich Künstler*innen, die sich<br />
irgendwo in den Farben des Regenbogens<br />
verorten. Das diesjährige Programm<br />
reicht von Karaoke Klamauk und<br />
Chorkonzert über Gottesdienst und<br />
Klosterbesuch, Ausstellung und Lesung<br />
bis Tanzevent und Public Viewing für den<br />
Eurovision Song Contest. Details zum<br />
Programm hier: – warmermai.ch<br />
Orlandos’<br />
Schweizer Premiere<br />
Vom 21. bis 30. April findet die 54. Ausgabe des internationalen<br />
Dokumentarfilmfestivals in Nyon statt: Visions du Réel. Erstmals in<br />
der Schweiz wird dort der Film «Orlando, My Political Biography»<br />
gezeigt – inspiriert von Virginia Woolfs Roman «Orlando», der ersten<br />
Geschichte, in dessen Mitte die Hauptfigur ihr Geschlecht wechselt.<br />
Ein Jahrhundert später sucht der Philosoph und trans Aktivist<br />
Paul B. Preciado nach «zeitgenössischen Orlandos» und findet 25<br />
Menschen, alle trans und nicht-binär, im Alter von 8 bis 70 Jahren,<br />
die Woolfs fiktive Figur spielen und ihr eigenes Leben erzählen.<br />
LGBTIQ-Umfrage:<br />
Mach mit!<br />
Das Schweizer LGBTIQ-Panel – die grösste queere<br />
Längsschnittstudie der Schweiz – untersucht mit jährlichen<br />
Befragungen, wie und warum sich die Lebensbedingungen<br />
von queeren Menschen verändern. In der<br />
diesjährigen Umfrage geht es um Gesundheit, Erfahrungen<br />
mit Institutionen wie der Polizei und dem Militär, um<br />
Konversionstherapien, Hassverbrechen und die vereinfachte<br />
Änderung des Geschlechtseintrags. Das Ausfüllen<br />
des Fragebogens dauert 20–30 Minuten. Als Dank werden<br />
unter allen Teilnehmenden Gutscheine im Wert von<br />
300 Franken oder 100 Franken verlost.<br />
Queere,<br />
wandernde<br />
Portraits<br />
Die Ausstellung «We Are Part Of<br />
Culture» zeigt queere Persönlichkeiten<br />
von der Antike bis zum Ende des 20.<br />
Jahrhunderts, von Alexander dem<br />
Grossen bis Simone de Beauvoir. Die<br />
über 30 Porträts, kreiert von queeren<br />
Künstler*innen, schaffen Vorbilder und<br />
zeigen: Queere Personen haben die<br />
Gesellschaft schon immer mitgeprägt,<br />
«wir» haben Geschichte geschrieben.<br />
Gratis zu bestaunen vom 26. Mai bis 16.<br />
Juni in der Schalterhalle der Zürcher<br />
Kantonalbank an der Bahnhofstrasse 9<br />
in Zürich.<br />
Bild: Nana Swinczinsky<br />
24 Frühling <strong>2023</strong>
EIFT EIFT QUEERGESTREIFT QUEERGESTREIFT Q Q<br />
EERGESTREIFT EERGESTREIFT QUEERGE<br />
QUEERGE<br />
UEERGESTREIFT UEERGESTREIFT QUEERG<br />
QUEERG<br />
TREIFT QUEERGESTREIF<br />
STREIFT QUEERGESTRE<br />
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REIFT REIFT QUEERGESTREIFT<br />
QUEERGESTREIFT<br />
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DAS QUEERE FILMFESTIVAL<br />
AM BODENSEE<br />
T Q<br />
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RGESTREIF<br />
RGESTREIF<br />
QUEERGES<br />
QUEERGES<br />
REIFT REIFT QUEERGES<br />
QUEERGES<br />
ERGESTREIFT ERGESTREIFT QUEER<br />
QUEER<br />
REIFT REIFT QUEERGESTR<br />
QUEERGESTR<br />
14. - 23. APRIL <strong>2023</strong><br />
ESTREIFT ESTREIFT QUEE<br />
QUEE<br />
EERGESTRE<br />
EERGESTRE<br />
EERGEST<br />
EERGEST<br />
QUE QUE<br />
R R
Sei dabei<br />
26. – 29. Juli <strong>2023</strong><br />
eurogames<strong>2023</strong>.ch
Melde dich jetzt an für die<br />
Euro Games Bern <strong>2023</strong> —<br />
Europas grösster Sportevent<br />
der LGBTIQ-Community!
Story — 2<br />
2<br />
«Im Profisport<br />
müssen<br />
wir unseren<br />
eigenen<br />
Weg gehen<br />
dürfen»<br />
28 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 2<br />
Interview – Greg Zwygart<br />
Eric Glod ist professioneller Tischtennisspieler<br />
und offen schwul. Von<br />
Tuscheleien hinter seinem Rücken<br />
bis hin zu Qualifikationsspielen in<br />
Ländern mit homophoben Gesetzen:<br />
Für queere Anliegen gebe es noch<br />
Luft nach oben, sagt er. Den nötigen<br />
Ausgleich zur heteronormativen<br />
Welt des Profisports hat der Luxemburger<br />
in Wien gefunden.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
29
Story — 2<br />
ric, im Februar hat sich der tschechische Fussballnationalspieler<br />
Jakub Jankto geoutet. Was geht dir<br />
durch den Kopf, wenn du solche Schlagzeilen liest?<br />
Egal in welchem Sport: Jedes Mal, wenn sich ein aktiver<br />
Sportler outet, löst das eine grosse Freude in mir<br />
aus. Freude, dass sich jemand mehr verstellen muss,<br />
sondern sein authentisches Selbst leben kann. Gerade<br />
in Sportarten wie im Fussball oder im American<br />
Football, die von einer konservativen Männlichkeit<br />
geprägt sind, ist ein Coming-out besonders schwierig.<br />
«Es ist keine<br />
Privatsache,<br />
wenn man<br />
anders als die<br />
Norm ist.»<br />
Wie lässt sich die Welt des Tischtennis mit<br />
derjenigen des Fussballs vergleichen in puncto<br />
LGBTIQ-Freundlichkeit?<br />
Das Bild des maskulinen Mannes, das es zu verkörpern<br />
gilt, ist weniger dominant. Wie in anderen Einzelsportarten<br />
gibt es im Tischtennis mehr Freiraum<br />
für die eigene Individualität. Daher ist es dort einfacher,<br />
ein offen queeres Leben zu führen als in einem<br />
grossen Team. Im Mannschaftssport gibt es einen<br />
grösseren Druck, der Vorstellung zu entsprechen, die<br />
die Gesellschaft von Männern erwartet.<br />
Und bezüglich Gehalt und Sponsoring?<br />
(Lacht.) Im Tischtennis musst du unter den besten 50<br />
der Welt sein, damit du auf eigenen Beinen stehen<br />
kannst. Alle anderen sind auf Sponsoren, nationale<br />
Verbände und sonstige Einnahmen angewiesen, um<br />
sich den Profisport leisten zu können. Man ist viel unterwegs,<br />
zum Beispiel an Turnieren in weit entfernte<br />
Länder. Mit dem Tischtennis allein verdient man keine<br />
100 000 im Jahr.<br />
Wir hatten bereits 2021 über ein Interview gesprochen.<br />
Weshalb hat es damals nicht geklappt?<br />
Damals hat sich alles ein bisschen verlaufen. Ich startete<br />
bei einem neuen Verein in Schweden, dessen Philosophie<br />
nur auf das Gewinnen abzielte. Es zählte nur<br />
noch das Resultat, dem Menschen hinter dem Sportler<br />
wurde keine Bedeutung zugemessen. Das war sehr<br />
Bild: Agnieszka Tunnissen<br />
30 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 2<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
31
Story — 2<br />
Von Sportverbänden wünscht sich Eric Glod die Anerkennung, dass queere Spitzensportler*innen existieren.<br />
schwierig für mich. Ich fokussierte mich nur noch<br />
auf meine Resultate und darauf, die Erwartungen des<br />
Clubs zu erfüllen. So ging es kontinuierlich bergab mit<br />
mir, bis ich in ein Loch fiel.<br />
und treffe mich mit Menschen ausserhalb des Tischtennis.<br />
Das hat alles in ein Gleichgewicht gebracht.<br />
Ich lebe mein Leben sehr viel bewusster und empfinde<br />
dadurch mehr Freude.<br />
An welchem Punkt war dir klar, dass du etwas<br />
ändern musst?<br />
Das war im Februar 2022. Bei einem Spiel hatte ich<br />
alles gegeben und mein Herz auf der Tischplatte gelassen,<br />
doch dem Trainer war das nicht genug. In<br />
seinen Augen war alles schlecht. Als ich nach Hause<br />
kam, legte ich mich auf den Fussboden und blieb eine<br />
Stunde dort liegen. Ich konnte nicht mal meine Jacke<br />
ausziehen. Ich spiele gerne Tischtennis – es muss mich<br />
erfüllen und ich will Spass daran haben. Dann war für<br />
mich klar, dass sich etwas ändern musste.<br />
Hast du deine Freude wieder gefunden?<br />
Ja! Ich wechselte zu einem kleineren Club in der Nähe<br />
von Wien – eine Stadt, die auch für ein schwules Leben<br />
viel zu bieten hat. Ich habe mich als Person neu entdeckt.<br />
Ich gehe in Museen, auf queere Veranstaltungen<br />
So ergeht es vielen Profisportlern, die sich mit<br />
einem Coming-out befreien.<br />
Ich bin ein Kind der Neunzigerjahre und mit der Haltung<br />
gross geworden, dass es nur einen vorgegebenen<br />
Weg zum Erfolg gibt. Darum ermutige ich andere<br />
Sportler*innen immer ihren eigenen Weg zu gehen –<br />
das betrifft nicht nur die Queerness. Es gibt nicht nur<br />
die eine Art, ein Profisportler oder eine Profisportlerin<br />
zu sein. Das Spektrum ist so breit, wie wir bereit<br />
sind es zu definieren.<br />
Und doch kommen oft Kommentare, dass ein<br />
Coming-out im Profisport nichts zu suchen habe.<br />
Dass das doch Privatsache sei.<br />
Es ist nicht Privatsache, wenn man anders ist als die<br />
Norm. Schwule Sportler verstecken sich, weil ihnen<br />
die Norm verbietet, anders zu lieben und zu leben.<br />
32 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 2<br />
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Der Immobilientipp<br />
«Hypothek<br />
erhöhen für<br />
Gartengestaltung?»<br />
Bild: COSL / Nicolas Braibant<br />
Solange alle denken, dass es keine schwulen Fussballer<br />
gibt, sind diese Coming-outs nötig, und solange sie<br />
für Schlagzeilen sorgen, haben wir es nicht geschafft,<br />
sie zu normalisieren. Die Sexualität eines Sportlers<br />
oder einer Sportlerin sollte nicht mal mehr eine Randnotiz<br />
im Boulevardblatt wert sein.<br />
Im November hatte ich eine süsse Begegnung. Ich<br />
spielte mit einem 15-jährigen Mädchen im gemischten<br />
Doppel. Kurz vor dem Finale vertraute sie mir auf<br />
der Tribüne an, dass sie eine Freundin habe und alles<br />
ganz neu für sie sei. Allein zu sehen, dass sie sich nicht<br />
verstecken muss, dass es kein dogmatisches Bild mehr<br />
gibt, dem man zu entsprechen hat . . . das sind schöne<br />
Momente.<br />
Kennst du andere queere Sportler*innen<br />
im Tischtennis?<br />
Bei den Frauen gibt es viele Spielerinnen, die offen<br />
lesbisch sind. Das kümmert eigentlich niemanden. Bei<br />
den Männern gibt es bis jetzt nur mich. Von Mitspielern<br />
weiss ich, dass hinter meinem Rücken Sätze fallen<br />
wie: «Ist es wahr, dass er schwul ist?» oder «Hast<br />
du keine Angst . . . unter der Dusche?». Ich merke auch,<br />
dass einige Spieler auf Distanz gehen. Anders als im<br />
Fussballstadion wird Homophobie im Tischtennis<br />
nicht verbal und offen herausgebrüllt oder Schimpfwörter<br />
benutzt, aber sie existiert noch - hinter vorgehaltener<br />
Hand.<br />
Wie gehst du damit um?<br />
Es amüsiert mich. Wenn es so interessant ist, hinter<br />
meinem Rücken zu reden, dann schön, dass ich euch<br />
so unterhalten kann! Früher war es mir jedoch nicht<br />
egal. Ich komme aus einem kleinen Bauerndorf in Luxemburg<br />
und war sehr darum bemüht, meine Sexualität<br />
möglichst «low-key» zu halten. Heute bin ich sehr<br />
glücklich mit mir selbst. Es hat aber lange gedauert,<br />
bis ich an diesem Punkt angekommen bin.<br />
Als Faustregel gilt: Kreditgeber finanzieren<br />
wertvermehrende Massnahmen.<br />
Ein Wintergarten etwa schafft<br />
neuen Wohnraum und erhöht so den<br />
Wert Ihres Heims. Auch die komplette<br />
Neuanlage des Gartens gilt als wertvermehrend.<br />
Nicht finanziert werden<br />
Arbeiten, die lediglich den Zustand<br />
erhalten – beispielsweise der neue<br />
Belag für die Terrasse. Beantragen<br />
Sie eine Erhöhung, prüft die Bank Ihre<br />
Einkommensverhältnisse. Vielleicht<br />
lässt die Bank das Haus sogar neu<br />
schätzen. Problematisch ist dies<br />
allerdings, wenn Ihr Haus an Wert<br />
verloren hat oder das Haushaltseinkommen<br />
gesunken ist.<br />
«Investieren ist<br />
wertvermehrend.»<br />
Alle fünf Jahre können Sie Gelder aus<br />
der 2. und 3. Säule für wertvermehrende<br />
Investitionen beziehen. Das will<br />
aber gut überlegt sein. Ist der Garten<br />
eine Lücke in der Altersvorsorge wert?<br />
Denken Sie bei Ihrem Traumgarten<br />
zudem an den Versicherungsschutz:<br />
Mit dem Zusatz für die Gebäudeumgebung<br />
versichern Sie das schmucke<br />
Gartenhaus, Einfahrten und Gartenanlagen<br />
inklusiv Bäume und Rasenflächen.<br />
Mehr wertvolle Informationen rund<br />
ums Eigenheim finden Sie unter<br />
helvetia.ch/immoworld<br />
Kannst du dich an besondere Momente erinnern,<br />
die dich als schwuler Mann ermächtigt haben?<br />
Davon gibt es zwei. Als ich 2018 die Grundausbildung<br />
in der luxemburgischen Armee absolvierte, fielen oft<br />
die Schimpfworte «Schwuchtel» oder «Tunte», bis ich<br />
einmal sagte: «So bitte nicht!» Es mag unscheinbar<br />
klingen, aber in diesem Augenblick, in dem ich das<br />
sagte, wurde ich meiner Queerness so richtig bewusst.<br />
Der zweite Moment war während der Pandemie in<br />
Einfach<br />
Beratung<br />
anfordern.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
33
Story — 2<br />
«Die Pandemie ermöglichte<br />
mir, mich selbst zu finden.»<br />
Schweden und klingt wie ein Klischee: «RuPaul’s<br />
Drag Race» hat meinen Horizont erweitert und mir<br />
gezeigt, was es bedeutet, bedingungslos sich selbst<br />
zu sein und sich zu lieben. Ich habe alle Staffeln geschaut!<br />
Für viele Menschen war die Pandemie verheerend,<br />
doch mir ermöglichte sie, mich selbst zu finden.<br />
Meine Freund*innen unterstützten mich, halfen mir<br />
sogar dabei, mit Make-up zu experimentieren.<br />
Bringt dich das Tischtennis in Länder, in denen<br />
homosexuelle Handlungen verboten sind?<br />
Das ist ähnlich wie im Fussball: Das Geld liegt in den<br />
Ölländern und immer mehr Turniere werden dort abgehalten.<br />
So fand 2021 zum Beispiel die Qualifikation<br />
für die Olympischen Spiele in Katar statt. Als Sportfan<br />
oder Tourist*in kannst du entscheiden, ob du in solche<br />
Länder reisen möchtest. Als queerer Sportler bleibt dir<br />
jedoch keine andere Möglichkeit. Du musst dich dem<br />
System beugen, wenn du bei den besten Turnieren<br />
mitspielen willst. Und diese finden nun mal in Katar,<br />
den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in Saudi-<br />
Arabien statt – Länder, in denen man aufgrund seiner<br />
Sexualität im Gefängnis landen kann.<br />
Inwieweit gehst du als schwuler Mann<br />
da Kompromisse ein?<br />
Ich versuche nur dann hinzugehen, wenn es nicht anders<br />
geht. In solchen Situationen versuche ich zu abstrahieren<br />
und die Entscheidung als Sportler und nicht<br />
als Person zu treffen. Ich gehe dorthin, um einen Job<br />
zu machen und dann wieder abzureisen, wenn dieser<br />
erledigt ist. Ich fühle mich nie ganz wohl dabei, wenn<br />
ich diesen Ländern unterwegs bin. Wegen der Wahl<br />
Katars zur Austragung der Olympia-Qualifikation<br />
habe ich dem Weltverband in Singapur eine Nachricht<br />
geschickt, aber nie eine Antwort gekriegt.<br />
Was hattest du dir vom Weltverband erhofft?<br />
Natürlich wäre es toll, wenn wichtige Turniere nicht<br />
in Ländern stattfinden, die LGBTIQ-Menschen diskriminieren.<br />
Aber Geld regiert nun mal die Welt, da<br />
mache ich mir keine Illusionen. Ich verlange vom Verband<br />
auch keine Entschuldigung oder Rechtfertigung,<br />
sondern höchstens eine Form der Anerkennung, dass<br />
wir queeren Sportler*innen existieren.<br />
Wie finanzierst du deine Karriere als Profisportler?<br />
Über die Sportförderung der luxemburgischen Armee.<br />
Ich habe die Grundausbildung absolviert und<br />
bin heute Elitesportler. Als solcher kriege ich das<br />
gleiche Gehalt wie ein Soldat, bin aber von den militärischen<br />
Verpflichtungen befreit, um meinen Sport<br />
auszuüben. Deshalb muss ich mir finanziell keine<br />
Sorgen machen. Nebenbei besuche ich Vorlesungen<br />
an der Uni mit dem Ziel, dass ich ein bisschen aus der<br />
Tischtenniswelt herauskomme und mich mit anderen<br />
Menschen umgebe.<br />
Wie lange kannst du in diesem System bleiben?<br />
Solange ich mein Niveau halte und Qualifikationschancen<br />
für Olympia habe, also sicherlich bis 2024.<br />
Dann wird das Olympische Komitee über meinen<br />
Status befinden. Es gibt zwei Wege, wie ich mich für<br />
Olympia qualifizieren kann. Zum einen über das gemischte<br />
Doppel mit meiner Doppelpartnerin Sarah<br />
De Nutte. Auf der Weltrangliste sind wir zurzeit unter<br />
den besten 45 Paarungen. Zum anderen kann ich mich<br />
auch im Einzel qualifizieren, was zurzeit nicht unmöglich<br />
ist. Ernst wird es nächstes Jahr im März und<br />
April. Bis dahin muss ich an meinem Niveau arbeiten,<br />
um meine Chancen zu steigern.<br />
34 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 2<br />
«Schwule Sportler verstecken<br />
sich, weil ihnen<br />
die Norm verbietet,<br />
anders zu lieben und zu<br />
leben», sagt Eric Glod.<br />
Bild: Agnieszka Tunnissen
Story — 2<br />
Bilder: World Table Tennis<br />
36 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 2<br />
«Homophobie<br />
existiert im<br />
Tischtennis<br />
hinter vorgehaltener<br />
Hand.»<br />
Ist Olympia auch dein Ziel?<br />
Ich definiere meine Ziele gerne anders. Wenn ich mir<br />
Olympia zum Ziel setze und es nicht erreiche, dann erhöht<br />
das die Angst vor dem Scheitern. Ich will besser<br />
werden, mich weiterentwickeln und das Beste aus mir<br />
herausholen. Olympia behalte ich selbstverständlich<br />
im Hinterkopf. Wenn ich mich nicht für die Olympischen<br />
Spiele qualifiziere, jedoch besser geworden bin,<br />
dann kann ich auch damit leben.<br />
Wie bist du zum Tischtennis gekommen?<br />
Als Kind war ich überall unbegabt, vor allem was meine<br />
Motorik anging. Meine Mutter steckte mich mit<br />
sieben Jahren ins Tischtennis, damit ich lernte meine<br />
Hände und Füsse zu benutzen und nicht umzufallen<br />
(lacht). Mein Vater und mein Bruder haben beide Fussball<br />
gespielt. Daneben gab es in unserem Dorf noch<br />
Judo und eben Tischtennis. Und da mir Judo noch mehr<br />
Angst machte als Fussball, wurde es halt Tischtennis.<br />
Es war also ein schnelles Ausschlussverfahren (lacht).<br />
Was mich an diesem Sport am meisten fasziniert,<br />
ist die grosse individuelle Freiheit. Du kannst deinen<br />
eigenen Spielstil haben, eine einzig richtige Spielweise<br />
gibt es nicht. Es ist ein Einzelsport und du allein bist<br />
verantwortlich für die Fehler, die du machst. Ich war<br />
nie der talentierteste Spieler, war jedoch immer sehr<br />
ehrgeizig.<br />
Wie oft trainierst du die Woche?<br />
Es ist wichtig, dass ich Punkte sammle und bei Turnieren<br />
spiele, darunter vor allem internationale. Davon<br />
gibt es jede Woche irgendwo irgendeines. Gleichzeitig<br />
habe ich eine Verantwortung gegenüber meinem<br />
Verein, damit wir in der Liga bleiben. Daneben muss<br />
ich Zeit in mein eigenes Training stecken. Deshalb sehen<br />
meine Wochen sehr unterschiedlich aus. In einer<br />
normalen Trainingswoche kommen mit Kraft- und<br />
Schnelligkeitstraining wöchentlich schon rund 16<br />
Stunden zusammen.<br />
Eric Glod<br />
Eric Glod, 1993 in Luxemburg<br />
geboren, entdeckte mit sieben<br />
Jahren seine Leidenschaft für<br />
Tischtennis. 2016, 2017 und<br />
2018 wurde er luxemburgischer<br />
Meister im Doppel, 2018 auch im<br />
Einzel. Nach seiner Grundausbildung<br />
in der luxemburgischen<br />
Armee ist er einer von gegenwärtig<br />
28 Elitesport-Soldat*innen des<br />
Landes. Er spielte unter anderem<br />
in Schweden und in der Schweiz<br />
für den TTC Wädenswil und den<br />
TTC Rapperswil. Seit 2022 ist er<br />
für den Badener AC in Wien aktiv.<br />
Kommt da nicht das Privatleben zu kurz?<br />
Im Liebesleben muss man schon deutliche Abstriche<br />
machen. Ich habe einen intensiven Job und es ist sehr<br />
schwierig, jemanden zu finden, der das einsieht und<br />
auch versteht. Ich trainiere viel und brauche viel Regenrationszeit,<br />
zudem bin ich oft wochenlang unterwegs.<br />
Die meisten Spieler*innen, die ich kenne, haben<br />
innerhalb der Tischtennis-Bubble jemanden gefunden.<br />
Für mich ist das offensichtlich nicht so einfach.<br />
Darum bin ich auch nach Wien gezogen, um mehr am<br />
queeren Leben teilnehmen zu können.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
37
FILM<br />
Filmguru<br />
Patrick Schneller<br />
filmguru@mannschaft.com<br />
Tár<br />
Wahnsinnig genial<br />
Lydia Tár dirigiert<br />
nicht nur, vielmehr<br />
zelebriert sie Musik.<br />
Bild: 2022 Focus Features, LLC.<br />
Wo war Todd Field bloss die vergangenen<br />
Jahre? «Tár» ist sein erster Filmcredit seit<br />
seinem Zweitling «Little Children» von<br />
2006! Nun ist er wieder da: «Tár» ist eine<br />
Wucht, was zu einem entscheidenden Teil<br />
an Cate Blanchett in der Titelrolle liegt.<br />
Aber erstmal der Reihe nach.<br />
Lydia Tár hat in der klassischen Musikszene<br />
mehr erreicht als alle anderen: Als<br />
Komponistin gewann sie alle wichtigen<br />
Auszeichnungen, als Dirigentin leitet sie<br />
die Berliner Philharmoniker. Nun wird<br />
sie bald als erster Mensch den kompletten<br />
Zyklus von Gustav Mahler mit einem<br />
Orchester aufgeführt haben. Doch als<br />
sich eine von Tár fallengelassene Musikerin<br />
umbringt, häufen sich plötzlich die<br />
Probleme. So kommt es zu Spannungen<br />
38 Frühling <strong>2023</strong><br />
zwischen Tár und ihrer Ehefrau, der Ersten<br />
Violinistin Sharon (Nina Hoss), die<br />
sich mit der neuen Cellistin Olga (Sophie<br />
Kauer) verstärken. Und dann nimmt auch<br />
noch eine Verleumdungskampagne ihren<br />
Lauf . . .<br />
Wüsste man es nicht besser, man könnte<br />
meinen, «Tár» erzähle eine wahre Geschichte.<br />
Field entfaltet ein fiktives Porträt,<br />
das authentischer wirkt als viele echte<br />
Biografien. Fast schon traumwandlerisch<br />
huldigt er dabei der klassischen Musik<br />
und übt ätzende Kritik an blinder «Cancel<br />
Culture». Zudem bedient er sich stilistisch<br />
bei allen möglichen Genres, so schreckt er<br />
auch nicht vor Thriller-Momenten zurück<br />
und erinnert vereinzelt gar an J-Horror im<br />
Stil von «Ju-on».<br />
Und mittendrin Cate Blanchett. Wie<br />
Lydia Tár in ihrer intellektuellen Genialität<br />
und musikalischen Professionalität<br />
aufgeht und dabei den Bezug zu ihrem<br />
persönlichen Umfeld, ja fast schon zur<br />
Realität an sich, regelrecht verliert, gehört<br />
ganz einfach zu den psychologisch vielfältigsten<br />
schauspielerischen Leistungen der<br />
Filmgeschichte.<br />
Drama, USA/D 2022. Regie & Drehbuch:<br />
Todd Field. Mit Cate Blanchett,<br />
Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie<br />
Kauer, Mark Strong. <strong>CH</strong>/D/A: im Kino.
Wieder mal eine<br />
Buchempfehlung:<br />
«It Came from<br />
the Closet: Queer<br />
Reflections on<br />
Horror» (Hrsg.<br />
Joe Vallese), erschienen<br />
bei The<br />
Feminist Press.<br />
Patrick Schneller<br />
Drama, Originaltitel: Le<br />
lycéen. F 2022, Regie &<br />
Drehbuch: Christophe<br />
Honoré. Kinostart D/A:<br />
30. März / <strong>CH</strong>: 28./29.<br />
März im Kino Rex, Bern<br />
FILM/SERIEN<br />
Der Gymnasiast<br />
Der schwule 17-jährige Lucas (Paul<br />
Kircher) lebt relativ unbeschwert,<br />
bis der tödliche Autounfall des Vaters<br />
das Leben der Familie auf den<br />
Kopf stellt. Damit Lucas auf andere<br />
Gedanken kommt, nimmt ihn<br />
sein älterer Bruder Quentin (Vincent<br />
Lacoste) vorübergehend zu<br />
sich nach Paris. Doch dort verliert<br />
Lucas endgültig den Boden unter<br />
den Füssen.<br />
Christophe Honoré («Sorry Angel»)<br />
drehte hiermit seinen bisher<br />
persönlichsten Film, war er doch<br />
selbst erst 15, als sein Vater starb.<br />
Verlusttrauma und Trauerarbeit<br />
sind denn auch die Kernthemen,<br />
und die damit oft aufkommende<br />
Schuldfrage, die gerade für Teenager<br />
in solchen Fällen fatale Folgen<br />
haben kann. Insofern lässt<br />
sich «Der Gymnasiast» mit Lucas<br />
Dhonts grandiosem Zweitling<br />
«Close» (B/NL/F 2022) vergleichen.<br />
Doch bei aller Melancholie<br />
webt Honoré auch viel<br />
Humor ein und zelebriert das<br />
Leben mit einer authentischen<br />
queeren Figur, eindrücklich verkörpert<br />
von Paul Kircher (21).<br />
Bild: Jean Louis Fernandez<br />
Serienjunkie<br />
«Abbott Elementary» Staffel 2:<br />
Harte Schule, weicher Kern<br />
Comedy. Seit 1. März bei Disney+.<br />
Bild: Disney+<br />
Robin Schmerer<br />
robin@mannschaft.com<br />
Im deutschsprachigen Raum noch immer weitgehend<br />
unbekannt, hat die Sitcom «Abbott Elementary» gerade<br />
erst bei den Golden Globes ordentlich abgeräumt<br />
und die Preise für die beste Comedy-Serie, die beste<br />
Hauptdarstellerin und den besten Nebendarsteller einheimsen<br />
können. Hierzulande ist die Serie im Mockumentary-Stil<br />
seit letztem Sommer bei Disney+ zu<br />
sehen, wo seit kurzem auch die neuen Folgen der zweiten<br />
Staffel abrufbar sind. Im Zentrum der Handlung<br />
steht der harte Alltag an einer öffentlichen Schule in<br />
Philadelphia. Besonders die Lehrer*innen haben unter<br />
einer überforderten Schulleiterin, Budgetkürzungen<br />
und den Schikanen der Schulbehörde zu leiden, lassen<br />
sich aber nicht unterkriegen. Unter ihnen auch der<br />
schwule und überaus pessimistische Geschichtslehrer<br />
Jacob (Chris Perfetti). Innerhalb kürzester Zeit mauserte<br />
sich «Abbott Elementary» zum Zuschauer- und Kritikerliebling,<br />
so dass unlängst schon eine dritte Staffel<br />
bestellt wurde. Reinschauen lohnt sich!<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
39
SERIEN<br />
Licht am Ende des Tunnels – «Shadow<br />
and Bone» Staffel 2 bei Netflix<br />
Fantasy. Seit 16. März bei Netflix.<br />
Was? Wo? Wann?<br />
WAS WO & WANN IN EINEM SATZ<br />
Superman & Lois<br />
Drama, Sci-Fi<br />
Staffel 1<br />
Seit 9. März<br />
DVD (Warner<br />
Bros.)<br />
Superman und Lois versuchen<br />
Familienleben und die Rettung<br />
der Erde unter einen Hut<br />
zu bekommen. In den Comics<br />
ist einer der Söhne bisexuell.<br />
Greift die Serie das auf?<br />
YOU<br />
Drama<br />
Staffel 4<br />
Seit 9. März<br />
Netflix<br />
In Staffel 4 mischt unser<br />
Lieblingsstalker Joe als Uniprofessor<br />
das Leben der High<br />
Society in London auf. Auch<br />
der pansexuelle Adam gerät<br />
in seinen Dunstkreis.<br />
Killing Eve<br />
Thriller<br />
Komplettbox<br />
Seit 23.März<br />
DVD (Universal)<br />
Eine überambitionierte<br />
Sicherheitsbeamtin und eine<br />
eiskalte Serienkillerin liefern<br />
sich ein packendes Katz- und<br />
Mausspiel, bei dem zunehmend<br />
Gefühle im Spiel sind.<br />
Yellowjackets<br />
Drama<br />
Staffel 2<br />
Seit 24. März<br />
Paramount+<br />
Das Frauen-Fussballteam einer<br />
kanadischen Highschool<br />
stürzt mit einem Flugzeug in<br />
der Wildnis ab. Viel Lob gab<br />
es für die queeren Charaktere.<br />
Neben Netflix-Produktionen wie «The Witcher»<br />
oder «Sandman» kann man eine Fantasyserie wie<br />
«Shadow and Bone» schnell übersehen. Dabei<br />
kommt die Serie, die auf zwei erfolgreichen Jugendbuchreihen<br />
der Amerikanerin Leigh Bardugo basiert<br />
und bereits 2021 beim Streamingriesen startete,<br />
nicht minder bildgewaltig und düster daher wie<br />
die bekannteren Produktionen für ein älteres Publikum.<br />
Noch dazu entführt uns die Serie in eine Welt,<br />
die überaus divers und inklusiv daherkommt, ohne<br />
dies künstlich zu grossen Themen aufzubauschen.<br />
Etwas, wofür sie von zahlreichen Onlineportalen<br />
gefeiert wird.<br />
In einer von Krieg gebeutelten Welt entdeckt die<br />
junge Kartografin Alina Starkov (Jessie Mei Li),<br />
dass sie über ungeheure Fähigkeiten verfügt. Als<br />
eine so genannte Grischa ist es ihr möglich, Sonnenlicht<br />
zu beschwören. Dies wiederum ruft eine<br />
Reihe von Gruppierungen auf den Plan, die es auf<br />
Alina abgesehen haben. Bald muss sie erkennen,<br />
dass selbst vermeintliche Verbündete wie der Grischa-General<br />
und Schattenbeschwörer Aleksander<br />
Kirigan (Ben Barnes) ganz eigene Pläne verfolgen.<br />
Seit wenigen Tagen sind nun alle Episoden der<br />
zweiten Staffel bei Netflix abrufbar und wir erfahren<br />
endlich, wie Alinas Abenteuer weiter geht,<br />
nachdem sich die aufwendigen Dreharbeiten pandemiebedingt<br />
verzögert haben. Schauspieler Kit<br />
Young, der den bisexuellen Scharfschützen Jesper<br />
spielt, beschreibt die Serie übrigens als wilde Mischung<br />
aus «Game of Thrones», «The Witcher» und<br />
«Fluch der Karibik». Fans dieser Franchises sollten<br />
also in jedem Fall einen Blick riskieren.<br />
Bild: Dávid Lukács/Netflix © 2022<br />
40 Frühling <strong>2023</strong>
Drei Gründe Für eine Gay<br />
Gruppenreise mit PInk Alpine:<br />
authentische Begegnungen<br />
unsere Reisen werden allesamt auch von lokalen Guides<br />
begleitet und Ermöglichen Einblicke in das Alltägliche vor Ort<br />
sicher Unterwegs<br />
ob Zelt oder Palast-Hotel, du kannst auf beste Organisation<br />
und Logistik zählen<br />
Entspanntes Reisen unter gleichgesinnten<br />
Dein Gruppenguide von Pink Alpine unterstützt dich und kann bei<br />
Bedarf die erforderlichen Brücken bauen<br />
Weitere Informationen zu all unseren Gay Gruppenreisen:<br />
www.pinkalpine.lgbt
Story — 3<br />
3<br />
Welche<br />
Detox-<br />
Blüte<br />
bist du?<br />
42 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 3<br />
Text – Denise Liebchen<br />
Willkommen im Frühling, in<br />
der Jahreszeit des Ausmistens.<br />
Verspürst du auch den<br />
Drang, dich von Ballast zu<br />
befreien, weisst aber nicht,<br />
wo du anfangen sollst?<br />
Bei den leidenden Darminnenwänden,<br />
den Leberzellen<br />
oder Kleiderschränken?<br />
Unser Detox-Entscheidungsbaum<br />
weiss Rat.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
43
Story — 3<br />
Welche Detox-Blüte bist du?<br />
Hangle dich durch die Fragen des allwissenden Detox-Baumes und seine Blüten<br />
werden dir offenbaren, welches Entgiftungsvorbild zu dir passt.<br />
Die alkoholfreie<br />
Kristen Stewart<br />
Der digitalfreie<br />
Felix Jaehn<br />
Der vegane<br />
Elliot Page<br />
Der ausmistende<br />
Bobby Berk<br />
Die cleane<br />
Miley Cyrus<br />
mit Analconda<br />
auf Grindr<br />
mit Flowerfinger<br />
auf HER<br />
Staubmäusen<br />
& Textiltentakeln<br />
Weltuntergang<br />
Machtübernahme<br />
durch Mr. Hyde<br />
Mit wem hattest du<br />
dein letztes tiefgründiges<br />
Gespräch<br />
44 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 3<br />
Keine Ahnung,<br />
das habe ich morgens<br />
vergessen<br />
zu wenig Likes<br />
manchmal Dosenfutter<br />
So mit echten<br />
Menschen und so?<br />
ja<br />
nein<br />
Benimmst du dich in<br />
Gesellschaft seltsam?<br />
Kannst du sie<br />
anfassen?<br />
Wovor fürchtest du<br />
dich am meisten?<br />
mich alles<br />
meine Umgebung<br />
Was willst du<br />
entgiften?<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
45
Story — 3<br />
Damit du gleich Bescheid weisst:<br />
Auf diesen Seiten hier meinen wir<br />
nicht alles bierernst. Denn Humor<br />
beflügelt jedweden Anlauf in ein<br />
leichteres Leben. So auch, als wir<br />
aufbrachen, um für dich frühlingsfrische<br />
Detox-Tipps zu entdecken.<br />
Wir drangen immer tiefer ein<br />
in eine Welt namens «Ich esse, also<br />
bin ich». Überall wucherten wilde<br />
Weisheiten. Schliesslich blieben wir stecken im Detox-Dogma-<br />
Dschungel. Es ging weder vor noch zurück. Ein vernunftgeleitetes<br />
Durchkommen? No way. Dafür verwirrende Trampelpfade:<br />
bitte nach rechts zur Saftkur «Du darfst nur trinken» oder nach<br />
links zum Ohne-Alkohol-Kurs «Trinke keinen Tropfen». Überall<br />
Stolpersteine mit fordernden Parolen: 7-Tage-Kein-Kaffee,<br />
21-Tage-Kein-Zucker oder 30-Tage-Vegan.<br />
Doch wir hatten Glück und trafen drei weise Einheimische,<br />
die aussahen wie Meryl Streep und Emma Thompson und Jamie<br />
Lee Curtis, und sie riefen aus ihren Hütten heraus: «Seid nicht so<br />
dumm wie wir, verschwendet nicht so viele Gedanken an den<br />
idealen Körper, folgt eurem Instinkt.»<br />
Unser Instinkt lotste uns schliesslich zum allwissenden<br />
Detox-Entscheidungsbaum. Was für eine Pracht. Er trug fünf<br />
Blüten, jede benannt nach einer queeren, detoxenden Berühmtheit.<br />
Für dich haben wir den Baum mitgenommen und auf die<br />
Seiten 44 und 45 gepflanzt. Seine Blüten werden dir offenbaren,<br />
welche Entgiftungsrezeptur zu dir passt. Dafür musst du dich<br />
den Fragen des Baumes stellen und dich durch sein Astwerk<br />
hangeln. Falls du hängen bleibst: Keine Panik, dein gesunder<br />
Menschenverstand wird dich retten. Und möge Humor dir<br />
deinen Weg versüssen.<br />
Die alkoholfreie<br />
Kristen Stewart<br />
Ein Glas ist kein Glas. Komm schon,<br />
eins haben wir immer noch genommen.<br />
Sätze wie diese sind es, die uns vom<br />
Schwips in den Rausch begleiten.<br />
Manch lockerer Abend verwandelt sich<br />
in eine morgens vergessene Nacht.<br />
Kennst du? Da bist du nicht allein.<br />
Eskapaden ereilen regelmässig auch<br />
Stars und Sternchen, die sich mitunter<br />
häufiger vom Alkohol abwenden.<br />
Die Schauspielerin Kristen Stewart<br />
etwa warf die Flaschen zu ihrem<br />
Dreissigsten fort, um ihre Zeit<br />
sinnvoller zu nutzen.<br />
Nie wieder Alkohol – ist dir das<br />
zu extrem? Wir verstehen dich. Wie<br />
wäre es mit ersten kleinen Schritten,<br />
mit alkoholfreien Tagen oder<br />
Wochen zwischendurch, nicht nur<br />
monatskonzentriert wie im «Dry January»?<br />
Deine Vorteile: Du weisst am<br />
nächsten Morgen, was du letzte Nacht<br />
getan hast. Du führst bessere Gespräche.<br />
Du nimmst bewusst wahr, was<br />
du erlebst. Der Entschlackungseffekt<br />
ist immens. Du hast mehr nutzbare<br />
Zeit, weil dir kein Kater stundenlang<br />
durch den Kopf miaut. Und sofern<br />
du willst, kannst du mit einem<br />
alkoholfreien Matedrink dennoch die<br />
Nacht durchtanzen.<br />
Bild: Fabian Sommer/dpa<br />
Willst du etwas tiefer ins alkoholfreie<br />
Glas schauen, hier ein paar<br />
prickelnde Tipps: die Bücher «Nüchtern<br />
– Über das Trinken und das<br />
Glück» von Daniel Schreiber und «Unabhängig.<br />
Vom Trinken und Loslassen»<br />
von Eva Biringer oder der Podcast<br />
«Ohne Alkohol mit Nathalie». Ein<br />
Hoch auf dich!<br />
46 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 3<br />
Bild: S. Fischer Verlag<br />
Der vegane Elliot Page<br />
Vor 20 Jahren wurden Vegetarier*innen<br />
gemobbt, vor 2 Jahren die Veganer*innen.<br />
Dieses Blatt hat sich gewendet. Mittlerweile<br />
werden Fleischessende mental<br />
geschlachtet: Warum verschlingst du<br />
tote Tiere? Weisst du, dass du so viele<br />
Treibhausgase verursacht wie zwei<br />
Veganer*innen?<br />
Hirnloses Fleischfuttern ist passé und<br />
vegetarische Ernährung ist streng genommen<br />
bereits old-school, also mach’s doch<br />
gleich vegan. Vorbilder gibt es zuhauf.<br />
Da wäre Schauspieler Elliot Page, der<br />
sich 2020 als trans outete und – was viele<br />
nicht wissen – bereits 2014 neben Jared<br />
Leto zum Sexiest Vegan gekürt wurde (vom<br />
Tierschutzverein Peta). Für diesen Sommer<br />
hat er übrigens seine Autobiografie angekündigt.<br />
Da wir Menschen Gewohnheitstiere sind,<br />
empfehlen Ernährungsberater*innen Folgendes:<br />
Stelle zuerst eine Mahlzeit um, veganisiere<br />
zum Beispiel das Frühstück, bis es<br />
dir in Fleisch und Blut übergegangen ist.<br />
Und dann mache beliebig Jagd auf deine<br />
restlichen Mahlzeiten.<br />
Brauchst du noch Gründe für deinen veganen<br />
Versuch? Gern: Minus tierische Fette plus<br />
sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe<br />
ergibt weniger Risiko für weitverbreitete<br />
ernährungsabhängige Krankheiten wie<br />
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ<br />
2, Bluthochdruck oder Krebs. Veganer*innen<br />
berichten, dass sie sich fitter und leistungsstärker<br />
fühlen. Und ganz wichtig: Du<br />
bist lieb zu Tieren und dem Planeten.<br />
Zweifelst du noch, ob vegan überhaupt<br />
schmeckt? Wage einen Blick ins World Wide<br />
Web: Darin wimmelt es von veganen Rezepten.<br />
Besonders verführerisch geht es auf<br />
Instagram zu: Da kratzen scharfe Messer<br />
über koreanische Pancakes.<br />
Bild: Marius Becker/dpa<br />
Die cleane<br />
Miley Cyrus<br />
Pfui, du schmutziges Ding, du.<br />
Was du so alles runterschluckst.<br />
Auweia. Retten kann dich nur noch<br />
Miley Cyrus und ihr cleaner Lifestyle.<br />
Falls du jetzt an unserem<br />
Verstand zweifelst, entspann<br />
dich. Unserem IQ geht es prächtig.<br />
Es ist wahr: Die rauschmittelerprobte<br />
Sängerin ist sauber,<br />
sogar in vielerlei Hinsicht,<br />
nicht nur bezüglich Drogen, sondern<br />
auch ernährungstechnisch.<br />
So machst du es Miley nach: Ab<br />
sofort siehst du Fast Food, industriell<br />
hergestellte Lebensmittel<br />
inklusive Zucker und gesättigte<br />
Fettsäuren nur noch aus<br />
der Ferne. Deine neuen besten<br />
Freunde heissen: Gemüse, Früchte,<br />
Nüsse, Kerne, Samen, Kräuter,<br />
Fisch, Fleisch, Eier und gesunde<br />
Fette. Du isst nur noch unbehandelte<br />
Lebensmittel – so wie einst<br />
Steinzeitmenschen. Befürworter<br />
dieser Ernährung argumentieren,<br />
dass es noch heute Urvölker gebe,<br />
die unter ähnlichen Bedingungen<br />
wie in der Steinzeit lebten und<br />
insgesamt weniger an Übergewicht,<br />
hohem Blutdruck und hohen Cholesterinwerten<br />
litten.<br />
Stellen sie hingegen ihre Ernährung<br />
nach westlichen Richtlinien<br />
um, verschlechtere sich ihr Gesundheitszustand.<br />
Falls du trotz diesen sauberen<br />
Steinzeitargumenten weiterhin<br />
schmutzige Gedanken haben solltest,<br />
dann leck doch ein Mammut<br />
oder zieh dir das neue Album von<br />
Miley rein («Endless Summer Vacation»).<br />
Wer weiss, vielleicht<br />
rettet es dich in deinem Unterbewusstsein.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
47
Bild: CC BY-SA 4.0<br />
Der digitalfreie<br />
Felix Jaehn<br />
Du wolltest auf Grindr bloss kurz schauen,<br />
ob dir Analconda geantwortet hat, aber<br />
Stunden später scrollst du noch? Du zählst<br />
Instagram-Herzchen zum Einschlafen? Dann<br />
musst du jetzt stark sein und darauf vertrauen,<br />
dass diese beiden Wörter nur das<br />
Beste für dich wollen: Stopp Screening!<br />
Story — 3<br />
Never ever? Ach, komm schon! Was Ed Sheeran<br />
und Ariana Grande schaffen, schaffst du<br />
doch mit links. Auch der DJ und Musikproduzent<br />
Felix Jaehn verabschiedete sich einst<br />
für acht Wochen in den handyesken Flugmodus,<br />
um «einfach nur zu leben».<br />
Hast du Angst, etwas zu verpassen? Paradoxerweise<br />
gibt es Apps, die helfen, den<br />
Handykonsum zu kontrollieren. Besser finden<br />
wir: Schiebe deine «gefährlichsten» Apps<br />
auf deinem Homescreen in die hinterletzte<br />
Ecke (selbst getestet – funktioniert).<br />
Führe Offline-Zeitfenster ein. Treffe echte<br />
Menschen an echten Orten – ungefiltert, beschissen<br />
ausgeleuchtet und Auge in Auge.<br />
Falls du trotzdem im Social-Media-Rabbit-Hole<br />
verschwindest – wir haben dich<br />
gewarnt: Neurowissenschaftler*innen an der<br />
University of North Carolina haben bei 12-<br />
bis 15-Jährigen nachgewiesen, dass sich<br />
ihr Gehirn verändert. Hatten sie ihre Social-Media-Feeds<br />
über viermal am Tag gecheckt,<br />
aktivierten sich langfristig drei<br />
Hirnregionen übermässig: belohnungsverarbeitende<br />
Schaltkreise, die auch auf Erfahrungen<br />
wie Geldgewinne reagieren; Hirnregionen,<br />
die die Aufmerksamkeit bestimmen, und<br />
der präfrontale Kortex, der bei der Regulierung<br />
und Kontrolle hilft. Eva H. Telzer,<br />
eine der Autor*innen der Studie, spricht<br />
von «ziemlich dramatischen Veränderungen<br />
in der Art und Weise, wie das Gehirn reagiert».<br />
Du bist nicht zwischen 12 und 15<br />
Jahre alt? Ach, mach doch, was du willst.<br />
Dann kann dich nur noch die Netflix-Serie<br />
«Detox» retten, in der zwei französische<br />
Cousinen ihre Handys wegschmeissen.<br />
Bild: Ilana Panich-Linsman, Netflix<br />
Der ausmistende<br />
Bobby Berk<br />
Wenn der Entscheidungsbaum dich hierhergeführt<br />
hat, braucht deine Wohnung<br />
eine Entschlackungskur. Das heisst<br />
übersetzt: Entscheide dich schnell.<br />
Denke beim Ausmisten nicht zu lange<br />
nach. Insgeheim weisst du, ob du<br />
etwas behalten willst oder nicht, du<br />
musst dich bloss schnell und intuitiv<br />
entscheiden.<br />
Brauchst du noch Inspiration? Dann<br />
zieh dir staffelweise «Queer Eye» auf<br />
Netflix rein und schau, was Lifestyle-Experte<br />
Bobby Berk dort zaubert.<br />
Oder du zeichnest auf ein Blatt Papier<br />
alle Räume auf, die du einer Detox-Kur<br />
unterziehen willst. Gib jedem<br />
Raum eine Note von 1 bis 6. Je tiefer<br />
die Zahl, desto grösser der Entschlackungsbedarf.<br />
Ergänze zu jedem<br />
Raum das Datum, wann du fertig sein<br />
willst, und schätze die Zeit, die du<br />
dafür brauchst.<br />
Nun gehe von Raum zu Raum und nutze<br />
den Drei-Boxen-Trick: Er zwingt dich,<br />
für jeden Gegenstand eine Entscheidung<br />
zu treffen. Beschrifte dafür<br />
drei Boxen mit: «behalten & brauchen»<br />
für alles, was du behalten möchtest,<br />
weil du es regelmässig brauchst oder<br />
mit einer Erinnerung verbindest; «weg<br />
damit» für alles, was du sicher loswerden<br />
möchtest (denk nicht nur an<br />
Gegenstände für den Abfall, sondern<br />
auch an solche zum Verschenken, Spenden<br />
oder Verkaufen); «lagern» für<br />
Dinge, die du behalten möchtest, aber<br />
nur selten brauchst. Beschrifte sie<br />
ordentlich und lagere sie, damit du<br />
sie schnell wieder findest.<br />
Hüte dich vor dem «Vielleicht»-Stapel.<br />
Er ist das Ende jedes Detox-Anfangs.<br />
Entscheide schnell, intuitiv<br />
und frage dich bei jedem Stück:<br />
«Macht es mich glücklich?»<br />
48 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 3<br />
«Wodka und Kartoffelchips<br />
sind auch vegan»<br />
Ernährung ist zu einer Art Religion<br />
geworden. Zwischen Vegan-<br />
Videos, Detox-Challenges und<br />
Pseudogetreide-Hype hat der Satz<br />
«Du bist, was du isst» eine neuartig-schwergewichtige<br />
Bedeutung<br />
erlangt. Sebastian, was bist<br />
du und was isst du?<br />
Biologisch betrachtet, stimmt dieser<br />
Satz ja sogar, weil das, was wir<br />
essen, tatsächlich zu einem Teil von<br />
uns wird. Ich selbst lebe und esse<br />
vegan. Und ja, es ist auch für mich<br />
mehr als bloss Ernährung. Vegan ist<br />
meine Lebenseinstellung, die vor<br />
etwa fünf Jahren schrittweise in mir<br />
herangereift ist und welche ich nun<br />
für mich selbstverständlich lebe.<br />
Ist vegane Ernährung die beste?<br />
Sollten wir es dir alle nachtun?<br />
Wenn man es rein gesundheitlich<br />
betrachtet, kommt es auf die Art und<br />
Weise an. Du kannst dich auch mit<br />
Wodka und Kartoffelchips vegan<br />
ernähren. Erst wer sich vollwertig<br />
vegan ernährt und das Vitamin B12<br />
supplementiert, hat gesundheitlich<br />
eine der besten Formen gewählt.<br />
Das bestätigen Studien über Zivilisationskrankheiten<br />
(Anm. d. Red.:<br />
etwa die Adventist Health Study 2<br />
sowie die EPIC-Oxford Studie). Mich<br />
würde es auf jeden Fall freuen, wenn<br />
es mir alle nachtäten, weil wir dann<br />
viele mehr wären, die Erde und Klima<br />
schützen. Jeder einzelne Mensch<br />
könnte dadurch dazu beitragen, das<br />
enorme Leid der ausgebeuteten<br />
Tiere zu vermeiden.<br />
Wie stark verbreitet sind Körperwahn<br />
oder Essstörungen bei queeren<br />
Menschen?<br />
Bei Menschen, die sich viel in den<br />
Sozialen Medien bewegen, ist<br />
Körperwahn sehr präsent. Gerade<br />
junge Personen sind anfällig<br />
dafür, wenn sie täglich vermeintlich<br />
perfekte Leben und Körper sehen,<br />
90-60-90-Masse, Sixpacks, Bizepsberge.<br />
Das befeuert den Drang<br />
nach Selbstoptimierung. Ob queere<br />
Menschen davon eher betroffen sind,<br />
kann ich nicht untermauern.<br />
Wo ziehst du die Grenze zwischen<br />
Selbstdisziplin und Selbstquälerei?<br />
Was ist noch gesund?<br />
Ernährung ist mir keine Quälerei, da<br />
ich sie aus meinen Werten ableite.<br />
Ich finde, dass sie alltagstauglich und<br />
sozialverträglich sein sollte. Wenn<br />
ich etwa konsequent auf Industriezucker<br />
und Fertigprodukte verzichte,<br />
kann es schwer werden, mit<br />
Freund*innen essen zu gehen. Zum<br />
Glück bekommt man mittlerweile<br />
in fast allen Restaurants zumindest<br />
in grösseren Städten auch vegane<br />
Gerichte. Selbstdisziplin ist etwas<br />
Gutes, solange man sich wohlfühlt<br />
und reflektiert.<br />
«Ich rate meinen Kund*innen von<br />
Sport ab.» «Mit diesem Pulver<br />
kannst du essen, was du willst, und<br />
du nimmst trotzdem ab.» Im Web<br />
schreien Ernährungs-Expert*innen<br />
kreuz und quer. Was ist Humbug<br />
und was hilfreich?<br />
«Picke dir am besten<br />
aus allen Detox-Typen<br />
etwas heraus, das zu<br />
dir passt.»<br />
Solche Aussagen sind blosses<br />
Marketing, um auf das Produkt aufmerksam<br />
zu machen. Es sind ja auch<br />
Sätze, die Menschen insgeheim<br />
hören wollen. Aber mit gesundem<br />
Menschenverstand erkennt man<br />
Humbug. Höre in dich hinein, sei<br />
ehrlich zu dir selbst und akzeptiere,<br />
dass Gesundheit ein Zusammenspiel<br />
ist aus Bewegung, Ernährung,<br />
Erholung, mentaler Gesundheit und<br />
der eigenen Sinnfrage. Es gibt nicht<br />
DIE eine Zauberformel.<br />
Der Frühling ist da und weckt den<br />
Wunsch nach mehr Leichtigkeit.<br />
Hast du einen ultimativen Tipp?<br />
Ja, am besten pickst du dir aus allen<br />
Detox-Typen etwas heraus, was zu<br />
dir passt. Der Impuls aufzuräumen<br />
im Körper, Geist und in der Wohnung<br />
ist natürlich, eine Art Neustart.<br />
Ich selbst mache zudem eine Kur<br />
für drei bis sechs Tage mit selbstgepressten<br />
Säften. Eine Wohltat für<br />
den Darm – und für die Psyche, denn<br />
sie mag es auch, wenn du etwas<br />
bewusst für deine Gesundheit tust.<br />
Sebastian Süß ist<br />
selbstständiger<br />
veganer Ernährungsberater,<br />
Gesundheitscoach<br />
und<br />
HIV-Aktivist. Dieser<br />
QR-Code führt<br />
dich zu seinem<br />
Instagram-Profil:<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
49
Interview<br />
Bild: Clifford Prince King<br />
50 Frühling <strong>2023</strong>
Interview<br />
«Wir Schwarzen<br />
sind lauter<br />
geworden»<br />
Kelela. Nachname Mizanekristos, ist eine der aufregendsten und auf den<br />
ersten Blick widersprüchlichsten Popkünstlerinnen unserer Zeit. In London<br />
hat uns die 39-Jährige verraten, warum sie einst abtauchte und nun<br />
ihr zweites Album «Raven» drei Jahre verzögert herausbringt. Ein Gespräch<br />
mit einer bodenständigen Ausserirdischen, wie sich die Künstlerin selbst<br />
bezeichnet.<br />
Interview: Steffen Rüth<br />
Kelela, auf dem Cover deines Albums «Raven» liegst du auf<br />
dem Rücken im dunklen Wasser, nur dein Gesicht schaut raus.<br />
Nimmst du ein entspanntes Bad oder kämpfst du gegen den<br />
Untergang?<br />
(lacht) Ich habe offenbar alles richtig gemacht. Denn genau diese<br />
Uneindeutigkeit ist es, die ich mit dem Bild hervorrufen wollte.<br />
Halte ich den Kopf gerade so über Wasser? Oder treibe ich genüsslich<br />
dahin? Reinigt mich das Wasser oder will es mich verschlingen?<br />
Beides kann sein.<br />
Welche Vision hast du für deine Musik, die irgendwie<br />
zugleich traditionell und zukunftsweisend ist?<br />
Ich hatte immer einen festen Platz in meinem Herz für Neo-Soul.<br />
Künstlerinnen wie Erykah Badu, Aaliyah oder selbst Janet Jackson,<br />
deren Neunziger-Alben wie das fantastische «The Velvet<br />
Rope» ich verehre, haben mich inspiriert und angespornt. Ich<br />
sah mich immer als Teil dieser Tradition, die etwas Warmes und<br />
Umschmeichelndes hat. Aber ich beschränke mich nicht auf die<br />
Vergangenheit, ich habe auch die Zukunft im Blick. Und ich liebe<br />
Synthesizer, ich liebe den Rave, ich liebe die Ekstase.<br />
Dein Debütalbum «Take Me Apart» kam 2017 raus.<br />
Wie hast du die vergangenen sechs Jahre verbracht?<br />
Geplant war es nicht, so lange zu warten. Ich hätte die Musik<br />
gern früher rausgebracht, und eigentlich war Anfang 2020 das<br />
allermeiste fertig geschrieben und aufgenommen. Wir haben in<br />
Berlin produziert und gearbeitet, zum Teil im Studio von Peaches<br />
aufgenommen, und ich war ein paar Mal im Berghain, um die<br />
Nacht durchzutanzen. Dann jedoch bremste mich die Pandemie<br />
aus, und noch mehr als das sorgte der brutale Polizistenmord am<br />
Schwarzen George Floyd mit den nachfolgenden Aufständen und<br />
der grossen Debatte über rassistische Gewalt und Rassismus an<br />
sich dafür, dass ich noch warten wollte, bevor ich diese Musik<br />
unter die Leute brachte.<br />
Warum?<br />
Ich wollte nicht, dass alle denken, mein Album sei eine Reaktion<br />
auf die Gräueltat. Denn das ist sie nicht. Ich schrieb «Raven» auf<br />
der Basis meiner Erfahrungen, Gefühle und Lebensumstände.<br />
Vieles, was schon lang Teil meiner Lebensrealität ist, wird seit<br />
dem Mord an George Floyd breit in der Gesellschaft diskutiert.<br />
Dieses Verbrechen hat Schleusen geöffnet, niemanden hat es unberührt<br />
gelassen, und bei mir selbst hat es dazu geführt, dass ich<br />
ein halbes Jahr lang, da sind wir wieder bei der Wassermetapher,<br />
abtauchen musste.<br />
Um was zu tun?<br />
Nachzudenken und mich um mich selbst zu kümmern. Meine Erfahrungen<br />
zu verarbeiten, mit Menschen zu sprechen, Informationen<br />
zu sammeln und alles sacken zu lassen. Das hatte etwas<br />
Beängstigendes, denn das System des Musikbusiness verlangt<br />
von dir, ständig präsent zu sein, möglichst unmittelbar auf Erschütterungen<br />
zu reagieren. Wer sich da rausnimmt, wird vergessen,<br />
so heisst es. War mir egal. Ich zog den Stecker meiner gesamten<br />
Internetpräsenz. Ich stellte mein Online-Leben auf «Stopp»,<br />
während ich in meinem realen Leben permanent sendete und<br />
empfing.<br />
Was hat die «Black Lives Matter»-Bewegung, die nach<br />
dem Tod Floyds entstand, bewirkt?<br />
Die Mehrzahl der weissen Menschen war schockiert von der Tat.<br />
Es wurde zu einem grösseren Tabu, ein Rassist oder eine Rassistin<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
51
Interview<br />
«Unser Leben wird nicht<br />
automatisch fairer, nur weil<br />
viele weisse Menschen<br />
sich schämen.»<br />
zu sein. Der Rassismus ist natürlich nicht verschwunden, er findet<br />
jetzt subtiler und nuancierter statt. Aber die Sensibilität hat sich<br />
erhöht, die Nadel der Schande hat sich in die richtige Richtung<br />
bewegt. Allerdings wird unser Leben als schwarze oder braune<br />
Menschen nicht automatisch fairer und gleichberechtigter, es<br />
wächst nur die Menge an weissen Menschen, die sich schämen.<br />
Wie erlebst du selbst Rassismus?<br />
Die Musikindustrie wurde gebaut von weissen Männern für<br />
weisse Männer. Wenn du weder weiss noch ein Mann bist, kann<br />
dich das Klima in der Branche schnell entmutigen. Ich musste<br />
weniger Scheisse durchqueren als manch andere, aber immer<br />
noch zu viel. Du kannst dich auflehnen, nur bist du dann womöglich<br />
deinen Plattenvertrag schnell wieder los. Du musst also zumindest<br />
manche der Spielchen mitspielen, obwohl es sich nicht<br />
gesund anfühlt. Das gilt für uns alle und selbst für jemanden wie<br />
Beyoncé, auch wenn du im ersten Moment denkst, erfolgreiche<br />
Frauen würden über allen Machtspielchen stehen. Tun sie nicht.<br />
Du hast über die «Black Lives Matter»-Auswirkungen auf<br />
Weisse gesprochen. Wie sind die Folgen für Nichtweisse?<br />
Uns hat dieser Aufstand viel Kraft, Stärke und Mut gegeben. Wir<br />
Schwarzen sind lauter geworden. Wir sagen klar und deutlich,<br />
wo unsere Grenzen sind. Wir ziehen rote Linien, wir haben eine<br />
breitere Brust als noch vor einigen Jahren, und das alles ist keine<br />
Momentaufnahme, sondern eine wirkliche und dauerhafte Veränderung.<br />
Besteht die Chance, dass Rassismus, Sexismus und<br />
Homophobie irgendwann aussterben?<br />
Es ist ein Tauziehen. So sehr die Welt freundlicher wird gegenüber<br />
traditionell unterdrückten und klein gehaltenen Personenkreisen,<br />
so sehr radikalisieren sich auf der anderen Seite die Intoleranten,<br />
Fortschrittsfeindlichen und Hassenden. Ich selbst indes<br />
fühle mich heute akzeptierter als zu Beginn meiner Karriere. Das<br />
wiederum macht mich und meine Musik freier, konsequenter und<br />
gewagter. Die Zeiten haben sich geändert. Schwarze, braune und<br />
queere Kunstschaffende sind definitiv sichtbarer geworden.<br />
Einige Songs auf «Raven» sind samtig-sanft, ein wenig traurig<br />
manchmal und einfach schön, auf anderen geht es mit einem<br />
deutlichen Club-Music-Einfluss ordentlich zur Sache.<br />
Ja, die Melancholie und die Euphorie stehen gleichberechtigt nebeneinander.<br />
«Raven» ist meine Version des alten Konzepts des<br />
«Crying in the Club». Tränen auf der Tanzfläche sind etwas Herrliches.<br />
Diese Songs sind dunkler, aber es gibt auf «Raven» auch<br />
52 Frühling <strong>2023</strong>
Interview<br />
Bild: Justin French<br />
Kulturen waren noch nicht so durchlässig wie heute. Besser wurde<br />
es erst, als weisse Künstler*innen kamen, die bei Schwarzen<br />
wie bei Weissen Akzeptanz fanden – Robyn, Pink und Justin<br />
Timberlake fallen mir da ein. So sangen Weisse damals nicht – ich<br />
fand sie allesamt cool.<br />
Du bist auch stark an Mode interessiert, und die Modeindustrie<br />
an dir. Wie zentral ist Fashion für deine Kunst?<br />
Ich liebe Mode. Punkt. Und in der Tat, die Bildsprache ist mir extrem<br />
wichtig. Mein ästhetischer Ausdruck hat einerseits etwas<br />
von einem weltentrückten, geheimnisvollen Alien, und andererseits<br />
gebe ich mich erdverbunden und nahbar. Auch in diesem<br />
Punkt bin ich nicht hier oder dort, sondern überall. Eine bodenständige<br />
Ausserirdische (lacht).<br />
viel Freude, Lust, Befreiung und Erlösung. Bei «Happy Ending»<br />
zum Beispiel denke ich, das sollte ein letzter Song sein, bevor der<br />
Club alle nach draussen bittet. Einmal noch die Grandiosität des<br />
Lebens spüren, und mit allen Sinnen diese Musik erleben, bevor<br />
die Nacht vorbei ist. Das hat für mich etwas tief Spirituelles.<br />
Lassen sich zwischen Kirche und Club Parallelen finden?<br />
Spürst du eine Art göttliche Kraft, wenn du im Berghain tanzt?<br />
Natürlich. Beides sind Orte der Erlösung. Orte zum Durchschnaufen<br />
und zum Abschalten von deiner üblichen Gedankenwelt. Club<br />
wie Kirche können uns unserem Kern näherbringen, indem sie<br />
uns befreien – im besten Fall auch von uns selbst.<br />
Bist du als Teenager schon gerne tanzen gegangen?<br />
Überhaupt nicht. Bei meinem ersten Rave war ich längst erwachsen.<br />
Ich war auch vorher nie Teil einer bestimmten Szene. Ich bin<br />
kein «Entweder-oder»-, sondern ein «Sowohl-als-auch»-Mensch.<br />
Ich fand es immer komisch, wenn Leute nur ein bestimmtes<br />
Genre von Musik hörten. Mein Geschmack war immer schon<br />
geprägt von Überlappungen. Auch meine Freundeskreise waren<br />
unterschiedlich. Ich ging mit schwarzen Freund*innen zu R’n’B-<br />
Konzerten und mit meinen weissen Leuten zu Fiona Apple. So<br />
war das in den Neunzigern und frühen Nullerjahren noch. Die<br />
Kelela<br />
Mizanekristos<br />
Auf ihrem zweiten Album «Raven»,<br />
das satte sechs Jahre nach dem<br />
bestens beleumundeten Debüt «Take<br />
Me Apart» nun endlich draussen ist,<br />
kombiniert die sich als queer identifizierende<br />
Künstlerin sinnlichen<br />
Retro-R’n‘B im Stil Janet Jacksons mit<br />
cluborientierten Beats und klugen,<br />
samtstimmlich vorgetragenen Worten<br />
über Liebe, Sex, Religion, Rassismus<br />
und Rebellion. Sie kam als Kind<br />
äthiopischer Einwanderereltern in<br />
Washington D.C. zur Welt und lebt<br />
heute in New York.<br />
Hör und schau dir hier die Songs<br />
vom neuen Album «Raven» an:<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
53
Musik<br />
Neue<br />
Musik<br />
LIE NING<br />
utopia<br />
Als kreatives Multitalent mit<br />
samtiger Falsettstimme versteht<br />
es Lie Ning, sich und seine düster<br />
schillernden Disco-Soul-Sounds<br />
gekonnt in Szene zu setzen. «utopia»<br />
ist der erste Longplayer des<br />
Mittzwanzigers. Bei der Produktion<br />
setzte er bewusst auf die Hilfe<br />
eines Teams aus queeren schwarzen<br />
und FLINTA*-Personen, um<br />
ein Gegengewicht zu dem von<br />
weissen cis Männern dominierten<br />
Popbusiness zu schaffen. Stilistisch<br />
erinnert die Platte gleichermassen<br />
an Werke Anohnis, Years &<br />
Years‘ und Woodkids.<br />
Erscheint am 14.4.<strong>2023</strong><br />
(Humming Records)<br />
Yves Tumor<br />
Praise A Lord Who Chews But Which Does Not<br />
Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds)<br />
*Die Abkürzung FLINTA steht für Frauen,<br />
Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre,<br />
trans und agender Personen<br />
Yves Tumor hat einiges zu sagen,<br />
wie schon der ausgedehnte Titel<br />
deren* fünften Studioalbums andeutet.<br />
Dabei sind die Botschaften<br />
des extrovertierten nicht-binären<br />
Popstars, der bereits im<br />
Vorprogramm von Florence + The<br />
Machine spielte, alles andere als<br />
plakativ oder oberflächlich. Schonungslos<br />
wirft Sean Bowie, wie<br />
Yves Tumor mit bürgerlichem Namen<br />
heisst, einen Blick auf eine<br />
von Hass, Intoleranz und Rassismus<br />
geprägte Gesellschaft. Ihr<br />
mahnend gegenüber stellt dey<br />
eine Rock-Platte, die mit jedem<br />
Klischee bricht, das man von einer<br />
eben solchen erwarten würde.<br />
Zwar sind Schlagzeug, E-Gitarren<br />
und Bowies rotziger Gesang die<br />
vordergründigen Ton- und Takt-<br />
Geber, doch wird die resultierende<br />
Härte durch ein Potpourri aus<br />
psychedelischen Harmonien, Hip-<br />
Hop-Einflüssen sowie orchestral<br />
aufgepeppten Instrumentierungen<br />
durchbrochen. «Praise A<br />
Lord . . . » präsentiert sich als Genregrenzen<br />
sprengendes Avant-<br />
Garde-Meisterstück. Mehr queere<br />
Power und Grandezza hat man<br />
lange nicht zu hören bekommen!<br />
Erschienen am 3.3.<strong>2023</strong><br />
(WARP Records/Rough Trade)<br />
*dey/denen/deren: Pronomen für nicht-binäre Menschen, die<br />
weder mit «er» noch «sie» bezeichnet werden möchten.<br />
Redaktion<br />
Martin Busse<br />
Can’t Get<br />
It Out Of<br />
My Head<br />
Playlist<br />
Eine exquisite Auslese<br />
von aktuellen<br />
Ohrwürmern findest<br />
du in unserer<br />
MANNS<strong>CH</strong>AFT-<br />
Playlist:<br />
54 Frühling <strong>2023</strong>
Musik<br />
Fever Ray<br />
Radical Romantics<br />
Karin Dreijer hat den Rotstift angesetzt<br />
und malt bewusst über den Rand. Den<br />
Rand dessen, was im Allgemeinen<br />
unter schön oder hässlich verstanden<br />
wird. Ihr Alias Fever Ray steht optisch<br />
wie akustisch für eine geschlechtsneutrale<br />
Bizarrerie. Schrullig, jedoch<br />
eingängig und tanzbar wirkt auch<br />
das, was sie auf «Radical Romantics»<br />
zusammengeschustert hat. Unterstützung<br />
gab es dabei erstmals wieder von<br />
ihrem Bruder Olof, mit dem sie einst<br />
das Erfolgsduo The Knife bildete.<br />
Erschienen am 10.3.<strong>2023</strong><br />
(Republic/Universal Music)<br />
Everything But The Girl<br />
Fuse<br />
Wer, wenn nicht Tracey Thorn und Ben<br />
Watt, sind prädestiniert dafür, sich<br />
dem aktuellen Nineties-Rival anzuschliessen?<br />
Beziehungsweise es mit<br />
Authentizität zu unterfüttern, war es<br />
schliesslich ihr Projekt Everything But<br />
The Girl, das der Drum’n’Bass- sowie<br />
Deep-House-Bewegung einst einen<br />
energetischen Anschub lieferte. «Fuse»<br />
ist das erste Album des Ehepaars seit<br />
24 Jahren und eine beeindruckende<br />
Reminiszenz an die Clubmusik der<br />
Vergangenheit, die eine Liaison mit Soul<br />
und Downtempo-Impulsen wagt.<br />
Erscheint am 21.4.<strong>2023</strong> (Buzzin‘ Fly<br />
Records/Virgin Music)<br />
Becky<br />
Tossing and Turning (EP)<br />
Dragqueens sind laut und schrill, dringt<br />
es aus der mit Stereotypien beladenen<br />
Schublade. Dass dem ganz und gar nicht<br />
so sein muss, beweist die aufstrebende<br />
Berliner Underground-Songwriterin Becky.<br />
Ihre Debüt-EP ist rau und nachdenklich.<br />
Gespickt mit englischen und deutschen<br />
Lyrics, beherrscht von progressiven<br />
Melodien und wenig Schnickschnack.<br />
Ein Spiegel für das originelle Wesen, das<br />
hinter dem Make-up steckt und das mit<br />
Indierock deutlich mehr anfangen kann als<br />
mit seelenlosem Bubble-Pop.<br />
Erschienen am 27.1.<strong>2023</strong> (self-released)<br />
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Story — 4<br />
4<br />
Der<br />
trans<br />
Tag<br />
56 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 4<br />
Text – Julia Monro<br />
Am 31. März feiern<br />
trans Menschen weltweit<br />
den Transgender<br />
Day of Visibility, damit<br />
sie gesehen werden,<br />
nicht übersehen. Wir<br />
haben bei vier Vereinen<br />
nachgefragt, einer<br />
«Miss Germany»-Teilnehmerin,<br />
einer RTL-<br />
Dschungelcamperin,<br />
einer Aktivistin, einem<br />
Autor und zwei Politikern,<br />
was ihnen der<br />
Tag bedeutet.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
57
Story — 4<br />
Heute sind es Millionen Menschen weltweit. Für<br />
trans Personen ist dieser Tag kaum noch wegzudenken.<br />
Sie führen eigene Veranstaltungen durch,<br />
organisieren politische Debatten, hissen Fahnen an<br />
Rathäusern und laufen fahnenschwenkend in Pink,<br />
Blau und Weiss durch die Strassen. So als wollten sie<br />
der ganzen Welt zeigen «Wir sind hier. Wir sind viele.»<br />
Vor allem aber ist es ein Signal an andere trans<br />
Personen: «DU bist nicht alleine!» Sie demonstrieren<br />
für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Dass niemand<br />
für sich allein diesen Weg gehen muss. Die Community<br />
ist ein Ort, wo man Kraft tanken kann.<br />
58 Frühling <strong>2023</strong><br />
ehen und gesehen werden. Das sind Grundbedürfnisse<br />
des Menschen. Wir alle streben danach zu sehen<br />
und gesehen zu werden, weil wir uns so mit anderen<br />
Menschen verbinden können. Weil wir so die Möglichkeit<br />
bekommen dazuzugehören.<br />
Trans Personen werden häufig übersehen. Sie ringen<br />
um Teilhabe, erkämpfen sich Privilegien. Ihre<br />
Sichtbarkeit ist nicht selbstverständlich. Es handelt<br />
sich nach einer Studie des Williams Institute in den<br />
USA um eine Minderheit von rund 0,6 % der Bevölkerung.<br />
Eine so verschwindend geringe Gruppe wird<br />
leicht übersehen und leicht vergessen. Um dem entgegenzuwirken,<br />
feiern trans Personen jedes Jahr am<br />
31. März weltweit den Tag der Sichbarkeit. Den Transgender<br />
Day of Visibility.<br />
Nicht die Toten bedauern, sich an<br />
den Lebenden freuen<br />
Seine Geschichte beginnt am 26. März 2009 in Michigan.<br />
Die trans Aktivistin Rachel Crandall kämpft<br />
für die Sichtbarkeit von trans Menschen innerhalb<br />
der damaligen LGBTIQ-Community. Weil es bis dahin<br />
nur einen traurigen Tag für trans Personen gegeben<br />
hat: den sogenannten TDoR, den Trans Day of<br />
Remembrance, welcher jährlich im November an die<br />
Todesopfer von transfeindlicher Gewalt erinnern soll.<br />
Rachel ist nach diesem Gedenktag oft wochenlang deprimiert<br />
und wünscht sich einen positiven Gegenpol.<br />
Sie möchte nicht mehr die Toten betrauern, sie möchte<br />
sich an den Lebenden erfreuen, sie zelebrieren und ihnen<br />
eine Stimme verleihen.<br />
Im März 2009 ergreift Rachel schliesslich selbst die<br />
Initiative. Bei Facebook startet sie einen Aufruf und<br />
verschickt ihre Idee rund um den Globus. Sie ermutigt<br />
andere dazu sich in ihren Städten zu zeigen. Sie sollen<br />
auf die Strassen gehen und Festlichkeiten abhalten.<br />
Sie selbst organisiert eine Veranstaltung etwas ausserhalb<br />
von Detroit. Sie weiss nicht, ob jemand kommen<br />
wird, um ihrem Aufruf zu folgen oder eine eigene<br />
Veranstaltung zu organisieren. Vielleicht. Vielleicht<br />
aber auch nicht? Doch viele Menschen folgen ihrem<br />
Aufruf. Seitdem verbreitet sich dieser Feiertag in der<br />
ganzen Welt und stärkt von Jahr zu Jahr die mutige<br />
trans Community.<br />
Warum es diesen Tag braucht<br />
Doch im Fokus dieser Sichtbarkeit steht die Sensibilisierung<br />
– oftmals geht das nicht ohne den traurigen<br />
Bezug dazu, warum es diesen Tag braucht. Deshalb<br />
wollen sie sensibilisieren und aufmerksam machen<br />
auf ihre Situation. Darauf, wie Politik und Gesellschaft<br />
mit ihnen umgehen. Noch immer werden trans<br />
Personen Opfer von Gewalt. Im vergangenen Jahr<br />
wurden 327 getötete trans Personen gemeldet. 95 %<br />
der Opfer waren trans weiblich. 65 % waren trans Personen<br />
of Color. 48 % waren in der Sexarbeit tätig. Und<br />
hier ist lediglich von den Zahlen die Rede, die offiziell<br />
erfasst wurden. Die Dunkelziffern mag man sich gar<br />
nicht vorstellen.<br />
Organisationen und trans Aktivist*innen machen<br />
sich deshalb stark. Mit mahnenden Worten erinnern<br />
sie am TDoV daran, wie ihre Lebensrealität aussieht,<br />
und machen auf Missstände aufmerksam. Vier national<br />
tätige Vereine beschreiben die Bedeutung dieses<br />
Feiertages. Der Queerbeauftragte der deutschen Bundesregierung<br />
und fünf trans Personen erzählen von<br />
ihren persönlichen Erfahrungen und Wünschen. Das<br />
Thema Sichtbarkeit bewegt sie alle.<br />
In Deutschland ist die Schreibweise «trans*» geläufig. MANNS<strong>CH</strong>AFT<br />
orientiert sich bei der Schreibweise von «trans» an dem Medienguide von<br />
Transgender Network Switzerland, so auch im hier vorliegenden Artikel.<br />
Bild: Sophia Emmerich
Story — 4<br />
«Transsein ist weder Hype<br />
noch Trend, sondern schlicht<br />
und einfach die Wirklichkeit<br />
einiger Menschen.»<br />
Henri Maximilian Jakobs<br />
ist Musiker und Autor in<br />
Deutschland.<br />
Für ihn ist der Transgender Day<br />
of Visibility «wichtig, um Sichtbarkeit<br />
zu bündeln, sie dadurch<br />
eindrücklicher zu machen und ihr<br />
Reichweite zu verleihen. Manchmal<br />
muss man der Gesellschaft<br />
unsere Realität ein bisschen unter<br />
die Nase reiben, um sie bei ihr ankommen<br />
zu lassen. Transsein ist<br />
weder Hype noch Trend, sondern<br />
schlicht und einfach die Wirklichkeit<br />
einiger Menschen.»<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
59
Story — 4<br />
«Gebt nicht auf, sucht euch<br />
Verbündete und besteht auf<br />
euer Recht, sicher zu leben.»<br />
Sven Lehmann ist der erste Queerbeauftragte der deutschen<br />
Bundesregierung und macht sich für die Abschaffung des<br />
veralteten Transsexuellengesetzes (TSG) stark, um es durch<br />
ein modernes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen.<br />
«Generell gibt es in den letzten Jahren eine zunehmende Sichtbarkeit<br />
von trans Personen und zu Recht fordern sie etwa in der<br />
Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz Respekt, Anerkennung<br />
und Teilhabe ein. Diese Sichtbarkeit kann zum einen andere<br />
trans Personen empowern und ermutigen, zum anderen auch<br />
cisgeschlechtliche Menschen zu Alliierten machen und dazu<br />
beitragen, dass die Welt transfreundlicher wird.<br />
Transfeindliche Menschen negieren oft die Existenz von trans<br />
Menschen oder verweigern ihnen eine Anerkennung als gleichwertig.<br />
Es geht ihnen gerade darum, dass trans Menschen unsichtbar<br />
bleiben, um vorherrschende Geschlechternormen aufrechtzuerhalten<br />
und gewaltsam durchzusetzen. Wenn dann etwa<br />
der Status quo in Frage gestellt wird, sie Widerspruch erfahren<br />
und die Deutungshoheit zu verlieren drohen, fühlen sie sich provoziert<br />
und ihre Transfeindlichkeit entlädt sich. Die Konsequenz<br />
daraus darf doch aber nicht sein, dass trans Menschen deshalb<br />
auf ein offenes Leben und eine gleichberechtigte Teilhabe<br />
verzichten. Denn klar ist auch: Unsichtbarkeit und Verstecken<br />
machen krank und garantieren auch keinen Schutz vor Diskriminierung<br />
und Gewalt.<br />
Als Queer-Beauftragtem der Bundesregierung geht es mir um<br />
echte Wertschätzung von transgeschlechtlichem Leben als<br />
selbstverständlichem Teil unserer vielfältigen Gesellschaft. Hört<br />
nicht auf diejenigen, die euch einreden wollen, dass ihr falsch<br />
seid oder weniger wert, dass ihr euch schämen oder verstecken<br />
solltet. Gebt nicht auf, sucht euch Verbündete und besteht auf<br />
euer Recht, offen, sicher und angstfrei zu leben. Ich und viele<br />
andere stehen an eurer Seite.»<br />
Bild: Cornelis Gollhardt<br />
60 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 4<br />
«Wenn ich im Raum bin,<br />
kann niemand das<br />
Thema geschlechtliche<br />
Vielfalt ignorieren.»<br />
Adrian Hector ist der erste offen lebende<br />
trans Mann in einem deutschen Landesparlament<br />
in Hamburg.<br />
Bild: Holger Edmeier<br />
«Mir ist es als Abgeordneter wichtig auch<br />
als trans Mann sichtbar zu sein, weil ich so<br />
im Parlament besser für die Rechte von trans<br />
Menschen kämpfen kann. Wenn ich mit im<br />
Raum bin, kann niemand mehr das Thema<br />
geschlechtliche Vielfalt ignorieren.»<br />
«Ich wünsche mir, dass alle trans<br />
Personen ein selbstverständlicher<br />
Teil der Gesellschaft werden.»<br />
Jolina Mennen ist Influencerin und war zuletzt<br />
im RTL-Dschungelcamp.<br />
«Eigentlich geht es uns ja gar nicht um Sichtbarkeit, sondern wir<br />
möchten einfach nur in unserer Geschlechtsidentität ankommen.<br />
Dadurch werden wir automatisch in der Gesellschaft sichtbarer.<br />
Ich denke, die wenigsten von uns wollen als Paradiesvögel wahrgenommen<br />
werden, die ständig auffallen. Stattdessen brauchen<br />
wir Plattformen, wo wir für unsere Rechte einstehen können.<br />
Ich nutze meine Reichweite, um über meine persönlichen Erfahrungen<br />
zu sprechen. Dabei ist mir immer wichtig zu betonen,<br />
dass es sich um meinen eigenen persönlichen Weg handelt, der<br />
bei anderen trans Personen völlig anders aussehen kann. Ich<br />
hoffe dadurch als positives Beispiel dienen zu können, was es bedeuten<br />
kann, trans zu sein, aber nicht zwingend für alle bedeuten<br />
muss.<br />
Dabei finde ich es immer schön Rückmeldungen von anderen<br />
trans Personen zu bekommen, dass ich sie mit meiner Sichtbarkeit<br />
bestärken und ihnen Hoffnung geben konnte. Anderen Menschen<br />
einen Teil der Kraft für die eigene Transition zu liefern, ist für mich<br />
ein Gefühl grosser Anerkennung. Wir sind aber gesellschaftlich<br />
einfach noch nicht so weit, dass ich meine Vergangenheit einfach<br />
hinter mir lassen könnte. Privat erwähne ich gar nicht erst, dass<br />
ich trans bin. Aber als Person in der Öffentlichkeit muss ich immer<br />
wieder in den sauren Apfel beissen und sagen, dass trans in<br />
meinem Leben eine Rolle spielt. Da wünsche ich mir einfach, dass<br />
alle trans Personen irgendwann ein selbstverständlicher Teil der<br />
Gesellschaft sein können, ohne auf trans reduziert zu werden.<br />
Bild: ALL IN / Nina Schmiedel<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
61
Story — 4<br />
Vier Organisationen<br />
über den TDoV<br />
Transgender Network Switzerland<br />
(TGNS) ist eine kleine Organisation,<br />
die schweizweit überwiegend<br />
ehrenamtlich tätig ist. In der<br />
Schweiz leistet sie ihren Beitrag zur<br />
Sichtbarkeit von trans Personen.<br />
«Tag für Tag müssen wir unsere Existenz rechtfertigen.<br />
Wir werden bedroht und sind massiver Gewalt ausgesetzt.<br />
Wir werden getötet, weil wir trans sind, wie leider<br />
das jüngste Beispiel von der ermordeten Brianna Ghey<br />
in England zeigt. Der Transgender Day of Visibility<br />
wird so lange wichtig sein, bis solche Dinge nicht mehr<br />
geschehen.<br />
Gerade in der Schweiz liegt noch viel Arbeit vor uns. Vor<br />
kurzem hat sich unsere Regierung gegen die Einführung<br />
einer dritten Geschlechtsoption in amtlichen Dokumenten<br />
ausgesprochen und verweigert damit vielen nichtbinären<br />
trans Personen die Anerkennung mit der Begründung,<br />
die Schweiz sei noch nicht so weit. Die Sichtbarkeit<br />
von trans Personen zeigt, dass wir existieren und dass wir<br />
das Recht auf die Anerkennung unserer Existenz haben.<br />
Staatlich und gesellschaftlich. Und dazu kann der TDoV<br />
beitragen. Leider ist der TDoV in der Schweiz nicht sehr<br />
bekannt und ausserhalb der Community kaum sichtbar.»<br />
TransX kümmert sich um trans<br />
Menschen in Österreich und<br />
bemüht sich um Awareness in<br />
Gesellschaft und Politik:<br />
«Das Thema trans wird heute viel diskutiert. Überwiegend<br />
von Menschen, die selbst nicht betroffen sind. Zu oft sind<br />
sie uninformiert, unbedacht und oft auch transfeindlich.<br />
Viele gehen aktiv gegen uns als kleine marginalisierte<br />
Gruppe vor, um uns weiter zu traumatisieren, zu diskriminieren<br />
und herabzuwürdigen. Zu oft erfolgreich mit einem<br />
medialen Echo. Wir wünschen uns mehr Sensibilisierung<br />
in den Medien, so dass sachgerecht mit uns und über<br />
uns gesprochen wird.»<br />
Die Deutsche Gesellschaft für<br />
Transidentität und Intersexualität<br />
e.V. (dgti) setzt sich seit 1998 für<br />
Akzeptanz in allen Bereichen ein.<br />
«Den Transgender Day of Visibility finden wir sehr wichtig,<br />
auch weil die Sicht der Medien auf Menschen wie<br />
uns zunehmend von Widerstand gegen Selbstbestimmung<br />
bestimmt wird. Mit grosser Sorge beobachten wir<br />
die Verbreitung von Desinformationen im Bereich der<br />
Gesundheitsversorgung, sowie Hetze in den Medien.<br />
Alles zusammen verschärft die strukturelle Benachteiligung<br />
von trans Menschen. Mehr Sichtbarkeit hat auch<br />
mehr Widerstand zur Folge. Aber das spornt uns nur<br />
noch weiter an.»<br />
Der Bundesverband Trans* (BVT*)<br />
wurde 2015 als Zusammenschluss<br />
von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinen<br />
und Initiativen auf Regional-,<br />
Landes- und Bundesebene gegründet.<br />
«Unser gemeinsames Bestreben ist der Einsatz für geschlechtliche<br />
Selbstbestimmung und Vielfalt. Der BVT*<br />
engagiert sich für die Menschenrechte im Sinne von Respekt,<br />
Anerkennung, Gleichberechtigung, gesellschaftlicher<br />
Teilhabe und Gesundheit von trans* bzw. nicht im<br />
binären Geschlechtersystem verorteten Personen.<br />
Der Trans Day of Visibility ist ein Feiertag für die trans<br />
Communities. Es ist ein Tag, an dem wir Aufmerksamkeit<br />
auf trans und nicht-binäre Personen richten und diese<br />
feiern. Gleichzeitig schwingt bei der Freude über mehr<br />
Sichtbarkeit auch immer eine bittere Note mit. Denn<br />
Sichtbarkeit ist gerade für trans Frauen und trans-feminine<br />
Personen auch eine Gefahr, insbesondere, wenn sie<br />
Rassismus erfahren oder Sexarbeiter*innen sind. <strong>2023</strong><br />
ist Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt immer<br />
noch Teil des Alltags zu vieler trans Personen. Das können<br />
wir nicht akzeptieren. Das muss sich ändern.»<br />
62 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 4<br />
«Als cis Person gibt es keine<br />
Möglichkeit, neutral zu sein.»<br />
Auch für junge trans Personen hat der Tag eine<br />
grosse Bedeutung. Emma Kohler engagiert sich<br />
schon in ihrer Jugend für die Rechte junger trans<br />
Personen in Deutschland.<br />
In einer Petition im Jahr 2021 forderte die damals<br />
17-Jährige die Abschaffung des veralteten TSG, weil<br />
sie sich ein selbstbestimmtes Leben wünscht. Fast<br />
90 000 Menschen haben sich mit ihrer Unterschrift an<br />
der Petition beteiligt.<br />
Heute sagt Emma: «Für uns trans Jugendliche ist<br />
Sichtbarkeit besonders wichtig. Während alles, was<br />
wir wollen, ein diskriminierungsfreies, normales Leben<br />
ist, bekommen wir in den Medien, in der Schule und<br />
im Privaten nichts als Transfeindlichkeit ab. Und hier<br />
gibt es als cis Person keine Möglichkeit, neutral zu<br />
bleiben: Entweder akzeptiert man diese Diskriminierung,<br />
oder man steht auf unserer Seite und kämpft<br />
dagegen an.»<br />
Bild: Emma Kohler<br />
«Ich glaube, dass wir nur durch<br />
Aufklärung und Konfrontation ans<br />
Ziel kommen.»<br />
Saskia von Bargen war trans Teilnehmerin bei<br />
der Wahl zur Miss Germany.<br />
Bild: Melina Hehemeyer<br />
Für mich bedeutet dieser Tag, sich sichtbar zu<br />
machen für sein Umfeld, und seinen Mitmenschen<br />
zu zeigen, was für eine Ungerechtigkeit noch in<br />
dieser Welt existiert. Sei es in der Bürokratie oder<br />
in der Gesellschaft. Diese Sichtbarkeit versuche<br />
ich dauerhaft zu erzeugen, da ich daran glaube,<br />
dass wir nur durch Aufklärung und Konfrontation<br />
an unser Ziel kommen, damit Transgeschlechtlichkeit<br />
kein Thema mehr in der Gesellschaft ist und<br />
mit allen Vorurteilen aufgeräumt wird. Das wollte<br />
ich durch meine Teilnahme an der Wahl zur Miss<br />
Germany erreichen. Wie können wir das in der Zukunft<br />
schaffen? Wir müssen die Menschen in ihrem<br />
direkten Umfeld, sei es in der Schule oder bei der<br />
Arbeit, abholen und direkt über das Thema LGBTIQ<br />
sprechen, denn wir sind nun mal in einem Zeitalter,<br />
in dem wir jeden Tag mit dem Thema konfrontiert<br />
werden, ob in den Medien oder im direkten Umfeld.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
63
Interview<br />
Bild: Jason Mendez/Getty Images for Universal Pictures<br />
Bunte Kinofamilie:<br />
Jonathan Groff (links)<br />
mit Ben Aldridge und<br />
Kristen Cui.<br />
64 Frühling <strong>2023</strong>
Interview<br />
«Hollywood<br />
steckt Leute<br />
gerne in<br />
Schubladen»<br />
Im neuen Thriller «Knock at the Cabin» von M. Night Shyamalan spielen<br />
Jonathan Groff und Ben Aldridge eine Regenbogenfamilie, die in einer<br />
Hütte im Wald bedroht wird. Im Interview mit MANNS<strong>CH</strong>AFT sprechen die<br />
beiden über queere Repräsentation in Hollywoodfilmen.<br />
Interview – Patrick Heidmann<br />
Ben, Jonathan, der Regisseur M. Night Shyamalan, gehört seit<br />
über 20 Jahren zu den erfolgreichsten der Welt. Ist sein Name<br />
allein Anreiz genug für ein Projekt zuzusagen?<br />
Aldridge: Als die erste E-Mail zu «Knock at the Cabin» kam, war<br />
ich kurz genervt. Denn das war eine Aufforderung zum E-Casting,<br />
sprich: Ich sollte ein Video von mir selbst beim Vorsprechen<br />
machen. Das ist immer etwas, was ich eher anstrengend und nervig<br />
finde. Doch dann las ich den Namen M. Night Shyamalan –<br />
und war sofort wieder versöhnt. Für einen Filmemacher wie ihn<br />
würde man ja noch ganz andere Sachen auf sich nehmen. Ausserdem<br />
war ich neugierig, denn wie bei einem solchen Film wohl<br />
üblich, bekamen wir nicht das ganze Drehbuch, sondern nur ein<br />
paar Seiten, in denen es darum ging, dass einige Leute ständig auf<br />
ihre Uhr gucken. Aber es gab da auch ein schwules Paar, das über<br />
Adoption sprach. Auch als ich zweimal längere Zoom-Gespräche<br />
mit ihm führte, erfuhr ich nicht viel mehr. Irgendwann rief er<br />
dann an und sagte, dass er mich gerne für die Rolle haben würde.<br />
Ich hatte 24 Stunden Zeit, endlich das ganze Skript zu lesen und<br />
mich zu entscheiden. Das hat mich richtig nervös gemacht. Aber<br />
natürlich musste ich nicht lange nachdenken, schliesslich bin ich<br />
schon lange Fan seiner Filme und fand die Aussicht, mit ihm zu<br />
drehen, absolut aufregend.<br />
Groff: Für mich war hier auch der Name Shyamalan die grosse Attraktion.<br />
Als grosser Kinofan liebe ich es, wenn die Regieperson<br />
letztlich der Star eines Films ist und eine eigene Handschrift oder<br />
Markenzeichen hat. Schliesslich verbringt man beim Drehen als<br />
Schauspieler ja viel Zeit in ihrem Kopf. Bei Night war ich mir –<br />
ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben – sicher, dass das eine<br />
einmalige, faszinierende Erfahrung werden würde. Und was soll<br />
ich sagen: Er hat mich kein bisschen enttäuscht.<br />
Ben, dir ist ins Auge gestochen, dass hier ein schwules Paar<br />
im Zentrum der Geschichte steht. Wie wichtig war dir das an<br />
«Knock at the Cabin»?<br />
Aldridge: Das ist schon der Punkt gewesen, den ich beim Projekt<br />
besonders aufregend fand. Ich habe ja erst mit meinem Coming-out<br />
vor drei Jahren verstärkt angefangen, queere Figuren<br />
zu spielen, und bin immer noch ganz begeistert davon, dass diese<br />
nochmal eine ganz andere Facette in meiner Arbeit hervorbringen.<br />
Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ich zu diesen Figuren<br />
doch oft eine leicht andere Nähe empfinde und in ihnen ein klein<br />
wenig mehr von mir selbst teile. In meinen Zwanzigern war die<br />
Schauspielerei auch eine Flucht. Ich habe es geliebt, mich auf Rollen<br />
zu stürzen, die ganz weit weg von mir waren und die ich mir<br />
deswegen richtig hart erarbeiten musste. Das mag ich heute noch,<br />
aber es ist auch wundervoll, nun solche zu spielen, zu denen ich<br />
einen authentischeren emotionalen Bezug habe.<br />
Wie war es für dich, Jonathan?<br />
Groff: Ich fand es auch unglaublich besonders, dass in einem Film<br />
von M. Night Shyamalan ein schwules Paar im Mittepunkt der<br />
Geschichte steht. Es ist noch nicht so lange her, dass ich so etwas<br />
für kaum vorstellbar hielt. Als ich mich 2009 mit 24 Jahren<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
65
Interview<br />
Im Thriller spielen Jonathan Groff und Ben Aldridge zwei schwule Väter, die in einem Häuschen im Nirgendwo überfallen werden.<br />
outete, hielt ich es für ziemlich aussichtslos, jemals in Filmen mitzuspielen.<br />
Broadway klar, aber Hollywood? Das war noch einmal<br />
eine ganz andere Sache. Und damals gab es ja noch nicht einmal<br />
die Ehe für alle. Rund 15 Jahre später nun ein verheiratetes gleichgeschlechtliches<br />
Paar samt Tochter in einer solchen kommerziellen<br />
Mainstreamproduktion zu sehen, ist doch einfach nur bemerkenswert!<br />
Daran teilhaben zu dürfen, empfinde ich als grosses<br />
Privileg.<br />
Interessanterweise spielt die Queerness der Figuren dann<br />
aber weder in der Geschichte des Films noch in seiner Marketingkampagne<br />
eine allzu grosse Rolle . . .<br />
Aldridge: Das gefiel mir besonders gut. Für die Geschichte ist es<br />
bloss relevant, dass es um eine sich liebende Kleinfamilie geht.<br />
Dass es nun zwei Väter und ihre Adoptivtochter sind, ist tatsächlich<br />
Nebensache. Das zeigt, wie universell die Themen Liebe und<br />
Familie sind, ohne dass in diesem Fall das queere Narrativ komplett<br />
ausgeblendet wird. Wir sehen durchaus, mit welchen sehr<br />
spezifischen Konflikten diese Männer es zu tun haben, von einem<br />
Coming-out gegenüber den Eltern bis hin zu homophober Gewalt.<br />
Doch wie das hier in einem allgemein zugänglichen Mainstream-Kontext<br />
dargestellt wird, finde ich schon ausgesprochen<br />
gelungen und progressiv.<br />
Habt ihr beide versucht, gezielt familien-ähnliche Bande zu<br />
knüpfen, um die Beziehung eurer Figuren besonders glaubwürdig<br />
darstellen zu können?<br />
Groff: Zum Glück haben wir gleich auf Anhieb gemerkt, dass die<br />
Chemie zwischen uns stimmt, und die kann man ja nicht einfach<br />
künstlich erzeugen. Wir fingen sofort an, zu quatschen –<br />
und haben damit bis heute nicht wirklich aufgehört (lacht). Bei<br />
den Dreharbeiten haben wir dann gleich in der ersten Woche<br />
66 Frühling <strong>2023</strong>
Interview<br />
«Im Publikum wird<br />
es viele geben, die noch<br />
nie eine Regenbogenfamilie<br />
dieser Art gesehen<br />
haben.» Ben Aldridge<br />
Bilder: <strong>2023</strong> Universal Studios<br />
alle Rückblenden gedreht, die die Vergangenheit dieses Paares<br />
zeigen. Das fand ich hilfreich, denn so steckten wir nicht gleich<br />
von Beginn an in dieser Extremsituation in der Hütte im Wald.<br />
Dann stiess die kleine Kristen zu uns, die unsere achtjährige<br />
Tochter spielt. Mit ihr haben wir möglichst viel Zeit verbracht<br />
– auch wenn die Kamera nicht lief –, damit echtes Vertrauen<br />
zwischen uns entstehen konnte. Ben war mit ihr Schlittschuhlaufen,<br />
wir haben zusammen «Just Dance» auf der Playstation<br />
gespielt . . . solche Dinge eben. Der Liebe und Verbundenheit,<br />
die zwischen unseren Figuren herrscht, waren wir uns und auch<br />
Night sich immer sehr bewusst, deswegen verloren wir das nie<br />
aus den Augen.<br />
Hofft ihr, dass das Publikum von «Knock at the Cabin» sich<br />
am Ende nicht nur gruselt, sondern vielleicht auch noch etwas<br />
anderes mitnimmt?<br />
«Knock at<br />
the Cabin»<br />
Ausgerechnet M. Night Shyamalan,<br />
der Mann hinter Welterfolgen wie<br />
«The Sixth Sense», «Signs» oder<br />
«Split», hat mit «Knock at the Cabin»<br />
(aktuell im Kino) den ersten grossen<br />
Mainstream-Psychohorror vorgelegt,<br />
in dessen Zentrum ein schwules Paar<br />
samt Adoptivtochter steht. Dass ihm<br />
das überzeugend gelingt, verdankt<br />
sich neben seinem Talent als Regisseur<br />
auch den beiden Hauptdarstellern.<br />
Shyamalan konnte für<br />
seinen Film der erfolgreichsten offen<br />
queeren Schauspieler dieser Tage<br />
gewinnen: den Amerikaner Jonathan<br />
Groff, der nach Broadway-Erfolgen<br />
und Serien wie «Looking» und «Mindhunter»<br />
zuletzt Gastauftritte in «And<br />
Just Like That» oder «Life & Beth»<br />
hatte, sowie den Briten Ben Aldridge,<br />
der jüngst Hauptrollen in den Serien<br />
«Pennyworth» und «The Long Call»<br />
spielte und demnächst im Film «Spoiler<br />
Alert» zu sehen ist.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
67
Interview<br />
Bild: <strong>2023</strong> Universal Studios<br />
Regisseur M. Night Shyamalan gab Ben Aldridge 24 Stunden Zeit, um das Drehbuch zu lesen und für die Rolle zuzusagen.<br />
Aldridge: Das ist natürlich die spannende Frage! Nights Filme<br />
werden ja wirklich nicht nur von sehr vielen, sondern auch sehr<br />
unterschiedlichen Menschen gesehen, und da wird es viele geben,<br />
die noch nie eine Regenbogenfamilie dieser Art gesehen haben.<br />
Ich würde mir natürlich wünschen, dass der eine oder die andere<br />
dadurch vielleicht einen neuen Blick auf das Thema bekommt<br />
oder ein paar Vorurteile über Bord wirft. Es ist sicherlich nicht<br />
das Ziel des Films, voreingenommene Menschen zum Umdenken<br />
zu bringen, aber wenn das nebenbei passiert, wäre das doch famos.<br />
Davon abgesehen denke ich, dass es auch für unsere Community<br />
selbst toll ist, diese Figuren auf der Leinwand zu sehen.<br />
Queerness in einem Film dieser Art so prominent repräsentiert<br />
zu sehen, hat ja etwas sehr Bestärkendes und Mutmachendes. Ich<br />
zumindest empfinde das als echtes Zeichen von Fortschritt.<br />
Für dich ist «Knock at the Cabin» auch Teil eines ganz neuen<br />
Karriereabschnitts, zu dem auch der Film «Spoiler Alarm»<br />
gehört, der im Mai in die Kinos kommt. Die Zeiten, in denen die<br />
meisten dich als Arschlochtyp aus «Fleabag» kennen, sind<br />
langsam vorbei, oder?<br />
Aldridge: Meinetwegen dürfen die Leute bei meinem Anblick ein<br />
Leben lang an den Arschloch-Typ denken. Ich bin den nie leid gewesen,<br />
sondern im Gegenteil bis heute unglaublich stolz darauf,<br />
ein kleiner Teil dieser fantastischen Serie gewesen zu sein. Phoebe<br />
Waller-Bridge ist eine der witzigsten, smartesten Personen unserer<br />
Branche, und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir damals<br />
diese Rolle gegeben hat. Aber ich freue mich natürlich auch wirklich<br />
sehr, dass ich in letzter Zeit an so vielen spannenden, höchst<br />
verschiedenen Projekte teilhaben durfte und sogar grosse, noch<br />
dazu schwule Kinorollen spielen konnte. Ich geniesse meinen Job<br />
gerade sehr und freue mich nicht zuletzt, wie vielfältig und divers<br />
die Geschichten inzwischen sind, die in Film und Fernsehen<br />
erzählt werden.<br />
Jonathan, du hast schon lange viele queere Figuren gespielt,<br />
von «The Normal Heart» bis «Looking». Aber dann gab es eben<br />
auch Rollen wie den Protagonisten in der Serie «Mindhunter»<br />
oder den Animationserfolg «Frozen». Sorge, in einer Schublade<br />
für LGBTIQ-Projekte festzustecken, hattest du nie?<br />
Groff: Tatsächlich hatte ich nie den Eindruck, auf irgendetwas<br />
festgelegt zu sein. Aber die Gefahr droht als Schauspieler immer,<br />
nicht nur als schwuler. Hollywood steckt Leute gerne in Schubladen,<br />
gerade wenn man mit einer bestimmten Sache bekannt<br />
wurde. Als Broadwaydarsteller muss man dann beweisen, dass<br />
man mehr kann als Musicals, als Komiker, dass man auch ernste<br />
Rollen spielen kann. Wir alle haben es aber letztlich selbst in der<br />
Hand zu beweisen, wie vielseitig wir sind. Und wir alle müssen<br />
uns deswegen immer wieder darum bemühen, so spannende und<br />
facettenreiche Rollen wie möglich zu finden.<br />
68 Frühling <strong>2023</strong>
Musik<br />
Bild: Lucas Coersten<br />
Fragen<br />
an Bi Your<br />
Side<br />
Anna Ruhland und Jan<br />
Willems haben zusammen<br />
den Podcast «Bi<br />
Your Side» ins Leben<br />
gerufen, um den bisexuellen<br />
Identitäten<br />
mehr Sichtbarkeit zu<br />
verschaffen.<br />
«Das B in LGBTIQ wird<br />
gerne vergessen»<br />
Anna und Jan, wann habt ihr selbst<br />
festgestellt, bi zu sein?<br />
Anna: Bei mir fiel der Groschen, als ich<br />
das erste Mal Sex mit einer Frau hatte. Im<br />
Nachhinein merkte ich, dass das nicht nur<br />
ein Punkt auf meiner To-do-Liste war. Mir<br />
aber einzugestehen, dass ich bisexuell bin,<br />
dauerte noch lang.<br />
Jan: Unterbewusst wusste ich schon immer,<br />
dass ich Jungs auch gut finde. Aber ich<br />
konnte es mir erst mit 23 eingestehen. 100<br />
Prozent sicher war ich mir jedoch noch<br />
nicht. Zwei Jahre später erzählte ich es meiner<br />
Freundin, meiner heutigen Frau. Als wir<br />
unsere Beziehung öffneten, hatte ich mein<br />
erstes Mal mit einem Mann. Danach war ich<br />
mir sicher.<br />
Wie steht es aus eurer Sicht um die<br />
Akzeptanz gegenüber Bisexualität?<br />
Jan: Da ist Luft nach oben! Die allgemeine<br />
Akzeptanz ist grösstenteils vorhanden. In<br />
der breiten Masse kann aber noch etwas<br />
passieren. Man kann Bisexualität von aussen<br />
kaum erkennen, wenn man nicht – wie ich<br />
es tue – mit Frau und Freund aufkreuzt.<br />
Gerade die Präsenz bisexueller Männer ist<br />
gering und begrenzt sich fast ausschliesslich<br />
auf Apps. Es fehlen Vorbilder.<br />
Anna: Die fehlende Sichtbarkeit ist auch<br />
innerhalb der queeren Community ein Problem.<br />
Auch wenn es LGBTIQ heisst, wird das<br />
B gerne vergessen.<br />
Was hat euch bewogen, einen Podcast<br />
über Bisexualität zu starten?<br />
Anna: Es war ein ganz intrinsischer Wunsch,<br />
Bisexualität eine Bühne zu geben. Ich habe<br />
mit meinem inneren Coming-out total gehadert<br />
und wusste nicht, ob ich mich als bi<br />
bezeichnen «darf» und ob ich einen Platz in<br />
der Community habe.<br />
Was ist für euch das Schöne daran,<br />
bi zu sein?<br />
Jan: Das Verlieren des Schubladen-Denkens<br />
in vielen Situationen. Ich habe die Fähigkeit,<br />
den Facettenreichtum von Liebe, Beziehung<br />
und Sex komplett auskosten zu können,<br />
wenn ich denn will.<br />
Anna: Man hinterfragt plötzlich, was man<br />
alles angenommen haben könnte, das<br />
vielleicht nicht zu einem passt. Müssen Beziehungen<br />
immer monogam und zwischen<br />
zwei Menschen sein? Definitiv nicht! Das<br />
Leben ist bunt, fluide, individuell und schön,<br />
das hat mir die Bisexualität deutlich gemacht.<br />
Was erwartet die Hörer*innen in eurem<br />
Podcast?<br />
Jan: Wir versuchen so viele Themen wie<br />
möglich anzugehen. Uns hören Menschen<br />
innerhalb und ausserhalb der Community<br />
zu, die unterschiedliche Kenntnisse mitbringen.<br />
Deswegen klären wir am Anfang jeder<br />
Folge Begriffe und wissenswerte Fakten.<br />
Wir haben auch Gäste, die uns einen neuen<br />
Blickwinkel auf verschiedene Themen ermöglichen.<br />
Im Groben geht es um Liebe,<br />
Beziehungen, Queerness und Sex, und<br />
zwar alles aus Sicht von zwei bisexuellen<br />
Menschen.<br />
Interview – Martin Busse<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
69
REISEN<br />
Tasmanien<br />
«Tassie» – so nennen die Einheimischen<br />
ihre Insel liebevoll. Sie<br />
ist der südlichste und damit auch<br />
kälteste Bundesstaat Australiens.<br />
Seine Vielfalt ist unschlagbar.<br />
Für die Mannschaft<br />
unterwegs:<br />
Kriss Rudolph<br />
Bild: Tourism TasmaniaKathryn Leahy<br />
Vermutlich ist Tasmanien ein ziemlich guter<br />
Vorgeschmack auf Neuseeland, auch wenn<br />
man dazu noch mal gut 2000 Kilometer von<br />
Australien Richtung Osten durch die Tasmanische<br />
See zurücklegen muss. Obwohl es<br />
kaum vorstellbar ist, dass es irgendwo noch<br />
grüner werden kann. Beim Durchqueren der<br />
Insel fällt der Blick auf endlose Wiesen, auf<br />
denen Schafe weiden, für den europäischen<br />
Gast nicht die spannendsten Tiere hier. Das<br />
sind neben dem Känguru zweifellos der<br />
Tasmanische Teufel und der Wombat, die anderswo<br />
auf der Welt ein Leben im Zoo fristen<br />
müssen.<br />
Auch sonst ist die Insel ausgesprochen vielseitig:<br />
schneebedeckte Berge, weisse Sandstrände,<br />
nicht enden wollende Moor- und<br />
Heidelandschaften und üppige Regenwälder.<br />
Das alles ist nicht nur wunderschön: Es riecht<br />
auch noch gut, was den hiesigen Eukalyptusbäumen<br />
zu verdanken ist; rund 700 Eukalyptusarten<br />
zählt allein die Insel. Auch die Luft ist<br />
unverschämt sauber, jedenfalls in Cape Grim.<br />
Der Nordwestzipfel der Insel gilt als der Ort<br />
mit der saubersten Luft der Welt. Je nachdem<br />
wie der Wind steht – idealerweise aus dem<br />
Süden kommend, das nächste Festland ist<br />
die Antarktis –, tendiert das Aufkommen an<br />
Schmutzpartikeln pro Kubikmeter teils gegen<br />
Null.<br />
Wer Fisch mag: Seafood ist hier unbedingt<br />
zu empfehlen. Barsch, Forelle, Makrele, Roter<br />
Schnapper – dank der grossen Bandbreite<br />
an Klimazonen und Ökosystemen gibt es hier<br />
nichts, was es nicht gibt. Allerdings müssen<br />
Australien-Reisende wissen: Günstig isst und<br />
lebt man hier nicht.<br />
Bild: Paul Fleming<br />
70 Frühling <strong>2023</strong>
REISEN<br />
Sattes Grün, klares Wasser, einsame Strände: Erholung auf Tasmanisch.<br />
Grindelwald<br />
Lesbisch und lustig<br />
Die berühmteste lebende Tochter Tasmanians<br />
dürfte Hannah Gadsby sein; auch<br />
der 1959 verstorbene Schauspieler Errol<br />
Flynn wurde hier geboren.<br />
Gadsby, Jahrgang 1978, wuchs in Smithton<br />
im Nordwesten Tasmaniens auf – «die<br />
kleine Insel, die am Arsch von Australien<br />
davon treibt», wie die Comedienne<br />
in ihrem Programm «Nanette» witzelt,<br />
das auf Netflix zu sehen ist. Die Insel sei<br />
berühmt für Kartoffeln und «ihren beängstigend<br />
kleinen Genpool». Dort wuchs<br />
Hannah als junge Lesbe an einem Ort auf,<br />
an dem Homosexualität noch illegal war<br />
und LGBTIQ verfolgt wurden.<br />
Comedy beschreibt das, was sie auf der<br />
Bühne tut, nur sehr unzureichend. Kritiker*innen,<br />
die nicht über sie lachen können<br />
oder wollen, nennen ihr Programm<br />
abschätzig einen Vortrag. Aber den hält<br />
sie immer wieder mit grossem Erfolg. So<br />
spielt sie in ausverkauften Häusern nicht<br />
nur in Australien, sondern auch in<br />
London, New York und Los Angeles. Sie<br />
wurde u.a. mit einem Emmy-Award ausgezeichnet<br />
und erhielt die Ehrendoktorwürde<br />
der University of Tasmania.<br />
Gadsby habe, so die Begründung, «Standup-Comedy<br />
von innen nach aussen dekonstruiert<br />
und gleichzeitig ein unbeirrbares<br />
Licht auf Homophobie, Sexismus,<br />
Gewalt und Frauenfeindlichkeit geworfen<br />
– alles im Zusammenhang mit ihrer eigenen<br />
gelebten Erfahrung». Sie habe zudem<br />
einen tiefgreifenden Einfluss auf die<br />
zeitgenössische Populärkultur, trotz der<br />
ernsten Themen, die sie behandelt – etwa<br />
die Brutalität der europäischen Invasion.<br />
Viele Orte, die man aus Europa<br />
kennt, finden sich in dem klassischen<br />
Einwanderungsland<br />
Australien wieder: Liverpool,<br />
Heidelberg und sogar Grindelwald.<br />
Der Touristenort im<br />
Norden Tasmaniens beherbergt<br />
rund 1000 Seelen und einen<br />
Golfplatz.<br />
Die Siedlung besteht seit<br />
gut 40 Jahren und ist stilistisch<br />
einem typischen Schweizer<br />
Dorf nachempfunden. Die<br />
Häuser haben ausladende,<br />
teils spitzwinklige Dächer,<br />
unter den Fenstern hängen<br />
Blumenkästen.<br />
Der Ruf Tasmaniens als<br />
«Schweiz des Südens» ist aber<br />
älter. Auf einem historischen<br />
Werbeplakat ist Mount Ida mit<br />
dem St. Clair See zu sehen.<br />
Zum Skifahren fährt man aber<br />
besser in den Ben Lomond National<br />
Park, rund 80 Kilometer<br />
weiter im Osten gelegen.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
71
REISEN<br />
Port Arthur<br />
In einer Bucht im südöstlichen Teil der Insel<br />
liegt Port Arthur. Auf den ersten Blick<br />
wirkt der Ort friedlich und idyllisch. Doch<br />
er ist eng verbunden mit der Gründungsgeschichte<br />
des heutigen Australiens - zu<br />
der das Verdrängen der Ur-Bevölkerung<br />
ebenso gehört wie die Gründung unerbittlicher<br />
Strafkolonien durch die Briten.<br />
Damals wurden vor allem Männer nach<br />
Australien geschickt, zwischen 1788 und<br />
1868 waren es wohl über 162 000. Einige<br />
kamen schon im Kindesalter, damals war<br />
man bereits mit 7 Jahren strafmündig.<br />
In Tasmanien behauptet man gerne im<br />
Scherz, die dortige Bevölkerung stamme<br />
nicht von den damaligen Strafgefangen<br />
ab, die seien nämlich alle in den Bundesstaat<br />
Victoria gezogen. Reines Wunschdenken.<br />
Auf Tasmanien gab es einst zahlreiche<br />
Strafkolonien, darunter Port Arthur, das<br />
erste Gefangenenlager Australiens, eins<br />
der ausbruchsichersten, grausamsten<br />
und grössten im Land und heute UNESCO<br />
Weltkulturerbe. Hierhin wurden auch aufsässige<br />
Häftlinge anderer Gefängnisse<br />
entsandt. Port Arthur war benannt nach<br />
George Arthur, dem einstigen Vize-Gouverneur<br />
von Van Diemen’s Land, wie die<br />
Briten Tasmanien zunächst nannten,<br />
nachdem sie die Aboriginal-Bevölkerung<br />
abgeschlachtet und das Land geraubt<br />
hatten.<br />
Wer versuchte zu entkommen, wurde<br />
mit bis zu 100 Peitschenhieben bestraft.<br />
An Grausamkeit übertroffen wurde Port<br />
Arthur vielleicht nur noch von Norfolk Island,<br />
südlich von Neukaledonien gelegen<br />
und näher an New Zealand als an Australien.<br />
Dort wurde der erste überlieferte<br />
schwule Liebesbrief geschrieben, von<br />
Denis Prendergast, der in Quellen auch<br />
mit dem Namen Pendergast auftaucht.<br />
1838 kam er in Australien als Strafgefangener<br />
an und wurde später erhängt, weil<br />
er an einem Aufstand beteiligt war. Sein<br />
Brief an den Geliebten Jack, aus dem<br />
queere Medien gerne zitieren, endet mit<br />
den Worten: «Ich hoffe, Du verliebst dich<br />
in keinen anderen Mann, wenn ich tot<br />
bin, und dass ich dein wahrer Liebhaber<br />
bleibe.»<br />
Homosexuelle Kontakte unter Europäern<br />
waren im kolonialen Australien durchaus<br />
verbreitet, wie etwa der Historiker Robert<br />
Aldrich nachgewiesen hat. Angesichts<br />
«gleichgeschlechtlicher Verbrechen» der<br />
Inselbevölkerung sprach die Kirche damals<br />
von Vorgängen, die «einem das Blut<br />
gefrieren und vor lauter Horror die Haare<br />
zu Berg stehen» liessen.<br />
Traurige Berühmtheit erlangte der Ort<br />
Port Arthur erneut am 28. April 1996:<br />
Bei einem Massaker erschoss der damals<br />
28-jährige Martin Bryant insgesamt<br />
35 Menschen und verletzte mindestens<br />
20 weitere.<br />
Bild: Hype TV<br />
Tasmanien<br />
Hauptstadt — Hobart<br />
Landessprache — Australisches<br />
Englisch<br />
Einwohner*innen — ca. 540 000<br />
Beste Reisezeit — Wer milde Sommer<br />
mag, kommt von Dezember bis März,<br />
dann liegen die Temperaturen um<br />
20 Grad. Im dortigen Winter, Juni bis<br />
September, wird es zwischen 5 und 12<br />
Grad kalt bzw. warm. Auf dem Mount<br />
Wellington, dem Hausberg von Hobart,<br />
liegt dann stellenweise Schnee.<br />
Einreise — Tasmanien gilt, wie ganz<br />
Australien, als sicheres Reiseland. Die<br />
Insel erreicht man über einen der beiden<br />
Flughäfen, Hobart oder Launceston.<br />
Die Anreise per Fähre bietet sich<br />
nur an, wenn man viel Zeit hat – oder<br />
ein Mietauto. Bus und Zug fahren dauert<br />
irrsinnig lange.<br />
Queer Life<br />
Tasmanien war 1997 der letzte<br />
Bundesstaat, der Homosexualität<br />
legalisierte. Inzwischen<br />
hat sich das Blatt gewendet:<br />
2003 wurden hier die ersten<br />
eingetragenen Lebenspartnerschaften<br />
in ganz Australien<br />
erlaubt; auch was die Geschlechtsoptionen<br />
in Geburtsurkunden<br />
angeht, ist der<br />
Bundesstaat sehr modern. In<br />
einem Vorort von Hobart trat<br />
im Jahr 2015 die ehemalige<br />
Fussballspielerin Martine<br />
Delaney an, die erste trans<br />
Bundespolitikerin Australiens<br />
zu werden. Sie kandidierte<br />
für die Grünen, landete aber<br />
nur auf Platz 3.<br />
Queerometer:<br />
Queeres Leben findet weitgehend<br />
in der Hauptstadt Hobart<br />
statt. Dort wird jeden<br />
Februar ein eigenes Pride<br />
Festival gefeiert, die Tas-<br />
Pride. Ansonsten gibt es<br />
eine Handvoll Bars wie The<br />
Grand Poobah, dessen<br />
Limbo-Party berüchtigt ist,<br />
oder das Twisted Lime, wo<br />
man mit Musik der australischen<br />
Lokalmatadoren AC/DC<br />
empfangen wird. Der einzige<br />
queere Club, das Flamingos,<br />
musste zu Beginn der Corona-Pandemie<br />
schliessen, nach<br />
17 Jahren Bestehen. Mittlerweile<br />
sucht man nach einer<br />
neuen Location, bisher vergeblich.<br />
72 Frühling <strong>2023</strong>
REISEN<br />
Ehemalige Strafkolonie Port Arthur mit brutaler Geschichte.<br />
Insidertipps<br />
Das Polarlicht, Aurora borealis, findet auf der<br />
Südhalbkugel seine Entsprechung, und zwar<br />
in Tasmanien: das Südlicht Aurora australis.<br />
Da es auf der Insel so gut wie keine Lichtverschmutzung<br />
gibt, lässt sich das grün-blauviolett-rote<br />
Spektakel hier besonders gut geniessen,<br />
vor allem zwischen Mai und August.<br />
Dazu begibt man sich am besten nach Bruny<br />
Island, 30 Autominuten von Hobart entfernt,<br />
für die restliche Strecke gibt es eine Fähre.<br />
In Cape Bruny steht auch einer der ältesten<br />
Bild: Simon Kruit<br />
Leuchttürme Australiens. Ausserdem kann<br />
man hier seltene Wildtiere wie Weisse Wallabys,<br />
eine Känguru-Art, beobachten oder sich<br />
mit regional hergestellten Leckereien wie<br />
Käse, Whisky und Schokolade eindecken.<br />
Bei schlechtem Wetter oder ausserhalb der<br />
Saison empfiehlt sich ein Besuch im noch<br />
recht jungen Mona Museum, das sich vor<br />
allem den Themen Sex und Tod widmet. Sein<br />
Gründer und Besitzer, David Walsh, nannte<br />
es mal ein «subversives Disneyland für Erwachsene».<br />
Vor ein paar Jahren lief hier die<br />
erste australische Retrospektive des schwulen<br />
Künstlerpaars Gilbert & George. Diesen<br />
Februar trat Peaches beim jährlichen «Mona<br />
Foma»-Sommerfestival auf.<br />
Es sei einer dieser Ort, wo man als Besucher*in<br />
sagen kann: «Ich bin mir bei der<br />
Kunst nicht sicher, aber die Architektur ist<br />
toll», heisst es in der ironischen Selbstbeschreibung<br />
des Museums, nachzulesen<br />
auf:<br />
– mona.net.au/<br />
«Ich habe auf<br />
meiner Australientour<br />
vieles gesehen,<br />
aber die sattgrünen<br />
Landschaften und<br />
der wunderschöne,<br />
saubere, fast leere<br />
Stand – selbst am<br />
Wochenende! –<br />
haben mir am besten<br />
gefallen.»<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
73
Story — 5<br />
5<br />
Wenn die<br />
Synapsen<br />
Karneval<br />
feiern<br />
74 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 5<br />
Text: Greg Zwygart<br />
Bilder: Silvie Brucklacher-Gunzenhäußer<br />
Torsten Poggenpohl<br />
ist schwul, HIV-positiv<br />
und bipolar. In seiner<br />
Manie setzte er reihenweise<br />
aufs Spiel: den<br />
Job, seine Gesundheit,<br />
Freund*innen und<br />
Familie. Um seine Diagnose<br />
zu akzeptieren,<br />
musste er sich zuerst<br />
seiner grössten Herausforderung<br />
stellen –<br />
sich selbst.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
75
Story — 5<br />
en Gürtel von Hermès kaufte sich Torsten Poggenpohl<br />
am Flughafen auf dem Weg zum Gate. Einfach so,<br />
quasi im Vorbeigehen. Die 1000 Euro blätterte er hin,<br />
ohne gross nachzudenken.<br />
Auf den ersten Blick war das auch nichts Aussergewöhnliches.<br />
Leisten konnte er sich’s ja. Ausserdem<br />
waren Luxus-Accessoires ein wichtiger Bestandteil<br />
seiner Garderobe. Torsten liebte es, Kleidung von<br />
H&M oder Zara mit einem edlen Eyecatcher zu akzentuieren:<br />
Loafers von Bally, ein Schal von Burberry, ein<br />
Gürtel von Gucci oder eben von Hermès. «Wie Carrie<br />
Bradshaw, die ihr Outfit im Vintage-Laden kauft und<br />
mit ein paar Manolo-Blahniks kombiniert», sagt er im<br />
Interview lachend.<br />
Rückblickend weiss Torsten, dass dieser Spontankauf<br />
nur eines von vielen Anzeichen war, die sich in<br />
jener Zeit, 2013, häuften. Der damals 33-Jährige verlor<br />
den Realitätsbezug zum Geld, lebte in einem Dauergehetze<br />
zwischen Arbeit und Party an der Grenze<br />
zur Dekadenz. Ohne es zu wissen, fiel Torsten in eine<br />
Manie.<br />
Der Pakt mit dem Teufel<br />
Torsten konnte nicht nur teure Güter kaufen, er besass<br />
auch ein Talent für deren Verkauf. Nach einem<br />
abgeschlossenen Jurastudium entschied er sich gegen<br />
die Anwaltskarriere und wagte den Quereinstieg in<br />
der Parfümerie eines Stuttgarter Luxuskaufhauses.<br />
Sein oberstes Gebot war es, den Kundinnen das beste<br />
Einkaufserlebnis zu bieten. In seinem Kopf rollte<br />
er ihnen den roten Teppich aus und entführte sie<br />
mit Champagner und Stretchlimo in die glamouröse<br />
Welt der Stars und Sternchen. Mit dieser Motivation<br />
arbeitete sich Torsten schnell zur Counterleitung und<br />
schliesslich zum Gebietsverkaufsleiter hoch. Im Gebiet<br />
Augsburg zwischen Schwäbisch Hall, Füssen,<br />
Garmisch-Partenkirchen, München und Ingolstadt<br />
war er für über hundert Parfümerien zuständig, in<br />
denen es darum ging, das Beste aus Personal und Verkaufszahlen<br />
zu holen. Mit einem nigelnagelneuen<br />
Audi fuhr er kreuz und quer durch Bayern, die Verkäufer*innen<br />
liebten ihn, der Umsatz schoss in die<br />
Höhe. Torsten war die Nummer eins.<br />
Als die Geschäftsleitung ihm den Wechsel in seine<br />
Traumstadt Hamburg vorschlug, sagte er zu. Doch<br />
der Norden machte ihn nicht glücklich. Über mehrere<br />
Monate hinweg fand er keine Wohnung, auch mit dem<br />
Verkauf wollte es nicht hinhauen. Im Ranking der Gebietsverkaufsleiter*innen<br />
fiel Torsten von der Spitze<br />
auf den letzten Platz zurück. Es dauerte nicht lange<br />
und er bereute seinen Wegzug aus Bayern.<br />
Nachdem seine Nachfolgerin im Gebiet Augsburg<br />
abgesprungen war, bat er um seine Rückversetzung.<br />
Die Geschäftsleitung willigte ein – mit einer Bedingung:<br />
Torsten müsse nebenbei die Mutterschaftsvertretung<br />
für die Kollegin aus dem angrenzenden Gebiet<br />
Nürnberg und somit die Verantwortung für ihre 45<br />
Geschäfte übernehmen. Er nahm das Angebot sofort<br />
an. Heute bezeichnet er es als «Pakt mit dem Teufel».<br />
Torstens Tag begann nun um 6 Uhr mit Kaffee und<br />
Zigaretten, bevor er nach mehreren hundert Autokilometern<br />
um 20 Uhr nach Hause kam, um dann<br />
E-Mails zu beantworten und Bestellungen in Auftrag<br />
zu geben. Das Wochenende schlug er sich im schwulen<br />
Nachtleben in Augsburg, Stuttgart oder München<br />
um die Ohren – mit wenig Schlaf und viel Alkohol. Er<br />
fragte sich: «Warum muss man für einen anständigen<br />
Club nach München oder Stuttgart fahren?» Torsten<br />
beschloss kurzerhand, in Augsburg einen extravaganten<br />
Nachtclub zu eröffnen und beantragte Kredite<br />
für mehrere hunderttausend Euro. Die als Sicherheit<br />
benötigte Lebensversicherung setzte einen HIV-Test<br />
voraus, der zu seiner grossen Überraschung positiv<br />
ausfiel. Torstens Blutwerte waren katastrophal: 16<br />
Helferzellen blieben übrig bei einer Virenlast von<br />
rund 5 Millionen. Er hatte Glück, dass sein Immunsystem<br />
nicht noch von anderen Krankheiten geschwächt<br />
wurde. Doch seine Ärztin warnte ihn: «Wenn es so<br />
weitergeht, sind Sie bald ein toter Mann.»<br />
Das Kartenhaus stürzt ein<br />
Zu diesem Zeitpunkt hatte Torstens finanzieller Realitätsverlust<br />
bereits begonnen. Für die Promotion seiner<br />
anstehenden Nachtcluberöffnung scheute er keine<br />
Auslagen, von teuren Plakatkampagnen bis hin zum<br />
grosszügigen Sponsoring anderer Events. Er bestellte<br />
stets teuren Champagner, kaufte Outfit um Outfit –<br />
wenn nicht für sich, dann für seine guten Freundinnen<br />
– und nahm auch mal das Taxi in einen Münchner<br />
Club, nachdem er in Augsburg von einer Kneipe rausgeworfen<br />
worden war.<br />
Die HIV-Diagnose war der Tropfen, der das Fass<br />
langsam zum Überlaufen brachte. Wenn Dinge nicht<br />
so liefen, wie Torsten es wollte, und auch seine Redegewandtheit<br />
nichts mehr nützte, konnte er ruppig<br />
werden. Egal, ob Fremde, geschäftliche Kontakte,<br />
76 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 5<br />
Viel Arbeit, viel<br />
Party, kein Bezug<br />
mehr zum Geld:<br />
Torsten glitt immer<br />
mehr ab in eine<br />
Manie.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
77
Story — 5<br />
«Wenn es so weitergeht, sind<br />
Sie bald ein toter Mann.»<br />
Freund*innen oder Familie: Er scherte sich nicht<br />
mehr darum, was andere von ihm hielten oder ob er<br />
verbrannte Erde hinterliess. «Ich war mitten in meiner<br />
Manie», erinnert sich Torsten heute. Als ihn die Verkäufer<br />
des Nachtclubs schliesslich zur Rede stellten,<br />
weil er den vereinbarten Kaufpreis noch nicht überwiesen<br />
hatte, flüchtete er im Taxi. Er war am Rande<br />
des Zusammenbruchs.<br />
Alle sahen es, nur Torsten selbst nicht. Nachdem<br />
seine Eltern und Geschwister ihn in die Psychiatrie<br />
überwiesen hatten, stufte ihn der Arzt als keine Gefahr<br />
für sich oder für seine Mitmenschen ein. Torsten<br />
hatte sich wieder herausreden können.<br />
Wenige Wochen später konnte er niemanden mehr<br />
täuschen – auch sich selbst nicht. Ein richterlicher Beschluss,<br />
den seine HIV-Ärztin beantragt hatte, verdonnerte<br />
ihn schliesslich zu vier Wochen geschlossener<br />
Anstalt. Doch zur Einsicht kam er deswegen<br />
nicht. Medikamente, die nicht zu seiner HIV-Therapie<br />
gehörten, lehnte er ab. Nachdem seine Freund*innen<br />
im Stau steckten und die Besuchszeiten verpassten,<br />
schickte er ihnen ausfällige Textnachrichten. Daran,<br />
dass die Freund*innen sich untereinander abgesprochen<br />
und ihn bis dahin jeden Tag besucht hatten,<br />
dachte er nicht mehr.<br />
Die Wende brachte schliesslich das Buch «Lieber<br />
Matz, Dein Papa hat 'ne Meise» von Sebastian Schlösser,<br />
das Torsten zu seinem 34. Geburtstag von einer<br />
guten Freundin in die Psychiatrie geschickt bekam.<br />
Der Autor beschreibt darin offen seinen Umgang<br />
mit der bipolaren Störung. «Schon nach den ersten<br />
Seiten war mir klar: Egal, was er hat, ich habe es definitiv<br />
auch», sagt er. Er las Wort für Wort, Zeile für<br />
Zeile, manchmal auch mehrmals. Das Buch wurde zu<br />
seinem ständigen Begleiter. «Das war mein Gamechanger.»<br />
Zur Einsicht kommen: gar nicht so einfach!<br />
Zur grossen Erleichterung des Psychiatriepersonals<br />
wurde Torsten zunehmend kooperativer. Er nahm<br />
seine Medikamente ein, beteiligte sich aktiv an der<br />
Therapie und akzeptierte die Diagnose bipolare Störung.<br />
«Mein Arzt sagte mir später mal, dass ich von<br />
einem seiner schwierigsten manischen Patienten seiner<br />
Laufbahn zum Vorzeigepatienten der Klinik geworden<br />
sei.»<br />
Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung,<br />
die die neurochemische Signalübertragung im<br />
Gehirn betrifft. Der Dopamin- und Serotoninhaushalt<br />
– Hormone, die für unsere Gefühlslage verantwortlich<br />
sind – fällt aus dem Gleichgewicht. Die Folge<br />
sind entgegengesetzte, extreme Stimmungsschwankungen,<br />
die die betroffene Person nicht kontrollieren<br />
kann: Manie und Depression. Diversen Studien<br />
zufolge dürfte die bipolare Störung erblich veranlagt<br />
sein, muss jedoch nicht ausbrechen. Auslöser können<br />
einschneidende Lebensereignisse, Traumata oder –<br />
wie im Falle von Torsten – erhöhter und andauernder<br />
Stress sein. «Jeder Mensch hat seine persönliche<br />
Stresskante», sagt er. «Mit der Belastung in meinem<br />
Job, den Vorbereitungen für den Club und der HIV-<br />
Diagnose hatte ich diese Stresskante eindeutig überschritten<br />
und glitt ab in die Manie.»<br />
Wenn Torsten von seiner Manie spricht, dann beschreibt<br />
er sie oft mit «Karneval der Synapsen». «Die<br />
totale Reizüberflutung. Als würden dir 1000 Eindrücke<br />
gleichzeitig durch deinen Kopf jagen. Bevor<br />
du den einen Gedanken verarbeitet hast, springst du<br />
schon zum nächsten. Du kannst gar nicht auf deinen<br />
Kopf zugreifen», sagt er. Dann war da der schwindende<br />
Bezug zum Geld, den Respekt vor anderen Menschen,<br />
den er zunehmend verlor.<br />
Ist die bipolare Störung einmal ausgebrochen,<br />
kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Mit<br />
Medikamenten, die die Stimmung stabilisieren, lässt<br />
sich die Erkrankung jedoch gut therapieren. Doch so<br />
einfach ist es nicht. Das Heimtückische bei der bipolaren<br />
Störung ist die mangelnde Einsicht der Betroffenen,<br />
die Diagnose überhaupt zu akzeptieren. Das kann<br />
Torsten aus eigener Erfahrung nur bekräftigen. «In<br />
meiner Manie war ich komplett von mir selbst überzeugt.<br />
Ich hatte immer recht und alle anderen kapierten<br />
es einfach nicht», sagt er. «Der schwierigste Schritt<br />
ist, sich die Erkrankung einzugestehen und die Therapie<br />
anzunehmen.»<br />
«Wer ist der blasse Typ auf dem Foto?»<br />
Seit bald zehn Jahren lebt Torsten nun mit den Diagnosen<br />
bipolare Störung und HIV. Sein Körper und<br />
seine Psyche sprechen gut auf beide Behandlungen<br />
an: Die Medikamente sind aufeinander abgestimmt,<br />
seine Stimmungslage seit Jahren stabil. Der Erfolg<br />
setzt aber auch viel Selbstdisziplin voraus. So achtet<br />
er zum Beispiel auf eine pünktliche Einnahme seiner<br />
Tabletten und verzichtet auf Alkohol, der die Wirksamkeit<br />
seiner Therapie beeinträchtigen kann. «Ich<br />
kenne Betroffene, die das eine oder andere Glas Alkohol<br />
trinken oder eine Pille auslassen, weil es ihnen<br />
ja gut geht», erzählt er. Das könne bereits ausreichen,<br />
um eine manische oder depressive Phase auszulösen.<br />
Dem behandelnden Arzt ist Torsten sehr dankbar,<br />
denn der Erfolg der medikamentösen Behandlung ist<br />
78 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 5<br />
Aktionstag 30. März<br />
Der Geburtstag des Malers Vincent Van Gogh, der<br />
posthum als bipolar diagnostiziert wurde, wird heute als<br />
Internationaler Tag der bipolaren Störung begangen. Besonders<br />
im anglo-amerikanischen Raum sollen diverse<br />
Aktionen an diesem Tag zur Aufklärung der Erkrankung<br />
und somit zur Entstigmatisierung beitragen.<br />
Van Goghs Schaffen stand in direktem Zusammenhang<br />
mit seinen Krankheitsschüben, die sich unter anderem<br />
durch Wahnvorstellungen und Angstzustände ausdrückten.<br />
Einige seiner bedeutendsten Werke entstanden in<br />
Zeiten, in denen er mit seinen persönlichen Dämonen<br />
kämpfte. Van Gogh starb 37-jährig durch eine selbst zugefügte<br />
Schussverletzung. Ob es ein Unfall oder Suizid<br />
war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.<br />
Bild: Selbstbildnis mit Strohhut, Vincent van Gogh 1887<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
79
«Ich war ein<br />
Mensch, der<br />
immer Angst<br />
hatte, etwas<br />
zu verpassen.»<br />
Story — 5<br />
Bezüglich HIV stellt Torsten fest, dass in der Community noch viel Angst vor Stigmatisierung besteht.<br />
nicht selbstverständlich. «Ich bin so froh, dass ich in<br />
der Lage bin, Gefühle der Freude und der Trauer zu<br />
empfinden und mit anderen zu teilen», sagt er. Viele<br />
seiner Freund*innen hätten sich sehr darüber gefreut,<br />
dass er wieder ganz der Alte sei. «Die Tabletten machen<br />
keinen emotionslosen Zombie aus mir.»<br />
Mit dem medizinischen Personal musste Torsten<br />
jedoch auch enttäuschende Erfahrungen machen, gerade<br />
in Verbindung mit seinem HIV-Status. So kam<br />
einmal eine Stationsärztin in sein Zimmer und sagte<br />
zu ihm: «Hier haben wir also den jungen Mann, der<br />
nichts von Safer Sex versteht.» Ein weiterer Vorfall<br />
ereignete sich Jahre später bei einer Darmspiegelung.<br />
Zu diesem Zeitpunkt lag seine Virenlast bereits<br />
unter der Nachweisgrenze. Die Assistentin hatte<br />
von Kopf bis Fuss die Schutzbekleidung angelegt, inklusive<br />
Schutzbrille. «Als ob sie jetzt zum Mars fliegt»,<br />
sagt Torsten. Nachdem er sie darauf angesprochen<br />
hatte, gab sie zu Angst zu haben, sich mit HIV anzustecken.<br />
Eine Enttäuschung musste er auch in der Community<br />
erleben. «2018, fünf Jahre nach meiner HIV-Diagnose,<br />
wagte ich mich wieder in die Dating-Welt und<br />
lernte einen Mann kennen», erzählt er. Die beiden<br />
Männer seien wie verliebte Teenager gewesen, machten<br />
Fotos. «Mit Knutschen auf der Parkbank und so.»<br />
Torsten offenbarte seinen Status und die beiden Männer<br />
führten ein langes Gespräch – nicht nur über HIV,<br />
sondern über Gott und die Welt. Beim nächsten Treffen<br />
sagte ihm der Mann, dass sein Bruder ihn gefragt<br />
habe, wer denn der blasse Typ neben ihm auf dem Foto<br />
sei, er sehe so krank aus. Torsten brach den Kontakt<br />
ab: «Ich musste gleich 20 Freund*innen anrufen und<br />
fragen, ob ich denn wirklich so krank aussehe.»<br />
Ein Plädoyer für die Offenheit<br />
Seine Redegewandtheit stellt Torsten auch im Videocall<br />
unter Beweis. Auf die Frage, ob in der schwulen<br />
Community Nachholbedarf bezüglich HIV besteht,<br />
zeigt er sich jedoch erstmals unschlüssig. «Die PrEP*<br />
hat viele Berührungsängste mit HIV abgebaut – das<br />
finde ich grossartig», sagt er. Die Angst vor Stigmatisierung<br />
bleibe aber trotzdem. «Viele Männer, die ich<br />
von der HIV-Praxis kenne, geben bei Planet Romeo<br />
oder Grindr an, dass sie auf PrEP sind. Das zeigt mir,<br />
dass die Leute nicht mutig genug sind, ihren wahren<br />
Status offenzulegen. Sie verstecken sich lieber hinter<br />
der PrEP statt zu sagen: Eine wirksame HIV-Therapie<br />
schützt vor HIV-Übertragungen.»<br />
Auch wenn die Stigmatisierung der Gesellschaft<br />
der Auslöser für diese Mutlosigkeit sei: Solche Notlügen<br />
seien insofern problematisch, als dass sie für die<br />
Betroffenen zur Belastung würden. «Wenn du etwas<br />
vor der Welt versteckst, – wenn du nicht sein darfst,<br />
wer du bist – dann kann dich das krank machen», sagt<br />
er.<br />
Mit «einfach!ch» schrieb Torsten ein Buch über<br />
seine Diagnosen, das er 2022 im Eigenverlag veröffentlichte.<br />
Lesungen, Vorträge und Gesprächsrunden<br />
führen ihn durch ganz Deutschland und in die<br />
Schweiz, wo er für einen offeneren Umgang mit HIV<br />
und mit psychischen Erkrankungen plädiert. Für<br />
Betroffene der bipolaren Störung gründete er einen<br />
Stammtisch.<br />
80 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 5<br />
Jagt Torsten immer noch von Termin zu Termin,<br />
von Projekt zu Projekt? Er winkt lachend ab. «Ich war<br />
ein Mensch, der immer Angst hatte, etwas zu verpassen.<br />
War kein optisch passender Mann in der Bar, zog<br />
ich in die nächste und so weiter», sagt er. «Heute kann<br />
ich am Freitag- und Samstagabend zuhause sitzen und<br />
habe kein Problem damit.» Überhaupt spiele die Achtsamkeit<br />
heute eine bedeutende Rolle in seinem Alltag.<br />
Mit positiven Aktivitäten will er negativen Gedanken<br />
entgegenwirken, bevor diese überhaupt entstehen<br />
können. «Bei mir ist das zum Beispiel Spazieren», sagt<br />
er. «Oder Frühstücken! Daher achte ich darauf, jeden<br />
Tag mit einem schönen Frühstücksmoment zu beginnen.<br />
Du musst es dir wert sein, dir etwas zu bescheren,<br />
das deiner Seele guttut.»<br />
Gibt es einen Indikator dafür, dass der persönliche<br />
Stresslevel gefährliche Höhen erreicht? «Die wohl<br />
beste Achtsamkeitsübung ist der Rückzug in den bequemen<br />
Sessel mit einem guten Buch», sagt er. «Wenn<br />
man das nicht mehr hinkriegt, wird es Zeit Hilfe zu<br />
holen.»<br />
Heute ist Torsten im Reinen mit sich selbst. Die<br />
Verantwortung über ein weiteres Verkaufsgebiet, der<br />
Plan der grossen Cluberöffnung – er bereut nichts. Im<br />
Gegenteil, er habe viel über sich selbst gelernt. «Wer<br />
einmal Schiffbruch erlitten hat, setzt alles daran, dass<br />
es nicht nochmal geschieht», sagt er. «Ich war damals<br />
nicht klug genug zu verstehen, dass ich nicht immer<br />
auf Platz 1 von 16 Verkaufsleiter*innen stehen muss.<br />
Man kann auch auf Platz 7 ein erfülltes Leben haben.<br />
Ich muss nicht immer die Nummer 1 sein.»<br />
* PrEP steht für Prä-Expositions-Prophylaxe und ist ein<br />
Medikament in Tablettenform. Richtig eingenommen, schützt<br />
es HIV-negative Menschen vor einer Ansteckung mit HIV.<br />
einfach!ch<br />
In seinem Buch «einfach!ch»<br />
schildert<br />
Torsten Poggenpohl seine<br />
Reise durch seine manischen<br />
Gedanken. Ob<br />
tiefste Depression, oder<br />
die panische Angst vor<br />
dem Verlust seines Genies,<br />
alles breitet er<br />
schonungslos offen und<br />
ehrlich aus, bevor er<br />
die Leser*innen mit in<br />
die Welt seiner Therapien<br />
nimmt.<br />
Books on Demand<br />
ISBN: 978-3-7557-2349-3<br />
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AB 30. MÄRZ IM KINO !
KOLUMNE<br />
Sex-Ed auf dem<br />
Dancefloor<br />
DIE TRANS PERSPEKTIVE<br />
Anastasia war die erste<br />
trans Kommandeurin der<br />
deutschen Bundeswehr und<br />
Protagonistin des Films<br />
«Ich bin Anastasia». Sie<br />
wohnt in Berlin.<br />
anastasia@mannschaft.com<br />
Illustration: Sascha Düvel<br />
Ich bin immer noch erstaunt, wie<br />
ruhig ich geblieben bin. Als ob es nur<br />
eine andere Art Small Talk gewesen wäre.<br />
Und dennoch könnte ich beim Schreiben<br />
gerade laut schreien.<br />
Ein kurzer Ausflug in das Berliner<br />
Nachtleben mit meinen Freund*innen<br />
sollte es werden. Frivol, entspannt, sexy<br />
und mit geilem Sound. Mehr wollten wir<br />
nicht. «Lasst uns ‹Heten› gucken gehen<br />
und etwas Queerness in das Partyleben<br />
bringen», sagte ein Freund. Ein einfacher<br />
Plan, brillant und schnell umgesetzt.<br />
Knapp angezogen, ein bisschen gestylt,<br />
mit queerer Berliner Attitüde auf den Weg<br />
gemacht. An der viel zu langen Schlange<br />
selbstbewusst vorbeispaziert, die Anund<br />
Umstehenden gemustert und an der<br />
Tür um direkten Einlass gebeten. Es war<br />
schliesslich kalt und wir Queers frieren<br />
nicht wirklich gerne. Ein kurzes Mustern,<br />
ein verständiges Lächeln und die Pforten<br />
zur Nachtfeier schwingen auf.<br />
Während meine Freund*innen unsere<br />
warmen Winterklamotten bei der<br />
Garderobe deponierten, entspannte ich<br />
mich im Vorraum des Clubs und schaute<br />
mir das herrliche Treiben an. Menschen<br />
verschiedenen Alters, mit mehr oder weniger<br />
Erfahrung in derartigen sexpositiven<br />
Räumen, lächelnd und etwas Abstand<br />
haltend. Einige vielleicht etwas<br />
zurückhaltend, aber mit offensichtlicher<br />
Vorfreude. Und zugleich merkte ich: Wir<br />
Queers waren an diesem Abend deutlich<br />
in der Unterzahl und ich fragte mich, ob<br />
wir hier entspannt feiern können. Egal,<br />
es ist Berlin. Der Gedanke war noch nicht<br />
ganz aus meinem Kopf, da standen SIE<br />
schon vor mir. Jung, unschuldig und unerfahren,<br />
war mein erster Eindruck. Ich<br />
sollte mich nicht täuschen.<br />
«Bist du aus Berlin?» war der unschuldige<br />
Einstieg in eine Unterhaltung,<br />
die mich immer noch nachhaltig beeindruckt.<br />
«Du bist doch trans*, oder?» Bevor<br />
ich überhaupt antworten konnte, fügte<br />
sie hinzu: «Ich arbeite nämlich in der<br />
Psychiatrie.» Ein «Uff» entwich mir, aber<br />
nur in meinen Gedanken. Ihr Freund, so<br />
nahm ich aus den Augenwinkeln, lächelte<br />
leicht betreten, blieb aber interessiert<br />
stehen und wartete wohl auf meine Antwort.<br />
«Ja, ich bin aus Berlin». Und aus<br />
irgendeinem Grund beschloss ich weiterzusprechen.<br />
«Ich bin Ana. Schön euch<br />
kennen zu lernen.» «Bist Du eine Frau?»,<br />
fragte ich zurück. Sie schaute mich etwas<br />
zu lange an und erwiderte: «Natürlich.»<br />
Ah, eine Bio-Cis-Frau. Offensichtlich aus<br />
dem süddeutschen Raum, so meine Einschätzung<br />
des Dialektes. Weiterbildung<br />
ist angesagt.<br />
Auf einmal sprang er an, mein<br />
innerer Bildungsantrieb, und mit höflicher<br />
Miene versuchte ich sie aufzuklären.<br />
Bildungsarbeit kann sich auch in einem<br />
Club vollziehen. Jeder Ort ist dafür geeignet.<br />
Also los. Ein kurzer Hinweis auf meine<br />
Geschlechtsidentität sollte ja ausreichen<br />
und meinen Gegenübern bei der<br />
Einordnung helfen. «Bist du allein hier?».<br />
«Nein.» «Ist deine Partnerin auch trans?»<br />
«Ach, deine Partnerin ist eine richtige<br />
Frau?» «Ah, sorry . . . cis, oder?» «Das ist<br />
ja mega spannend. Das kennen wir aus<br />
Heidelberg gar nicht. Und willst du den<br />
ganzen Weg gehen? Oder bist du schon<br />
operiert? Hast du denn Spass beim Sex?<br />
Also, fühlst du so richtig? Und bist du<br />
jetzt lesbisch oder wie ist das genau?»<br />
Ich konnte sie gar nicht bremsen. Offensichtlich<br />
hatten sich diese Fragen aufgestaut<br />
und endlich hatte sie eine Möglichkeit,<br />
all das zu fragen. Der Ort schien ihr<br />
vielleicht dafür geeignet. Ich weiss es<br />
nicht. Mir rauchte nach der Barrage an<br />
Fragen der Kopf. Und dennoch blieb ich<br />
konziliant. Geduldig klärte ich sie und<br />
ihren Freund auf und liess sie mit einem<br />
wichtigen Hinweis gehen: «Stellt diese<br />
Art von Fragen bitte nicht. Wir sind hier<br />
zum Feiern und Spass haben.»<br />
Ich sollte mich öfters an meine<br />
eigenen Ratschläge halten. Wir sind<br />
nicht dafür da, die Welt stets und in<br />
jedem Setting aufzuklären. Wir sind nicht<br />
die Befriedigung jedweder Neugier. Ihr<br />
könnt uns erleben und in der respektvollen<br />
Begegnung auf Augenhöhe und<br />
wertschätzend von uns erfahren. Lasst<br />
uns unseren Raum und unsere Würde<br />
und degradiert uns nicht zu Zootieren.<br />
82 Frühling <strong>2023</strong>
LOVE IS IN<br />
THE HAIR<br />
Was haben David Bowie, Prince, Debbie Harry<br />
und der Prinz von «drei Nüsse für Aschenbrödel»<br />
mit seinen hellblauen Leggins und dem<br />
blonden Rundschnitt gemeinsam? Sie haben<br />
ihren ganz eigenen Brand. Und so soll es sein.<br />
Auch für dich. Denn du bist in erster Linie du.<br />
Und du darfst sein, wer du bist. Denn wenn du<br />
ganz du selbst bist, dann machst du die Welt<br />
so viel bunter und schillernder. Also:<br />
Stay extraordinary<br />
TIME TO <strong>CH</strong>ANGE<br />
TAKE THE <strong>CH</strong>ANCE<br />
THE <strong>CH</strong>ANCE TO <strong>CH</strong>ANGE<br />
YOURS IS THE <strong>CH</strong>OICE<br />
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Story — 6<br />
6<br />
«Ich zeige<br />
den verborgenen<br />
Teil der<br />
Welt»<br />
84 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 6<br />
Interview – Denise Liebchen<br />
Fotos – Romain Berger<br />
In seiner Heimat Frankreich hat er vergeblich<br />
gesucht, was er schliesslich<br />
im Ausland gefunden hat: Anerkennung.<br />
Romain Berger inszeniert mit<br />
seinen Bildern das geheime Leben der<br />
Menschen, ihre dunklen Seiten, sonst<br />
verborgen aus politischer Korrektheit.<br />
Das Werk des Szenefotografen ist eine<br />
schräge und bunte Ode an das Leben,<br />
die Liebe und die Meinungsfreiheit.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
85
Story — 6<br />
Dein Bild «La fine fleur de la société patriarcal» zeigt zwei<br />
verschlungene Männer im Bad, während Hausfrauen in der<br />
Küche schwatzen. In «Bon appétit» fläzt einer an der offenen<br />
Kühlschranktür und gibt sich der Völlerei hin. Wie viel Romain<br />
steckt in diesen Bildern?<br />
In diesen Bildern lebe ich den Teil von mir aus, den ich verborgen<br />
habe. Ich traute mich sehr lange nicht, mich zu kleiden, zu<br />
frisieren und zu tun, was ich wollte, aus Angst vor den Blicken<br />
der anderen. Die zwei Männer verstecken sich im Bad, um ihr<br />
queeres Verlangen zu befriedigen. Der Mann in «Bon appétit»<br />
vergnügt sich ohne Scham – das Bild ist eine Metapher für Sex,<br />
für die Freiheit des eigenen Körpers und dafür, zu seinen sexuellen<br />
Wünschen zu stehen. All das steht für meine dunkle Seite, die<br />
ich seit einigen Jahren zu erforschen beginne. Und ich fühle mich<br />
immer freier mit mir selbst.<br />
Was bedeutet das Patriarchat für dich und welchen Teil<br />
davon forderst du heraus?<br />
Das Patriarchat steht für die Gesellschaft, die weissen cis-gender<br />
heterosexuellen Männer, die ein System geschaffen haben, indem<br />
sie sich als Norm durchgesetzt haben. Sie haben Regeln geschaffen<br />
und akzeptieren nicht, dass man aus ihnen ausbrechen kann.<br />
Sie haben Angst vor der Freiheit. Daher fordere ich die Gewalt<br />
heraus, mit der sie Minderheiten und Frauen unterdrücken. Ich<br />
versuche, den Menschen etwas anderes zu zeigen, weit weg von<br />
dem, was die Gesellschaft versucht, uns als normal aufzuzwingen.<br />
Ich finde ihre Regeln idiotisch.<br />
Du willst mit jedem Bild eine Geschichte erzählen.<br />
Hast du eine, die dir besonders am Herzen liegt?<br />
Eine bestimmte nicht, aber das geheime Leben von Menschen zu<br />
inszenieren . . . das ist es, was ich mag. Wir alle haben ein öffentliches<br />
Image, und oft ist dieses Image klassisch, um den Regeln<br />
und Normen der Gesellschaft zu entsprechen. Wie sieht das Leben<br />
aus, das die Menschen führen, wenn sie ihre Wohnungstür<br />
geschlossen haben? Was machen sie in ihrer Freizeit? Ich zeige<br />
gerne den verborgenen Teil der Welt, den man nicht offenbaren<br />
darf, weil man sonst von anderen verurteilt und als abnormal<br />
angesehen wird.<br />
Deine Ästhetik ist sehr gay, sagst du. Wie drückst du sie aus?<br />
Meine Ästhetik ist sehr schwul, schon deswegen, weil mein<br />
Hauptthema auf queeren Menschen basiert und weil ich die<br />
Codes der LGBTIQ-Kultur aufgreife und sie verfremde. Die Farben,<br />
die ich verwende, spielen viel mit dieser Ästhetik, die häufig<br />
in Schwulenclubs und -saunen zu finden sind.<br />
Wie findest du deine Models?<br />
Die meisten meiner Modelle finde ich über Instagram oder<br />
manchmal sind es Leute, die ich auf Partys treffe, Jungs, mit denen<br />
ich geschlafen habe und die ich perfekt für meine Kreationen<br />
finde.<br />
Deine Arbeit ist gesellschaftskritisch: Du stellst Menschen in<br />
den Mittelpunkt, die sonst diskriminiert werden. Was forderst<br />
du mit deinen Bildern ein?<br />
Ich fordere, dass man sein kann, wer man will, und tun kann, was<br />
man will, ohne beurteilt zu werden und ohne die Zustimmung<br />
anderer zu benötigen. Das ist es, was mir am meisten am Herzen<br />
liegt. Die Freiheit, sich selbst zu sein. Und dass der Hass der<br />
Liebe weicht.<br />
Du benutzt Neonlicht und sagst, es gehört mittlerweile zu deiner<br />
künstlerischen Identität. Woher kam die Idee?<br />
Ich bin ein grosser Fan des Regisseurs Gregg Araki, der Neonröhren<br />
in seinen Szenen verwendet. Diese Art von Licht erinnert<br />
mich auch an die Saunen und Clubs von Paris, die ich früher oft<br />
besucht habe. Das sind Atmosphären, die mich geprägt haben,<br />
und mit denen ich Sinnlichkeit und Sexualität verbinde.<br />
Deine Bilder muten fast an wie Gemälde. Wie viel Zeit steckst<br />
du in die Vor- und Nachproduktion?<br />
Für ein neues Bild benötige ich etwa zwei bis drei Wochen.<br />
Zwischen der Idee, der Skizze auf Papier, der Suche nach dem<br />
Modell oder den Modellen und dem Finden der Elemente der<br />
Kulisse kann ich schon eine Woche verbringen. Dann muss ich<br />
die Kulissen komplett zusammenbauen, das ist wie ein Filmsetaufbau.<br />
Manchmal brauche ich bis zu 24 Stunden, um ein Set<br />
fertigzustellen. Das anschliessende Shooting geht sehr schnell,<br />
weil ich mir vorher schon alles überlegt habe. Die Postproduktion<br />
kann von 3 bis 15 Stunden dauern, das hängt vom Bild ab. Ich bin<br />
sehr perfektionistisch, also nehme ich mir die Zeit.<br />
Deine Ausstellungstour heisst «All You Need Is Love». Ist es<br />
die Liebe, die dich zu deinen Arbeiten antreibt?<br />
Ja, ich glaube zutiefst, dass die Liebe das beste Heilmittel gegen<br />
das Böse in dieser Welt ist. Dieser Titel ist auch eine Art zu sagen,<br />
dass jeder Mensch Liebe verdient, unabhängig von seiner Sexualität.<br />
Niemand sollte gehasst werden, nur weil er von den «Normen»<br />
des Patriarchats abweicht. Das ist lächerlich und bringt<br />
nichts.<br />
Du stellst dieses Jahr in deiner Heimat Frankreich aus,<br />
in England und Deutschland. Kommst du auch mal in die<br />
Schweiz und nach Österreich?<br />
Ich werde in die Schweiz kommen, aber derzeit nicht für die «All<br />
You Need Is Love»-Tour, sondern für eine Gruppenausstellung im<br />
Mai oder Juni, um einige meiner neuen Kreationen vorzustellen.<br />
Falls eine Galerie an meiner Ausstellung «All You Need Is Love»<br />
interessiert ist, kann sie mich gern kontaktieren.<br />
Stimmt es, dass du in deinem Heimatland kaum gewürdigt<br />
wirst, während man dich im Ausland feiert?<br />
Das ist absolut wahr. Französische Galerien und Zeitschriften<br />
sind nicht begeistert davon, mich auszustellen. Sie halten mich<br />
für zu trashig, zu bunt und zu queer. Sie wollen kein Risiko eingehen<br />
und glauben nicht wirklich an meine Arbeit. Bisher hatte ich<br />
nur zwei Ausstellungen in Frankreich und jedes Mal war es sehr<br />
kompliziert. Es gibt enorm viele Regeln und wenig Freiheit. Die<br />
anderen Ausstellungen, die ich regelmässig im Ausland mache,<br />
sind anders. Galerien und Zeitschriften lieben meine Arbeit und<br />
ermutigen mich sogar, Frankreich zu verlassen, um zu ihnen zu<br />
kommen. Es gibt einen echten Unterschied zwischen Frankreich<br />
und anderen Ländern und in meiner Heimat sind sie sich nicht<br />
bewusst, was für mich im Ausland passiert.<br />
Wie erklärst du dir diesen Unterschied?<br />
Frankreich kontrolliert sein Image. Man sagt, man sei ein sehr<br />
kulturelles Land, aber nur für eine Art von Kultur. Man mag<br />
Schlösser, klassischen Tanz und schöne Renaissancegemälde. Wir<br />
mögen auch alles, was zeitgenössisch und manchmal abstrakt ist.<br />
Aber Kunst wie meine, die eine andere und freizügige Realität<br />
darstellt, wird unsichtbar gemacht. Es wird gerne das Gerücht<br />
86 Frühling <strong>2023</strong>
verbreitet, dass Frankreich ein offenes Land sei, aber bis jetzt<br />
war es das Land, das am härtesten zu mir war und sehr kritisch<br />
gegenüber meiner Arbeit ist. Deshalb habe ich vor, nach Berlin zu<br />
ziehen und dieses Land ohne Reue zu verlassen.<br />
Wenn du einen Wunsch frei hättest, was möchtest<br />
du als Fotograf noch erreichen?<br />
Ich wurde von Dian Hanson, der Verlagsredakteurin bei Taschen,<br />
entdeckt und würde mich sehr freuen, wenn sie mich verlegen.<br />
Deshalb arbeite ich neben meinen Ausstellungen intensiv an neuen<br />
Entwürfen. Träume habe ich viele: Bilder für Jean Paul Gaultier<br />
zu machen, mit Sängern für Albumcover zu arbeiten wie Lil<br />
Nas X, Olly Alexander oder in Frankreich Eddy de Pretto. Ich<br />
habe seit sieben Jahren keinen Film mehr gemacht, obwohl ich<br />
das studiert habe. Als ich jetzt einen Clip für die Promotion meiner<br />
Tournee drehte und merkte, wie sehr mir das Filmen fehlt,<br />
habe ich beschlossen wieder etwas zu machen. In meinem Kopf<br />
gibt es eine Million Wünsche und Träume. Ich hoffe, dass ich sie<br />
alle erfüllen kann.<br />
Story — 6<br />
«Das Neonlicht<br />
erinnert mich an<br />
die Saunen und<br />
Clubs von Paris.»<br />
Romain Berger<br />
ist ein französischer Szenefotograf,<br />
Ende der Achtziger in der Normandie<br />
geboren. Er absolvierte eine Film- und<br />
Theaterausbildung. Die Populärkultur,<br />
Stereotypen und die Geschlechterfrage<br />
faszinieren ihn seit langem.<br />
Er greift bewusst Klischees der Schwulenkultur<br />
auf und verfremdet sie, um<br />
unsere Welt zu beleuchten, in ihren<br />
besten Seiten als auch in ihren schlechtesten:<br />
Zu seinen Themen gehören etwa<br />
Einsamkeit, Oberflächlichkeit, Überkonsum,<br />
Gewalt, Sucht, Sex und Politik.<br />
Der englische Verlag Men on Paper<br />
Art veröffentlichte im September 2022<br />
«Life’s a cabaret», ein Buch über seine<br />
Arbeit, in dem alle seine Fotografien seit<br />
2018 zusammengefasst sind. Vom 13.<br />
Mai bis 11. Juni sind seine Werke in der<br />
Bowie Gallery in Genf zu sehen, vom 28.<br />
Juli bis 6. August führt ihn seine Ausstellungstour<br />
«All You Need Is Love» nach<br />
Berlin.<br />
Mehr über Romain Berger:<br />
romainberger-photography.com<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
87
88 Frühling <strong>2023</strong><br />
Story — 6
Story — 6<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
89
90 Frühling <strong>2023</strong><br />
Story — 6
Story — 6
92 Frühling <strong>2023</strong><br />
Story — 6
Story — 6<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
93
94 Frühling <strong>2023</strong><br />
Story — 6
Story — 6<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
95
96 Frühling <strong>2023</strong><br />
Story — 6
Story — 6<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
97
31.3.–2.4.<br />
KONGRESSHAUS ZÜRI<strong>CH</strong><br />
BLICKFANG.<strong>CH</strong>
KOLUMNE<br />
Wie Heteros<br />
Verstecken spielen<br />
S. und J. sind ein Paar. Davon<br />
wusste bis jetzt aber noch niemand. Sie<br />
sitzen in einem Fernsehstudio und werden<br />
gleich zum ersten Mal über ihre Liebe<br />
sprechen. Auf RTL um 20:15. Über<br />
Monate mussten die beiden ihre Beziehung<br />
vor der Öffentlichkeit geheim halten.<br />
Kein Händchenhalten, kein Kuss<br />
beim Spazierengehen, alles Gemeinsame<br />
war ein Risiko. Man könnte ja von den<br />
anderen gesehen werden. Im Interview<br />
sagen die beiden, es sei ein «Versteckspiel»<br />
gewesen – und das «über Monate»<br />
hinweg. Wie gut, dass das Verheimlichen<br />
heute ein Ende hat. Endlich dürfen sie<br />
offen zu ihrer Liebe stehen.<br />
S. und J. sind Sharon und Jan. Sie<br />
war die Bachelorette und er hat «ihr Herz<br />
erobert». Im fröhlichen Plauderton wird<br />
im TV über die Zeit des Verheimlichens<br />
gesprochen und über diese «verrückte<br />
Zeit» gelacht. Sie mussten ihre Beziehung<br />
ein halbes Jahr geheim halten, weil bis<br />
zur Ausstrahlung des Finales natürlich<br />
niemand wissen durfte, wer gewinnen<br />
würde. Eigentlich ist diese Geschichte<br />
nicht mehr als eine nette, kleine Anekdote.<br />
Trotzdem passiert hier etwas sehr Seltsames:<br />
Ist es nicht interessant, dass das<br />
Gewinnerpärchen für ein paar Monate jenes<br />
Leben leben musste, welches schwule<br />
Männer oft ihr ganzes Leben lang<br />
durchhalten müssen? Ihre Beziehung zu<br />
verheimlichen? Sich gemeinsam nicht<br />
öffentlich zeigen zu dürfen? Ihr ganzes<br />
Leben nur hinter verschlossenen Türen zu<br />
organisieren? Überspitzt formuliert könnte<br />
man sagen: Wer als Hetero Lust hat,<br />
sich für ein paar Monate so zu fühlen, wie<br />
sich viele schwule Männer oft ihr ganzes<br />
Leben lang fühlen (oder gefühlt haben),<br />
muss nur beim Bachelor teilnehmen.<br />
Und nicht einmal dann ist es genau<br />
dasselbe: Das Wort «Versteckspiel»<br />
beschreibt es am besten. Das Geheimhalten<br />
der Beziehung ist für das Gewinnerpärchen<br />
nur ein Spiel und nicht Ernst.<br />
Es ist nur ein kurzer Teil ihres Lebens<br />
und nicht die Grundmelodie ihrer<br />
gesamten Beziehung. Die Zeit des Versteckens<br />
ist begrenzt. Ausserdem können<br />
sich die beiden im Nachhinein mit<br />
dem «Geschafft haben» des Geheimhaltens<br />
schmücken: Sie bekommen vom Publikum<br />
und ihren Followern mitfühlende<br />
Reaktionen, wenn sie davon erzählen.<br />
«Das muss ja wirklich schwierig gewesen<br />
sein!» Es ist wie eine bestandene Prüfung,<br />
für die man viel Applaus und Bewunderung<br />
bekommt. Und sollten sie<br />
dennoch von jemandem vor der finalen<br />
Sendung erwischt werden, droht im<br />
schlimmsten Fall nur ein Vertragsbruch<br />
und keine strafrechtlichen Konsequenzen<br />
inklusive gesellschaftlicher Ächtung.<br />
Es scheint so, als würden die<br />
beiden für das erfolgreiche Verstecken<br />
mehr Anerkennung und Würdigung bekommen,<br />
als es schwule Männer für ein<br />
gesamtes Leben im Geheimen je bekommen<br />
haben – und vermutlich auch werden.<br />
Nicht als Einzelpersonen und auch<br />
nicht als Kollektiv. Über Jahrzehnte etwas<br />
aushalten zu müssen, das im Verborgenen<br />
stattfinden muss, ist vermutlich<br />
schwerer fassbar als ein offenes Leben,<br />
das man für ein kurzes Verstecken spielen<br />
unterbricht. Weil «da hat man bemerkt,<br />
wie schwierig das war». Und erst<br />
durch den Vergleich zum freien Leben<br />
wird es zu etwas Besonderem. Und damit<br />
zu etwas besonders Bewundernswertem.<br />
In den letzten 10 Jahren haben<br />
es immer mehr Bereiche schwuler Kultur<br />
in den Mainstream geschafft: Heidi Klum<br />
sucht im Fernsehen nach Dragqueens,<br />
Sendungen wie «Queer Eye» sind breitenwirksame<br />
Netflix-Erfolge und «slay»<br />
das Jugendwort 2022. Ist das probeweise<br />
Verstecken von Beziehungen in der<br />
Öffentlichkeit, wie beim Bachelor, auch<br />
einer dieser Einflüsse? Oder ist das schon<br />
kulturelle Aneignung?<br />
REDEN IST GOLD<br />
Peter Fässlacher ist<br />
Moderator und Sendungsverantwortlicher<br />
bei<br />
ORF III und Stimme des<br />
Podcasts «Reden ist Gold»<br />
über die Liebe und das<br />
Leben mit Menschen<br />
der LGBTIQ-Community.<br />
Er lebt in Wien.<br />
peter@mannschaft.com<br />
Illustration: Sascha Düvel<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
99
Story — 7<br />
7<br />
Die<br />
Schlacht<br />
um den<br />
Stern<br />
100 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 7<br />
Text – Denise Liebchen<br />
Illustrationen – Katarzyna Zietek<br />
Die Sprache gehört uns allen und<br />
wenn sie sich ändert, bricht Streit aus.<br />
Die einen schreien «Gender-Terror»,<br />
die anderen fordern «Gleichheit».<br />
Dabei sollte es längst nicht mehr um<br />
das OB gehen, sondern um das WIE.<br />
Und um die Fakten.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
101
Story — 7<br />
1. Gendergerechte<br />
Sprache ist ein alter Hut.<br />
ie Gendersprache führt ein merkwürdiges Doppelleben.<br />
Obwohl sie längst Teil der Öffentlichkeit ist<br />
– Bundesministerien, Verwaltungen, Universitäten<br />
geben Leitfäden mit Tipps zum inklusiven Sprachgebrauch<br />
heraus –, wird sie mit harten Bandagen bekämpft.<br />
Anfang Jahr sagte etwa die Programmchefin<br />
der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Karin Friedli:<br />
«Wenn ich eine Mail erhalte, die sich an Parlamentarier*innen<br />
wendet, drücke ich direkt auf Delete.» Ihre<br />
Partei hat angekündigt, dass sie auf allen politischen<br />
Ebenen Vorstösse einreichen wird, um das Gendern<br />
zu verbieten. Auch in Deutschland und in Österreich<br />
schiessen Gegner*innen scharf und fordern Verbote.<br />
Die Zeit der sanften Worte ist abgelaufen.<br />
Was überhaupt will die geschlechtergerechte Sprache?<br />
Nein, sie will keinesfalls den Untergang der Sprache.<br />
Was sie will, ist, so gesprochen und geschrieben<br />
zu werden, dass sich weibliche, männliche und diverse<br />
Menschen angesprochen fühlen. Sie will alle<br />
Geschlechtsidentitäten sichtbar machen und gleichbehandeln.<br />
Aber einen Untergang gibt es, den sie definitiv<br />
will: den des generischen Maskulinums. Das ist<br />
nämlich ein böses Ding, weil es Frauen und nicht-binäre<br />
Identitäten unsichtbar macht. Wenn das biologische<br />
Geschlecht (Mann – männlich, Frau – weiblich, Auto<br />
– sächlich) vermeintlich unwichtig ist, greift verallgemeinernd<br />
das generische Maskulinum: Die männliche<br />
Bezeichnung meint andere Geschlechter mit. Das ist<br />
zwar gut lesbar, aber irreführend. Aus einer Veranstaltung<br />
mit 20 Studenten und 40 Studentinnen kann eine<br />
Veranstaltung mit 60 Studenten werden.<br />
In der gegenwärtigen und gefühlsgeladenen<br />
Sprachschlacht plädieren wir für eine ruhige und argumentative<br />
Haltung. Deshalb haben wir ausgewählte<br />
Einwände gegen das Gendern einem Faktencheck<br />
unterzogen. Herausgekommen sind einige Erkenntnisse,<br />
die wir in sieben schlauen Sätzen auf den Punkt<br />
bringen.<br />
Der Versuch nach geschlechtergerechter Sprache findet sich in allen<br />
Phasen der deutschen Sprache (Quelle der nachfolgenden Beispiele<br />
ist ein Vortrag des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch).<br />
Schon 1817 vermied Johann Wolfgang von Goethe in seinem Roman<br />
«Wilhelm Meisters Lehrjahre» Personenbezeichnungen: «Für Reisende<br />
ist wenig gesorgt; wer zu Fuss geht, wird nicht hoch genug<br />
geachtet; wer fährt, lebt mit dem Postillon in einer Art von Ehe.» In<br />
einer Erzählung verwendet Herman Schmid 1864 die Doppelformel:<br />
« . . . und noch nahmen die Fussgänger und Fussgängerinnen kein<br />
Ende, welche von allen Seiten herbeiströmten.» Oder 1874 standen<br />
geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen im «Landes-Gesetzund<br />
Verordnungsblatt für das Königreich Galizien und Lodomerien<br />
sammt dem Großherzogthume Krakau»: « . . . das Recht zur Erhebung<br />
der Mautgebühr . . . von jeder zu Fuss gehenden, zu Wagen<br />
fahrenden, oder zu Pferd reitenden Person . . . »<br />
Gegner*innen der geschlechtergerechten Sprache wenden ein,<br />
dass erst die verstärkte Verwendung von weiblichen Personenbezeichnungen<br />
dazu geführt habe, dass wir das Maskulinum mit Männern<br />
assoziieren, ursprünglich sei es generisch gewesen.<br />
Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch entkräftet diese<br />
Kritik: «Die Idee, das Maskulinum sei eine generische Form, entstand<br />
erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als Frauen begannen am öffentlichen<br />
Leben teilzuhaben. Auch in Sprachen, in denen nicht oder erst<br />
seit kurzem gegendert wird, wird das Maskulinum mit männlichen<br />
Personen assoziiert (z.B. im Französischen). Das Maskulinum war<br />
also nie wirklich generisch, sondern bezog sich schon immer vorrangig<br />
auf Männer.»<br />
Und wenn er das Argument hört, wir dürften in die natürliche<br />
Sprachentwicklung nicht eingreifen, dann antwortet er, dass es keine<br />
«natürliche» Sprachentwicklung gebe. Sprachwandel geschehe sowohl<br />
durch bewusste Eingriffe (vor allem Wortschatz, Rechtschreibung)<br />
als auch durch unbewusste, langfristige Prozesse (vor allem<br />
Laut- und grammatischer Wandel). Wir haben also schon immer in<br />
die Sprachentwicklung eingegriffen und dürfen es auch weiterhin.<br />
2. Gendern fixiert<br />
sich nicht per se aufs<br />
Geschlecht.<br />
Einerseits gibt es das genderinklusive Sprechen und Schreiben: Traditionelle<br />
oder neu entwickelte Formen wie der Genderstern machen<br />
auch Frauen und andere Geschlechter sichtbar (siehe auch «Eine kurze<br />
Geschichte des Genderns» auf Seite 105). Andererseits gibt es das<br />
Entgendern, also genderabstrahierende Formen, die das Geschlecht<br />
weitestgehend aus dem Sprachgebrauch heraushalten, wo es nicht<br />
unmittelbar von Bedeutung ist: zum Beispiel Radfahrende, wer mit<br />
dem Rad fährt, oder kreative Formen wie das Radfahry, dx Radfahrx<br />
oder ens Radfahrens.<br />
102 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 7<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
103
Story — 7<br />
3. Sprache beeinflusst,<br />
was wir tun.<br />
Einer der Einwände gegen geschlechtergerechte Sprache lautet,<br />
dass sie unsere Wirklichkeit und ihre Ungleichheiten nicht<br />
verändern könne. Die Studie von Vervecken & Hannover (2015)<br />
wies jedoch nach, dass Stellenanzeigen im generischen Maskulinum<br />
dazu führen, dass Mädchen und junge Frauen den betreffenden<br />
Beruf für weniger zugänglich halten. Sie senken auch<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich den Beruf zutrauen. Sprich<br />
der traditionelle Sprachgebrauch kann nicht nur unser Denken<br />
beeinflussen, sondern auch unser Handeln. Wenn wir unseren<br />
Sprachgebrauch ändern, öffnen wir damit neue Denkräume.<br />
4. Gendersprache stört<br />
den Lesefluss nicht.<br />
Wenn in einem Satz fünf Gendersternchen strahlen, ist unser<br />
Auge verblendet. Das leuchtet sofort ein. Doch in der Praxis<br />
kommt es selten so weit und sollte es auch nicht (siehe «So genderst<br />
du richtig» auf Seite 106).<br />
Kritische Stimmen argumentieren häufig, dass eine geschlechtergerechte<br />
Sprache die Verständlichkeit und Lesbarkeit von Texten<br />
beeinträchtigt. Friedrich und Heise testeten diese Annahme<br />
für die deutsche Sprache in ihrer Studie (2019): 355 Studierende<br />
lasen einen zufällig zugewiesenen Text. Anschliessend beantworteten<br />
sie einen Verständlichkeitsfragebogen. Die, die einen Text<br />
in geschlechtergerechter Sprache gelesen hatten, gaben keine statistisch<br />
signifikant schlechteren Bewertungen der Verständlichkeit<br />
ab als solche, die einen Text gelesen hatten, der ausschliesslich<br />
maskuline Formen verwendete. Die Ergebnisse deuten darauf<br />
hin, dass geschlechtergerechte Sprache die Verständlichkeit von<br />
Texten nicht beeinträchtigt. Jedoch nahmen an dieser Studie ausschliesslich<br />
neurotypische Lesende teil. Forschungen mit neuroatypischen<br />
Menschen gibt es noch nicht. Der deutsche Blindenund<br />
Sehbehindertenverband empfiehlt unter den verschiedenen<br />
gendergerechten Formen den Genderstern, da er als «Sternchen»<br />
vorgelesen wird und keine andere Bedeutung hat wie etwa ein<br />
Genderdoppelpunkt.<br />
5. Die Ablehnung<br />
gegen das Gendern<br />
ist weitgehend<br />
inszeniert.<br />
Wir benutzen Sprache automatisch und unbewusst. Es ist also<br />
vollkommen normal, dass wir eine Veränderung als anstrengend<br />
wahrnehmen. Erst recht, wenn wir denken, dass die Mehrheit<br />
gegen Gendersprache ist. Jedoch existiert zu dieser Frage bisher<br />
keine Studie, die nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt<br />
wurde, und Meinungsumfragen sind typischerweise suggestiv<br />
formuliert und lassen offen, was sie mit «Gendersprache» überhaupt<br />
meinen.<br />
Die öffentliche Aufregung in ihrer Tonalität und Wucht ist weitgehend<br />
inszeniert, um Aufmerksamkeit zu generieren und politische<br />
Botschaften zu platzieren. Begriffe wie «Genderwahn» oder<br />
«Gender-Terror» werden insbesondere von rechtspopulistischen<br />
und rechtskonservativen Gruppen benutzt, um Bestrebungen der<br />
sprachlichen Gleichstellung abzuwerten und um zu zeigen, dass<br />
sie sich gegen etwas Neues einsetzen, stellvertretend für alles, was<br />
Veränderung anstösst. Ein jüngeres Beispiel zu dieser Debatte aus<br />
der Schweiz: Die eingangs erwähnte SVP-Programmchefin Karin<br />
Friedli hat angekündigt, dass ihre Partei auf allen politischen<br />
Ebenen Vorstösse einreichen werde, um das Gendern zu verbieten.<br />
Sie will Gleichstellungsbüros abschaffen, den Genderstern<br />
verbieten und Steuergelder streichen, wenn öffentliche Institutionen<br />
«diese Ideologien» unterstützen. Denn sonst würden wir<br />
unsere Sprache verhunzen und «diese weltfremden Ideologien<br />
sind mittlerweile so dominant, dass es einen Gegenpol braucht».<br />
Die Co-Präsidentin der Sozialdemokrat*innen (SP) Mattea Meyer<br />
sagte in einem Interview, dass diese Debatte um den Genderstern<br />
vorgegaukelt sei: «Dahinter steckt die Absicht, die Frauenrechte<br />
einzuschränken. Vor ein paar Jahren wurde es von vielen als<br />
wahnsinnig stossend empfunden, dass man jetzt beispielsweise<br />
von Bürgerinnen und Bürgern sprechen sollte. Heute ist es eine<br />
Selbstverständlichkeit, dass die männliche Form nicht automatisch<br />
Frauen mit meint. So wird es auch beim Genderstern sein. Er<br />
wird im Privaten ja niemandem aufgezwungen. Ich finde es aber<br />
angebracht, dass öffentliche Stellen in ihren Dokumenten versuchen,<br />
alle Menschen anzusprechen. Diskriminierungen und Gewalt<br />
gegen queere Menschen sind leider Realität.»<br />
Ein anderes Beispiel aus Hamburg: Dort will die AfD (Alternative<br />
für Deutschland) die Gendersprache an den Schulen verbieten<br />
lassen und hat Zuspruch von der christdemokratischen Bildungsexpertin<br />
Birgit Stöver erhalten: Sternchen und Unterstriche hätten<br />
«in der deutschen Sprache nichts zu suchen». Der sozialdemokratische<br />
Nils Hansen ist gegen das Verbot der Gendersprache: «Sprache<br />
verändert sich, Sprache entwickelt sich – ich als Deutschlehrer<br />
finde das super, ich mag lebendige Sprache». Es gebe an den<br />
Schulen klare Rechtschreibregelungen. Mit dem Genderverbot<br />
104 Frühling <strong>2023</strong>
wolle die AfD den Schüler*innen eine Entscheidungsmöglichkeit<br />
nehmen. «Hinter diesem Antrag steht ganz viel Angst vor einer<br />
meinungsstarken Jugend.»<br />
In Österreich zog Ende letzten Jahres die Kärntner Landesregierung<br />
ihren Gender-Leitfaden zurück – nach heftiger Kritik<br />
vonseiten der rechtsgerichteten FPÖ, unterstützt von der konservativen<br />
Volkspartei (ÖVP). In dem 71-seitigen Leitfaden war eine<br />
geschlechtsneutrale Sprache vorgesehen. Die Vorgaben sollten im<br />
«gesamten Schriftverkehr der Verwaltung» gelten.<br />
In den Schlachten um die Sprache geht es auch um Meinungsfreiheit.<br />
Sätze wie «Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu<br />
sagen habe» betonen den Willen, die eigene Meinung frei zu äussern.<br />
Wer dieses Argument benutzt oder hört, sollte bedenken,<br />
dass geschlechtergerechte Sprache nicht das «Was», sondern das<br />
«Wie» betrifft. Wir können mit ihr alles ausdrücken. Die einzige<br />
Meinung, die durch geschlechtergerechte Sprache eingeschränkt<br />
wird, ist die, dass nur Männer Sichtbarkeit verdient haben. Wer<br />
also die verschiedenen Geschlechter für gleichberechtigt hält,<br />
kann nicht so sprechen oder schreiben, als bestünde die Welt nur<br />
aus Männern.<br />
Story — 7<br />
1989: Fussnoten<br />
die Hörer 1<br />
der Hörer 1<br />
1<br />
Frauen sind mitgemeint<br />
Eine kurze<br />
Geschichte des<br />
Genderns<br />
1980<br />
1990<br />
1980: Das Binnen-I<br />
die HörerInnen<br />
die HörerIn<br />
1991:<br />
Kreatives<br />
Entgendern<br />
das Höry<br />
6. Sprache gehört allen.<br />
Doch man muss nicht gleich antifeministisch und diversitätsfeindlich<br />
sein, um sich mit Sprachveränderung schwerzutun. Ein<br />
plötzlich anderes Sprachbild irritiert uns und stört – Sprache wird<br />
anstrengend. Dabei ist dieser Störeffekt aber ganz beabsichtigt.<br />
Warum? Weil nur so Ungleichheiten bewusst gemacht und neue<br />
Sprachweisen durchgesetzt werden können – bis wir sie nach<br />
einiger Zeit wie selbstverständlich und quasi automatisch umsetzen.<br />
Dass sich Sprache mit der Zeit und zusammen mit einer Gesellschaft<br />
ändert, ist unvermeidbar. Was vor einigen Jahren noch<br />
normal war, bewerten wir heute anders – das betrifft nicht nur<br />
die Sprache. Um Sprache unserer Realität anzupassen, bedarf es<br />
manchmal aktiver Anstrengung – bis die Veränderung als ganz<br />
normal verinnerlicht wird.<br />
Ein Beispiel hierfür findet sich im Jahr 1522, als Martin Luther<br />
die Bibel ins Deutsche übersetzte: Teilweise fehlte dafür das Vokabular<br />
und es gab grosse regionale Unterschiede im Wortgebrauch,<br />
ohne, dass es eine allgemein akzeptierte Standardform gab. Deshalb<br />
prägte Luther neue Wörter oder wählte nach eigenem Empfinden<br />
eine Standardform. Wörter, die wir bis heute verwenden,<br />
sind etwa Bluthund, Denkzettel, Ebenbild, Feuertaufe, Gewissensbisse,<br />
Herzenslust, Lockvogel, Machtwort, Nächstenliebe,<br />
Schandfleck und viele mehr. «Auch diese Wörter dürften zunächst<br />
fremd und etwas künstlich geklungen haben, heute kommen sie<br />
uns selbstverständlich vor», sagt Anatol Stefanowitsch.<br />
Die Sprache gehört allen. Gendern ist keine Ideologie, sondern<br />
konform mit den Prinzipien unserer Gesellschaftsordnung, in der<br />
wir alle vor dem Gesetz gleich sind, alle Geschlechter gleichberechtigt<br />
und Freiheit vor Diskriminierung gilt.<br />
Eine Mehrheit kann nicht für alle stehen, weil sie die Minderheit<br />
nicht abdeckt; eine Mehrheit muss gehört werden, aber sie<br />
kann die Diskussion nicht beenden.<br />
2021: Kreatives<br />
Entgendern<br />
ens Hörens (das ens<br />
ist der mittlere Teil des<br />
Wortes Mensch)<br />
2000<br />
2020<br />
2010<br />
<strong>2023</strong><br />
2003: Gender-Gap<br />
die Hörer_innen<br />
die_der Hörer_in<br />
2014: Genderstern<br />
die Hörer*innen<br />
die*der Hörer*in<br />
2014: Kreatives<br />
Entgendern<br />
dx Hörx (ausgesprochen<br />
«dix Hörix»)<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
105
7. Der Genderstern<br />
strahlt hell und könnte<br />
erlöschen.<br />
Unter allen geschlechtergerechten Formen wird es wahrscheinlich<br />
der Genderstern sein, der sich durchsetzen wird. So schätzt<br />
es der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch ein. Personen,<br />
die einwenden, das Gendern oder der Stern seien hässlich,<br />
sei gesagt: Schönheit – auch die sprachliche – liegt im Auge der<br />
Betrachtenden. Und nicht-binäre und weibliche Menschen zu diskriminieren,<br />
ist auch hässlich.<br />
In den Achtzigern forderten die Feminist*innen, dass der<br />
«Lehrer» nicht direkt von der «Lehrperson» ersetzt wurde, weil<br />
sie befürchteten, dass das Bild des männlichen «Lehrers» direkt<br />
in die «Lehrperson» überging. Deshalb kämpften sie dafür, dass<br />
die Frauen in «LehrerInnen» sichtbar wurden. Diese Logik zeigt,<br />
warum es nun gendergerechte Formen wie den Genderstern als<br />
Übergang braucht, bis wir queere Menschen mitdenken. Es ist<br />
wahrscheinlich, dass es noch neue Formen geben wird. Denn wie<br />
die Sprache selbst, ist auch das Gendern dynamisch.<br />
So genderst<br />
du richtig<br />
→ Überfrachte den Text nicht mit Genderzeichen-Konstruktionen.<br />
→ Wir empfehlen den Genderstern, da er<br />
die Symbolkraft hat für geschlechtliche<br />
Vielfalt. Faustregel: Nur ein Stern pro Satz.<br />
Überlege, ob du deine Inhalte anders<br />
formulieren kannst und werde kreativ.<br />
→ Wenn du den Genderstern im Plural<br />
(Mehrzahl) einsetzt, ist es unproblematisch.<br />
Beispiel: Lehrer*innen<br />
→ Sei vorsichtig bei der Einzahl: Verwende<br />
ihn nicht allzu oft, verbinde den männlichen<br />
und weiblichen Artikel mit einem<br />
Stern. Beispiel: jede*r Reporter*in<br />
→ Es werden nur Menschen gegendert.<br />
Frage dich, ob Personen oder Institutionen<br />
gemeint sind. Manche Wörter bleiben<br />
gleich (wie Arztbrief). Je mehr es darum<br />
geht, Personen zu beschreiben, desto<br />
wichtiger ist es zu gendern, aber feststehende<br />
Bezeichnungen von Verbänden<br />
etwa darf man nicht eigenmächtig ändern.<br />
→ Tipp: Oft hilft ein gleichbedeutendes<br />
Wort als Ersatz. Beispiel: Redepult statt<br />
Rednerpult.<br />
→ Schreibe geschlechtsneutral. Geht<br />
es um konkrete Personen und um deren<br />
Geschlecht, dann gendere, wenn nicht,<br />
dann verwende geschlechtsneutrale<br />
Formulierung: Oberbegriffe, Synonyme,<br />
Umschreibungen, Partizipien. Beispiele:<br />
Radfahrende, wer mit dem Rad fährt.<br />
→ Um aus der Schreibroutine des generischen<br />
Maskulinums herauszukommen, hilft<br />
das Beschreiben von Tätigkeiten. Beispiel:<br />
nicht Steuerzahler, sondern alle, die Steuern<br />
zahlen. Das Maskulinum ist nur dann<br />
berechtigt, wenn ausschliesslich Männer<br />
gemeint sind.<br />
Mehr Tipps zum Genderstern<br />
findest du hier:<br />
106 Frühling <strong>2023</strong>
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Literatur<br />
Die guten Seiten<br />
tin*stories<br />
Trans / inter / nichtbinäre<br />
Geschichte(n)<br />
seit 1900<br />
Der erste Satz<br />
Wir haben keine Geschichte.<br />
Das Genre<br />
Eine Spurensuche in 14 Beiträgen.<br />
Die Handlung<br />
17 Autor*innen führen durch einen Teil der<br />
Geschichte von trans, inter und nicht-binären<br />
Menschen von 1900 bis heute. Unter<br />
anderem gehen wir dabei den Erfahrungen<br />
von Liddy Bacroff nach, die als trans Frau<br />
und Sexarbeiterin während des Nationalsozialismus<br />
verfolgt wurde. Oder Karl M. Baer,<br />
der sein Leben als inter Person in einem<br />
Roman niederschrieb.<br />
Herausgegeben von Joy Reißner und<br />
Orlando Meier-Brix. Milena Leutert<br />
vom Buchladen Queerbooks<br />
hat «tin*stories» für dich gelesen.<br />
Das Urteil<br />
Die tin*stories leisten meiner Meinung<br />
nach einen wichtigen und spannenden<br />
Einblick in die Leben von trans, inter und<br />
nicht-binären Personen der Vergangenheit.<br />
Die Erfahrungen und Dokumentationen<br />
zu lesen fällt einem in Anblick der oft<br />
grausamen Ungerechtigkeit nicht immer<br />
leicht, auch wenn einige der Autor*innen<br />
einen optimistischen Blick in die Zukunft<br />
wagen. Während manche Texte roh,<br />
aktivistisch und ergreifend sind, blicken<br />
andere wiederum mit einer akademischen<br />
Distanz auf das Geschehene und widmen<br />
sich auch den Begrifflichkeiten, die wir für<br />
trans, inter und nicht-binäre Personen aus<br />
der Geschichte verwenden.<br />
Die queerfeindlichen Aussagen von<br />
wegen «Trendthema» sollten nach dieser<br />
Lektüre allemal Geschichte sein.<br />
Sammelband, edition assemblage,<br />
192 Seiten<br />
108 Frühling <strong>2023</strong>
Literatur<br />
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Wühle dich hier<br />
weiter durch:<br />
Douglas Stuart<br />
Young Mungo<br />
Der Bookerpreisträger Douglas Stuart erzählt<br />
von der Liebe zweier Jungen in einer<br />
von Gewalt geprägten homophoben Welt.<br />
Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel<br />
im Glasgow der Neunziger ist<br />
Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder<br />
Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn<br />
zum Mann machen und schleift ihn zu den<br />
brutalen Kämpfen zwischen Protestanten<br />
und Katholiken. Dann trifft Mungo auf James<br />
und mit ihm kann er sein, wie er ist. Die<br />
Liebe, die zwischen den Jungen wächst,<br />
ist lebensgefährlich – und zugleich ihre<br />
Rettung.<br />
Wir finden: Wir lieben dieses Buch, seinen<br />
Sog und Sozialrealismus, seine Sprache<br />
und Spannung, und die Figuren erst recht.<br />
Kann Stuart den Erfolg seines Erstlings<br />
«Shuggie Bain», der ein Weltbestseller wurde,<br />
toppen? Mit dem glühenden, düsteren<br />
und emotional fesselnden «Young Mungo»<br />
sehr, sehr gut möglich.<br />
Roman, 414 Seiten, Hanser Berlin<br />
Neuerscheinungen<br />
Zain Khalid<br />
Bruder<br />
Über der Moschee auf Staten Island<br />
wachsen drei Adoptivbrüder auf, die<br />
unterschiedlicher nicht sein können. Dayo<br />
stammt aus Nigeria und Iseul aus Korea. Nur<br />
Youssef weiss nichts von seiner Herkunft. Er<br />
sucht die Nähe ihres Adoptivvaters Salim,<br />
doch der charismatische Mann steckt voller<br />
Rätsel. Während die Brüder in die Glitzerwelt<br />
Manhattans eintauchen, hält Salim<br />
anti westliche Reden in der Moschee. Avancen<br />
von Frauen weist der gutaussehende<br />
Mann stets zurück, nur um nachts aus dem<br />
Haus zu schleichen. Als er nach Saudi-Arabien<br />
aufbricht, folgen Youssef und seine<br />
Brüder ihm und begeben sich auf einen<br />
Weg der Erkenntnis wie der Verstörung.<br />
Wir finden: «Bruder» dreht sich um Religion<br />
und Kapitalismus, um Väter und Söhne und<br />
um Rache. Zain Khalids Debütroman ist philosophisch<br />
und intellektuell anspruchsvoll<br />
mit der einen oder anderen überraschenden<br />
Wendung. Wundervoll ausgearbeitete<br />
Charaktere und ein ergreifender Schicksalsstrang<br />
vermitteln einen Einblick in eine<br />
islamisch geprägte Utopie.<br />
Roman, 464 Seiten, Kjona<br />
TITEL GATTUNG VERLAG SEITEN IN EINEM SATZ<br />
ABBA Hallo<br />
Ralf König<br />
Comic Rowolth 208 Der Zeichner und Autor Ralf König verarbeitet mit seinen<br />
beiden liebsten Figuren – das schwule Paar Konrad und<br />
Paul – das eigene Altern.<br />
The Fine Art of<br />
Erections<br />
Gruenholtz<br />
Bildband Salzgeber 176 Gruenholtz widmet er sich in 108 Fotografien der<br />
natürlichen Schönheit des erigierten Penis – stilvoll und<br />
schamlos.<br />
Florentia – Im Glanz<br />
der Medici<br />
Noah Martin<br />
Roman Droemer 544 Die Zutaten: Der Glanz der Renaissance, ein tödlicher<br />
Machtkampf, eine scheinbar aussichtslose Liebe im<br />
Florenz der Medici und mittendrin Leonardo da Vinci.<br />
README.txt – Meine<br />
Biografie<br />
Harper Collins<br />
336 Ein eindrückliches Zeugnis des digitalen Zeitalters<br />
Geschichte<br />
Germany<br />
darüber, wie und warum Aktivistin und trans Frau Man-<br />
Chelsea Manning<br />
ning Militärdokumente an WikiLeaks schickte.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
109
Comic<br />
Alice Oseman: Heartstopper<br />
Comic, Netflix-Serie, LGBTIQ-Universum<br />
In welches Regal?<br />
In die «Verfilmte queere Comics»-Abteilung<br />
im Bücherregal zu Kiriko Nananans<br />
«Blue», Brian K. Vaughans «Runaways»<br />
und «Paper Girls» (gemeinsam mit Cliff<br />
Chiang). Denn nach der Serie ist vor dem<br />
nächsten Lesen und umgekehrt.<br />
Wie sieht es aus?<br />
Das Heartstopper-Universum war und ist<br />
ein Work in Progress. Das macht es nicht<br />
nur inhaltlich authentisch, sondern ist auch<br />
an den unterschiedlichen Zeichenstilen zu<br />
sehen: Charmant, scheinbar mit schnellem<br />
Strich und schwarz-weiss in den bisher<br />
erschienenen vier Bänden (ein fünfter ist<br />
in Planung); detailverliebt, fantasievoll und<br />
in Farbe im zusätzlichen Buch «Heartstopper<br />
– Ein ganzes Jahr» oder den colorierten<br />
Webcomics. Hier wie dort: Alice<br />
Oseman hat ein ganz besonderes Talent<br />
für Gesichtsausdrücke.<br />
Um was geht es?<br />
An seiner Schule wissen alle Bescheid:<br />
Charlie Spring ist schwul. Nicht alle<br />
reagieren allerdings auch gut auf diese<br />
Neuigkeiten. Mithilfe seiner (äusserst<br />
diversen) Freund*innen und seiner grossen<br />
Schwester kommt der 14-Jährige durch die<br />
110 Frühling <strong>2023</strong><br />
nicht gerade einfache Zeit. Wenn er in der<br />
klassenübergreifenden Lerngruppe einen<br />
Platz neben dem 16-jährigen Hockey-<br />
Star Nick zugewiesen bekommt, ist das<br />
der Beginn einer aufregenden, behutsam<br />
erzählten Liebesgeschichte. Der Weg zur<br />
eigenen Identität, zu Selbstliebe und zum<br />
Verarbeiten schlechter Erfahrungen kann<br />
jedoch auch mit liebevoller Unterstützung<br />
schmerzhaft und langwierig sein.<br />
Wie finden wir es?<br />
Themen wie Identitätsfindung, mentale Gesundheit<br />
und die damit verbundene Herausforderungen<br />
machen «Heartstopper» zu<br />
weit mehr als einer mitreissenden Liebesgeschichte.<br />
Zusätzlich lassen sich in anderen<br />
Veröffentlichungen von Alice Oseman<br />
Inhalte finden, die vermutlich auch in die<br />
Netflix-Serie miteinfliessen. So beispielsweise<br />
die zwei Kurzromane «Nick and<br />
Charlie» (2020) und «This Winter» (2022).<br />
Das schon 2014 auf Englisch (und <strong>2023</strong> in<br />
überarbeiteter Neulauflage auf Deutsch) erschienene<br />
Debut der Autorin, «Solitair», in<br />
dem es um Charlies grosse Schwester Tori<br />
geht, spielt einige Monate nach dem Ende<br />
der ersten Netflix-Staffel. Der letztes Jahr<br />
auf Deutsch erschienene Roman «Nothing<br />
left for us» (im Original «Radio Silence»)<br />
wirft mehr Licht auf Charlies Freund Aled.<br />
Und dann gibt es noch schier unendlich<br />
viele Mini-Geschichten auf Tumblr, Tapas<br />
und Webtoons – eben ein ganzes Universum.<br />
Eintauchen lohnt sich.<br />
– Simone Veenstra<br />
Alice Oseman: «Heartstopper»,<br />
4 Bände Hardcover, Loewe<br />
Graphix Verlag, auch als Softcover<br />
und E-Book
ZITIERT<br />
Gehört, gelesen, gesehen:<br />
«Wir haben<br />
Ja gesagt.»<br />
Rebel Wilson (rechts)<br />
via Instagram. Der australische<br />
Hollywoodstar<br />
verlobte sich im Februar<br />
mit ihrer Partnerin, der<br />
Modedesignerin Ramona<br />
Agruma.<br />
«Unsere Welt hat<br />
Angst vor zärtlichen<br />
Männern.»<br />
Regisseur Lukas Dhont über Freundschaften<br />
in seinem Film «Close»: «Junge<br />
Männer lernen schon früh, dass Intimität<br />
etwas ist, das man beim Sex oder in einer<br />
Romanze sucht, aber nicht in einer<br />
Männerfreundschaft.»<br />
«Man sieht<br />
überall Ärsche,<br />
Brüste,<br />
Sixpacks.»<br />
Anna Strigl über ihre Teilnahme in der<br />
Realityshow «Too Hot to Handle» auf<br />
Netflix. Hier müssen Singles körperlich<br />
Distanz zueinander halten. «Immer,<br />
wenn man etwas nicht darf, ist es gleich<br />
nochmals viel attraktiver», so die pansexuelle<br />
Österreicherin.<br />
«Im Hip-Hop hat sich<br />
unglaublich viel getan, was<br />
die Akzeptanz der LGBTIQ-<br />
Community angeht.»<br />
Bilder (im Uhrzeigersinn von oben links): Nicolas Landemard, Le Pictorium/Imago,<br />
instagram.com/rebelwilson, Netflix, Press/Jake Magraw<br />
Rapper Macklemore im Interview mit der britischen<br />
Zeitung Metro. Er glaube, dass der Hip-Hop im Wandel<br />
sei. «Man muss niemanden herabsetzen, um<br />
sich selbst nach oben zu bringen. Das funktioniert<br />
nicht, das ist ein veraltetes Modell.» Gemeinsam mit<br />
Ryan Lewis landete Macklemore 2012 den Hit «Same<br />
Love», das dazugehörige Album «The Heist» erhielt<br />
2014 einen Grammy als bestes Rap-Album.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
111
Story — 8<br />
8<br />
Zu Besuch<br />
bei Madame<br />
Condomeria<br />
<strong>112</strong> Frühling <strong>2023</strong>
Story — 8<br />
Text – Cesare Macri<br />
Erika Knoll führt seit 15<br />
Jahren die Condomeria,<br />
ein Fachgeschäft für Kondome<br />
und Erotikartikel in<br />
Zürich. Ursprünglich als<br />
Aufklärungs- und Präventionsprojekt<br />
während der<br />
Aids-Epidemie gegründet,<br />
ist es heute eine Referenz<br />
für Verhütung und<br />
Erotik. Wie hat sich das<br />
Bewusstsein für Sex und<br />
Lust in der Gesellschaft<br />
entwickelt? Welche Bedeutung<br />
hat das Kondom<br />
heute in Zeiten von PrEP<br />
und wirksamer HIV-Therapie?<br />
Eine Spurensuche.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
113
Story — 8<br />
Es ist ein vergleichsweise ruhiger<br />
Nachmittag im sonst<br />
geschäftigen Zürcher Niederdorf,<br />
das einzig Laute befindet<br />
sich unmittelbar vor der<br />
Condomeria: eine Baustelle,<br />
die in den nächsten Monaten<br />
für neue Pflastersteine sorgen<br />
soll. Einmal eingetreten<br />
und Türe geschlossen, hört<br />
man den Lärm immer noch. «Vergiss es, wir sind in<br />
der Altstadt», winkt Erika ab. Sichtlich wohl fühlt sie<br />
sich hinter dem Tresen ihres kleinen Reiches Condomeria:<br />
Rechts von ihr ein Wandregal mit Sextoys in<br />
allen Farben und Formen, links eine Wand voller Kondome<br />
für alle möglichen Bedürfnisse, dazwischen plüschige<br />
Handschellen, Nippel-Aufkleber, Massageöle<br />
und -kerzen, Teigwaren in Penisform und vieles mehr.<br />
Genauso wie das Sortiment ist auch die Geschäftsführerin<br />
selbst eine Erscheinung: strahlendes Lachen,<br />
farbenfrohe Tattoos, die unter schwarzer Kleidung<br />
hervorschauen, und eine goldene Halskette, die eindeutig<br />
einer BDSM-Peitsche nachempfunden ist («Die<br />
Einen merken’s nicht, die Anderen sprechen mich<br />
drauf an oder lächeln einfach vor sich hin», sagt sie).<br />
Wenn sie von der Geschichte des Ladens erzählt, tut<br />
sie das bescheiden, aber nicht ohne Stolz. Ihr guter<br />
Freund Heinze Baumann führte ab 1989 mehrere Geschäfte<br />
und bot darin Kondome, Gleitmittel und eine<br />
Handvoll Spassartikel an. Erika unterstützte ihn dabei<br />
und bot gleichzeitig Sex-Workshops für Frauen an,<br />
die damals um einiges nötiger gewesen seien als in<br />
der heutigen Feminismuswelle, wobei ihr der Laden<br />
in Sachen Arbeitstools sehr behilflich war. Mit der<br />
Zeit etablierte sich die Condomeria, unter anderem<br />
auch für die schulische Aufklärung, für welche ein<br />
Verhütungsmittel-Koffer kreiert wurde. Dies änderte<br />
sich erst, als Vereine wie «Lust und Frust» begannen,<br />
diese Arbeit zu übernehmen. Von der Arbeit mit Kindern<br />
ist noch das Sportlager der Stadt Zürich übriggeblieben,<br />
in dem Erika zusammen mit anderen jährlich<br />
vor Ort ist.<br />
Leidenschaftliches Engagement<br />
Als die Condomeria entstand, war HIV noch ein<br />
sicheres Todesurteil und in der Bevölkerung herrschte<br />
grosse Unsicherheit: «Man hat sich Gedanken gemacht,<br />
die heute unvorstellbar sind, etwa ob man sich<br />
über Mückenstiche anstecken kann.» Kondome waren<br />
zwar in aller Munde, aber nur in Apotheken erhältlich.<br />
Mit dem Angebot in Supermärkten oder bei Snackautomaten<br />
ist die Hemmschwelle heute deutlich niedriger,<br />
war damals aber noch lange nicht in Sicht. Es<br />
sei eine intensive Zeit gewesen, meint die 63-Jährige:<br />
Das intensive Feiern einerseits durch die Anfangszeit<br />
des Technos, das intensive Sterben in der Community<br />
andererseits. «Als queere Frau war diese Community<br />
damals meine Wahlfamilie und es fühlte sich an, als<br />
würde sie mir langsam wegsterben», erzählt Erika<br />
und wird nachdenklich. Ausserdem habe sich lange<br />
das Vorurteil gehalten, dass HIV nur «Schwule und<br />
Junkies» betreffe – bis man gemerkt habe, dass auch<br />
Heteros durch Bluttransfusionen und queere Affären<br />
durchaus gefährdet waren. Jedenfalls war es mit dem<br />
unbeschwerten Sex vorbei, denn erstmal brachte man<br />
diesen mit Tod in Verbindung.<br />
Dies bestätigt auch Andreas Lehner, Geschäftsleiter<br />
der Aids-Hilfe Schweiz; jahrzehntelang sei die<br />
Sexualität von schwulen Männern vom Sicherheitsgedanken<br />
überschattet gewesen. «Erst die PrEP* hat<br />
uns wieder die Möglichkeit gegeben, während des<br />
Aktes nicht an den Schutz denken zu müssen», stellt<br />
er fest. Allerdings sei sie auch kein Allheilmittel (dazu<br />
später mehr).<br />
Die Aids-Krise sei jedenfalls nur ein Teil des Auslösers<br />
gewesen für Erikas Engagement. Ihr ist es wichtig<br />
zu betonen, dass sie seit jeher ein quicklebendiges<br />
Sexualleben gehabt und ihre Berufung folglich immer<br />
auch eine sehr lustvolle Seite gehabt habe. Dieser Aspekt<br />
sei mit der Zeit auch mehr und mehr zum Tragen<br />
gekommen: die Allgegenwärtigkeit von Kondomen<br />
wurde in den letzten Jahren vom Sextoy-Trend abgelöst.<br />
Junge Frauen hätten irgendwann aufgehört, sich<br />
für Masturbation zu schämen und angefangen, sich<br />
gegenseitig Vibratoren zu schenken. Ausserdem seien<br />
sie in Sachen Schwangerschaftsverhütung selbstbestimmter<br />
geworden: Wo man früher widerstandslos<br />
die Pille und deren Nebenwirkungen in Kauf nahm,<br />
steht man heute für die eigene physische und mentale<br />
Gesundheit ein. «Zu mir sind auch schon Teenager<br />
gekommen, die die Pille gegen Akne verschrieben bekommen<br />
hatten und genug hatten von Traurigkeit und<br />
schwacher Libido», berichtet Erika kopfschüttelnd. In<br />
ihrer Kundschaft seien alle Geschlechter und Orientierungen<br />
vertreten, sogar für heterosexuelle Männer<br />
seien Sextoys seit einer Weile kein Tabu mehr – auch<br />
anale nicht. «Die haben gemerkt, dass sie nicht schlagartig<br />
schwul werden, sobald sie sich penetrieren lassen<br />
und sogar Gefallen daran finden», lacht Erika.<br />
* PrEP steht für Prä-Expositions-Prophylaxe und ist ein Medikament<br />
in Tablettenform. Richtig eingenommen, schützt es HIVnegative<br />
Menschen vor einer Ansteckung mit HIV.<br />
114 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 8<br />
«Als Frau bin ich<br />
die bevorzugte<br />
Ansprechpartnerin<br />
für alle Geschlechter.»<br />
Bild: Cesare Macri<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
115
Story — 8<br />
«Heterosexuelle<br />
Männer haben<br />
gemerkt, dass sie<br />
nicht schlagartig<br />
schwul werden,<br />
sobald sie sich<br />
penetrieren lassen.»<br />
116 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 8<br />
Bild: New Africa, AdobeStock<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
117
Story — 8<br />
Drei unvernünftige Gründe, weshalb<br />
oft auf das Kondom verzichtet wird:<br />
Alkohol, Drogen und die Liebe.<br />
Die ganze Palette an Kund*innen<br />
Überhaupt sei die Condomeria immer ein Ort für<br />
Menschen und nicht für Schubladen gewesen. Man<br />
glaubt es ihr gerne, wenn man ein paar Stunden lang<br />
mit ihr im Laden steht: Vom verunsicherten Teenie<br />
auf der Suche nach der richtigen Gummigrösse über<br />
kichernde Mädchengruppen bis zum einsamen alten<br />
Mann, der nur einen Schwatz braucht, ist so ziemlich<br />
alles dabei. Eine Altersbeschränkung gibt es jedenfalls<br />
nicht, da man hier nichts Pornografisches findet. Erika<br />
erzählt auch von einer interessanten Neuerscheinung,<br />
die sie besonders freue: Junge Menschen aus der Sexpositivity-Bewegung.<br />
Grundsätzlich ist sie überzeugt,<br />
dass es die Institution vor allem deshalb immer noch<br />
gebe, weil man hier Fachwissen und persönliche Beratung<br />
kriege. Beispielsweise die Krebspatientin, die<br />
aufgrund der Behandlung eine verengte Vagina habe,<br />
oder der ältere Herr mit dem Prostataproblem. «Meine<br />
Erfahung zeigt, dass ich als Frau die bevorzugte Ansprechpartnerin<br />
bin für alle Geschlechter», sagt Erika.<br />
Frauen oder FLINTA**-Personen liessen sich nicht<br />
gerne von einem Mann beraten, wenn es um Sextoys<br />
oder Beckenbodentraining gehe – und auch Männer<br />
hätten aufgrund alter Geschlechterrollen Hemmungen,<br />
mit einem anderen Mann über sexuelle Dysfunktionen<br />
zu sprechen, wobei sich das zum Glück langsam<br />
ändere. Deshalb wäre es ihr am liebsten, wenn<br />
das Geschäft weiterhin von einer Frau geführt werden<br />
würde. Denn bald sei die Zeit für den grossen Wandel<br />
gekommen: «Ich bin langsam in einem Alter, in dem<br />
ich nicht mehr die gleiche Energie zur Verfügung habe<br />
wie früher», sagt Erika und wird etwas melancholisch.<br />
Darum halte sie Ausschau nach einer 35-40-jährigen<br />
Frau, die vielleicht zwei Tage und später dann vier bis<br />
fünf Tage pro Woche übernehmen würde. Man ahnt<br />
es schon: Ganz aufhören möchte sie auch trotz Ruhestand<br />
nicht, dafür liebt sie ihr «Baby» zu sehr. Sie sei<br />
aber durchaus bereit, Kontrolle und Entscheidungen<br />
abzugeben, schliesslich würde die Condomeria durchaus<br />
frischen Wind vertragen. Wichtig sei nur, sie irgendwie<br />
zu erhalten für diejenigen Leute, denen sie<br />
ans Herz gewachsen sei, und für alle anderen, die in<br />
Zukunft einen Safer Space mit kompetenter Beratung<br />
brauchen würden.<br />
** FLINTA ist eine Abkürzung für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,<br />
nicht-binäre, trans und agender Personen<br />
Von der Scham, ein Gummi zu nehmen<br />
Zurück zum anderen Protagonisten unserer Recherche,<br />
dem Kondom. «Natürlich habe ich in meinem privaten<br />
Umfeld von PrEP und wirksamen Medikamenten gehört,<br />
aber die Auswirkung auf den Kondomverbrauch<br />
kann ich tatsächlich zu wenig beurteilen, da die Community<br />
andere, schwule Orte bevorzugt», so Erika.<br />
Während eines kleinen Shop- und Saunamarathons<br />
stossen wir auf mehrere Betreiber, die uns bestätigen,<br />
dass sie immer weniger Kondome bestellen müssten.<br />
Auch Melchior Burch, Geschäftsführer und Inhaber<br />
vom MZ Shop, verrät uns, dass in den letzten vier bis<br />
fünf Jahren die Kondomverkäufe zurückgegangen seien.<br />
Das korreliere in etwa mit der Ankunft der PrEP<br />
in der Mitte der (schwulen) Gesellschaft: «Wir hören<br />
von Kunden, die auf PrEP sind, oft, dass sie deswegen<br />
auf das Kondom verzichten. Ich persönlich empfehle<br />
es nach wie vor, da PrEP zwar gut gegen HIV, aber<br />
nicht vor anderen Krankheiten schützt.» Und Andreas<br />
Lehner der Aids-Hilfe Schweiz ergänzt: «Wer regelmässig<br />
PrEP nimmt, bekommt schnell das S-Wort zu<br />
hören, was wir als PrEP-Shaming bezeichnen könnten.<br />
Ich habe aber auch Fälle von Kondom-Shaming<br />
mitbekommen, zum Beispiel bei Sexpartys, bei denen<br />
jemand ausgelacht wurde, weil er ein Kondom benutzen<br />
wollte.» Wichtig sei aber unter dem Strich, dass<br />
man sich schütze und respektvoll miteinander umgehe,<br />
egal wie der Schutz der jeweiligen Person aussehe.<br />
Drei klassische Gründe, unvernünftigerweise plötzlich<br />
auf das Kondom zu verzichten, liessen sich nicht<br />
so schnell ausrotten: Alkohol, Drogen und Liebe.<br />
Der Mythos des Lustkillers<br />
Natürlich verlassen wir die Condomeria nicht ohne<br />
etwas Insiderwissen: Was für Anliegen haben<br />
Kund*innen rund ums Kondom, liebe Erika? «Das<br />
Wichtigste: Gummis gibt zwischen Grösse 45 bis 72<br />
mm (Umfang), obwohl wir aus Supermärkten und<br />
Apotheken nur die Spanne zwischen 52 und 57 mm<br />
kennen.» Das sei verheerend, da viele Menschen mit<br />
Penis aufgrund eines zu engen Kondoms zur Überzeugung<br />
kämen, dieses sei ein Lustkiller an sich. Dabei<br />
leide die Erektion oder das Gefühl nur, weil der<br />
Druck auf den Penis und die Blutgefässe zu hoch sei.<br />
Und wenn man auch noch lange rummurksen müsse,<br />
bis das Kondom abgerollt ist, sei die Ablehnung<br />
perfekt; da könne es nur schon reichen, eine Packung<br />
von weitem zu sehen, um die Erektion zu verlieren.<br />
Doch auch für Leute, die trotz richtiger Grösse zu<br />
wenig spüren würden, gebe es Lösungen: extradünne<br />
118 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 8<br />
Vielfältige<br />
Kondome<br />
MY.SIZE<br />
An alle, die «zu wenig fühlen»,<br />
wenn sie ein Kondom benutzen: Es<br />
könnte an der Grösse liegen. Bei<br />
My.Size sollte für alle etwas dabei<br />
sein.<br />
SKYN<br />
Dank dünnem, wärmeleitendem<br />
Material garantieren Skyn-Gummis<br />
beim Sex ein naturnahes Erlebnis.<br />
MANIX OHNE LATEX<br />
Für diejenigen, die Latexgeruch<br />
nicht ausstehen können, gibt es<br />
latexfreie Kondome von Manix.<br />
FAIR SQUARED<br />
Diese Marke bietet faire Handelsbeziehungen,<br />
ökologische Verantwortung<br />
und ein konsequentes<br />
Nein zu Kinderarbeit und Tierversuchen.<br />
NEON VON AMOR<br />
Wie es Erika ausdrücken würde:<br />
«Wer wollte nicht schon immer mal<br />
im Bett das Leuchtschwert schwingen<br />
und Star Wars spielen?»<br />
Kondome aus wärmeleitendem Material beispielsweise<br />
(genauso wie es extradicke gebe für Zu-viel-<br />
Spürende oder Zu-früh-Kommende).<br />
Junge Menschen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen<br />
machen würden, seien oft verunsichert oder<br />
gar abgestossen von den unbekannten intimen Körpergerüchen.<br />
«Da kann ein Gummi mit Erdbeergeruch<br />
durchaus helfen», sagt Erika. Nicht zu vergessen<br />
sei das Lecktuch für den After beziehungsweise die<br />
Vulva, denn auch durch Oralsex würden Ansteckungen<br />
passieren.<br />
Die Sonne ist mittlerweile schlafen gegangen an<br />
diesem winterlichen Nachmittag, und auch die Baustelle<br />
vor dem Haus macht langsam dicht. Jemand<br />
anderes hingegen denkt gerade weder ans Schlafen<br />
noch ans Aufhören: Es ist Erika Knoll, Madame<br />
Condomeria.<br />
Das Kondom<br />
Bereits vor mehreren hundert<br />
Jahren wurden Kondome<br />
hergestellt, damals aus<br />
Schafs därmen oder anderen<br />
tierischen Membranen. Der für<br />
seine Liebschaften berüchtigte<br />
Schriftsteller Giacomo Casanova<br />
soll solche Exemplare<br />
verwendet haben, um sich vor<br />
der gefürchteten Syphilis zu<br />
schützen. Nach der Entwicklung<br />
der Vulkanisation konnten<br />
Kondome aus Gummi ab 1870<br />
serienmässig hergestellt werden.<br />
Im Ersten Weltkrieg gehörten<br />
sie zur Standardausrüstung<br />
britischer, französischer und<br />
deutscher Soldaten. Seit 1930<br />
werden Kondome hauptsächlich<br />
aus Latex hergestellt. Bis<br />
Mitte des 20. Jahrhunderts war<br />
der Verkauf von Kondomen vielerorts<br />
verboten und nur zu medizinischen<br />
Zwecken erlaubt, in<br />
Irland galt eine entsprechende<br />
Regelung sogar bis in die Achtzigerjahre.<br />
Nicht ganz geklärt ist<br />
die Namensherkunft. Eine Theorie<br />
beruft sich auf einen angeblichen<br />
Dr. Condom, Leibarzt<br />
des britischen Königs Charles II.<br />
Eine andere bezieht sich auf die<br />
Bezeichnung «con domino» –<br />
eine humorvolle Anspielung auf<br />
den Kapuzenmantel der Geistlichen.<br />
1987 wurden «AIDS» und<br />
«Kondom» zu den Wörtern des<br />
Jahres gewählt.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
119
mannschaft.com<br />
mehr News auf<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
120 Frühling <strong>2023</strong>
TENNESSEE S<strong>CH</strong>RÄNKT<br />
DRAGSHOWS EIN<br />
Nashville – In Tennessee sind Dragshows<br />
in der Öffentlichkeit oder im Beisein von<br />
Minderjährigen neu verboten. Das neue<br />
Gesetz untersagt verschiedene Formen<br />
der Erwachsenenunterhaltung, darunter<br />
Aufführungen von Stripper*innen, Go-Go-<br />
Tänzer*innen sowie «Männer- und Frauenimitationen».<br />
Ein Verstoss gegen diese<br />
Regelung werde als Ordnungswidrigkeit<br />
geahndet, beim zweiten Mann als Straftat.<br />
Für Wirbel in den Medien sorgte ein altes<br />
Foto des republikanischen Gouverneurs<br />
Lee, das ihn 1977 mit Perlenkette und Minirock<br />
zeigt. Der heute 63-Jährige nannte<br />
die Vergleiche zwischen den im Gesetz<br />
aufgezählten Darbietungen und dem alten<br />
Bild «lächerlich». Dragqueens bezeichneten<br />
seine Aussage als «heuchlerisch».<br />
Gegenüber NBC News sagte Dragqueen<br />
Denise Sadler: «Für Heteros ist es in Ordnung,<br />
das zu tun, aber nicht für die schwule<br />
Gemeinschaft. Das ist die Botschaft, die<br />
er den Menschen vermittelt.»<br />
Der Gourverneur<br />
posierte 1977 selbst<br />
in Frauenkleidung<br />
TRANS FRAU KANDIDIERT FÜR<br />
MISS UNIVERSE PUERTO RICO<br />
San Juan – Zum ersten Mal kandidiert mit<br />
Daniela Arroyo González eine offene trans<br />
Frau bei den «Miss Universe Puerto Rico»-<br />
Wahlen. Der Nachrichtenagentur AP zufolge<br />
war es das zweite Mal, dass sie sich für<br />
die Wahlen beworben hatte. Nun kämpft<br />
sie mit über 35 anderen Kandidatinnen<br />
um den Titel und somit um die Gelegenheit,<br />
Puerto Rico bei den «Miss Universe»-Wahlen<br />
zu vertreten. «Schreiben wir<br />
gemeinsam Geschichte!», schrieb Arroyo<br />
González, als sie ihre Kandidatur mit einem<br />
Video auf Instagram bekannt gab.<br />
DAS «HOMOPHOBSTE GESETZ<br />
DER WELT» IN GHANA?<br />
Accra – In Ghana steht eine Verschärfung<br />
der Rechtslage für LGBTIQ-Menschen bevor.<br />
Im Juni 2021 hatten acht Parlamentsmitglieder<br />
in der Hauptstadt Accra einen<br />
ersten Entwurf für die «Proper Human<br />
Sexual Rights and Ghanaian Family Values<br />
Bill» vorgelegt. Es würde die Höchststrafe<br />
für homosexuelle Kontakte in Ghana von<br />
drei auf bis zu zehn Jahre erhöhen. Neben<br />
langen Haftstrafen für die Verbreitung von<br />
Informationsmaterial über Geschlechtervielfalt<br />
fordert der Gesetzesvorschlag,<br />
dass Unterstützer*innen und Familienangehörige,<br />
die queere Menschen beherbergen<br />
oder Treffen von queeren Gruppen<br />
tolerieren, mit bis zu zehn Jahren Gefängnis<br />
bestraft werden können. Aktivist*innen<br />
bezeichnen den Gesetzesvorschlag als<br />
das «homophobste Dokument, das die<br />
Welt je gesehen hat».<br />
ELLY S<strong>CH</strong>LEIN NEUE OPPOSITI-<br />
ONSFÜHRERIN IN ITALIEN<br />
Rom – Ende Februar wählten die italienischen<br />
Sozialdemokrat*innen Elly Schlein<br />
zur neuen Parteichefin und damit zur<br />
Organisationsführerin. Erstmals stehen<br />
in Italien damit Frauen an der Spitze der<br />
zwei wichtigsten Parteien; neben Schlein<br />
ist dies Regierungschefin Giorgia Meloni<br />
als Vorsitzende der ultrarechten Fratelli<br />
d’Italia. In einer Talkshow vor zwei Jahren<br />
sprach Schlein offen über ihre Bisexualität:<br />
«Ich habe Männer geliebt und ich habe<br />
Frauen geliebt. Derzeit bin ich mit einer<br />
Frau zusammen. Und ich bin glücklich,<br />
solange sie es mit mir aushält.»<br />
SIEG VOR GERI<strong>CH</strong>T FÜR<br />
LGBTIQ-ORGANISATION<br />
Nairobi – Der Ausschuss der Nichtregierungsorganisationen<br />
Kenias weigerte sich<br />
bis anhin, LGBTIQ-Organisationen zur<br />
offiziellen Registrierung zuzulassen. Diese<br />
Haltung sei nicht rechtens, entschied nun<br />
das oberste Gericht des ostafrikanischen<br />
Staates. Das Urteil kam mit einer knappen<br />
Mehrheit von drei zu zwei Stimmen<br />
zustande. Damit findet ein zehnjähriger<br />
Rechtsstreit sein Ende. 2013 klagte Eric<br />
Gitari, der ehemalige Geschäftsführer der<br />
National Gay and Lesbian Human Rights<br />
Commission (NGLHRC), gegen die Weigerung<br />
des Ausschusses, eine NGO mit dem<br />
Wort «schwul» oder «lesbisch» im Namen<br />
zu registrieren. Für die LGBTIQ-Community<br />
in Kenia ist dieses endgültige Urteil zwar<br />
ein Sieg – doch unverändert bleibt die Tatsache,<br />
dass Sex zwischen Männern illegal<br />
bleibt. Das Gesetz wurde unter britischer<br />
Kolonialherrschaft eingeführt und sieht<br />
Freiheitsstrafen von bis zu 14 Jahren vor.<br />
GERI<strong>CH</strong>T ERKENNT RE<strong>CH</strong>TE<br />
EINES S<strong>CH</strong>WULEN PAARS AN<br />
Seoul – Der oberste Gerichtshof von<br />
Seoul urteilte Ende Februar, dass eine<br />
staatliche Krankenversicherung dem Ehepartner<br />
eines Kunden ebenfalls Versicherungsschutz<br />
schulde. Dieser war zunächst<br />
genehmigt, dann zurückgezogen worden,<br />
als die Versicherung herausfand, dass<br />
das Paar schwul ist. Es hiess, man habe<br />
einen Fehler gemacht. Das Gericht in<br />
Seoul stellte fest, dass das Verweigern<br />
von Versicherungsvorteilen für gleichgeschlechtliche<br />
Paare eine Diskriminierung<br />
darstellte. Die beiden Männer hatten 2019<br />
eine Hochzeitszeremonie gefeiert, jedoch<br />
wird die Ehe in Südkorea nicht anerkannt.<br />
Aktivist*innen erklärten, das Urteil sei ein<br />
«wichtiger Schritt» nach vorne für LGBTIQ-<br />
Rechte im Land. Der Fall wird allerdings<br />
noch vor dem obersten Gerichtshof des<br />
Landes angefochten.<br />
«Ein wichtiger Schritt<br />
für Südkorea.»<br />
TRANS PIONIERIN GEORGINA<br />
BEYER GESTORBEN<br />
Wellington – Georgina Beyer, die weltweit<br />
erste offen trans Parlamentsabgeordnete,<br />
verstarb am 6. März mit 65 Jahren.<br />
Die Neuseeländerin war eine ehemalige<br />
Sexarbeiterin, Schauspielerin und Dragqueen<br />
und wurde 1995 Bürgermeisterin<br />
der Kleinstadt Carterton als weltweit<br />
erste trans Person. 1999 wurde sie in das<br />
nationale Parlament gewählt, wiederum<br />
als erste trans Person überhaupt. Beyer<br />
war bekannt für ihren Einsatz für die Einführung<br />
von Lebenspartnerschaften und<br />
zur Öffnung der Ehe sowie zur Entkriminalisierung<br />
der Prostitution. 2020 war sie<br />
von Königin Elizabeth II. für ihre Verdienste<br />
um die LGBTIQ-Community zum Mitglied<br />
des neuseeländischen Verdienstordens<br />
ernannt worden. Der Nachrichtenagentur<br />
Reuters zufolge kämpfte Beyer lange mit<br />
einer Nierenerkrankung.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
121
Story — 9<br />
9<br />
Im<br />
Paradies<br />
des<br />
Teufels<br />
122 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 9<br />
Text – Sarah Stutte<br />
Illustrationen – Sascha Düvel<br />
«Ins Herz gemeisselt» heisst<br />
es so schön auf den Plakaten<br />
von Wallis Tourismus. Ob Skifahren<br />
oder Wandern, das<br />
Sonnenland der Schweiz ist<br />
toll für einen Urlaub – doch<br />
zum Aufwachsen für jemanden<br />
mit nicht heteronormativer<br />
Gefühlslage eher schwierig.<br />
Mittlerweile scheint sich aber<br />
etwas getan zu haben im<br />
Wallis. Ein persönlicher Bericht<br />
von Sarah Stutte.<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
123
Story — 9<br />
ür diejenigen, die noch nie da waren: Das Wallis ist<br />
der drittgrösste Schweizer Kanton, der ganz unten<br />
im Südwesten liegt und an den französischen Teil<br />
(Romandie) des Landes grenzt. Deshalb ist das Wallis<br />
auch zweisprachig – im Oberwallis wird Deutsch<br />
gesprochen (oder zumindest ein für alle restlichen<br />
Schweizer*innen sowie Ausländer*innen ein vollkommen<br />
unverständlicher Dialekt) und im Unterwallis<br />
Französisch. Der Kantonshauptort Sitten (Sion)<br />
liegt im französischen Teil, hübsch eingebettet in die<br />
vielen beschaulichen Rebberge. Im Oberwallis findet<br />
sich dafür das legendäre Matterhorn, samt dem Ferienort<br />
Zermatt und anderen Touristenmagneten. Auch<br />
der bis jetzt noch grösste Alpengletscher, der Aletsch,<br />
liegt in unmittelbarer Nähe. Das ist alles toll und an<br />
der Natur gibt es auch nichts zu beanstanden. Doch<br />
hier aufzuwachsen, ist kompliziert. Vor allem als Jugendliche<br />
auf Identitätssuche. Denn das Wallis ist<br />
überdies tief katholisch – im Grunde das Bayern der<br />
Schweiz – und deswegen auch stockkonservativ.<br />
Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt<br />
Ich bin mit einem eher offenen, deutschen Gemüt<br />
und meinen 13 Jahren von einer eher städtischen<br />
Umgebung nach «Zaniglas» (St. Niklaus) verpflanzt<br />
worden – ein Dorf im Mattertal mit knapp 2200<br />
Einwohner*innen. Der längste Weiler im Oberwallis,<br />
in dem einmal im Jahr, nämlich am 6. Dezember, etwas<br />
Aufregendes passiert. Dann wird über den Zwiebelturm<br />
der katholischen Kirche der grösste Nikolaus<br />
der Welt gezogen, der es mit seinen 37 Metern Höhe<br />
sogar bis ins «Guiness Buch der Rekorde» geschafft<br />
hat. Die restlichen 364 Tage sagen sich hier – meist im<br />
Schatten des Tals – Fuchs und Hase gute Nacht, und<br />
vom Tod des Altpfarrers erfährt man schon, bevor dieser<br />
tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden weilt.<br />
Sich in diesem ureigenen Mikrokosmos mit seinen<br />
Regeln und Geheimnissen zurechtzufinden, umgeben<br />
von hohen Bergen, die manchmal genauso gespenstisch<br />
wirken wie die Geschichten, die von ihnen<br />
widerhallen, war für mich als Teenager erstmal<br />
nicht einfach. Ich fühlte mich innerlich zerrissen, da<br />
ich hier wie dort nicht dazugehörte und äusserlich<br />
gefangen, weil abgeschnitten von der Welt. Ich musste<br />
nicht erst merken, dass ich anders bin, mir wurde<br />
diese Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt. Es war, als<br />
ob ich mich auf einem fremden Planeten befand, auf<br />
dem alle sich in stillem Einvernehmen miteinander<br />
verständigten, während ich den Mund aufmachte und<br />
kein Wort über meine Lippen brachte. Stumm blieb.<br />
Das resignierte mich und in diesem Gefühl wollte<br />
ich nicht bleiben. Also versuchte ich nach und nach,<br />
die mir unwirtliche Umgebung zu erforschen, lernte<br />
die doch ganz irdischen Walliserinnen und Walliser<br />
kennen, ihre durchaus komplizierte Sprache und Gepflogenheiten.<br />
Kulturschock mit 20 Jahren<br />
Doch irgendetwas stimmte immer noch nicht – trotz<br />
der erweiterten Stufe mit Freundschaften und der mir<br />
heimisch gewordenen Dorf-Videothek (Ja, die gab es<br />
noch in den 90ern!), in der ich jede freie Minute verbrachte.<br />
Ich kam aber nicht darauf, was es war – und<br />
so verging die Zeit. Erst als ich mit 20 Jahren für ein<br />
Radiopraktikum nach Bern zog, fiel es mir wie Schuppen<br />
von den Augen: Ich mochte Frauen – und ein<br />
bisschen auch Männer, aber vielmehr Frauen. In Bern<br />
prasselten so viele Zeichen wie ein Holzschlaghammer<br />
auf mich ein, dass ich sie gar nicht ignorieren konnte.<br />
Da war dieses lesbische Pärchen, das Hand in Hand in<br />
der Fussgängerzone schlenderte und sich mitten auf<br />
der Strasse küsste. Ich hatte im Studentenwohnheim<br />
plötzlich eine queere Nachbarin, und diese nahm mich<br />
dann auch noch mit in den damaligen Gay-Club «Samurai»,<br />
wo mich buchstäblich der Kulturschock traf.<br />
124 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 9<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
125
Story — 9<br />
Von Deutschland in die Schweiz: Mit 13 Jahren zog Sarah mit ihrer Familie ins Oberwallis.<br />
Bild: Privat<br />
Engstirnigkeit in engen Tälern? Im Dorf St. Niklaus gab es für Sarah keine queeren Vorbilder.<br />
Bild: Roy Lindmann, CC BY-SA 3.0<br />
126 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 9<br />
Meine Mutter schnitt mir ein paar<br />
Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten<br />
aus der Bravo heraus.<br />
Diesmal aber nicht, weil ich mich wieder auf einem<br />
fremden Planeten befand, sondern sich eher ein Gefühl<br />
von Heimat in mir ausbreitete.<br />
Keine «Role Models» im Oberwallis<br />
Dieses ganze Universum voller Möglichkeiten war<br />
vor mir geheim gehalten worden, durch einen Ort, an<br />
dem es nicht existierte. Und das lag sicher nicht nur<br />
daran, dass ich eine Spätzünderin war, weil meine<br />
Mutter mir ein paar Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten<br />
aus der Bravo herausgeschnitten hatte. Nein, der<br />
Grund war, dass ich in meiner Schule in St. Niklaus<br />
– wo damals noch in jedem Klassenzimmer ein Kreuz<br />
hing – im Aufklärungsunterricht nie etwas anderes<br />
gehört hatte als das heteronormative Geschlechtermodell.<br />
Ich habe natürlich auch nie ein queeres Pärchen<br />
gesehen, das eng umschlungen bei Tageslicht auf<br />
den Dorfstrassen unseres entlegenen Tals herumspaziert<br />
wäre – Gott bewahre. Hier kennt jede*r jede*n<br />
und das Getuschel ist nie weit entfernt. Ich erinnere<br />
an den Pfarrer! Als ich im Oberwallis aufwuchs, gab<br />
es ferner noch keinerlei Beratungsstellen in den grösseren<br />
Städten Visp und Brig, die mich in irgendeiner<br />
Weise erleuchtet hätten. Auch das Internet steckte zu<br />
dieser Zeit noch in den Kinderschuhen respektive hatte<br />
ich keinen Zugang zu einem Computer – das kam<br />
alles erst viel später.<br />
Zugegeben, dass die Vorbilder fehlten, war seinerzeit<br />
nicht nur im Wallis so, sondern auch anderswo<br />
in ländlichen Gegenden. Doch in Deutschland gibt<br />
es beispielsweise seit 1996 den Verein FLUSS e.V., der<br />
im Raum Freiburg und überregional gesellschaftspolitische<br />
Bildungsarbeit zu Geschlecht und sexueller<br />
Orientierung leistet. Dazu bieten die ehrenamtlichen<br />
Mitarbeitenden neben Beratungen für queere Menschen<br />
unter anderem auch Workshops und Projekte<br />
in Schulen an, um dort ein grundlegendes Rollenverständnis<br />
und Themen wie Identitätsfindung überhaupt<br />
einmal aufs Trapez zu bringen. Das wäre auch<br />
für das Oberwallis, für mich und andere Jugendliche,<br />
die in den frühen 90er-Jahren dort feststeckten, hilfreich<br />
gewesen. An ein Coming-out war unter diesen<br />
Umständen gar nicht zu denken. Vor allem nicht für<br />
trans Menschen, die für ihre Transitionsprozesse auf<br />
therapeutische Begleitung angewiesen sind. Dafür<br />
fehlte das Gefühl der Sicherheit in einer Umgebung,<br />
die so tat, als gäbe es uns nicht.<br />
An den Gefühlen zerbrochen<br />
Wo waren die anderen queeren Jugendlichen und<br />
was ist mit ihnen passiert? Diese Frage habe ich mir<br />
später immer wieder gestellt. Denn es war sonnenklar,<br />
dass ich nicht die Einzige war. Viele sind vermutlich<br />
abgewandert und hatten wie ich Glück, dass der<br />
Selbstfindungsprozess sich erst nach ihrer Landflucht<br />
in Gang setzte. Andere, die schon vorher mit ihren<br />
Gefühlen gerungen haben, hielten den Druck in sich<br />
vielleicht nicht mehr aus und wählten den Weg zur<br />
Ganterbrücke. Die Selbstmordrate im Oberwallis war<br />
damals sehr hoch. Allein in meiner Oberstufe nahmen<br />
sich innerhalb dreier Jahre mindestens drei Jugendliche<br />
das Leben. Das mag verschiedene Gründe gehabt<br />
haben, doch es kann gut sein, dass auch jemand darunter<br />
war, der sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung<br />
oder Geschlechtsidentität zermürbte und dem<br />
oder der im entscheidenden Moment niemand zur<br />
Seite stand.<br />
Mit der ersten Pride, die im Sommer 2001 in Sitten<br />
stattfand, wurde dann erstmals ein Zeichen der Sichtbarkeit<br />
gesetzt. Dieses hatte sich die Koordinatorin<br />
des Anlasses, Marianne Bruchez, auf die Regenbogenfahne<br />
geschrieben. Die «Jeanne d'Arc von Sitten», wie<br />
sie aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes genannt<br />
wurde, bekam dafür natürlich reichlich Gegenwind<br />
zu spüren. Da lag mein Coming-out schon drei Jahre<br />
zurück und ich war zwar nicht überrascht, aber<br />
durchaus befremdet von der vornehmlich religiösen<br />
Hetze im Vorfeld des Anlasses. Vor einer «teuflischen<br />
Versuchung» wurden beispielsweise in der Unterwalliser<br />
Zeitung Nouvelliste die Leser*innen mit einem<br />
ganzseitigen Inserat gewarnt. Was das gekostet haben<br />
muss! Das schien aber die geringste Sorge der Auftraggeberin<br />
zu sein – einer Gruppierung namens «RomanDit»,<br />
die der schon seit über 40 Jahren im Wallis<br />
aktiven, erzkatholischen Piusbruderschaft nahesteht.<br />
Erste Pride und Sturm der Entrüstung<br />
Hauptsache, sie konnten kundtun, dass «Homosexualität<br />
schädlich für die öffentliche Gesundheit,<br />
die Jugend, die Familie und die Kirche ist», wie in<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
127
Story — 9<br />
128 Frühling <strong>2023</strong>
Story — 9<br />
Je näher der Termin der ersten<br />
Pride rückte, desto grotesker wurde<br />
die Debatte.<br />
der Anzeige weiter zu lesen war. Einige Wochen zuvor<br />
hatte schon der damalige Bischof die Diskussion<br />
um die Pride befeuert, indem er ebenfalls den Teufel<br />
bemühte, der hier seine Hände im Spiel hätte. Anscheinend<br />
stiess die Kreativität an ihre katholischen<br />
Grenzen. Im Walliser Boten versuchte er dann zu verschlimmbessern,<br />
denn Homosexualität im Allgemeinen<br />
sei nicht das Problem, sondern «diese freizügige<br />
Parade». Ein solcher Anlass – ähnlich der Streetparade<br />
– gehöre schliesslich nach Zürich und nicht ins beschauliche<br />
Sitten.<br />
Je näher der Termin der Pride rückte, desto grotesker<br />
wurde die Debatte. Von den Müttern, die mit ihren<br />
Kindern im Schlepptau vor der Sittener Kathedrale gegen<br />
den Anlass protestierten, um ihre Kinder vor «der<br />
Perversion» zu schützen, bis zu den «RomanDit's»,<br />
die einfach keine Ruhe gaben. Da der Teufel offenbar<br />
keine grosse Rückendeckung gab, versuchte sich die<br />
Gruppierung nun in Verschwörungstheorien. Von einer<br />
«internationalen Bewegung, die aus allen Jugendlichen<br />
Homosexuelle machen will», war die Rede. Am<br />
Schluss half dann nur noch Beten vor einer Kirche<br />
im Stadtzentrum – da war der Umzug aber schon in<br />
vollem Gang, mit über 20 000 Menschen (einschliesslich<br />
mir), die sich friedlich feiernd und fröhlich tanzend<br />
ihr Leben nicht vorschreiben lassen wollten. Als<br />
2015 dann die zweite Pride in Sitten stattfand, gab es<br />
wiederum Misstöne des Bischofs – inzwischen ein anderer<br />
– und Widerstand regte sich diesmal in den Untiefen<br />
der Social-Media-Gefilde. Doch die Kontrastimmen<br />
waren schon leiser geworden, weil im Wallis<br />
inzwischen bemerkt wurde, dass man sich selbst hier<br />
der Welt gegenüber nicht ganz verschliessen kann.<br />
Dass dies ausgerechnet in dem Kanton geschehen<br />
ist, in dem ich früher nur selten das Gefühl hatte, zu<br />
mir selbst finden zu können, zeigt den Wandel, der<br />
sich in den Köpfen und Herzen mit den Jahren vollzogen<br />
hat, und dass auch das Wallis bezüglich Toleranz<br />
und liberaler Haltung gewachsen ist. Natürlich gibt<br />
es immer noch die Gegenstimmen und die Hater, die<br />
versteckt soziale Ausgrenzung im Alltag und die offen<br />
gezeigten Aggressionen. Da mache ich mir nichts vor.<br />
Trotzdem ist etwas passiert. Das zeigt sich auch daran,<br />
dass der Kanton in eine Pionierrolle schlüpfen will<br />
und im Januar dieses Jahres einen umfassenden Aktionsplan<br />
gegen LGBTIQ-Diskriminierung vorstellte.<br />
Dieser beinhaltet ein breiteres Netz an Beratungsstellen<br />
sowie Schulungen für Fachpersonen oder in<br />
Schulklassen. Endlich. Im Sommer 2024 soll in der<br />
französischsprachigen Stadt Martigny im Unterwallis<br />
eine Pride stattfinden. Jetzt fehlt nur noch die erste<br />
Pride im Oberwallis – die hoffentlich nicht mehr allzu<br />
lange auf sich warten lässt.<br />
«Wo waren die anderen queeren Jugendlichen und was<br />
ist aus ihnen geworden?», fragt sich Sarah immer wieder.<br />
Oberems als Pionierin<br />
Die Pride war ein Türöffner und ebnete schliesslich<br />
den Weg für Anlaufstellen wie den Verein «QueerWallis»,<br />
der sich 2016 formierte. Heute bietet dieser neben<br />
Beratungsangeboten für die Community und deren<br />
Angehörige auch regelmässige Anlässe wie Filmabende<br />
oder gemeinsame Ausflüge an. Mit öffentlichen<br />
Themenabenden unter dem Motto «Wir sind wie ihr –<br />
und queer» versuchen die Mitglieder zudem, Vorurteile<br />
in der Bevölkerung abzubauen. Und dann dies: Als<br />
im September 2021 über die «Ehe für alle»-Initiative<br />
abgestimmt wurde, nahm die kleine Oberwalliser Gemeinde<br />
Oberems mit sagenhaften 85,7 % die Vorlage<br />
an. Das mag nur eine Randnotiz sein, bedeutet mir<br />
persönlich aber sehr viel.<br />
Bild: Privat<br />
Frühling <strong>2023</strong><br />
129
COMIC<br />
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Mannschaft Magazin <strong>Nr</strong>. <strong>112</strong>, Frühling <strong>2023</strong>, Ausgabe für die Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein<br />
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Lautes Haus GmbH, Blumensteinstrasse 2, <strong>CH</strong>-3012 Bern Redaktionsverantwortung Denise Liebchen, Greg Zwygart<br />
Art Direction Sandro Soncin Bildredaktion Raffi p.n. Falchi Korrektorat Curdin Seeli, Schaumkino Anzeigenverkauf<br />
Christina Kipshoven, Jasmin Zaccone, medien@lauteshaus.com Druck Radin Print Rechtschreibung Mannschaft Magazin<br />
nimmt die Schweizer Rechtschreibung als Vorlage. Urheberrecht Jegliche Wiedergabe und Vervielfältigung von Artikeln<br />
und Bildern ist nur mit ausdrück licher Genehmigung des Verlags gestattet. Mannschaft Magazin erscheint quartalsweise.<br />
Die nächste Ausgabe erscheint am 7. Juni <strong>2023</strong>.<br />
130 Frühling <strong>2023</strong>
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