Nr. 112 «Eric» - Frühling 2023 (CH)

Die Vögelchen zwitschern, die ersten Sonnenstrahlen wärmen: Sag dem Frühjahr hallo und schnapp dir deine druckfrische Ausgabe mit hintergründigen Reportagen, spannenden Interviews und jeder Menge LGBTIQ-News. Die Vögelchen zwitschern, die ersten Sonnenstrahlen wärmen: Sag dem Frühjahr hallo und schnapp dir deine druckfrische Ausgabe mit hintergründigen Reportagen, spannenden Interviews und jeder Menge LGBTIQ-News.

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22.06.2023 Aufrufe

Deine Community, dein Team. Nr 112 Frühling 2023 mannschaft.com Eric Glod bringt mehr Queerness in den Profisport Seite 28 Jonathan Groff: «Hollywood steckt gerne in Schubladen» Seite 64 Auf in den Frühling: Der für dich richtige Detox existiert! Seite 42 CHF 20

Deine Community, dein Team.<br />

<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

mannschaft.com<br />

Eric Glod bringt<br />

mehr Queerness in<br />

den Profisport<br />

Seite 28<br />

Jonathan Groff:<br />

«Hollywood steckt<br />

gerne in Schubladen»<br />

Seite 64<br />

Auf in den Frühling:<br />

Der für dich richtige<br />

Detox existiert!<br />

Seite 42<br />

<strong>CH</strong>F 20


TICKETS AB<br />

14.4. ERÖFFNUNG<br />

& CLOSING NIGHT<br />

17.4. FESTIVAL<br />

25.4. — 4.5.23<br />

ZÜRI<strong>CH</strong><br />

–<br />

5.5. — 7.5.23<br />

FRAUENFELD<br />

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QUEERES FILMFESTIVAL<br />

Wir leben Diversity.<br />

Auch als Hauptpartnerin von Pink Apple. Die nahe Bank.<br />

zkb.ch/pinkapple


Deine Community, dein Team.<br />

<strong>CH</strong>F 20<br />

Deine Community, dein Team.<br />

<strong>CH</strong>F 20<br />

EDITORIAL<br />

9 Storys,<br />

9 Farben<br />

Der US-Künstler Gilbert Baker<br />

entwarf 1978 die Regenbogenfahne<br />

mit acht Farben<br />

als Symbol für die LGBTIQ-<br />

Community. 2017 – kurz vor<br />

seinem Tod – fügte er der<br />

Fahne eine neunte Farbe hinzu:<br />

Lavendel. Die Farbe solle nach<br />

der Wahl von US-Präsident<br />

Donald Trump ein Zeichen für<br />

Vielfalt setzen, so Baker.<br />

Neun Storys bilden das Herzstück<br />

der MANNS<strong>CH</strong>AFT und<br />

stehen jeweils für eine Farbe<br />

dieser neuen Regenbogenfahne.<br />

Nach wie vor im Magazin<br />

vertreten sind unsere verschiedenen<br />

Rubriken zu Film,<br />

Lifestyle, Literatur, Musik und<br />

Serien sowie aktuelle Meldungen<br />

aus der Community.<br />

MANNS<strong>CH</strong>AFT MAGAZIN<br />

<strong>Nr</strong>. <strong>112</strong>, Frühling <strong>2023</strong><br />

Das LGBTIQ-Magazin für die<br />

Schweiz, Deutschland, Österreich<br />

und Liechtenstein.<br />

Eric Glod bringt<br />

mehr Queerness in<br />

den Profisport<br />

Seite 28<br />

Jonathan Groff:<br />

«Hollywood steckt<br />

gerne in Schubladen»<br />

Seite 64<br />

Auf in den Frühling:<br />

Der für dich richtige<br />

Detox existiert!<br />

Seite 42<br />

<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

mannschaft.com<br />

Kelela: «Kirche<br />

und Club sind beides<br />

Orte der Erlösung»<br />

Seite 50<br />

Mit Comedy rüttelt<br />

Shaden Fakih<br />

den Libanon auf<br />

Seite 6<br />

Auf in den Frühling:<br />

Der für dich richtige<br />

Detox existiert!<br />

Seite 42<br />

<strong>Nr</strong> <strong>112</strong><br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

mannschaft.com<br />

Foto: Raffi p.n. Falchi<br />

Liebe Mannschaft<br />

Im Englischen gibt es einen Ausdruck, der mir besonders gefällt:<br />

«Trailblazer». Wortwörtlich übersetzen lässt sich die Bezeichnung<br />

etwa mit «Pionier», «Vorreiter» oder «Wegbereiter». Inhaltlich<br />

sind es korrekte Übersetzungen, figurativ greifen sie jedoch etwas<br />

kurz. Unter «blazing» verstand man ursprünglich das Markieren<br />

von Bäumen mit einem Messer, um einen neuen Trail, einen Weg,<br />

zu signalisieren. «Blaze» bedeutet auf Englisch aber auch «loderndes<br />

Feuer» oder «lichterloh brennen». Somit ist das Bild eines<br />

Trailblazers in meiner Vorstellung ziemlich lebhaft: Eine Person,<br />

die sich mit Feuer und Flammen einen neuen Weg brennt, wo es<br />

vorher keinen gegeben hat.<br />

In unserer Frühlings-Ausgabe wimmelt es nur so von Trailblazern.<br />

Da wäre zum einen Eric Glod, professioneller Tischtennisspieler,<br />

der Queerness im Profisport sichtbar machen will<br />

(Seite 28). Zum anderen haben wir Shaden Fakih, die als Stand-up-<br />

Comedienne Korruption, toxische Männlichkeit und die Unterdrückung<br />

der Frau im Libanon anprangert (Seite 6). Schauspieler<br />

Jonathan Groff und Ben Aldridge bringen in M. Night Shyamalans<br />

Film «Knock at the Cabin» eine Regenbogenfamilie mit einer<br />

Selbst verständlichkeit auf die Leinwand, die in Holly wood-<br />

Produktionen ihresgleichen sucht (Seite 64). Torsten Poggenpohl<br />

klärt auf über bipolare Störungen und die Selbststigmatisierung<br />

von Menschen mit HIV in der Community (Seite 74). Last but not<br />

least sind auch die unzähligen trans Aktivist*innen unerschütterliche<br />

Trailblazers, die nicht nur einen Weg, sondern gleich eine Autobahn<br />

brennen für kommende Generationen von trans Personen<br />

(Seite 56).<br />

Du siehst, unsere Frühlings-Ausgabe ist vollgepackt mit<br />

inspirierenden Geschichten. Die ganze Redaktion wünscht dir<br />

eine anregende Lektüre.<br />

Eric<br />

Foto: Agnieszka Tunnissen<br />

Kelela<br />

Foto: Justin French<br />

<br />

Greg Zwygart, Co-Chefredaktor<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

3


Mannschaftsaufstellung<br />

In dieser Ausgabe haben unter anderem diese Personen<br />

für uns geschrieben und fotografiert<br />

Was findet sich in einem<br />

Laden, der sich auf<br />

Kondome und Erotikartikel<br />

spezialisiert hat? Cesare<br />

Macri hat für uns die<br />

Condomeria besucht.<br />

→ Seite <strong>112</strong><br />

Stella<br />

Männer<br />

Die Journalistin Stella Männer<br />

lebt seit zwei Jahren im Libanon<br />

und berichtet aus Krisenländern.<br />

Am liebsten erzählt<br />

sie Geschichten von Menschen,<br />

die etwas verändern wollen. So<br />

wie die Comedienne Shaden<br />

Fakih. → Seite 6<br />

Martin Busse, unser Fachmann<br />

in Sachen Seelenleben und Musik,<br />

hat die heissesten unter den neuen<br />

queeren Alben ausgewählt und<br />

eine Frühjahrsplaylist zusammengestellt.<br />

→ Seite 54<br />

Julia Monro ist Menschenrechtsaktivistin,<br />

die<br />

sich für geschlechtliche<br />

Vielfalt engagiert, um<br />

Transfeindlichkeit abzubauen<br />

und einen sensiblen<br />

Umgang mit trans<br />

Personen zu fördern. Sie<br />

hat für uns über den<br />

Transgender Day of<br />

Visibility geschrieben.<br />

→ Seite 56<br />

Sarah Stutte ist Radio- und<br />

Filmjournalistin. Als Kind zog<br />

sie mit ihrer Familie von<br />

Deutschland in die Schweiz: in<br />

ein kleines Dorf im Kanton<br />

Wallis. Wie das für sie war, hat<br />

sie in einem persönlichen<br />

Essay beschrieben.<br />

→ Seite 122<br />

In Steffen Rüths Terminkalender<br />

stehen Namen wie Adam Lambert, Jessie<br />

Ware oder Herbert Grönemeyer. Für uns<br />

hat der freie Journalist mit Avantgarde-<br />

Star Kelela gesprochen. → Seite 50<br />

Kolumnen:<br />

Bi the way, 18<br />

Die trans Perspektive, 82<br />

Reden ist Gold, 99<br />

4 Frühling <strong>2023</strong>


Storys<br />

1 2 3<br />

Libanon<br />

Witze sind<br />

ihre Waffe<br />

6<br />

4 5 6<br />

Community<br />

Der trans<br />

Tag<br />

56<br />

7<br />

Die Schlacht<br />

um den<br />

Stern<br />

Sport<br />

«Im Profisport<br />

müssen wir<br />

unseren<br />

eigenen Weg<br />

gehen dürfen»<br />

28 42<br />

Gesundheit<br />

Wenn die<br />

Synapsen<br />

Karneval<br />

feiern<br />

74 84<br />

8 9<br />

Zu Besuch<br />

bei Madame<br />

Condomeria<br />

Lifestyle<br />

Welche<br />

Detox-Blüte<br />

bist du?<br />

Fotografie<br />

Sprache Lust Essay<br />

«Ich zeige<br />

den verborgenen<br />

Teil der<br />

Welt»<br />

Im Paradies<br />

des Teufels<br />

100 <strong>112</strong> 122<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

5


Story — 1<br />

1<br />

Witze<br />

sind ihre<br />

Waffe<br />

6 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 1<br />

Text: Stella Männer<br />

Fotos: Aline Deschamps<br />

Für die libanesische Comedienne<br />

Shaden Fakih gibt es keine Tabus:<br />

Auf der Bühne macht sie Witze über<br />

die korrupte Elite ihres Landes, toxische<br />

Männlichkeit, die Menstruation<br />

und Sex. Damit ist sie zum Star der<br />

queeren Szene und zur Provokation<br />

für die libanesischen Behörden geworden.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

7


Story — 1<br />

Wenn du schnell beleidigt bist, ist diese Veranstaltung nichts<br />

für dich – dieser Satz steht in dicker weisser Schrift auf einem<br />

schwarzen Aufsteller vor dem Eingang des Théâtre Tournesol im<br />

Beiruter Stadtteil Tayouneh. Er ist Warnung und Versprechen zugleich:<br />

Der heutige Abend wird abseits gesellschaftlicher Normen<br />

verlaufen.<br />

Drinnen, auf der Bühne des ausverkauften Theaters, steht die<br />

30-jährige Comedienne Shaden Fakih und erzählt, dass sie eine<br />

eineiige Zwillingsschwester hat. Die Leute würden immer gleich<br />

reagieren, sagt sie. Immer würden sie wissen wollen, ob ihre<br />

Zwillingsschwester auch lesbisch sei. «Wer hat denn überhaupt<br />

gesagt, ich sei lesbisch?», ruft Shaden ins Publikum. «Meine Mutter<br />

sagt doch, es sei alles nur eine Phase.» Sie macht eine kurze<br />

Pause, dann fügt sie hinzu: «Es ist wie mit dem Staatsversagen<br />

im Libanon – alles nur eine Phase». Applaus und Lachen aus dem<br />

Publikum.<br />

Wirtschaftskrise, politisches Machtvakuum, Explosion im<br />

Hafen – der Libanon gerät oft wegen negativer Ereignisse<br />

in die Medien.<br />

Sie spricht aus, was andere sich nur zu denken trauen<br />

Shaden Fakih ist eine der wenigen weiblichen Comediennes im<br />

Libanon. Vor gerade mal sechs Jahren stand sie das erste Mal<br />

auf einer Bühne, mittlerweile ist fast jede ihrer Shows in Beirut<br />

ausverkauft. 2022 tourte sie durch Europa, trat unter anderem in<br />

Paris, Berlin und Amsterdam auf. Und Shaden ist eine der wenigen<br />

Personen des öffentlichen Lebens im Libanon, die über ihre<br />

Homosexualität spricht. Auf der Bühne macht sie Witze über die<br />

Menstruation, queeren Sex und korrupte libanesische Politiker.<br />

Shaden ist Teil einer Gruppe junger Libanes*innen, die in den<br />

Medien neben den Meldungen über die Wirtschaftskrise, den<br />

politischen Zerfall des Landes und die Explosion im Hafen von<br />

Beirut 2020 kaum Gehör findet. Es ist eine Generation, der Frauen-<br />

und LGBTIQ-Rechte wichtiger sind als eine Politik entlang<br />

alter religiöser Konfliktlinien. Shaden spreche Dinge aus, die sich<br />

viele Libanes*innen nur zu denken trauen, sagen ihre Fans.<br />

Auf der Bühne des Theaters ist Shaden zum ersten Mal seit<br />

einer dreiviertel Stunde für einen kurzen Moment still. Sie wirft<br />

ihren Kopf vorne über, bindet die langen braunen Haare hoch<br />

und fächert sich mit der Hand Luft zu. Während sie erzählt hat,<br />

ist sie in energischen Schritten über die Bühne gelaufen und hat<br />

das Mikrofon benutzt, um einen Penis zu imitieren. Jetzt läuft ihr<br />

Schweiss über Gesicht und Nacken. Als nächstes erzählt Shaden<br />

einen Witz, den sie lieber nicht in einer Zeitschrift abgedruckt<br />

sehen möchte. Es geht um Gott und um Sex.<br />

Für ihre Witze musste sie sich vor dem<br />

Militärgericht verantworten<br />

Begonnen hat Shadens Karriere vor sechs Jahren bei einem Poetry-Slam-Event.<br />

Shaden sass damals im Publikum und hörte den<br />

Speaker*innen zu. Als die Bühne zum Schluss der Veranstaltung<br />

8 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 1<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

9


Story — 1<br />

Voller Körpereinsatz:<br />

Während<br />

sie spricht, läuft<br />

Shaden mit energischen<br />

Schritten<br />

über die Bühne.<br />

10 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 1<br />

«Comedy ist mein Anteil<br />

im Kampf für einen sozialen<br />

und politischen Wandel.»<br />

für das Publikum geöffnet wurde, ging sie spontan zum Mikrofon<br />

und erzählte von ihrem Coming-out. Die Ironie, mit der sie ihre<br />

Worte wählte, brachte das Publikum zum Lachen. «Ich wusste<br />

damals noch nicht, dass meine Art zu Erzählen Stand-up-Comedy<br />

ist. Es hat sich einfach natürlich angefühlt. Für mich war es<br />

normal, Pointen in meine Sätze zu packen. Ich habe erst später<br />

verstanden, was an meinen Sätzen die Leute zum Lachen bringt»,<br />

erinnert sie sich.<br />

Nach ihrem Auftritt fragten die Veranstalter sie als Speakerin<br />

für ihr nächstes Event an. Shaden sagte zu, genau wie zum nächsten<br />

Angebot, einem 30-Minuten-Auftritt bei einem Fundraising-<br />

Event. Zwei Wochen vor dem Auftritt bekam sie plötzlich Panik:<br />

«Ich hatte noch nie zuvor ein Stand-up-Programm geschrieben,<br />

wie sollte das gehen?», erinnert sie sich. Also versuchte sie, den<br />

Auftritt abzusagen. Doch der Veranstalter hatte bereits die Poster<br />

mit ihrem Namen gedruckt. Es war zu spät. «Das war mein<br />

Glück», sagt Shaden. «Dieses 30-Minuten-Programm war der Anfang<br />

von allem.» Als sie auf der Bühne stand, war die Panik verflogen<br />

und in Shadens Kopf nur noch ein Gedanke: «Das ist es, das<br />

ist meine Bestimmung.»<br />

Es folgten erste Auftritte in Bars und Theatern. Bald bekam sie<br />

immer höhere Gagen und in ihrem Kopf wuchs ein neuer Gedanke:<br />

«Fuck this! Ich werde meinen Job kündigen». Shaden arbeitete<br />

als Texterin in einer Werbeagentur. Ihre Kreativität zu nutzen,<br />

um mit Werbung den Kapitalismus anzukurbeln – davon hatte sie<br />

schon lange genug. Also ging sie zu ihrem Vorgesetzten, kündigte<br />

und gab ihm bei der Gelegenheit den Tipp mit auf den Weg, einen<br />

respektvolleren Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen zu lernen.<br />

«Dann versuch doch, anderswo mehr Geld zu verdienen», habe<br />

ihr der Chef zum Abschied gesagt. «Und es hat geklappt», sagt<br />

Shaden und lacht. Sich Vollzeit auf Stand-up-Comedy konzentrieren<br />

zu können, habe ihrer Karriere einen «Boost» gegeben.<br />

Sie fragte die Sicherheitsbeamten nach Slipeinlagen<br />

Doch nicht allen gefällt Shadens Erfolg. 2021 nahmen die libanesischen<br />

Behörden sie fest und verhörten sie. Der Vorwurf: Shaden<br />

habe dem öffentlichen Ansehen der Sicherheitskräfte geschadet.<br />

Sie beriefen sich auf ein Video, das Shaden während des Corona-Lockdowns<br />

auf ihrem Instagram-Account gepostet hatte. Die<br />

libanesische Regierung hatte damals spät auf die Coronavirus-<br />

Pandemie reagiert. Nach der Explosion im Hafen der Hauptstadt<br />

stand der Wiederaufbau der Stadt im Vordergrund. Während es<br />

in vielen anderen Teilen der Welt Ausgangssperren gab, führten<br />

die libanesischen Politiker kaum Beschränkungen ein. Erst als<br />

die Infektionszahlen Anfang 2021 extrem anstiegen, verhängte<br />

die Regierung von einem Tag auf den anderen einen mehrwöchigen<br />

kompletten Lockdown. Das Haus zu verlassen war fortan<br />

verboten, nicht einmal die Supermärkte durften öffnen. Viele in<br />

der Bevölkerung fragten sich, wie sie sich versorgen sollten.<br />

Also wählte Shaden die Nummer der libanesischen Sicherheitskräfte<br />

und fragte die Militärbeamten auf der anderen Seite,<br />

ob sie ihr Slipeinlagen vorbeibringen könnten. Sie habe ihre Tage,<br />

könne aber nirgends Periodenprodukte kaufen. Das Video des<br />

Anrufs, das Shaden auf Instagram veröffentlichte, ging viral. Im<br />

Juni 2022 folgte auf ihre Festnahme ein Prozess vor dem Militärgericht.<br />

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International<br />

kritisierte die Vorladung als Angriff auf die Meinungsfreiheit. In<br />

der Verhandlung wurde Shaden zu einer Geldstrafe von 1,8 Millionen<br />

libanesischen Pfund verurteilt, was etwa dem Monatslohn<br />

eines Soldaten entspricht. Durch die Inflation war der Betrag damals<br />

auf dem Schwarzmarkt allerdings nur noch knapp 50 Euro<br />

wert.<br />

«Das war es wert», sagt Shaden heute. «All diese Männer in<br />

dem verdammten Gericht mussten sich in der Verhandlung anhören,<br />

wie ich über die Periode spreche, was für ein Erfolg!» Shaden<br />

lacht, ihre rauchige Stimme klingt mittlerweile heiser. Die<br />

Show im Théâtre Tournesol ist zu Ende. Shaden sitzt vor der Eingangstür<br />

des Theaters. Während sie von der Verhandlung erzählt,<br />

zieht sie immer wieder an einer Zigarette. Hatte sie keine Angst<br />

vor schlimmeren Konsequenzen? «Ich fühle keine Angst», sagt<br />

Shaden. «Wirklich nicht».<br />

«Sie verdrängt die Gefahr nur», Shadens Zwillingsschwester<br />

Bane unterbricht das Gespräch. Während der Show hat sie im<br />

Publikum gesessen, sie hat gewartet, als Shaden Fotos mit ihren<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

11


Story — 1<br />

«Mal ein Video<br />

löschen, ok,<br />

aber aufhören?<br />

Niemals! »<br />

«Alle um sie herum leben in ständiger Angst, dass Shaden etwas zustossen könnte»,<br />

sagt Bane (unten) über ihre Zwillingsschwester Shaden (oben).<br />

12 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 1<br />

Fans gemacht hat, jetzt möchte sie eigentlich los. «Alle um sie herum<br />

leben in der ständigen Angst, dass Shaden etwas zustossen<br />

könnte», führt sie fort. «Es gibt so viele Fanatiker da draussen, die<br />

Menschen im Namen Gottes umbringen, für Dinge, die viel harmloser<br />

sind als die Witze, die Shaden erzählt.»<br />

Unter Shadens Videos auf Youtube ist allzu sichtbar, wovon<br />

Bane spricht. Neben Zuspruch («Du bist die Beste») sammeln sich<br />

hier auch Hasskommentare. Menschen bezeichnen sie als «Schande»<br />

und als «moralischen Abschaum», drohen ihr, sie solle Allah<br />

aus ihren Witzen raushalten und sprechen ihr das Recht ab, Muslima<br />

zu sein.<br />

Und der Hass bleibt nicht im Internet: Die gewaltbereite rechtsradikale<br />

christliche Gruppe Jnoud el-Rabb drohte damit, einen ihrer<br />

Auftritte zu stürmen. Die selbsternannten Soldaten Gottes sehen<br />

Homosexualität als das Werk Satans an und kämpfen für die<br />

Ausrufung eines sogenannten «christlichen Staates» im Libanon.<br />

Um Shaden zu schützen, war auch an diesem Abend ein Team<br />

aus Bodyguards vor Ort. Vor dem Einlass kontrollierten die Männer<br />

die Taschen aller Zuschauer*innen, während der Show liefen<br />

sie durch die Reihen und stellten sicher, dass niemand Ton- oder<br />

Videoaufnahmen machte, die an die Öffentlichkeit geraten und<br />

gegen Shaden verwendet werden könnten. Und sie standen vor<br />

der Bühne, um zu verhindern, dass jemand auf Shaden springt.<br />

«Ich glaube nicht, dass ich jemals aufhören werde», sagt Shaden.<br />

«Mal ein Video löschen, ok, aber aufhören? Niemals! »<br />

Die Kindheit ist geprägt vom kreativen Spiel<br />

Ein paar Wochen später in Hamra, einem muslimischen Stadtteil<br />

am anderen Ende von Beirut. Shadens Zwillingsschwester Bane<br />

sitzt auf dem Balkon der Familie Fakih. Hinter ihr geht die Sonne<br />

im Mittelmeer unter. «Shaden war schon immer selbstbewusst»,<br />

erzählt sie, und: «Sie war schon immer eine Performerin.» Ihre<br />

gemeinsame Kindheit sei von kreativen Spielen geprägt gewesen.<br />

Als Kinder entwickelten Shaden und Bane fiktive Charaktere, die<br />

sie in Theaterstücken auftreten liessen, als Teenager gründeten sie<br />

eine Band: Bane spielte Gitarre und Shaden sang. Aus dieser kindlichen<br />

Kreativität könnten sie beide noch heute in ihre Arbeit<br />

schöpfen, erzählt Bane. Die 30-Jährige arbeitet als Drehbuchautorin<br />

für internationale Film- und Serienproduktionen.<br />

«Unsere Eltern haben diese Kreativität gefördert, selbst wenn<br />

wir Müll produziert haben. Wollte eine von uns ein selbstgemaltes<br />

Bild wegwerfen, haben sie gesagt: Ich möchte es kaufen», erinnert<br />

sich Bane. «Unsere Band war maximal mittelmässig. Trotzdem<br />

haben sie all ihre Freunde zu unseren Auftritten eingeladen.»<br />

Nicht immer seien die Eltern einer Meinung mit ihren Töchtern<br />

gewesen, erzählt Bane, aber sie hätten sie immer ernst genommen.<br />

Etwa als sie sich als erste der beiden Schwestern als<br />

lesbisch outete. Stundenlang habe ihr Vater mit ihr diskutiert,<br />

erinnert sich Bane. «Das Gespräch hat er aber mit den Worten begonnen:<br />

Du kannst werden, wer du willst, ich werde dich immer<br />

lieben.» Die Eltern schärften auch das Bewusstsein ihrer Kinder<br />

für die politischen Geschehnisse im Land. Als 2005 der libanesische<br />

Ministerpräsident Rafiq Hariri bei einem Sprengstoffattentat<br />

getötet wurde, in das höchstwahrscheinlich Mitglieder des<br />

syrischen Geheimdienstes verwickelt waren, nahm die Mutter sie<br />

mit auf eine Demonstration gegen die politische Einflussnahme<br />

anderer Länder im Libanon. «Mein Vater hat sich mit uns hingesetzt,<br />

eine 14-teilige Dokumentation über den libanesischen<br />

Bürgerkrieg mit uns geguckt und danach all unsere Fragen beantwortet»,<br />

erinnert sich Bane.<br />

Der Blick für das Politische um sie herum ist Shaden geblieben:<br />

«Politik in Comedy zu verpacken, macht sie zugänglicher»,<br />

erklärt sie. «Die Menschen im Libanon sind müde. Wir mussten<br />

mit ansehen, wie die Verbrecher, die für die Explosion im Hafen<br />

verantwortlich sind, einfach so ins Parlament zurückgekehrt<br />

sind, ohne juristisch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit<br />

Comedy kann man Menschen noch erreichen. Comedy ist mein<br />

Anteil im Kampf für einen sozialen und politischen Wandel.»<br />

Schöpfen heute<br />

aus ihrer kreativen<br />

Kindheit: Bane<br />

(Mitte) und Shaden<br />

(rechts).<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

13


ALTER EGO<br />

Schreien oder nicht schreien –<br />

das ist hier die Frage<br />

Ich bin mit unserem Weimaraner in einem bei Hunden ebenso<br />

wie ihren Menschen beliebten Wald unterwegs und schätze<br />

einmal mehr, dass in unserer Stadt keine allgemeine Leinenpflicht<br />

herrscht. Zu spät sehe ich allerdings, dass die Dame, die mir<br />

entgegenkommt, ihr Pudelchen an der Leine hält und es panisch<br />

hochhebt, als unser Hund auf sie zusteuert.<br />

Dame: Rufen Sie bitte Ihren Hund zurück!<br />

Alter Ego: Oh nein, bitte nicht schon wieder.<br />

Ich pfeife, aber das Verhalten der Frau hat unseren Hund<br />

natürlich erst recht neugierig gemacht. Verzweifelt streckt sie den<br />

Pudel, der nicht weiss, wie ihm geschieht, in die Höhe.<br />

Dame (lauter): Jetzt rufen Sie Ihren Hund ab!<br />

Ich (beruhigend): Sie brauchen keine Angst zu haben.<br />

Dame (zu unserem Hund): Kschsch! Geh weg! Geh weg!<br />

Ich: Er will doch nur Hallo sagen. Er ist wirklich ganz lieb.<br />

Dame (giftig): Ja, das sagen immer alle.<br />

Alter Ego: Jetzt ganz ruhig bleiben. Nicht provozieren lassen.<br />

Ich: Ist Ihre Hündin denn läufig, oder was?<br />

Alter Ego: Lass das doch!<br />

Dame (empört): Es ist ein Rüde!<br />

Alter Ego: Okay, Fifi will nicht spielen. Gehen wir weiter.<br />

Ich: Dann lassen Sie ihn doch runter, damit sie sich beschnüffeln<br />

können.<br />

Alter Ego: *Seufz*<br />

Dame: Nein, ich mag das nicht. Das ist ekelhaft.<br />

Alter Ego (schliesst die Augen): Bitte, bitte, sag jetzt nichts.<br />

Ich sage nichts, weil mir die Spucke weggeblieben ist.<br />

Die Dame versucht hektisch, ihren Pudel ausser Reichweite<br />

unseres Hundes zu halten, was dieser als Aufforderung zum<br />

Spielen interpretiert und fröhlich bellt.<br />

Dame: Es gibt Regeln, wissen Sie? Wenn ein Hund an der<br />

Leine ist, leint man seinen auch an. Ein Rüpel sind Sie!<br />

Ich knirsche mit den Zähnen.<br />

Dame: Manche Leute sollten einfach keine Hunde haben!<br />

Ich bleibe stehen.<br />

Alter Ego: Geh. Bitte. Weiter.<br />

Ich drehe mich um.<br />

Alter Ego: Nein, nein, nein!<br />

Die wüstesten Beschimpfungen tanzen mir schon<br />

auf der Zunge. Ich möchte Drohungen und Verwünschungen<br />

ausstossen.<br />

Ich: Sie sind . . . Sie sind . . .<br />

Mein Alter Ego hält sich die Ohren zu.<br />

Ich: Sie tun mir leid.<br />

Und damit lasse ich die Frau stehen.<br />

Mein Alter Ego schaut mich erstaunt an.<br />

Alter Ego: Siehst du, es geht doch auch souverän.<br />

Ich: Ach, halt doch die Klappe!<br />

Text: Mirko Beetschen<br />

Illustration: Dominik Schefer<br />

Dame (kreischend): Nehmen Sie Ihren verdammten Köter weg!<br />

Sie versucht, nach unserem Hund zu treten. Alarmiert<br />

laufe ich hin, nehme ihn an die Leine und ziehe ihn weg.<br />

Alter Ego: Gut, und jetzt Abgang.<br />

Mit einem zornigen Blick zu der Frau wende ich<br />

mich ab und gehe.<br />

Mirko Beetschen ist Schriftsteller<br />

– ausgezeichnet mit dem<br />

Literaturpreis des Kantons Bern.<br />

Er liebt Design und Architektur,<br />

seinen Weimaraner Adalbert und<br />

Kater Elliot.<br />

– alterego@mannschaft.com<br />

14 Frühling <strong>2023</strong>


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mannschaft.com


LIFESTYLE<br />

TREND BIS TRASH<br />

Zusammengestellt von der<br />

MANNS<strong>CH</strong>AFT-Redaktion.<br />

Fisch frische Fische<br />

Na, wie läuft dein Dating-Leben so? Falls du nur faule<br />

Fische an Land ziehst, könnte der Trend «Open Casting»<br />

interessant für dich sein. Öffne dich für Personen,<br />

die auf den ersten Blick nicht dein*e Typ*in sind und<br />

«give personality a chance».<br />

Raus aus dem mickrigen Dating-Pool,<br />

auf ins offene Menschenmeer.<br />

Bild: Keyi Tech<br />

Bild: Withings<br />

Loona,<br />

das Robo-Haustier<br />

Für einsame Seelen, die es gern bequem haben, womöglich<br />

das perfekte Haustier: Loona ist ein Roboter, der sich wie ein<br />

Haustier verhält, spielt, niest, Gegenstände neugierig untersucht,<br />

zudem tanzt, beatboxt und für Fotos posiert.<br />

An alle Golden Retriever und Hauskätzchen<br />

da draussen: Haltet die Ohren steif.<br />

Krasse Kondome<br />

Wie viel ist uns die Umwelt wert? Wollen wir<br />

Kondome, die aussehen wie intergalaktische<br />

Waffen, die gereinigt und wiederverwendet<br />

werden können? Und wie das wohl die<br />

sexnachfolgende Person findet?<br />

Irgendwie: Nö. Autsch. Pfui.<br />

Bild: SXOVO<br />

16 Frühling <strong>2023</strong>


LIFESTYLE<br />

Bild: Nova Audio<br />

Perlen, die singen und klingen<br />

Audio-Ohrringe aus München erobern gerade das Internet. Es sind die<br />

weltweit ersten Kopfhörer, die in ein Paar Perlenohrringe integriert<br />

sind. In Silber oder Gold, zum Anstecken oder für gepiercte Ohren.<br />

Aber Ohrbacht: Für die dollen Dinger greifen die<br />

Finger tief, tief in den Geldbeutel.<br />

Bild: AdobeStock<br />

Bild: Ron Lach, Pexels<br />

Pinkel dich<br />

gesund<br />

Stell dir vor, du urinierst ins Klo<br />

und dein Handy sagt dir, welche<br />

Nährstoffe dir fehlen, ob du<br />

mehr Wasser schlürfen sollst<br />

oder Gemüse knabbern? U-Scan,<br />

die Urinanalyse für zuhause, kann<br />

genau das und kommt in der zweiten<br />

Jahreshälfte auf den Markt.<br />

Pinkeln wir uns bald gesund<br />

oder verrückt?<br />

Schwarz, schwarz,<br />

schwarz . . .<br />

. . . sind alle meine Kleider. Schwarz,<br />

schwarz, schwarz ist alles, was ich hab.<br />

Darum lieb ich alles, was so schwarz ist,<br />

weil mein Schatz ein*e Trendsetter*in ist.<br />

Nach dem quietschpinken Barbie-Core<br />

kommt die schwarze<br />

Wednesday-Welle.<br />

Bild: Loewe<br />

Sprechende Schuhe<br />

Diese Saison sind Schuhe ein Statement. Zwischen Absätzen<br />

wie Skulpturen, Materialen von glitzerglatt bis wuschelweich<br />

und anderweitigen extravaganten Experimenten irritierte uns<br />

etwa das Luftballon-Modell von Loewe.<br />

Zu schreienden Schuhen empfehlen wir leise<br />

Leibchen und schlichte Kleidchen.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

17


KOLUMNE<br />

Meine Vatersprache<br />

Letztens moderierte ich ein Podium,<br />

und einer meiner Gäste, eine<br />

nicht-binäre Person, erklärte dem Publikum:<br />

«Meine Elternsprache ist Französisch.»<br />

Da realisierte ich: Ja, klar, das Wort<br />

«Muttersprache» ist gegendert. Ein Tag<br />

nach der Moderation lerne ich: In vielen<br />

anderen Sprachen sagt man ebenfalls<br />

«Muttersprache». Fachpersonen vermuten,<br />

dass das mit der Ansicht zu tun hat,<br />

dass es die Mutter sei, die einen aufzieht,<br />

und dass die Sprachentwicklung ja schon<br />

im Mutterleib beginne.<br />

Versteht mich nicht falsch, das ist<br />

jetzt nicht ein Riesending oder so, aber:<br />

Das Beispiel zeigt uns doch sehr fest, welche<br />

Konzepte von Geschlecht in unserer<br />

Wortwahl verborgen sind. Angefangen<br />

beim «Mutterleib»: Ich erinnere uns alle<br />

gern daran, dass Körper kein Geschlecht<br />

haben und dass auch nicht-binäre Menschen<br />

und trans Männer schwanger sein<br />

können (und dass es Mütter gibt, die<br />

selbst nicht schwanger waren). Schwangerschaft<br />

ist nicht dasselbe wie Mutterschaft.<br />

Die Ansicht, dass ein Kind von der<br />

Mutter aufgezogen wird, ist in Wirklichkeit<br />

auch nur eine von sehr vielen Möglichkeiten,<br />

aufzuwachsen – hat ein Kind mit zwei<br />

Vätern denn eine Vatersprache?!<br />

Viel mehr Sinn würde es machen,<br />

bei Eltern unterschiedlicher Herkunft von<br />

Mutter- und Vatersprache zu reden. Meine<br />

Muttersprache etwa ist Schweizerdeutsch,<br />

genauer: Zürcher Dialekt, auf<br />

den meine Mutter stets bestand, während<br />

wir in der Ostschweiz aufwuchsen (Dialekte<br />

in der Schweiz: ein ernstes Thema).<br />

Meine Vatersprache hingegen ist Hebräisch;<br />

nicht, weil ich zweisprachig aufgewachsen<br />

wäre, sondern weil mein Vater,<br />

gebürtiger Israeli, mit seinen Freund*innen<br />

und Verwandten Hebräisch sprach;<br />

meine Kindheit war geprägt vom Zuhören<br />

bei stundenlangen Telefonaten, Hebräisch<br />

war allgegenwärtig, wurde mir aber<br />

nie beigebracht. Das führt zu einem lustigen<br />

Phänomen: Wenn ich irgendwo Hebräisch<br />

höre, überkommt mich ein kindliches<br />

Gefühl der Vertrautheit – aber<br />

verstehen tu ich beinahe nichts. Ich glaube,<br />

wenn mich irgendwer mal bezirzen<br />

und zu etwas überreden wollen würde,<br />

hätte die Person auf Hebräisch am meisten<br />

Chancen. Ich würde zwar nicht verstehen,<br />

worum es geht, aber ich wäre voll<br />

dabei.<br />

Gleichzeitig gibt es immer wieder<br />

Momente, in denen meine Vatersprache<br />

in mein Leben grätscht. Seit ich in Zürich<br />

wohne (dem Zentrum meines Mutterdialekts),<br />

ist Fahrradfahren ein verkehrsintensives<br />

Abenteuer. Manchmal warte ich<br />

darauf, dass ein Auto vor mir endlich losfährt,<br />

ein Lichtsignal nach gefühlten<br />

Stunden auf Grün springt, Velofahrende<br />

vorwärts machen. Dann höre ich mich<br />

plötzlich «nu!» rufen, ein Ausdruck der<br />

Ungeduld, den ich auf Deutsch vergebens<br />

suche. Nu!, ein uralter jiddischer<br />

Ausspruch, der mich als Kind passiv begleitet<br />

hat. Jetzt, in Momenten der Ungeduld,<br />

des Geschehens, ist er plötzlich<br />

präsent.<br />

Das also ist meine Vatersprache.<br />

Sie hat wenig mit Blutsverwandtschaft<br />

und viel mit Nähe und Kultur zu tun.<br />

Es ist, als wäre Elternschaft eine Frage<br />

der Sozialisierung – nicht der natürlichen<br />

Ordnung.<br />

Rosa Buch<br />

In ihrem «Rosa Buch – Queere<br />

Texte von Herzen» feiert Anna<br />

Rosenwasser die Vielfalt,<br />

schreibt gegen herrschende Normen<br />

an und plädiert für die Liebe,<br />

dazuzulernen, ohne Angst zu haben<br />

vor Fehlern.<br />

BI THE WAY<br />

«Bisexuell, Berufsaktivistin<br />

und Büsi*-Fanatikerin.<br />

Anna Rosenwasser ist<br />

Polit-Influencerin und<br />

lebt in Zürich.»<br />

anna@mannschaft.com<br />

*Büsi ist Schweizerdeutsch für Katze<br />

Illustration: Sascha Düvel<br />

18 Frühling <strong>2023</strong>


Bastian tobt sich gerne modisch aus und<br />

hat mit George seine Muse gefunden.<br />

DU BIST<br />

EINMALIG<br />

UND DAS SOLLTE DEINE<br />

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Egal für welche Therapie du dich entscheidest – besprich mit<br />

deiner Ärztin oder mit deinem Arzt, was zu dir passt.


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ARTS<br />

Foto: zvg<br />

Der<br />

pinke<br />

Apfel<br />

Drei Blaumänner<br />

Die Blue Man Group ist mit der brandneuen Show «Bluevolution»<br />

auf Tour. Die drei blauen Männer kommen vom 29. März bis<br />

2. April für ein exklusives Gastspiel ins Theater 11 nach Zürich.<br />

Ein Spektakel aus Kunst, Musik, Comedy und nonverbaler Kommunikation<br />

– skurril, intelligent, optisch überwältigend. Diese<br />

Herren sind längst ein Phänomen, weltweit bisher von über 40<br />

Millionen Menschen bewundert.<br />

– musical.ch/bluemangroup<br />

Die 26. Ausgabe des queeren Filmfestivals<br />

Pink Apple findet vom<br />

25. April bis 4. Mai in Zürich statt,<br />

anschliessend geht es weiter in<br />

Frauenfeld vom 5. bis 7. Mai. Das<br />

Festival zieht jedes Jahr 10 000<br />

Besucher*innen an und zeigt queere<br />

Kurz- und Langfilme – zumeist<br />

Schweizer Premieren, die zu einem<br />

grossen Teil bei uns nie ins Kino oder<br />

ins Fernsehen gelangen.<br />

– pinkapple.ch<br />

Bild: zVg<br />

Hörbuch – Linus<br />

kämpft weiter<br />

Linus Giese veröffentlichte sein Memoire «Ich bin Linus»<br />

vor drei Jahren: ein Bestseller, mit dem er Zuspruch erntete,<br />

aber auch viel Hass. Mit seinem Zweitling möchte er nun<br />

allen trans Menschen Mut machen. In «Lieber Jonas oder<br />

der Wunsch nach Selbstbestimmung» entwirft Giese ein<br />

Szenario, wie wir leben würden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung<br />

in Deutschland für alle gesetzlich verankert<br />

wäre. Und er fordert das Ende der Pathologisierung der<br />

Geschlechterdiversität. Zeitgleich mit dem Buch ist das<br />

Hörbuch erschienen, vom Autor selbst eingelesen:<br />

20 Frühling <strong>2023</strong><br />

So Damn<br />

Easy Going<br />

Das Kino Rex in Bern zeigt in seinem<br />

«Uncut»-Programm regelmässig neue<br />

Spiel- und Dokumentarfilme (manchmal<br />

auch Filmklassiker) von queeren<br />

Filmemacher*innen oder Filme mit<br />

lesbischem, bisexuellem, schwulem<br />

oder trans Bezug. Am 25. und 26. April<br />

läuft «So Damn Easy Going», eine<br />

tragikomische Coming-of-Age- und<br />

Coming-out-Geschichte aus Schweden<br />

und Norwegen. Darin kompensiert eine<br />

18-jährige Schülerin, die an ADHS<br />

leidet, ihre Krankheit mit unverbindlichem<br />

Sex und ständiger körperlicher<br />

Bewegung. – rexbern.ch


KAUFLEUTEN ZÜRI<strong>CH</strong>, MONTAG 12. JUNI <strong>2023</strong>, 20.00 UHR<br />

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BRANDS<br />

Bild: zvg<br />

Komm, wann<br />

du willst<br />

Skandalös,<br />

dieses Parfum<br />

Mit MyHixel kann Mann trainieren, wann er<br />

kommen möchte. Es ist ein Produkt, das<br />

Stimulation und App kombiniert und zwei<br />

verschiedene Programme bietet, die<br />

entweder auf eine verlängerte Dauer des<br />

Geschlechtsverkehrs (MED, 245.90 Franken)<br />

spezialisiert sind oder auf die Kontrolle der<br />

Ejakulation (TR, 299.15 Franken). Je nach<br />

Variante ist es den Nutzern gelungen,<br />

den Sex um das Sieben- bis Dreifache zu<br />

verlängern. Erhältlich hier:<br />

– schlafwellness.productvision.ch<br />

Dieser Duft hat es in sich. Seine Ingredienzien: Mandarine,<br />

Geranien, brauner Karamell, Tonkabohne und eine Nacht<br />

voller Versprechen. Jean Paul Gaultier schickt seinen<br />

amtierenden Liebling auf eine krasse Comeback-Tour:<br />

«Scandal Pour Homme Le Parfum». Ein Duft, der antritt, um<br />

ein skandalöses Spiel zu spielen, und wer ihn an sich trägt,<br />

wird gerochen, versprochen.<br />

Bild: zvg<br />

Bild: zvg<br />

Goldiges<br />

Geschäft<br />

Inklusive Klamotten<br />

Zalando und die in Amsterdam ansässige Luxus Streetwear Marke<br />

Filling Pieces haben sich zusammengetan und eine geschlechtsneutrale<br />

Capsule Kollektion namens «You are invited» herausgebracht:<br />

bestehend aus Korsett, Lederhose, Gilet, Strick-Rollkragenpullover,<br />

sportlichem Langarmshirt (XS bis XXL), zudem Sneakern,<br />

Halbschuhen und Stiefeln (35–46).<br />

«E luda!» rufen Berner*innen, wenn sie<br />

etwas Schönes entdecken. Diese Art<br />

freudiger Überraschung wollen Christa<br />

Wittwer und Ursula Rickli bei ihren<br />

Kund*innen hervorrufen: in ihrem<br />

Goldschmiedeatelier in der Berner<br />

Länggassstrasse 28. Dort fertigen sie<br />

Ringe (auch Trauringe für alle Paare),<br />

Anhänger, Colliers, Ohr-, Arm- und<br />

sonstigen Körperschmuck an, aus<br />

zertifiziertem Oeko-Gold aus recyceltem<br />

Altgold. «E luda», wie goldig.<br />

– eluda.ch<br />

22 Frühling <strong>2023</strong>


SHOW- UND MUSICAL-HIGHLIGHTS <strong>2023</strong><br />

04. – 23. April <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />

20. – 23. April <strong>2023</strong> Musical Theater Basel<br />

29. März – 02. April <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />

05. & 06. Mai <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich Schweizer Tournee <strong>2023</strong> Diverse Spielorte<br />

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12. Juli – 26. August <strong>2023</strong> Seebühne Thun<br />

Ab November <strong>2023</strong> Theater 11 Zürich<br />

musical.ch


MANNS<strong>CH</strong>AFT+<br />

COMMUNITY<br />

Bild: zVg<br />

Warmer<br />

Mai<br />

Seit 20 Jahren feiert der «translesbischschwulqueere»<br />

Kulturmonat «Warmer<br />

Mai» in Zürich Künstler*innen, die sich<br />

irgendwo in den Farben des Regenbogens<br />

verorten. Das diesjährige Programm<br />

reicht von Karaoke Klamauk und<br />

Chorkonzert über Gottesdienst und<br />

Klosterbesuch, Ausstellung und Lesung<br />

bis Tanzevent und Public Viewing für den<br />

Eurovision Song Contest. Details zum<br />

Programm hier: – warmermai.ch<br />

Orlandos’<br />

Schweizer Premiere<br />

Vom 21. bis 30. April findet die 54. Ausgabe des internationalen<br />

Dokumentarfilmfestivals in Nyon statt: Visions du Réel. Erstmals in<br />

der Schweiz wird dort der Film «Orlando, My Political Biography»<br />

gezeigt – inspiriert von Virginia Woolfs Roman «Orlando», der ersten<br />

Geschichte, in dessen Mitte die Hauptfigur ihr Geschlecht wechselt.<br />

Ein Jahrhundert später sucht der Philosoph und trans Aktivist<br />

Paul B. Preciado nach «zeitgenössischen Orlandos» und findet 25<br />

Menschen, alle trans und nicht-binär, im Alter von 8 bis 70 Jahren,<br />

die Woolfs fiktive Figur spielen und ihr eigenes Leben erzählen.<br />

LGBTIQ-Umfrage:<br />

Mach mit!<br />

Das Schweizer LGBTIQ-Panel – die grösste queere<br />

Längsschnittstudie der Schweiz – untersucht mit jährlichen<br />

Befragungen, wie und warum sich die Lebensbedingungen<br />

von queeren Menschen verändern. In der<br />

diesjährigen Umfrage geht es um Gesundheit, Erfahrungen<br />

mit Institutionen wie der Polizei und dem Militär, um<br />

Konversionstherapien, Hassverbrechen und die vereinfachte<br />

Änderung des Geschlechtseintrags. Das Ausfüllen<br />

des Fragebogens dauert 20–30 Minuten. Als Dank werden<br />

unter allen Teilnehmenden Gutscheine im Wert von<br />

300 Franken oder 100 Franken verlost.<br />

Queere,<br />

wandernde<br />

Portraits<br />

Die Ausstellung «We Are Part Of<br />

Culture» zeigt queere Persönlichkeiten<br />

von der Antike bis zum Ende des 20.<br />

Jahrhunderts, von Alexander dem<br />

Grossen bis Simone de Beauvoir. Die<br />

über 30 Porträts, kreiert von queeren<br />

Künstler*innen, schaffen Vorbilder und<br />

zeigen: Queere Personen haben die<br />

Gesellschaft schon immer mitgeprägt,<br />

«wir» haben Geschichte geschrieben.<br />

Gratis zu bestaunen vom 26. Mai bis 16.<br />

Juni in der Schalterhalle der Zürcher<br />

Kantonalbank an der Bahnhofstrasse 9<br />

in Zürich.<br />

Bild: Nana Swinczinsky<br />

24 Frühling <strong>2023</strong>


EIFT EIFT QUEERGESTREIFT QUEERGESTREIFT Q Q<br />

EERGESTREIFT EERGESTREIFT QUEERGE<br />

QUEERGE<br />

UEERGESTREIFT UEERGESTREIFT QUEERG<br />

QUEERG<br />

TREIFT QUEERGESTREIF<br />

STREIFT QUEERGESTRE<br />

TREIFT QUEERGESTREIF<br />

REIFT REIFT QUEERGESTREIFT<br />

QUEERGESTREIFT<br />

STREIFT QUEERGESTRE<br />

REIFT REIFT QUEERGESTREIF<br />

QUEERGESTREIF<br />

QUEER-<br />

GESTREIFT<br />

DAS QUEERE FILMFESTIVAL<br />

AM BODENSEE<br />

T Q<br />

EIFT EIFT Q Q<br />

RGESTREIF<br />

RGESTREIF<br />

QUEERGES<br />

QUEERGES<br />

REIFT REIFT QUEERGES<br />

QUEERGES<br />

ERGESTREIFT ERGESTREIFT QUEER<br />

QUEER<br />

REIFT REIFT QUEERGESTR<br />

QUEERGESTR<br />

14. - 23. APRIL <strong>2023</strong><br />

ESTREIFT ESTREIFT QUEE<br />

QUEE<br />

EERGESTRE<br />

EERGESTRE<br />

EERGEST<br />

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Sei dabei<br />

26. – 29. Juli <strong>2023</strong><br />

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Euro Games Bern <strong>2023</strong> —<br />

Europas grösster Sportevent<br />

der LGBTIQ-Community!


Story — 2<br />

2<br />

«Im Profisport<br />

müssen<br />

wir unseren<br />

eigenen<br />

Weg gehen<br />

dürfen»<br />

28 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 2<br />

Interview – Greg Zwygart<br />

Eric Glod ist professioneller Tischtennisspieler<br />

und offen schwul. Von<br />

Tuscheleien hinter seinem Rücken<br />

bis hin zu Qualifikationsspielen in<br />

Ländern mit homophoben Gesetzen:<br />

Für queere Anliegen gebe es noch<br />

Luft nach oben, sagt er. Den nötigen<br />

Ausgleich zur heteronormativen<br />

Welt des Profisports hat der Luxemburger<br />

in Wien gefunden.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

29


Story — 2<br />

ric, im Februar hat sich der tschechische Fussballnationalspieler<br />

Jakub Jankto geoutet. Was geht dir<br />

durch den Kopf, wenn du solche Schlagzeilen liest?<br />

Egal in welchem Sport: Jedes Mal, wenn sich ein aktiver<br />

Sportler outet, löst das eine grosse Freude in mir<br />

aus. Freude, dass sich jemand mehr verstellen muss,<br />

sondern sein authentisches Selbst leben kann. Gerade<br />

in Sportarten wie im Fussball oder im American<br />

Football, die von einer konservativen Männlichkeit<br />

geprägt sind, ist ein Coming-out besonders schwierig.<br />

«Es ist keine<br />

Privatsache,<br />

wenn man<br />

anders als die<br />

Norm ist.»<br />

Wie lässt sich die Welt des Tischtennis mit<br />

derjenigen des Fussballs vergleichen in puncto<br />

LGBTIQ-Freundlichkeit?<br />

Das Bild des maskulinen Mannes, das es zu verkörpern<br />

gilt, ist weniger dominant. Wie in anderen Einzelsportarten<br />

gibt es im Tischtennis mehr Freiraum<br />

für die eigene Individualität. Daher ist es dort einfacher,<br />

ein offen queeres Leben zu führen als in einem<br />

grossen Team. Im Mannschaftssport gibt es einen<br />

grösseren Druck, der Vorstellung zu entsprechen, die<br />

die Gesellschaft von Männern erwartet.<br />

Und bezüglich Gehalt und Sponsoring?<br />

(Lacht.) Im Tischtennis musst du unter den besten 50<br />

der Welt sein, damit du auf eigenen Beinen stehen<br />

kannst. Alle anderen sind auf Sponsoren, nationale<br />

Verbände und sonstige Einnahmen angewiesen, um<br />

sich den Profisport leisten zu können. Man ist viel unterwegs,<br />

zum Beispiel an Turnieren in weit entfernte<br />

Länder. Mit dem Tischtennis allein verdient man keine<br />

100 000 im Jahr.<br />

Wir hatten bereits 2021 über ein Interview gesprochen.<br />

Weshalb hat es damals nicht geklappt?<br />

Damals hat sich alles ein bisschen verlaufen. Ich startete<br />

bei einem neuen Verein in Schweden, dessen Philosophie<br />

nur auf das Gewinnen abzielte. Es zählte nur<br />

noch das Resultat, dem Menschen hinter dem Sportler<br />

wurde keine Bedeutung zugemessen. Das war sehr<br />

Bild: Agnieszka Tunnissen<br />

30 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 2<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

31


Story — 2<br />

Von Sportverbänden wünscht sich Eric Glod die Anerkennung, dass queere Spitzensportler*innen existieren.<br />

schwierig für mich. Ich fokussierte mich nur noch<br />

auf meine Resultate und darauf, die Erwartungen des<br />

Clubs zu erfüllen. So ging es kontinuierlich bergab mit<br />

mir, bis ich in ein Loch fiel.<br />

und treffe mich mit Menschen ausserhalb des Tischtennis.<br />

Das hat alles in ein Gleichgewicht gebracht.<br />

Ich lebe mein Leben sehr viel bewusster und empfinde<br />

dadurch mehr Freude.<br />

An welchem Punkt war dir klar, dass du etwas<br />

ändern musst?<br />

Das war im Februar 2022. Bei einem Spiel hatte ich<br />

alles gegeben und mein Herz auf der Tischplatte gelassen,<br />

doch dem Trainer war das nicht genug. In<br />

seinen Augen war alles schlecht. Als ich nach Hause<br />

kam, legte ich mich auf den Fussboden und blieb eine<br />

Stunde dort liegen. Ich konnte nicht mal meine Jacke<br />

ausziehen. Ich spiele gerne Tischtennis – es muss mich<br />

erfüllen und ich will Spass daran haben. Dann war für<br />

mich klar, dass sich etwas ändern musste.<br />

Hast du deine Freude wieder gefunden?<br />

Ja! Ich wechselte zu einem kleineren Club in der Nähe<br />

von Wien – eine Stadt, die auch für ein schwules Leben<br />

viel zu bieten hat. Ich habe mich als Person neu entdeckt.<br />

Ich gehe in Museen, auf queere Veranstaltungen<br />

So ergeht es vielen Profisportlern, die sich mit<br />

einem Coming-out befreien.<br />

Ich bin ein Kind der Neunzigerjahre und mit der Haltung<br />

gross geworden, dass es nur einen vorgegebenen<br />

Weg zum Erfolg gibt. Darum ermutige ich andere<br />

Sportler*innen immer ihren eigenen Weg zu gehen –<br />

das betrifft nicht nur die Queerness. Es gibt nicht nur<br />

die eine Art, ein Profisportler oder eine Profisportlerin<br />

zu sein. Das Spektrum ist so breit, wie wir bereit<br />

sind es zu definieren.<br />

Und doch kommen oft Kommentare, dass ein<br />

Coming-out im Profisport nichts zu suchen habe.<br />

Dass das doch Privatsache sei.<br />

Es ist nicht Privatsache, wenn man anders ist als die<br />

Norm. Schwule Sportler verstecken sich, weil ihnen<br />

die Norm verbietet, anders zu lieben und zu leben.<br />

32 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 2<br />

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Der Immobilientipp<br />

«Hypothek<br />

erhöhen für<br />

Gartengestaltung?»<br />

Bild: COSL / Nicolas Braibant<br />

Solange alle denken, dass es keine schwulen Fussballer<br />

gibt, sind diese Coming-outs nötig, und solange sie<br />

für Schlagzeilen sorgen, haben wir es nicht geschafft,<br />

sie zu normalisieren. Die Sexualität eines Sportlers<br />

oder einer Sportlerin sollte nicht mal mehr eine Randnotiz<br />

im Boulevardblatt wert sein.<br />

Im November hatte ich eine süsse Begegnung. Ich<br />

spielte mit einem 15-jährigen Mädchen im gemischten<br />

Doppel. Kurz vor dem Finale vertraute sie mir auf<br />

der Tribüne an, dass sie eine Freundin habe und alles<br />

ganz neu für sie sei. Allein zu sehen, dass sie sich nicht<br />

verstecken muss, dass es kein dogmatisches Bild mehr<br />

gibt, dem man zu entsprechen hat . . . das sind schöne<br />

Momente.<br />

Kennst du andere queere Sportler*innen<br />

im Tischtennis?<br />

Bei den Frauen gibt es viele Spielerinnen, die offen<br />

lesbisch sind. Das kümmert eigentlich niemanden. Bei<br />

den Männern gibt es bis jetzt nur mich. Von Mitspielern<br />

weiss ich, dass hinter meinem Rücken Sätze fallen<br />

wie: «Ist es wahr, dass er schwul ist?» oder «Hast<br />

du keine Angst . . . unter der Dusche?». Ich merke auch,<br />

dass einige Spieler auf Distanz gehen. Anders als im<br />

Fussballstadion wird Homophobie im Tischtennis<br />

nicht verbal und offen herausgebrüllt oder Schimpfwörter<br />

benutzt, aber sie existiert noch - hinter vorgehaltener<br />

Hand.<br />

Wie gehst du damit um?<br />

Es amüsiert mich. Wenn es so interessant ist, hinter<br />

meinem Rücken zu reden, dann schön, dass ich euch<br />

so unterhalten kann! Früher war es mir jedoch nicht<br />

egal. Ich komme aus einem kleinen Bauerndorf in Luxemburg<br />

und war sehr darum bemüht, meine Sexualität<br />

möglichst «low-key» zu halten. Heute bin ich sehr<br />

glücklich mit mir selbst. Es hat aber lange gedauert,<br />

bis ich an diesem Punkt angekommen bin.<br />

Als Faustregel gilt: Kreditgeber finanzieren<br />

wertvermehrende Massnahmen.<br />

Ein Wintergarten etwa schafft<br />

neuen Wohnraum und erhöht so den<br />

Wert Ihres Heims. Auch die komplette<br />

Neuanlage des Gartens gilt als wertvermehrend.<br />

Nicht finanziert werden<br />

Arbeiten, die lediglich den Zustand<br />

erhalten – beispielsweise der neue<br />

Belag für die Terrasse. Beantragen<br />

Sie eine Erhöhung, prüft die Bank Ihre<br />

Einkommensverhältnisse. Vielleicht<br />

lässt die Bank das Haus sogar neu<br />

schätzen. Problematisch ist dies<br />

allerdings, wenn Ihr Haus an Wert<br />

verloren hat oder das Haushaltseinkommen<br />

gesunken ist.<br />

«Investieren ist<br />

wertvermehrend.»<br />

Alle fünf Jahre können Sie Gelder aus<br />

der 2. und 3. Säule für wertvermehrende<br />

Investitionen beziehen. Das will<br />

aber gut überlegt sein. Ist der Garten<br />

eine Lücke in der Altersvorsorge wert?<br />

Denken Sie bei Ihrem Traumgarten<br />

zudem an den Versicherungsschutz:<br />

Mit dem Zusatz für die Gebäudeumgebung<br />

versichern Sie das schmucke<br />

Gartenhaus, Einfahrten und Gartenanlagen<br />

inklusiv Bäume und Rasenflächen.<br />

Mehr wertvolle Informationen rund<br />

ums Eigenheim finden Sie unter<br />

helvetia.ch/immoworld<br />

Kannst du dich an besondere Momente erinnern,<br />

die dich als schwuler Mann ermächtigt haben?<br />

Davon gibt es zwei. Als ich 2018 die Grundausbildung<br />

in der luxemburgischen Armee absolvierte, fielen oft<br />

die Schimpfworte «Schwuchtel» oder «Tunte», bis ich<br />

einmal sagte: «So bitte nicht!» Es mag unscheinbar<br />

klingen, aber in diesem Augenblick, in dem ich das<br />

sagte, wurde ich meiner Queerness so richtig bewusst.<br />

Der zweite Moment war während der Pandemie in<br />

Einfach<br />

Beratung<br />

anfordern.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

33


Story — 2<br />

«Die Pandemie ermöglichte<br />

mir, mich selbst zu finden.»<br />

Schweden und klingt wie ein Klischee: «RuPaul’s<br />

Drag Race» hat meinen Horizont erweitert und mir<br />

gezeigt, was es bedeutet, bedingungslos sich selbst<br />

zu sein und sich zu lieben. Ich habe alle Staffeln geschaut!<br />

Für viele Menschen war die Pandemie verheerend,<br />

doch mir ermöglichte sie, mich selbst zu finden.<br />

Meine Freund*innen unterstützten mich, halfen mir<br />

sogar dabei, mit Make-up zu experimentieren.<br />

Bringt dich das Tischtennis in Länder, in denen<br />

homosexuelle Handlungen verboten sind?<br />

Das ist ähnlich wie im Fussball: Das Geld liegt in den<br />

Ölländern und immer mehr Turniere werden dort abgehalten.<br />

So fand 2021 zum Beispiel die Qualifikation<br />

für die Olympischen Spiele in Katar statt. Als Sportfan<br />

oder Tourist*in kannst du entscheiden, ob du in solche<br />

Länder reisen möchtest. Als queerer Sportler bleibt dir<br />

jedoch keine andere Möglichkeit. Du musst dich dem<br />

System beugen, wenn du bei den besten Turnieren<br />

mitspielen willst. Und diese finden nun mal in Katar,<br />

den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in Saudi-<br />

Arabien statt – Länder, in denen man aufgrund seiner<br />

Sexualität im Gefängnis landen kann.<br />

Inwieweit gehst du als schwuler Mann<br />

da Kompromisse ein?<br />

Ich versuche nur dann hinzugehen, wenn es nicht anders<br />

geht. In solchen Situationen versuche ich zu abstrahieren<br />

und die Entscheidung als Sportler und nicht<br />

als Person zu treffen. Ich gehe dorthin, um einen Job<br />

zu machen und dann wieder abzureisen, wenn dieser<br />

erledigt ist. Ich fühle mich nie ganz wohl dabei, wenn<br />

ich diesen Ländern unterwegs bin. Wegen der Wahl<br />

Katars zur Austragung der Olympia-Qualifikation<br />

habe ich dem Weltverband in Singapur eine Nachricht<br />

geschickt, aber nie eine Antwort gekriegt.<br />

Was hattest du dir vom Weltverband erhofft?<br />

Natürlich wäre es toll, wenn wichtige Turniere nicht<br />

in Ländern stattfinden, die LGBTIQ-Menschen diskriminieren.<br />

Aber Geld regiert nun mal die Welt, da<br />

mache ich mir keine Illusionen. Ich verlange vom Verband<br />

auch keine Entschuldigung oder Rechtfertigung,<br />

sondern höchstens eine Form der Anerkennung, dass<br />

wir queeren Sportler*innen existieren.<br />

Wie finanzierst du deine Karriere als Profisportler?<br />

Über die Sportförderung der luxemburgischen Armee.<br />

Ich habe die Grundausbildung absolviert und<br />

bin heute Elitesportler. Als solcher kriege ich das<br />

gleiche Gehalt wie ein Soldat, bin aber von den militärischen<br />

Verpflichtungen befreit, um meinen Sport<br />

auszuüben. Deshalb muss ich mir finanziell keine<br />

Sorgen machen. Nebenbei besuche ich Vorlesungen<br />

an der Uni mit dem Ziel, dass ich ein bisschen aus der<br />

Tischtenniswelt herauskomme und mich mit anderen<br />

Menschen umgebe.<br />

Wie lange kannst du in diesem System bleiben?<br />

Solange ich mein Niveau halte und Qualifikationschancen<br />

für Olympia habe, also sicherlich bis 2024.<br />

Dann wird das Olympische Komitee über meinen<br />

Status befinden. Es gibt zwei Wege, wie ich mich für<br />

Olympia qualifizieren kann. Zum einen über das gemischte<br />

Doppel mit meiner Doppelpartnerin Sarah<br />

De Nutte. Auf der Weltrangliste sind wir zurzeit unter<br />

den besten 45 Paarungen. Zum anderen kann ich mich<br />

auch im Einzel qualifizieren, was zurzeit nicht unmöglich<br />

ist. Ernst wird es nächstes Jahr im März und<br />

April. Bis dahin muss ich an meinem Niveau arbeiten,<br />

um meine Chancen zu steigern.<br />

34 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 2<br />

«Schwule Sportler verstecken<br />

sich, weil ihnen<br />

die Norm verbietet,<br />

anders zu lieben und zu<br />

leben», sagt Eric Glod.<br />

Bild: Agnieszka Tunnissen


Story — 2<br />

Bilder: World Table Tennis<br />

36 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 2<br />

«Homophobie<br />

existiert im<br />

Tischtennis<br />

hinter vorgehaltener<br />

Hand.»<br />

Ist Olympia auch dein Ziel?<br />

Ich definiere meine Ziele gerne anders. Wenn ich mir<br />

Olympia zum Ziel setze und es nicht erreiche, dann erhöht<br />

das die Angst vor dem Scheitern. Ich will besser<br />

werden, mich weiterentwickeln und das Beste aus mir<br />

herausholen. Olympia behalte ich selbstverständlich<br />

im Hinterkopf. Wenn ich mich nicht für die Olympischen<br />

Spiele qualifiziere, jedoch besser geworden bin,<br />

dann kann ich auch damit leben.<br />

Wie bist du zum Tischtennis gekommen?<br />

Als Kind war ich überall unbegabt, vor allem was meine<br />

Motorik anging. Meine Mutter steckte mich mit<br />

sieben Jahren ins Tischtennis, damit ich lernte meine<br />

Hände und Füsse zu benutzen und nicht umzufallen<br />

(lacht). Mein Vater und mein Bruder haben beide Fussball<br />

gespielt. Daneben gab es in unserem Dorf noch<br />

Judo und eben Tischtennis. Und da mir Judo noch mehr<br />

Angst machte als Fussball, wurde es halt Tischtennis.<br />

Es war also ein schnelles Ausschlussverfahren (lacht).<br />

Was mich an diesem Sport am meisten fasziniert,<br />

ist die grosse individuelle Freiheit. Du kannst deinen<br />

eigenen Spielstil haben, eine einzig richtige Spielweise<br />

gibt es nicht. Es ist ein Einzelsport und du allein bist<br />

verantwortlich für die Fehler, die du machst. Ich war<br />

nie der talentierteste Spieler, war jedoch immer sehr<br />

ehrgeizig.<br />

Wie oft trainierst du die Woche?<br />

Es ist wichtig, dass ich Punkte sammle und bei Turnieren<br />

spiele, darunter vor allem internationale. Davon<br />

gibt es jede Woche irgendwo irgendeines. Gleichzeitig<br />

habe ich eine Verantwortung gegenüber meinem<br />

Verein, damit wir in der Liga bleiben. Daneben muss<br />

ich Zeit in mein eigenes Training stecken. Deshalb sehen<br />

meine Wochen sehr unterschiedlich aus. In einer<br />

normalen Trainingswoche kommen mit Kraft- und<br />

Schnelligkeitstraining wöchentlich schon rund 16<br />

Stunden zusammen.<br />

Eric Glod<br />

Eric Glod, 1993 in Luxemburg<br />

geboren, entdeckte mit sieben<br />

Jahren seine Leidenschaft für<br />

Tischtennis. 2016, 2017 und<br />

2018 wurde er luxemburgischer<br />

Meister im Doppel, 2018 auch im<br />

Einzel. Nach seiner Grundausbildung<br />

in der luxemburgischen<br />

Armee ist er einer von gegenwärtig<br />

28 Elitesport-Soldat*innen des<br />

Landes. Er spielte unter anderem<br />

in Schweden und in der Schweiz<br />

für den TTC Wädenswil und den<br />

TTC Rapperswil. Seit 2022 ist er<br />

für den Badener AC in Wien aktiv.<br />

Kommt da nicht das Privatleben zu kurz?<br />

Im Liebesleben muss man schon deutliche Abstriche<br />

machen. Ich habe einen intensiven Job und es ist sehr<br />

schwierig, jemanden zu finden, der das einsieht und<br />

auch versteht. Ich trainiere viel und brauche viel Regenrationszeit,<br />

zudem bin ich oft wochenlang unterwegs.<br />

Die meisten Spieler*innen, die ich kenne, haben<br />

innerhalb der Tischtennis-Bubble jemanden gefunden.<br />

Für mich ist das offensichtlich nicht so einfach.<br />

Darum bin ich auch nach Wien gezogen, um mehr am<br />

queeren Leben teilnehmen zu können.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

37


FILM<br />

Filmguru<br />

Patrick Schneller<br />

filmguru@mannschaft.com<br />

Tár<br />

Wahnsinnig genial<br />

Lydia Tár dirigiert<br />

nicht nur, vielmehr<br />

zelebriert sie Musik.<br />

Bild: 2022 Focus Features, LLC.<br />

Wo war Todd Field bloss die vergangenen<br />

Jahre? «Tár» ist sein erster Filmcredit seit<br />

seinem Zweitling «Little Children» von<br />

2006! Nun ist er wieder da: «Tár» ist eine<br />

Wucht, was zu einem entscheidenden Teil<br />

an Cate Blanchett in der Titelrolle liegt.<br />

Aber erstmal der Reihe nach.<br />

Lydia Tár hat in der klassischen Musikszene<br />

mehr erreicht als alle anderen: Als<br />

Komponistin gewann sie alle wichtigen<br />

Auszeichnungen, als Dirigentin leitet sie<br />

die Berliner Philharmoniker. Nun wird<br />

sie bald als erster Mensch den kompletten<br />

Zyklus von Gustav Mahler mit einem<br />

Orchester aufgeführt haben. Doch als<br />

sich eine von Tár fallengelassene Musikerin<br />

umbringt, häufen sich plötzlich die<br />

Probleme. So kommt es zu Spannungen<br />

38 Frühling <strong>2023</strong><br />

zwischen Tár und ihrer Ehefrau, der Ersten<br />

Violinistin Sharon (Nina Hoss), die<br />

sich mit der neuen Cellistin Olga (Sophie<br />

Kauer) verstärken. Und dann nimmt auch<br />

noch eine Verleumdungskampagne ihren<br />

Lauf . . .<br />

Wüsste man es nicht besser, man könnte<br />

meinen, «Tár» erzähle eine wahre Geschichte.<br />

Field entfaltet ein fiktives Porträt,<br />

das authentischer wirkt als viele echte<br />

Biografien. Fast schon traumwandlerisch<br />

huldigt er dabei der klassischen Musik<br />

und übt ätzende Kritik an blinder «Cancel<br />

Culture». Zudem bedient er sich stilistisch<br />

bei allen möglichen Genres, so schreckt er<br />

auch nicht vor Thriller-Momenten zurück<br />

und erinnert vereinzelt gar an J-Horror im<br />

Stil von «Ju-on».<br />

Und mittendrin Cate Blanchett. Wie<br />

Lydia Tár in ihrer intellektuellen Genialität<br />

und musikalischen Professionalität<br />

aufgeht und dabei den Bezug zu ihrem<br />

persönlichen Umfeld, ja fast schon zur<br />

Realität an sich, regelrecht verliert, gehört<br />

ganz einfach zu den psychologisch vielfältigsten<br />

schauspielerischen Leistungen der<br />

Filmgeschichte.<br />

Drama, USA/D 2022. Regie & Drehbuch:<br />

Todd Field. Mit Cate Blanchett,<br />

Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie<br />

Kauer, Mark Strong. <strong>CH</strong>/D/A: im Kino.


Wieder mal eine<br />

Buchempfehlung:<br />

«It Came from<br />

the Closet: Queer<br />

Reflections on<br />

Horror» (Hrsg.<br />

Joe Vallese), erschienen<br />

bei The<br />

Feminist Press.<br />

Patrick Schneller<br />

Drama, Originaltitel: Le<br />

lycéen. F 2022, Regie &<br />

Drehbuch: Christophe<br />

Honoré. Kinostart D/A:<br />

30. März / <strong>CH</strong>: 28./29.<br />

März im Kino Rex, Bern<br />

FILM/SERIEN<br />

Der Gymnasiast<br />

Der schwule 17-jährige Lucas (Paul<br />

Kircher) lebt relativ unbeschwert,<br />

bis der tödliche Autounfall des Vaters<br />

das Leben der Familie auf den<br />

Kopf stellt. Damit Lucas auf andere<br />

Gedanken kommt, nimmt ihn<br />

sein älterer Bruder Quentin (Vincent<br />

Lacoste) vorübergehend zu<br />

sich nach Paris. Doch dort verliert<br />

Lucas endgültig den Boden unter<br />

den Füssen.<br />

Christophe Honoré («Sorry Angel»)<br />

drehte hiermit seinen bisher<br />

persönlichsten Film, war er doch<br />

selbst erst 15, als sein Vater starb.<br />

Verlusttrauma und Trauerarbeit<br />

sind denn auch die Kernthemen,<br />

und die damit oft aufkommende<br />

Schuldfrage, die gerade für Teenager<br />

in solchen Fällen fatale Folgen<br />

haben kann. Insofern lässt<br />

sich «Der Gymnasiast» mit Lucas<br />

Dhonts grandiosem Zweitling<br />

«Close» (B/NL/F 2022) vergleichen.<br />

Doch bei aller Melancholie<br />

webt Honoré auch viel<br />

Humor ein und zelebriert das<br />

Leben mit einer authentischen<br />

queeren Figur, eindrücklich verkörpert<br />

von Paul Kircher (21).<br />

Bild: Jean Louis Fernandez<br />

Serienjunkie<br />

«Abbott Elementary» Staffel 2:<br />

Harte Schule, weicher Kern<br />

Comedy. Seit 1. März bei Disney+.<br />

Bild: Disney+<br />

Robin Schmerer<br />

robin@mannschaft.com<br />

Im deutschsprachigen Raum noch immer weitgehend<br />

unbekannt, hat die Sitcom «Abbott Elementary» gerade<br />

erst bei den Golden Globes ordentlich abgeräumt<br />

und die Preise für die beste Comedy-Serie, die beste<br />

Hauptdarstellerin und den besten Nebendarsteller einheimsen<br />

können. Hierzulande ist die Serie im Mockumentary-Stil<br />

seit letztem Sommer bei Disney+ zu<br />

sehen, wo seit kurzem auch die neuen Folgen der zweiten<br />

Staffel abrufbar sind. Im Zentrum der Handlung<br />

steht der harte Alltag an einer öffentlichen Schule in<br />

Philadelphia. Besonders die Lehrer*innen haben unter<br />

einer überforderten Schulleiterin, Budgetkürzungen<br />

und den Schikanen der Schulbehörde zu leiden, lassen<br />

sich aber nicht unterkriegen. Unter ihnen auch der<br />

schwule und überaus pessimistische Geschichtslehrer<br />

Jacob (Chris Perfetti). Innerhalb kürzester Zeit mauserte<br />

sich «Abbott Elementary» zum Zuschauer- und Kritikerliebling,<br />

so dass unlängst schon eine dritte Staffel<br />

bestellt wurde. Reinschauen lohnt sich!<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

39


SERIEN<br />

Licht am Ende des Tunnels – «Shadow<br />

and Bone» Staffel 2 bei Netflix<br />

Fantasy. Seit 16. März bei Netflix.<br />

Was? Wo? Wann?<br />

WAS WO & WANN IN EINEM SATZ<br />

Superman & Lois<br />

Drama, Sci-Fi<br />

Staffel 1<br />

Seit 9. März<br />

DVD (Warner<br />

Bros.)<br />

Superman und Lois versuchen<br />

Familienleben und die Rettung<br />

der Erde unter einen Hut<br />

zu bekommen. In den Comics<br />

ist einer der Söhne bisexuell.<br />

Greift die Serie das auf?<br />

YOU<br />

Drama<br />

Staffel 4<br />

Seit 9. März<br />

Netflix<br />

In Staffel 4 mischt unser<br />

Lieblingsstalker Joe als Uniprofessor<br />

das Leben der High<br />

Society in London auf. Auch<br />

der pansexuelle Adam gerät<br />

in seinen Dunstkreis.<br />

Killing Eve<br />

Thriller<br />

Komplettbox<br />

Seit 23.März<br />

DVD (Universal)<br />

Eine überambitionierte<br />

Sicherheitsbeamtin und eine<br />

eiskalte Serienkillerin liefern<br />

sich ein packendes Katz- und<br />

Mausspiel, bei dem zunehmend<br />

Gefühle im Spiel sind.<br />

Yellowjackets<br />

Drama<br />

Staffel 2<br />

Seit 24. März<br />

Paramount+<br />

Das Frauen-Fussballteam einer<br />

kanadischen Highschool<br />

stürzt mit einem Flugzeug in<br />

der Wildnis ab. Viel Lob gab<br />

es für die queeren Charaktere.<br />

Neben Netflix-Produktionen wie «The Witcher»<br />

oder «Sandman» kann man eine Fantasyserie wie<br />

«Shadow and Bone» schnell übersehen. Dabei<br />

kommt die Serie, die auf zwei erfolgreichen Jugendbuchreihen<br />

der Amerikanerin Leigh Bardugo basiert<br />

und bereits 2021 beim Streamingriesen startete,<br />

nicht minder bildgewaltig und düster daher wie<br />

die bekannteren Produktionen für ein älteres Publikum.<br />

Noch dazu entführt uns die Serie in eine Welt,<br />

die überaus divers und inklusiv daherkommt, ohne<br />

dies künstlich zu grossen Themen aufzubauschen.<br />

Etwas, wofür sie von zahlreichen Onlineportalen<br />

gefeiert wird.<br />

In einer von Krieg gebeutelten Welt entdeckt die<br />

junge Kartografin Alina Starkov (Jessie Mei Li),<br />

dass sie über ungeheure Fähigkeiten verfügt. Als<br />

eine so genannte Grischa ist es ihr möglich, Sonnenlicht<br />

zu beschwören. Dies wiederum ruft eine<br />

Reihe von Gruppierungen auf den Plan, die es auf<br />

Alina abgesehen haben. Bald muss sie erkennen,<br />

dass selbst vermeintliche Verbündete wie der Grischa-General<br />

und Schattenbeschwörer Aleksander<br />

Kirigan (Ben Barnes) ganz eigene Pläne verfolgen.<br />

Seit wenigen Tagen sind nun alle Episoden der<br />

zweiten Staffel bei Netflix abrufbar und wir erfahren<br />

endlich, wie Alinas Abenteuer weiter geht,<br />

nachdem sich die aufwendigen Dreharbeiten pandemiebedingt<br />

verzögert haben. Schauspieler Kit<br />

Young, der den bisexuellen Scharfschützen Jesper<br />

spielt, beschreibt die Serie übrigens als wilde Mischung<br />

aus «Game of Thrones», «The Witcher» und<br />

«Fluch der Karibik». Fans dieser Franchises sollten<br />

also in jedem Fall einen Blick riskieren.<br />

Bild: Dávid Lukács/Netflix © 2022<br />

40 Frühling <strong>2023</strong>


Drei Gründe Für eine Gay<br />

Gruppenreise mit PInk Alpine:<br />

authentische Begegnungen<br />

unsere Reisen werden allesamt auch von lokalen Guides<br />

begleitet und Ermöglichen Einblicke in das Alltägliche vor Ort<br />

sicher Unterwegs<br />

ob Zelt oder Palast-Hotel, du kannst auf beste Organisation<br />

und Logistik zählen<br />

Entspanntes Reisen unter gleichgesinnten<br />

Dein Gruppenguide von Pink Alpine unterstützt dich und kann bei<br />

Bedarf die erforderlichen Brücken bauen<br />

Weitere Informationen zu all unseren Gay Gruppenreisen:<br />

www.pinkalpine.lgbt


Story — 3<br />

3<br />

Welche<br />

Detox-<br />

Blüte<br />

bist du?<br />

42 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 3<br />

Text – Denise Liebchen<br />

Willkommen im Frühling, in<br />

der Jahreszeit des Ausmistens.<br />

Verspürst du auch den<br />

Drang, dich von Ballast zu<br />

befreien, weisst aber nicht,<br />

wo du anfangen sollst?<br />

Bei den leidenden Darminnenwänden,<br />

den Leberzellen<br />

oder Kleiderschränken?<br />

Unser Detox-Entscheidungsbaum<br />

weiss Rat.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

43


Story — 3<br />

Welche Detox-Blüte bist du?<br />

Hangle dich durch die Fragen des allwissenden Detox-Baumes und seine Blüten<br />

werden dir offenbaren, welches Entgiftungsvorbild zu dir passt.<br />

Die alkoholfreie<br />

Kristen Stewart<br />

Der digitalfreie<br />

Felix Jaehn<br />

Der vegane<br />

Elliot Page<br />

Der ausmistende<br />

Bobby Berk<br />

Die cleane<br />

Miley Cyrus<br />

mit Analconda<br />

auf Grindr<br />

mit Flowerfinger<br />

auf HER<br />

Staubmäusen<br />

& Textiltentakeln<br />

Weltuntergang<br />

Machtübernahme<br />

durch Mr. Hyde<br />

Mit wem hattest du<br />

dein letztes tiefgründiges<br />

Gespräch<br />

44 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 3<br />

Keine Ahnung,<br />

das habe ich morgens<br />

vergessen<br />

zu wenig Likes<br />

manchmal Dosenfutter<br />

So mit echten<br />

Menschen und so?<br />

ja<br />

nein<br />

Benimmst du dich in<br />

Gesellschaft seltsam?<br />

Kannst du sie<br />

anfassen?<br />

Wovor fürchtest du<br />

dich am meisten?<br />

mich alles<br />

meine Umgebung<br />

Was willst du<br />

entgiften?<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

45


Story — 3<br />

Damit du gleich Bescheid weisst:<br />

Auf diesen Seiten hier meinen wir<br />

nicht alles bierernst. Denn Humor<br />

beflügelt jedweden Anlauf in ein<br />

leichteres Leben. So auch, als wir<br />

aufbrachen, um für dich frühlingsfrische<br />

Detox-Tipps zu entdecken.<br />

Wir drangen immer tiefer ein<br />

in eine Welt namens «Ich esse, also<br />

bin ich». Überall wucherten wilde<br />

Weisheiten. Schliesslich blieben wir stecken im Detox-Dogma-<br />

Dschungel. Es ging weder vor noch zurück. Ein vernunftgeleitetes<br />

Durchkommen? No way. Dafür verwirrende Trampelpfade:<br />

bitte nach rechts zur Saftkur «Du darfst nur trinken» oder nach<br />

links zum Ohne-Alkohol-Kurs «Trinke keinen Tropfen». Überall<br />

Stolpersteine mit fordernden Parolen: 7-Tage-Kein-Kaffee,<br />

21-Tage-Kein-Zucker oder 30-Tage-Vegan.<br />

Doch wir hatten Glück und trafen drei weise Einheimische,<br />

die aussahen wie Meryl Streep und Emma Thompson und Jamie<br />

Lee Curtis, und sie riefen aus ihren Hütten heraus: «Seid nicht so<br />

dumm wie wir, verschwendet nicht so viele Gedanken an den<br />

idealen Körper, folgt eurem Instinkt.»<br />

Unser Instinkt lotste uns schliesslich zum allwissenden<br />

Detox-Entscheidungsbaum. Was für eine Pracht. Er trug fünf<br />

Blüten, jede benannt nach einer queeren, detoxenden Berühmtheit.<br />

Für dich haben wir den Baum mitgenommen und auf die<br />

Seiten 44 und 45 gepflanzt. Seine Blüten werden dir offenbaren,<br />

welche Entgiftungsrezeptur zu dir passt. Dafür musst du dich<br />

den Fragen des Baumes stellen und dich durch sein Astwerk<br />

hangeln. Falls du hängen bleibst: Keine Panik, dein gesunder<br />

Menschenverstand wird dich retten. Und möge Humor dir<br />

deinen Weg versüssen.<br />

Die alkoholfreie<br />

Kristen Stewart<br />

Ein Glas ist kein Glas. Komm schon,<br />

eins haben wir immer noch genommen.<br />

Sätze wie diese sind es, die uns vom<br />

Schwips in den Rausch begleiten.<br />

Manch lockerer Abend verwandelt sich<br />

in eine morgens vergessene Nacht.<br />

Kennst du? Da bist du nicht allein.<br />

Eskapaden ereilen regelmässig auch<br />

Stars und Sternchen, die sich mitunter<br />

häufiger vom Alkohol abwenden.<br />

Die Schauspielerin Kristen Stewart<br />

etwa warf die Flaschen zu ihrem<br />

Dreissigsten fort, um ihre Zeit<br />

sinnvoller zu nutzen.<br />

Nie wieder Alkohol – ist dir das<br />

zu extrem? Wir verstehen dich. Wie<br />

wäre es mit ersten kleinen Schritten,<br />

mit alkoholfreien Tagen oder<br />

Wochen zwischendurch, nicht nur<br />

monatskonzentriert wie im «Dry January»?<br />

Deine Vorteile: Du weisst am<br />

nächsten Morgen, was du letzte Nacht<br />

getan hast. Du führst bessere Gespräche.<br />

Du nimmst bewusst wahr, was<br />

du erlebst. Der Entschlackungseffekt<br />

ist immens. Du hast mehr nutzbare<br />

Zeit, weil dir kein Kater stundenlang<br />

durch den Kopf miaut. Und sofern<br />

du willst, kannst du mit einem<br />

alkoholfreien Matedrink dennoch die<br />

Nacht durchtanzen.<br />

Bild: Fabian Sommer/dpa<br />

Willst du etwas tiefer ins alkoholfreie<br />

Glas schauen, hier ein paar<br />

prickelnde Tipps: die Bücher «Nüchtern<br />

– Über das Trinken und das<br />

Glück» von Daniel Schreiber und «Unabhängig.<br />

Vom Trinken und Loslassen»<br />

von Eva Biringer oder der Podcast<br />

«Ohne Alkohol mit Nathalie». Ein<br />

Hoch auf dich!<br />

46 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 3<br />

Bild: S. Fischer Verlag<br />

Der vegane Elliot Page<br />

Vor 20 Jahren wurden Vegetarier*innen<br />

gemobbt, vor 2 Jahren die Veganer*innen.<br />

Dieses Blatt hat sich gewendet. Mittlerweile<br />

werden Fleischessende mental<br />

geschlachtet: Warum verschlingst du<br />

tote Tiere? Weisst du, dass du so viele<br />

Treibhausgase verursacht wie zwei<br />

Veganer*innen?<br />

Hirnloses Fleischfuttern ist passé und<br />

vegetarische Ernährung ist streng genommen<br />

bereits old-school, also mach’s doch<br />

gleich vegan. Vorbilder gibt es zuhauf.<br />

Da wäre Schauspieler Elliot Page, der<br />

sich 2020 als trans outete und – was viele<br />

nicht wissen – bereits 2014 neben Jared<br />

Leto zum Sexiest Vegan gekürt wurde (vom<br />

Tierschutzverein Peta). Für diesen Sommer<br />

hat er übrigens seine Autobiografie angekündigt.<br />

Da wir Menschen Gewohnheitstiere sind,<br />

empfehlen Ernährungsberater*innen Folgendes:<br />

Stelle zuerst eine Mahlzeit um, veganisiere<br />

zum Beispiel das Frühstück, bis es<br />

dir in Fleisch und Blut übergegangen ist.<br />

Und dann mache beliebig Jagd auf deine<br />

restlichen Mahlzeiten.<br />

Brauchst du noch Gründe für deinen veganen<br />

Versuch? Gern: Minus tierische Fette plus<br />

sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe<br />

ergibt weniger Risiko für weitverbreitete<br />

ernährungsabhängige Krankheiten wie<br />

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ<br />

2, Bluthochdruck oder Krebs. Veganer*innen<br />

berichten, dass sie sich fitter und leistungsstärker<br />

fühlen. Und ganz wichtig: Du<br />

bist lieb zu Tieren und dem Planeten.<br />

Zweifelst du noch, ob vegan überhaupt<br />

schmeckt? Wage einen Blick ins World Wide<br />

Web: Darin wimmelt es von veganen Rezepten.<br />

Besonders verführerisch geht es auf<br />

Instagram zu: Da kratzen scharfe Messer<br />

über koreanische Pancakes.<br />

Bild: Marius Becker/dpa<br />

Die cleane<br />

Miley Cyrus<br />

Pfui, du schmutziges Ding, du.<br />

Was du so alles runterschluckst.<br />

Auweia. Retten kann dich nur noch<br />

Miley Cyrus und ihr cleaner Lifestyle.<br />

Falls du jetzt an unserem<br />

Verstand zweifelst, entspann<br />

dich. Unserem IQ geht es prächtig.<br />

Es ist wahr: Die rauschmittelerprobte<br />

Sängerin ist sauber,<br />

sogar in vielerlei Hinsicht,<br />

nicht nur bezüglich Drogen, sondern<br />

auch ernährungstechnisch.<br />

So machst du es Miley nach: Ab<br />

sofort siehst du Fast Food, industriell<br />

hergestellte Lebensmittel<br />

inklusive Zucker und gesättigte<br />

Fettsäuren nur noch aus<br />

der Ferne. Deine neuen besten<br />

Freunde heissen: Gemüse, Früchte,<br />

Nüsse, Kerne, Samen, Kräuter,<br />

Fisch, Fleisch, Eier und gesunde<br />

Fette. Du isst nur noch unbehandelte<br />

Lebensmittel – so wie einst<br />

Steinzeitmenschen. Befürworter<br />

dieser Ernährung argumentieren,<br />

dass es noch heute Urvölker gebe,<br />

die unter ähnlichen Bedingungen<br />

wie in der Steinzeit lebten und<br />

insgesamt weniger an Übergewicht,<br />

hohem Blutdruck und hohen Cholesterinwerten<br />

litten.<br />

Stellen sie hingegen ihre Ernährung<br />

nach westlichen Richtlinien<br />

um, verschlechtere sich ihr Gesundheitszustand.<br />

Falls du trotz diesen sauberen<br />

Steinzeitargumenten weiterhin<br />

schmutzige Gedanken haben solltest,<br />

dann leck doch ein Mammut<br />

oder zieh dir das neue Album von<br />

Miley rein («Endless Summer Vacation»).<br />

Wer weiss, vielleicht<br />

rettet es dich in deinem Unterbewusstsein.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

47


Bild: CC BY-SA 4.0<br />

Der digitalfreie<br />

Felix Jaehn<br />

Du wolltest auf Grindr bloss kurz schauen,<br />

ob dir Analconda geantwortet hat, aber<br />

Stunden später scrollst du noch? Du zählst<br />

Instagram-Herzchen zum Einschlafen? Dann<br />

musst du jetzt stark sein und darauf vertrauen,<br />

dass diese beiden Wörter nur das<br />

Beste für dich wollen: Stopp Screening!<br />

Story — 3<br />

Never ever? Ach, komm schon! Was Ed Sheeran<br />

und Ariana Grande schaffen, schaffst du<br />

doch mit links. Auch der DJ und Musikproduzent<br />

Felix Jaehn verabschiedete sich einst<br />

für acht Wochen in den handyesken Flugmodus,<br />

um «einfach nur zu leben».<br />

Hast du Angst, etwas zu verpassen? Paradoxerweise<br />

gibt es Apps, die helfen, den<br />

Handykonsum zu kontrollieren. Besser finden<br />

wir: Schiebe deine «gefährlichsten» Apps<br />

auf deinem Homescreen in die hinterletzte<br />

Ecke (selbst getestet – funktioniert).<br />

Führe Offline-Zeitfenster ein. Treffe echte<br />

Menschen an echten Orten – ungefiltert, beschissen<br />

ausgeleuchtet und Auge in Auge.<br />

Falls du trotzdem im Social-Media-Rabbit-Hole<br />

verschwindest – wir haben dich<br />

gewarnt: Neurowissenschaftler*innen an der<br />

University of North Carolina haben bei 12-<br />

bis 15-Jährigen nachgewiesen, dass sich<br />

ihr Gehirn verändert. Hatten sie ihre Social-Media-Feeds<br />

über viermal am Tag gecheckt,<br />

aktivierten sich langfristig drei<br />

Hirnregionen übermässig: belohnungsverarbeitende<br />

Schaltkreise, die auch auf Erfahrungen<br />

wie Geldgewinne reagieren; Hirnregionen,<br />

die die Aufmerksamkeit bestimmen, und<br />

der präfrontale Kortex, der bei der Regulierung<br />

und Kontrolle hilft. Eva H. Telzer,<br />

eine der Autor*innen der Studie, spricht<br />

von «ziemlich dramatischen Veränderungen<br />

in der Art und Weise, wie das Gehirn reagiert».<br />

Du bist nicht zwischen 12 und 15<br />

Jahre alt? Ach, mach doch, was du willst.<br />

Dann kann dich nur noch die Netflix-Serie<br />

«Detox» retten, in der zwei französische<br />

Cousinen ihre Handys wegschmeissen.<br />

Bild: Ilana Panich-Linsman, Netflix<br />

Der ausmistende<br />

Bobby Berk<br />

Wenn der Entscheidungsbaum dich hierhergeführt<br />

hat, braucht deine Wohnung<br />

eine Entschlackungskur. Das heisst<br />

übersetzt: Entscheide dich schnell.<br />

Denke beim Ausmisten nicht zu lange<br />

nach. Insgeheim weisst du, ob du<br />

etwas behalten willst oder nicht, du<br />

musst dich bloss schnell und intuitiv<br />

entscheiden.<br />

Brauchst du noch Inspiration? Dann<br />

zieh dir staffelweise «Queer Eye» auf<br />

Netflix rein und schau, was Lifestyle-Experte<br />

Bobby Berk dort zaubert.<br />

Oder du zeichnest auf ein Blatt Papier<br />

alle Räume auf, die du einer Detox-Kur<br />

unterziehen willst. Gib jedem<br />

Raum eine Note von 1 bis 6. Je tiefer<br />

die Zahl, desto grösser der Entschlackungsbedarf.<br />

Ergänze zu jedem<br />

Raum das Datum, wann du fertig sein<br />

willst, und schätze die Zeit, die du<br />

dafür brauchst.<br />

Nun gehe von Raum zu Raum und nutze<br />

den Drei-Boxen-Trick: Er zwingt dich,<br />

für jeden Gegenstand eine Entscheidung<br />

zu treffen. Beschrifte dafür<br />

drei Boxen mit: «behalten & brauchen»<br />

für alles, was du behalten möchtest,<br />

weil du es regelmässig brauchst oder<br />

mit einer Erinnerung verbindest; «weg<br />

damit» für alles, was du sicher loswerden<br />

möchtest (denk nicht nur an<br />

Gegenstände für den Abfall, sondern<br />

auch an solche zum Verschenken, Spenden<br />

oder Verkaufen); «lagern» für<br />

Dinge, die du behalten möchtest, aber<br />

nur selten brauchst. Beschrifte sie<br />

ordentlich und lagere sie, damit du<br />

sie schnell wieder findest.<br />

Hüte dich vor dem «Vielleicht»-Stapel.<br />

Er ist das Ende jedes Detox-Anfangs.<br />

Entscheide schnell, intuitiv<br />

und frage dich bei jedem Stück:<br />

«Macht es mich glücklich?»<br />

48 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 3<br />

«Wodka und Kartoffelchips<br />

sind auch vegan»<br />

Ernährung ist zu einer Art Religion<br />

geworden. Zwischen Vegan-<br />

Videos, Detox-Challenges und<br />

Pseudogetreide-Hype hat der Satz<br />

«Du bist, was du isst» eine neuartig-schwergewichtige<br />

Bedeutung<br />

erlangt. Sebastian, was bist<br />

du und was isst du?<br />

Biologisch betrachtet, stimmt dieser<br />

Satz ja sogar, weil das, was wir<br />

essen, tatsächlich zu einem Teil von<br />

uns wird. Ich selbst lebe und esse<br />

vegan. Und ja, es ist auch für mich<br />

mehr als bloss Ernährung. Vegan ist<br />

meine Lebenseinstellung, die vor<br />

etwa fünf Jahren schrittweise in mir<br />

herangereift ist und welche ich nun<br />

für mich selbstverständlich lebe.<br />

Ist vegane Ernährung die beste?<br />

Sollten wir es dir alle nachtun?<br />

Wenn man es rein gesundheitlich<br />

betrachtet, kommt es auf die Art und<br />

Weise an. Du kannst dich auch mit<br />

Wodka und Kartoffelchips vegan<br />

ernähren. Erst wer sich vollwertig<br />

vegan ernährt und das Vitamin B12<br />

supplementiert, hat gesundheitlich<br />

eine der besten Formen gewählt.<br />

Das bestätigen Studien über Zivilisationskrankheiten<br />

(Anm. d. Red.:<br />

etwa die Adventist Health Study 2<br />

sowie die EPIC-Oxford Studie). Mich<br />

würde es auf jeden Fall freuen, wenn<br />

es mir alle nachtäten, weil wir dann<br />

viele mehr wären, die Erde und Klima<br />

schützen. Jeder einzelne Mensch<br />

könnte dadurch dazu beitragen, das<br />

enorme Leid der ausgebeuteten<br />

Tiere zu vermeiden.<br />

Wie stark verbreitet sind Körperwahn<br />

oder Essstörungen bei queeren<br />

Menschen?<br />

Bei Menschen, die sich viel in den<br />

Sozialen Medien bewegen, ist<br />

Körperwahn sehr präsent. Gerade<br />

junge Personen sind anfällig<br />

dafür, wenn sie täglich vermeintlich<br />

perfekte Leben und Körper sehen,<br />

90-60-90-Masse, Sixpacks, Bizepsberge.<br />

Das befeuert den Drang<br />

nach Selbstoptimierung. Ob queere<br />

Menschen davon eher betroffen sind,<br />

kann ich nicht untermauern.<br />

Wo ziehst du die Grenze zwischen<br />

Selbstdisziplin und Selbstquälerei?<br />

Was ist noch gesund?<br />

Ernährung ist mir keine Quälerei, da<br />

ich sie aus meinen Werten ableite.<br />

Ich finde, dass sie alltagstauglich und<br />

sozialverträglich sein sollte. Wenn<br />

ich etwa konsequent auf Industriezucker<br />

und Fertigprodukte verzichte,<br />

kann es schwer werden, mit<br />

Freund*innen essen zu gehen. Zum<br />

Glück bekommt man mittlerweile<br />

in fast allen Restaurants zumindest<br />

in grösseren Städten auch vegane<br />

Gerichte. Selbstdisziplin ist etwas<br />

Gutes, solange man sich wohlfühlt<br />

und reflektiert.<br />

«Ich rate meinen Kund*innen von<br />

Sport ab.» «Mit diesem Pulver<br />

kannst du essen, was du willst, und<br />

du nimmst trotzdem ab.» Im Web<br />

schreien Ernährungs-Expert*innen<br />

kreuz und quer. Was ist Humbug<br />

und was hilfreich?<br />

«Picke dir am besten<br />

aus allen Detox-Typen<br />

etwas heraus, das zu<br />

dir passt.»<br />

Solche Aussagen sind blosses<br />

Marketing, um auf das Produkt aufmerksam<br />

zu machen. Es sind ja auch<br />

Sätze, die Menschen insgeheim<br />

hören wollen. Aber mit gesundem<br />

Menschenverstand erkennt man<br />

Humbug. Höre in dich hinein, sei<br />

ehrlich zu dir selbst und akzeptiere,<br />

dass Gesundheit ein Zusammenspiel<br />

ist aus Bewegung, Ernährung,<br />

Erholung, mentaler Gesundheit und<br />

der eigenen Sinnfrage. Es gibt nicht<br />

DIE eine Zauberformel.<br />

Der Frühling ist da und weckt den<br />

Wunsch nach mehr Leichtigkeit.<br />

Hast du einen ultimativen Tipp?<br />

Ja, am besten pickst du dir aus allen<br />

Detox-Typen etwas heraus, was zu<br />

dir passt. Der Impuls aufzuräumen<br />

im Körper, Geist und in der Wohnung<br />

ist natürlich, eine Art Neustart.<br />

Ich selbst mache zudem eine Kur<br />

für drei bis sechs Tage mit selbstgepressten<br />

Säften. Eine Wohltat für<br />

den Darm – und für die Psyche, denn<br />

sie mag es auch, wenn du etwas<br />

bewusst für deine Gesundheit tust.<br />

Sebastian Süß ist<br />

selbstständiger<br />

veganer Ernährungsberater,<br />

Gesundheitscoach<br />

und<br />

HIV-Aktivist. Dieser<br />

QR-Code führt<br />

dich zu seinem<br />

Instagram-Profil:<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

49


Interview<br />

Bild: Clifford Prince King<br />

50 Frühling <strong>2023</strong>


Interview<br />

«Wir Schwarzen<br />

sind lauter<br />

geworden»<br />

Kelela. Nachname Mizanekristos, ist eine der aufregendsten und auf den<br />

ersten Blick widersprüchlichsten Popkünstlerinnen unserer Zeit. In London<br />

hat uns die 39-Jährige verraten, warum sie einst abtauchte und nun<br />

ihr zweites Album «Raven» drei Jahre verzögert herausbringt. Ein Gespräch<br />

mit einer bodenständigen Ausserirdischen, wie sich die Künstlerin selbst<br />

bezeichnet.<br />

Interview: Steffen Rüth<br />

Kelela, auf dem Cover deines Albums «Raven» liegst du auf<br />

dem Rücken im dunklen Wasser, nur dein Gesicht schaut raus.<br />

Nimmst du ein entspanntes Bad oder kämpfst du gegen den<br />

Untergang?<br />

(lacht) Ich habe offenbar alles richtig gemacht. Denn genau diese<br />

Uneindeutigkeit ist es, die ich mit dem Bild hervorrufen wollte.<br />

Halte ich den Kopf gerade so über Wasser? Oder treibe ich genüsslich<br />

dahin? Reinigt mich das Wasser oder will es mich verschlingen?<br />

Beides kann sein.<br />

Welche Vision hast du für deine Musik, die irgendwie<br />

zugleich traditionell und zukunftsweisend ist?<br />

Ich hatte immer einen festen Platz in meinem Herz für Neo-Soul.<br />

Künstlerinnen wie Erykah Badu, Aaliyah oder selbst Janet Jackson,<br />

deren Neunziger-Alben wie das fantastische «The Velvet<br />

Rope» ich verehre, haben mich inspiriert und angespornt. Ich<br />

sah mich immer als Teil dieser Tradition, die etwas Warmes und<br />

Umschmeichelndes hat. Aber ich beschränke mich nicht auf die<br />

Vergangenheit, ich habe auch die Zukunft im Blick. Und ich liebe<br />

Synthesizer, ich liebe den Rave, ich liebe die Ekstase.<br />

Dein Debütalbum «Take Me Apart» kam 2017 raus.<br />

Wie hast du die vergangenen sechs Jahre verbracht?<br />

Geplant war es nicht, so lange zu warten. Ich hätte die Musik<br />

gern früher rausgebracht, und eigentlich war Anfang 2020 das<br />

allermeiste fertig geschrieben und aufgenommen. Wir haben in<br />

Berlin produziert und gearbeitet, zum Teil im Studio von Peaches<br />

aufgenommen, und ich war ein paar Mal im Berghain, um die<br />

Nacht durchzutanzen. Dann jedoch bremste mich die Pandemie<br />

aus, und noch mehr als das sorgte der brutale Polizistenmord am<br />

Schwarzen George Floyd mit den nachfolgenden Aufständen und<br />

der grossen Debatte über rassistische Gewalt und Rassismus an<br />

sich dafür, dass ich noch warten wollte, bevor ich diese Musik<br />

unter die Leute brachte.<br />

Warum?<br />

Ich wollte nicht, dass alle denken, mein Album sei eine Reaktion<br />

auf die Gräueltat. Denn das ist sie nicht. Ich schrieb «Raven» auf<br />

der Basis meiner Erfahrungen, Gefühle und Lebensumstände.<br />

Vieles, was schon lang Teil meiner Lebensrealität ist, wird seit<br />

dem Mord an George Floyd breit in der Gesellschaft diskutiert.<br />

Dieses Verbrechen hat Schleusen geöffnet, niemanden hat es unberührt<br />

gelassen, und bei mir selbst hat es dazu geführt, dass ich<br />

ein halbes Jahr lang, da sind wir wieder bei der Wassermetapher,<br />

abtauchen musste.<br />

Um was zu tun?<br />

Nachzudenken und mich um mich selbst zu kümmern. Meine Erfahrungen<br />

zu verarbeiten, mit Menschen zu sprechen, Informationen<br />

zu sammeln und alles sacken zu lassen. Das hatte etwas<br />

Beängstigendes, denn das System des Musikbusiness verlangt<br />

von dir, ständig präsent zu sein, möglichst unmittelbar auf Erschütterungen<br />

zu reagieren. Wer sich da rausnimmt, wird vergessen,<br />

so heisst es. War mir egal. Ich zog den Stecker meiner gesamten<br />

Internetpräsenz. Ich stellte mein Online-Leben auf «Stopp»,<br />

während ich in meinem realen Leben permanent sendete und<br />

empfing.<br />

Was hat die «Black Lives Matter»-Bewegung, die nach<br />

dem Tod Floyds entstand, bewirkt?<br />

Die Mehrzahl der weissen Menschen war schockiert von der Tat.<br />

Es wurde zu einem grösseren Tabu, ein Rassist oder eine Rassistin<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

51


Interview<br />

«Unser Leben wird nicht<br />

automatisch fairer, nur weil<br />

viele weisse Menschen<br />

sich schämen.»<br />

zu sein. Der Rassismus ist natürlich nicht verschwunden, er findet<br />

jetzt subtiler und nuancierter statt. Aber die Sensibilität hat sich<br />

erhöht, die Nadel der Schande hat sich in die richtige Richtung<br />

bewegt. Allerdings wird unser Leben als schwarze oder braune<br />

Menschen nicht automatisch fairer und gleichberechtigter, es<br />

wächst nur die Menge an weissen Menschen, die sich schämen.<br />

Wie erlebst du selbst Rassismus?<br />

Die Musikindustrie wurde gebaut von weissen Männern für<br />

weisse Männer. Wenn du weder weiss noch ein Mann bist, kann<br />

dich das Klima in der Branche schnell entmutigen. Ich musste<br />

weniger Scheisse durchqueren als manch andere, aber immer<br />

noch zu viel. Du kannst dich auflehnen, nur bist du dann womöglich<br />

deinen Plattenvertrag schnell wieder los. Du musst also zumindest<br />

manche der Spielchen mitspielen, obwohl es sich nicht<br />

gesund anfühlt. Das gilt für uns alle und selbst für jemanden wie<br />

Beyoncé, auch wenn du im ersten Moment denkst, erfolgreiche<br />

Frauen würden über allen Machtspielchen stehen. Tun sie nicht.<br />

Du hast über die «Black Lives Matter»-Auswirkungen auf<br />

Weisse gesprochen. Wie sind die Folgen für Nichtweisse?<br />

Uns hat dieser Aufstand viel Kraft, Stärke und Mut gegeben. Wir<br />

Schwarzen sind lauter geworden. Wir sagen klar und deutlich,<br />

wo unsere Grenzen sind. Wir ziehen rote Linien, wir haben eine<br />

breitere Brust als noch vor einigen Jahren, und das alles ist keine<br />

Momentaufnahme, sondern eine wirkliche und dauerhafte Veränderung.<br />

Besteht die Chance, dass Rassismus, Sexismus und<br />

Homophobie irgendwann aussterben?<br />

Es ist ein Tauziehen. So sehr die Welt freundlicher wird gegenüber<br />

traditionell unterdrückten und klein gehaltenen Personenkreisen,<br />

so sehr radikalisieren sich auf der anderen Seite die Intoleranten,<br />

Fortschrittsfeindlichen und Hassenden. Ich selbst indes<br />

fühle mich heute akzeptierter als zu Beginn meiner Karriere. Das<br />

wiederum macht mich und meine Musik freier, konsequenter und<br />

gewagter. Die Zeiten haben sich geändert. Schwarze, braune und<br />

queere Kunstschaffende sind definitiv sichtbarer geworden.<br />

Einige Songs auf «Raven» sind samtig-sanft, ein wenig traurig<br />

manchmal und einfach schön, auf anderen geht es mit einem<br />

deutlichen Club-Music-Einfluss ordentlich zur Sache.<br />

Ja, die Melancholie und die Euphorie stehen gleichberechtigt nebeneinander.<br />

«Raven» ist meine Version des alten Konzepts des<br />

«Crying in the Club». Tränen auf der Tanzfläche sind etwas Herrliches.<br />

Diese Songs sind dunkler, aber es gibt auf «Raven» auch<br />

52 Frühling <strong>2023</strong>


Interview<br />

Bild: Justin French<br />

Kulturen waren noch nicht so durchlässig wie heute. Besser wurde<br />

es erst, als weisse Künstler*innen kamen, die bei Schwarzen<br />

wie bei Weissen Akzeptanz fanden – Robyn, Pink und Justin<br />

Timberlake fallen mir da ein. So sangen Weisse damals nicht – ich<br />

fand sie allesamt cool.<br />

Du bist auch stark an Mode interessiert, und die Modeindustrie<br />

an dir. Wie zentral ist Fashion für deine Kunst?<br />

Ich liebe Mode. Punkt. Und in der Tat, die Bildsprache ist mir extrem<br />

wichtig. Mein ästhetischer Ausdruck hat einerseits etwas<br />

von einem weltentrückten, geheimnisvollen Alien, und andererseits<br />

gebe ich mich erdverbunden und nahbar. Auch in diesem<br />

Punkt bin ich nicht hier oder dort, sondern überall. Eine bodenständige<br />

Ausserirdische (lacht).<br />

viel Freude, Lust, Befreiung und Erlösung. Bei «Happy Ending»<br />

zum Beispiel denke ich, das sollte ein letzter Song sein, bevor der<br />

Club alle nach draussen bittet. Einmal noch die Grandiosität des<br />

Lebens spüren, und mit allen Sinnen diese Musik erleben, bevor<br />

die Nacht vorbei ist. Das hat für mich etwas tief Spirituelles.<br />

Lassen sich zwischen Kirche und Club Parallelen finden?<br />

Spürst du eine Art göttliche Kraft, wenn du im Berghain tanzt?<br />

Natürlich. Beides sind Orte der Erlösung. Orte zum Durchschnaufen<br />

und zum Abschalten von deiner üblichen Gedankenwelt. Club<br />

wie Kirche können uns unserem Kern näherbringen, indem sie<br />

uns befreien – im besten Fall auch von uns selbst.<br />

Bist du als Teenager schon gerne tanzen gegangen?<br />

Überhaupt nicht. Bei meinem ersten Rave war ich längst erwachsen.<br />

Ich war auch vorher nie Teil einer bestimmten Szene. Ich bin<br />

kein «Entweder-oder»-, sondern ein «Sowohl-als-auch»-Mensch.<br />

Ich fand es immer komisch, wenn Leute nur ein bestimmtes<br />

Genre von Musik hörten. Mein Geschmack war immer schon<br />

geprägt von Überlappungen. Auch meine Freundeskreise waren<br />

unterschiedlich. Ich ging mit schwarzen Freund*innen zu R’n’B-<br />

Konzerten und mit meinen weissen Leuten zu Fiona Apple. So<br />

war das in den Neunzigern und frühen Nullerjahren noch. Die<br />

Kelela<br />

Mizanekristos<br />

Auf ihrem zweiten Album «Raven»,<br />

das satte sechs Jahre nach dem<br />

bestens beleumundeten Debüt «Take<br />

Me Apart» nun endlich draussen ist,<br />

kombiniert die sich als queer identifizierende<br />

Künstlerin sinnlichen<br />

Retro-R’n‘B im Stil Janet Jacksons mit<br />

cluborientierten Beats und klugen,<br />

samtstimmlich vorgetragenen Worten<br />

über Liebe, Sex, Religion, Rassismus<br />

und Rebellion. Sie kam als Kind<br />

äthiopischer Einwanderereltern in<br />

Washington D.C. zur Welt und lebt<br />

heute in New York.<br />

Hör und schau dir hier die Songs<br />

vom neuen Album «Raven» an:<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

53


Musik<br />

Neue<br />

Musik<br />

LIE NING<br />

utopia<br />

Als kreatives Multitalent mit<br />

samtiger Falsettstimme versteht<br />

es Lie Ning, sich und seine düster<br />

schillernden Disco-Soul-Sounds<br />

gekonnt in Szene zu setzen. «utopia»<br />

ist der erste Longplayer des<br />

Mittzwanzigers. Bei der Produktion<br />

setzte er bewusst auf die Hilfe<br />

eines Teams aus queeren schwarzen<br />

und FLINTA*-Personen, um<br />

ein Gegengewicht zu dem von<br />

weissen cis Männern dominierten<br />

Popbusiness zu schaffen. Stilistisch<br />

erinnert die Platte gleichermassen<br />

an Werke Anohnis, Years &<br />

Years‘ und Woodkids.<br />

Erscheint am 14.4.<strong>2023</strong><br />

(Humming Records)<br />

Yves Tumor<br />

Praise A Lord Who Chews But Which Does Not<br />

Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds)<br />

*Die Abkürzung FLINTA steht für Frauen,<br />

Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre,<br />

trans und agender Personen<br />

Yves Tumor hat einiges zu sagen,<br />

wie schon der ausgedehnte Titel<br />

deren* fünften Studioalbums andeutet.<br />

Dabei sind die Botschaften<br />

des extrovertierten nicht-binären<br />

Popstars, der bereits im<br />

Vorprogramm von Florence + The<br />

Machine spielte, alles andere als<br />

plakativ oder oberflächlich. Schonungslos<br />

wirft Sean Bowie, wie<br />

Yves Tumor mit bürgerlichem Namen<br />

heisst, einen Blick auf eine<br />

von Hass, Intoleranz und Rassismus<br />

geprägte Gesellschaft. Ihr<br />

mahnend gegenüber stellt dey<br />

eine Rock-Platte, die mit jedem<br />

Klischee bricht, das man von einer<br />

eben solchen erwarten würde.<br />

Zwar sind Schlagzeug, E-Gitarren<br />

und Bowies rotziger Gesang die<br />

vordergründigen Ton- und Takt-<br />

Geber, doch wird die resultierende<br />

Härte durch ein Potpourri aus<br />

psychedelischen Harmonien, Hip-<br />

Hop-Einflüssen sowie orchestral<br />

aufgepeppten Instrumentierungen<br />

durchbrochen. «Praise A<br />

Lord . . . » präsentiert sich als Genregrenzen<br />

sprengendes Avant-<br />

Garde-Meisterstück. Mehr queere<br />

Power und Grandezza hat man<br />

lange nicht zu hören bekommen!<br />

Erschienen am 3.3.<strong>2023</strong><br />

(WARP Records/Rough Trade)<br />

*dey/denen/deren: Pronomen für nicht-binäre Menschen, die<br />

weder mit «er» noch «sie» bezeichnet werden möchten.<br />

Redaktion<br />

Martin Busse<br />

Can’t Get<br />

It Out Of<br />

My Head<br />

Playlist<br />

Eine exquisite Auslese<br />

von aktuellen<br />

Ohrwürmern findest<br />

du in unserer<br />

MANNS<strong>CH</strong>AFT-<br />

Playlist:<br />

54 Frühling <strong>2023</strong>


Musik<br />

Fever Ray<br />

Radical Romantics<br />

Karin Dreijer hat den Rotstift angesetzt<br />

und malt bewusst über den Rand. Den<br />

Rand dessen, was im Allgemeinen<br />

unter schön oder hässlich verstanden<br />

wird. Ihr Alias Fever Ray steht optisch<br />

wie akustisch für eine geschlechtsneutrale<br />

Bizarrerie. Schrullig, jedoch<br />

eingängig und tanzbar wirkt auch<br />

das, was sie auf «Radical Romantics»<br />

zusammengeschustert hat. Unterstützung<br />

gab es dabei erstmals wieder von<br />

ihrem Bruder Olof, mit dem sie einst<br />

das Erfolgsduo The Knife bildete.<br />

Erschienen am 10.3.<strong>2023</strong><br />

(Republic/Universal Music)<br />

Everything But The Girl<br />

Fuse<br />

Wer, wenn nicht Tracey Thorn und Ben<br />

Watt, sind prädestiniert dafür, sich<br />

dem aktuellen Nineties-Rival anzuschliessen?<br />

Beziehungsweise es mit<br />

Authentizität zu unterfüttern, war es<br />

schliesslich ihr Projekt Everything But<br />

The Girl, das der Drum’n’Bass- sowie<br />

Deep-House-Bewegung einst einen<br />

energetischen Anschub lieferte. «Fuse»<br />

ist das erste Album des Ehepaars seit<br />

24 Jahren und eine beeindruckende<br />

Reminiszenz an die Clubmusik der<br />

Vergangenheit, die eine Liaison mit Soul<br />

und Downtempo-Impulsen wagt.<br />

Erscheint am 21.4.<strong>2023</strong> (Buzzin‘ Fly<br />

Records/Virgin Music)<br />

Becky<br />

Tossing and Turning (EP)<br />

Dragqueens sind laut und schrill, dringt<br />

es aus der mit Stereotypien beladenen<br />

Schublade. Dass dem ganz und gar nicht<br />

so sein muss, beweist die aufstrebende<br />

Berliner Underground-Songwriterin Becky.<br />

Ihre Debüt-EP ist rau und nachdenklich.<br />

Gespickt mit englischen und deutschen<br />

Lyrics, beherrscht von progressiven<br />

Melodien und wenig Schnickschnack.<br />

Ein Spiegel für das originelle Wesen, das<br />

hinter dem Make-up steckt und das mit<br />

Indierock deutlich mehr anfangen kann als<br />

mit seelenlosem Bubble-Pop.<br />

Erschienen am 27.1.<strong>2023</strong> (self-released)<br />

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Story — 4<br />

4<br />

Der<br />

trans<br />

Tag<br />

56 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 4<br />

Text – Julia Monro<br />

Am 31. März feiern<br />

trans Menschen weltweit<br />

den Transgender<br />

Day of Visibility, damit<br />

sie gesehen werden,<br />

nicht übersehen. Wir<br />

haben bei vier Vereinen<br />

nachgefragt, einer<br />

«Miss Germany»-Teilnehmerin,<br />

einer RTL-<br />

Dschungelcamperin,<br />

einer Aktivistin, einem<br />

Autor und zwei Politikern,<br />

was ihnen der<br />

Tag bedeutet.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

57


Story — 4<br />

Heute sind es Millionen Menschen weltweit. Für<br />

trans Personen ist dieser Tag kaum noch wegzudenken.<br />

Sie führen eigene Veranstaltungen durch,<br />

organisieren politische Debatten, hissen Fahnen an<br />

Rathäusern und laufen fahnenschwenkend in Pink,<br />

Blau und Weiss durch die Strassen. So als wollten sie<br />

der ganzen Welt zeigen «Wir sind hier. Wir sind viele.»<br />

Vor allem aber ist es ein Signal an andere trans<br />

Personen: «DU bist nicht alleine!» Sie demonstrieren<br />

für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Dass niemand<br />

für sich allein diesen Weg gehen muss. Die Community<br />

ist ein Ort, wo man Kraft tanken kann.<br />

58 Frühling <strong>2023</strong><br />

ehen und gesehen werden. Das sind Grundbedürfnisse<br />

des Menschen. Wir alle streben danach zu sehen<br />

und gesehen zu werden, weil wir uns so mit anderen<br />

Menschen verbinden können. Weil wir so die Möglichkeit<br />

bekommen dazuzugehören.<br />

Trans Personen werden häufig übersehen. Sie ringen<br />

um Teilhabe, erkämpfen sich Privilegien. Ihre<br />

Sichtbarkeit ist nicht selbstverständlich. Es handelt<br />

sich nach einer Studie des Williams Institute in den<br />

USA um eine Minderheit von rund 0,6 % der Bevölkerung.<br />

Eine so verschwindend geringe Gruppe wird<br />

leicht übersehen und leicht vergessen. Um dem entgegenzuwirken,<br />

feiern trans Personen jedes Jahr am<br />

31. März weltweit den Tag der Sichbarkeit. Den Transgender<br />

Day of Visibility.<br />

Nicht die Toten bedauern, sich an<br />

den Lebenden freuen<br />

Seine Geschichte beginnt am 26. März 2009 in Michigan.<br />

Die trans Aktivistin Rachel Crandall kämpft<br />

für die Sichtbarkeit von trans Menschen innerhalb<br />

der damaligen LGBTIQ-Community. Weil es bis dahin<br />

nur einen traurigen Tag für trans Personen gegeben<br />

hat: den sogenannten TDoR, den Trans Day of<br />

Remembrance, welcher jährlich im November an die<br />

Todesopfer von transfeindlicher Gewalt erinnern soll.<br />

Rachel ist nach diesem Gedenktag oft wochenlang deprimiert<br />

und wünscht sich einen positiven Gegenpol.<br />

Sie möchte nicht mehr die Toten betrauern, sie möchte<br />

sich an den Lebenden erfreuen, sie zelebrieren und ihnen<br />

eine Stimme verleihen.<br />

Im März 2009 ergreift Rachel schliesslich selbst die<br />

Initiative. Bei Facebook startet sie einen Aufruf und<br />

verschickt ihre Idee rund um den Globus. Sie ermutigt<br />

andere dazu sich in ihren Städten zu zeigen. Sie sollen<br />

auf die Strassen gehen und Festlichkeiten abhalten.<br />

Sie selbst organisiert eine Veranstaltung etwas ausserhalb<br />

von Detroit. Sie weiss nicht, ob jemand kommen<br />

wird, um ihrem Aufruf zu folgen oder eine eigene<br />

Veranstaltung zu organisieren. Vielleicht. Vielleicht<br />

aber auch nicht? Doch viele Menschen folgen ihrem<br />

Aufruf. Seitdem verbreitet sich dieser Feiertag in der<br />

ganzen Welt und stärkt von Jahr zu Jahr die mutige<br />

trans Community.<br />

Warum es diesen Tag braucht<br />

Doch im Fokus dieser Sichtbarkeit steht die Sensibilisierung<br />

– oftmals geht das nicht ohne den traurigen<br />

Bezug dazu, warum es diesen Tag braucht. Deshalb<br />

wollen sie sensibilisieren und aufmerksam machen<br />

auf ihre Situation. Darauf, wie Politik und Gesellschaft<br />

mit ihnen umgehen. Noch immer werden trans<br />

Personen Opfer von Gewalt. Im vergangenen Jahr<br />

wurden 327 getötete trans Personen gemeldet. 95 %<br />

der Opfer waren trans weiblich. 65 % waren trans Personen<br />

of Color. 48 % waren in der Sexarbeit tätig. Und<br />

hier ist lediglich von den Zahlen die Rede, die offiziell<br />

erfasst wurden. Die Dunkelziffern mag man sich gar<br />

nicht vorstellen.<br />

Organisationen und trans Aktivist*innen machen<br />

sich deshalb stark. Mit mahnenden Worten erinnern<br />

sie am TDoV daran, wie ihre Lebensrealität aussieht,<br />

und machen auf Missstände aufmerksam. Vier national<br />

tätige Vereine beschreiben die Bedeutung dieses<br />

Feiertages. Der Queerbeauftragte der deutschen Bundesregierung<br />

und fünf trans Personen erzählen von<br />

ihren persönlichen Erfahrungen und Wünschen. Das<br />

Thema Sichtbarkeit bewegt sie alle.<br />

In Deutschland ist die Schreibweise «trans*» geläufig. MANNS<strong>CH</strong>AFT<br />

orientiert sich bei der Schreibweise von «trans» an dem Medienguide von<br />

Transgender Network Switzerland, so auch im hier vorliegenden Artikel.<br />

Bild: Sophia Emmerich


Story — 4<br />

«Transsein ist weder Hype<br />

noch Trend, sondern schlicht<br />

und einfach die Wirklichkeit<br />

einiger Menschen.»<br />

Henri Maximilian Jakobs<br />

ist Musiker und Autor in<br />

Deutschland.<br />

Für ihn ist der Transgender Day<br />

of Visibility «wichtig, um Sichtbarkeit<br />

zu bündeln, sie dadurch<br />

eindrücklicher zu machen und ihr<br />

Reichweite zu verleihen. Manchmal<br />

muss man der Gesellschaft<br />

unsere Realität ein bisschen unter<br />

die Nase reiben, um sie bei ihr ankommen<br />

zu lassen. Transsein ist<br />

weder Hype noch Trend, sondern<br />

schlicht und einfach die Wirklichkeit<br />

einiger Menschen.»<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

59


Story — 4<br />

«Gebt nicht auf, sucht euch<br />

Verbündete und besteht auf<br />

euer Recht, sicher zu leben.»<br />

Sven Lehmann ist der erste Queerbeauftragte der deutschen<br />

Bundesregierung und macht sich für die Abschaffung des<br />

veralteten Transsexuellengesetzes (TSG) stark, um es durch<br />

ein modernes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen.<br />

«Generell gibt es in den letzten Jahren eine zunehmende Sichtbarkeit<br />

von trans Personen und zu Recht fordern sie etwa in der<br />

Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz Respekt, Anerkennung<br />

und Teilhabe ein. Diese Sichtbarkeit kann zum einen andere<br />

trans Personen empowern und ermutigen, zum anderen auch<br />

cisgeschlechtliche Menschen zu Alliierten machen und dazu<br />

beitragen, dass die Welt transfreundlicher wird.<br />

Transfeindliche Menschen negieren oft die Existenz von trans<br />

Menschen oder verweigern ihnen eine Anerkennung als gleichwertig.<br />

Es geht ihnen gerade darum, dass trans Menschen unsichtbar<br />

bleiben, um vorherrschende Geschlechternormen aufrechtzuerhalten<br />

und gewaltsam durchzusetzen. Wenn dann etwa<br />

der Status quo in Frage gestellt wird, sie Widerspruch erfahren<br />

und die Deutungshoheit zu verlieren drohen, fühlen sie sich provoziert<br />

und ihre Transfeindlichkeit entlädt sich. Die Konsequenz<br />

daraus darf doch aber nicht sein, dass trans Menschen deshalb<br />

auf ein offenes Leben und eine gleichberechtigte Teilhabe<br />

verzichten. Denn klar ist auch: Unsichtbarkeit und Verstecken<br />

machen krank und garantieren auch keinen Schutz vor Diskriminierung<br />

und Gewalt.<br />

Als Queer-Beauftragtem der Bundesregierung geht es mir um<br />

echte Wertschätzung von transgeschlechtlichem Leben als<br />

selbstverständlichem Teil unserer vielfältigen Gesellschaft. Hört<br />

nicht auf diejenigen, die euch einreden wollen, dass ihr falsch<br />

seid oder weniger wert, dass ihr euch schämen oder verstecken<br />

solltet. Gebt nicht auf, sucht euch Verbündete und besteht auf<br />

euer Recht, offen, sicher und angstfrei zu leben. Ich und viele<br />

andere stehen an eurer Seite.»<br />

Bild: Cornelis Gollhardt<br />

60 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 4<br />

«Wenn ich im Raum bin,<br />

kann niemand das<br />

Thema geschlechtliche<br />

Vielfalt ignorieren.»<br />

Adrian Hector ist der erste offen lebende<br />

trans Mann in einem deutschen Landesparlament<br />

in Hamburg.<br />

Bild: Holger Edmeier<br />

«Mir ist es als Abgeordneter wichtig auch<br />

als trans Mann sichtbar zu sein, weil ich so<br />

im Parlament besser für die Rechte von trans<br />

Menschen kämpfen kann. Wenn ich mit im<br />

Raum bin, kann niemand mehr das Thema<br />

geschlechtliche Vielfalt ignorieren.»<br />

«Ich wünsche mir, dass alle trans<br />

Personen ein selbstverständlicher<br />

Teil der Gesellschaft werden.»<br />

Jolina Mennen ist Influencerin und war zuletzt<br />

im RTL-Dschungelcamp.<br />

«Eigentlich geht es uns ja gar nicht um Sichtbarkeit, sondern wir<br />

möchten einfach nur in unserer Geschlechtsidentität ankommen.<br />

Dadurch werden wir automatisch in der Gesellschaft sichtbarer.<br />

Ich denke, die wenigsten von uns wollen als Paradiesvögel wahrgenommen<br />

werden, die ständig auffallen. Stattdessen brauchen<br />

wir Plattformen, wo wir für unsere Rechte einstehen können.<br />

Ich nutze meine Reichweite, um über meine persönlichen Erfahrungen<br />

zu sprechen. Dabei ist mir immer wichtig zu betonen,<br />

dass es sich um meinen eigenen persönlichen Weg handelt, der<br />

bei anderen trans Personen völlig anders aussehen kann. Ich<br />

hoffe dadurch als positives Beispiel dienen zu können, was es bedeuten<br />

kann, trans zu sein, aber nicht zwingend für alle bedeuten<br />

muss.<br />

Dabei finde ich es immer schön Rückmeldungen von anderen<br />

trans Personen zu bekommen, dass ich sie mit meiner Sichtbarkeit<br />

bestärken und ihnen Hoffnung geben konnte. Anderen Menschen<br />

einen Teil der Kraft für die eigene Transition zu liefern, ist für mich<br />

ein Gefühl grosser Anerkennung. Wir sind aber gesellschaftlich<br />

einfach noch nicht so weit, dass ich meine Vergangenheit einfach<br />

hinter mir lassen könnte. Privat erwähne ich gar nicht erst, dass<br />

ich trans bin. Aber als Person in der Öffentlichkeit muss ich immer<br />

wieder in den sauren Apfel beissen und sagen, dass trans in<br />

meinem Leben eine Rolle spielt. Da wünsche ich mir einfach, dass<br />

alle trans Personen irgendwann ein selbstverständlicher Teil der<br />

Gesellschaft sein können, ohne auf trans reduziert zu werden.<br />

Bild: ALL IN / Nina Schmiedel<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

61


Story — 4<br />

Vier Organisationen<br />

über den TDoV<br />

Transgender Network Switzerland<br />

(TGNS) ist eine kleine Organisation,<br />

die schweizweit überwiegend<br />

ehrenamtlich tätig ist. In der<br />

Schweiz leistet sie ihren Beitrag zur<br />

Sichtbarkeit von trans Personen.<br />

«Tag für Tag müssen wir unsere Existenz rechtfertigen.<br />

Wir werden bedroht und sind massiver Gewalt ausgesetzt.<br />

Wir werden getötet, weil wir trans sind, wie leider<br />

das jüngste Beispiel von der ermordeten Brianna Ghey<br />

in England zeigt. Der Transgender Day of Visibility<br />

wird so lange wichtig sein, bis solche Dinge nicht mehr<br />

geschehen.<br />

Gerade in der Schweiz liegt noch viel Arbeit vor uns. Vor<br />

kurzem hat sich unsere Regierung gegen die Einführung<br />

einer dritten Geschlechtsoption in amtlichen Dokumenten<br />

ausgesprochen und verweigert damit vielen nichtbinären<br />

trans Personen die Anerkennung mit der Begründung,<br />

die Schweiz sei noch nicht so weit. Die Sichtbarkeit<br />

von trans Personen zeigt, dass wir existieren und dass wir<br />

das Recht auf die Anerkennung unserer Existenz haben.<br />

Staatlich und gesellschaftlich. Und dazu kann der TDoV<br />

beitragen. Leider ist der TDoV in der Schweiz nicht sehr<br />

bekannt und ausserhalb der Community kaum sichtbar.»<br />

TransX kümmert sich um trans<br />

Menschen in Österreich und<br />

bemüht sich um Awareness in<br />

Gesellschaft und Politik:<br />

«Das Thema trans wird heute viel diskutiert. Überwiegend<br />

von Menschen, die selbst nicht betroffen sind. Zu oft sind<br />

sie uninformiert, unbedacht und oft auch transfeindlich.<br />

Viele gehen aktiv gegen uns als kleine marginalisierte<br />

Gruppe vor, um uns weiter zu traumatisieren, zu diskriminieren<br />

und herabzuwürdigen. Zu oft erfolgreich mit einem<br />

medialen Echo. Wir wünschen uns mehr Sensibilisierung<br />

in den Medien, so dass sachgerecht mit uns und über<br />

uns gesprochen wird.»<br />

Die Deutsche Gesellschaft für<br />

Transidentität und Intersexualität<br />

e.V. (dgti) setzt sich seit 1998 für<br />

Akzeptanz in allen Bereichen ein.<br />

«Den Transgender Day of Visibility finden wir sehr wichtig,<br />

auch weil die Sicht der Medien auf Menschen wie<br />

uns zunehmend von Widerstand gegen Selbstbestimmung<br />

bestimmt wird. Mit grosser Sorge beobachten wir<br />

die Verbreitung von Desinformationen im Bereich der<br />

Gesundheitsversorgung, sowie Hetze in den Medien.<br />

Alles zusammen verschärft die strukturelle Benachteiligung<br />

von trans Menschen. Mehr Sichtbarkeit hat auch<br />

mehr Widerstand zur Folge. Aber das spornt uns nur<br />

noch weiter an.»<br />

Der Bundesverband Trans* (BVT*)<br />

wurde 2015 als Zusammenschluss<br />

von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinen<br />

und Initiativen auf Regional-,<br />

Landes- und Bundesebene gegründet.<br />

«Unser gemeinsames Bestreben ist der Einsatz für geschlechtliche<br />

Selbstbestimmung und Vielfalt. Der BVT*<br />

engagiert sich für die Menschenrechte im Sinne von Respekt,<br />

Anerkennung, Gleichberechtigung, gesellschaftlicher<br />

Teilhabe und Gesundheit von trans* bzw. nicht im<br />

binären Geschlechtersystem verorteten Personen.<br />

Der Trans Day of Visibility ist ein Feiertag für die trans<br />

Communities. Es ist ein Tag, an dem wir Aufmerksamkeit<br />

auf trans und nicht-binäre Personen richten und diese<br />

feiern. Gleichzeitig schwingt bei der Freude über mehr<br />

Sichtbarkeit auch immer eine bittere Note mit. Denn<br />

Sichtbarkeit ist gerade für trans Frauen und trans-feminine<br />

Personen auch eine Gefahr, insbesondere, wenn sie<br />

Rassismus erfahren oder Sexarbeiter*innen sind. <strong>2023</strong><br />

ist Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt immer<br />

noch Teil des Alltags zu vieler trans Personen. Das können<br />

wir nicht akzeptieren. Das muss sich ändern.»<br />

62 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 4<br />

«Als cis Person gibt es keine<br />

Möglichkeit, neutral zu sein.»<br />

Auch für junge trans Personen hat der Tag eine<br />

grosse Bedeutung. Emma Kohler engagiert sich<br />

schon in ihrer Jugend für die Rechte junger trans<br />

Personen in Deutschland.<br />

In einer Petition im Jahr 2021 forderte die damals<br />

17-Jährige die Abschaffung des veralteten TSG, weil<br />

sie sich ein selbstbestimmtes Leben wünscht. Fast<br />

90 000 Menschen haben sich mit ihrer Unterschrift an<br />

der Petition beteiligt.<br />

Heute sagt Emma: «Für uns trans Jugendliche ist<br />

Sichtbarkeit besonders wichtig. Während alles, was<br />

wir wollen, ein diskriminierungsfreies, normales Leben<br />

ist, bekommen wir in den Medien, in der Schule und<br />

im Privaten nichts als Transfeindlichkeit ab. Und hier<br />

gibt es als cis Person keine Möglichkeit, neutral zu<br />

bleiben: Entweder akzeptiert man diese Diskriminierung,<br />

oder man steht auf unserer Seite und kämpft<br />

dagegen an.»<br />

Bild: Emma Kohler<br />

«Ich glaube, dass wir nur durch<br />

Aufklärung und Konfrontation ans<br />

Ziel kommen.»<br />

Saskia von Bargen war trans Teilnehmerin bei<br />

der Wahl zur Miss Germany.<br />

Bild: Melina Hehemeyer<br />

Für mich bedeutet dieser Tag, sich sichtbar zu<br />

machen für sein Umfeld, und seinen Mitmenschen<br />

zu zeigen, was für eine Ungerechtigkeit noch in<br />

dieser Welt existiert. Sei es in der Bürokratie oder<br />

in der Gesellschaft. Diese Sichtbarkeit versuche<br />

ich dauerhaft zu erzeugen, da ich daran glaube,<br />

dass wir nur durch Aufklärung und Konfrontation<br />

an unser Ziel kommen, damit Transgeschlechtlichkeit<br />

kein Thema mehr in der Gesellschaft ist und<br />

mit allen Vorurteilen aufgeräumt wird. Das wollte<br />

ich durch meine Teilnahme an der Wahl zur Miss<br />

Germany erreichen. Wie können wir das in der Zukunft<br />

schaffen? Wir müssen die Menschen in ihrem<br />

direkten Umfeld, sei es in der Schule oder bei der<br />

Arbeit, abholen und direkt über das Thema LGBTIQ<br />

sprechen, denn wir sind nun mal in einem Zeitalter,<br />

in dem wir jeden Tag mit dem Thema konfrontiert<br />

werden, ob in den Medien oder im direkten Umfeld.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

63


Interview<br />

Bild: Jason Mendez/Getty Images for Universal Pictures<br />

Bunte Kinofamilie:<br />

Jonathan Groff (links)<br />

mit Ben Aldridge und<br />

Kristen Cui.<br />

64 Frühling <strong>2023</strong>


Interview<br />

«Hollywood<br />

steckt Leute<br />

gerne in<br />

Schubladen»<br />

Im neuen Thriller «Knock at the Cabin» von M. Night Shyamalan spielen<br />

Jonathan Groff und Ben Aldridge eine Regenbogenfamilie, die in einer<br />

Hütte im Wald bedroht wird. Im Interview mit MANNS<strong>CH</strong>AFT sprechen die<br />

beiden über queere Repräsentation in Hollywoodfilmen.<br />

Interview – Patrick Heidmann<br />

Ben, Jonathan, der Regisseur M. Night Shyamalan, gehört seit<br />

über 20 Jahren zu den erfolgreichsten der Welt. Ist sein Name<br />

allein Anreiz genug für ein Projekt zuzusagen?<br />

Aldridge: Als die erste E-Mail zu «Knock at the Cabin» kam, war<br />

ich kurz genervt. Denn das war eine Aufforderung zum E-Casting,<br />

sprich: Ich sollte ein Video von mir selbst beim Vorsprechen<br />

machen. Das ist immer etwas, was ich eher anstrengend und nervig<br />

finde. Doch dann las ich den Namen M. Night Shyamalan –<br />

und war sofort wieder versöhnt. Für einen Filmemacher wie ihn<br />

würde man ja noch ganz andere Sachen auf sich nehmen. Ausserdem<br />

war ich neugierig, denn wie bei einem solchen Film wohl<br />

üblich, bekamen wir nicht das ganze Drehbuch, sondern nur ein<br />

paar Seiten, in denen es darum ging, dass einige Leute ständig auf<br />

ihre Uhr gucken. Aber es gab da auch ein schwules Paar, das über<br />

Adoption sprach. Auch als ich zweimal längere Zoom-Gespräche<br />

mit ihm führte, erfuhr ich nicht viel mehr. Irgendwann rief er<br />

dann an und sagte, dass er mich gerne für die Rolle haben würde.<br />

Ich hatte 24 Stunden Zeit, endlich das ganze Skript zu lesen und<br />

mich zu entscheiden. Das hat mich richtig nervös gemacht. Aber<br />

natürlich musste ich nicht lange nachdenken, schliesslich bin ich<br />

schon lange Fan seiner Filme und fand die Aussicht, mit ihm zu<br />

drehen, absolut aufregend.<br />

Groff: Für mich war hier auch der Name Shyamalan die grosse Attraktion.<br />

Als grosser Kinofan liebe ich es, wenn die Regieperson<br />

letztlich der Star eines Films ist und eine eigene Handschrift oder<br />

Markenzeichen hat. Schliesslich verbringt man beim Drehen als<br />

Schauspieler ja viel Zeit in ihrem Kopf. Bei Night war ich mir –<br />

ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben – sicher, dass das eine<br />

einmalige, faszinierende Erfahrung werden würde. Und was soll<br />

ich sagen: Er hat mich kein bisschen enttäuscht.<br />

Ben, dir ist ins Auge gestochen, dass hier ein schwules Paar<br />

im Zentrum der Geschichte steht. Wie wichtig war dir das an<br />

«Knock at the Cabin»?<br />

Aldridge: Das ist schon der Punkt gewesen, den ich beim Projekt<br />

besonders aufregend fand. Ich habe ja erst mit meinem Coming-out<br />

vor drei Jahren verstärkt angefangen, queere Figuren<br />

zu spielen, und bin immer noch ganz begeistert davon, dass diese<br />

nochmal eine ganz andere Facette in meiner Arbeit hervorbringen.<br />

Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ich zu diesen Figuren<br />

doch oft eine leicht andere Nähe empfinde und in ihnen ein klein<br />

wenig mehr von mir selbst teile. In meinen Zwanzigern war die<br />

Schauspielerei auch eine Flucht. Ich habe es geliebt, mich auf Rollen<br />

zu stürzen, die ganz weit weg von mir waren und die ich mir<br />

deswegen richtig hart erarbeiten musste. Das mag ich heute noch,<br />

aber es ist auch wundervoll, nun solche zu spielen, zu denen ich<br />

einen authentischeren emotionalen Bezug habe.<br />

Wie war es für dich, Jonathan?<br />

Groff: Ich fand es auch unglaublich besonders, dass in einem Film<br />

von M. Night Shyamalan ein schwules Paar im Mittepunkt der<br />

Geschichte steht. Es ist noch nicht so lange her, dass ich so etwas<br />

für kaum vorstellbar hielt. Als ich mich 2009 mit 24 Jahren<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

65


Interview<br />

Im Thriller spielen Jonathan Groff und Ben Aldridge zwei schwule Väter, die in einem Häuschen im Nirgendwo überfallen werden.<br />

outete, hielt ich es für ziemlich aussichtslos, jemals in Filmen mitzuspielen.<br />

Broadway klar, aber Hollywood? Das war noch einmal<br />

eine ganz andere Sache. Und damals gab es ja noch nicht einmal<br />

die Ehe für alle. Rund 15 Jahre später nun ein verheiratetes gleichgeschlechtliches<br />

Paar samt Tochter in einer solchen kommerziellen<br />

Mainstreamproduktion zu sehen, ist doch einfach nur bemerkenswert!<br />

Daran teilhaben zu dürfen, empfinde ich als grosses<br />

Privileg.<br />

Interessanterweise spielt die Queerness der Figuren dann<br />

aber weder in der Geschichte des Films noch in seiner Marketingkampagne<br />

eine allzu grosse Rolle . . .<br />

Aldridge: Das gefiel mir besonders gut. Für die Geschichte ist es<br />

bloss relevant, dass es um eine sich liebende Kleinfamilie geht.<br />

Dass es nun zwei Väter und ihre Adoptivtochter sind, ist tatsächlich<br />

Nebensache. Das zeigt, wie universell die Themen Liebe und<br />

Familie sind, ohne dass in diesem Fall das queere Narrativ komplett<br />

ausgeblendet wird. Wir sehen durchaus, mit welchen sehr<br />

spezifischen Konflikten diese Männer es zu tun haben, von einem<br />

Coming-out gegenüber den Eltern bis hin zu homophober Gewalt.<br />

Doch wie das hier in einem allgemein zugänglichen Mainstream-Kontext<br />

dargestellt wird, finde ich schon ausgesprochen<br />

gelungen und progressiv.<br />

Habt ihr beide versucht, gezielt familien-ähnliche Bande zu<br />

knüpfen, um die Beziehung eurer Figuren besonders glaubwürdig<br />

darstellen zu können?<br />

Groff: Zum Glück haben wir gleich auf Anhieb gemerkt, dass die<br />

Chemie zwischen uns stimmt, und die kann man ja nicht einfach<br />

künstlich erzeugen. Wir fingen sofort an, zu quatschen –<br />

und haben damit bis heute nicht wirklich aufgehört (lacht). Bei<br />

den Dreharbeiten haben wir dann gleich in der ersten Woche<br />

66 Frühling <strong>2023</strong>


Interview<br />

«Im Publikum wird<br />

es viele geben, die noch<br />

nie eine Regenbogenfamilie<br />

dieser Art gesehen<br />

haben.» Ben Aldridge<br />

Bilder: <strong>2023</strong> Universal Studios<br />

alle Rückblenden gedreht, die die Vergangenheit dieses Paares<br />

zeigen. Das fand ich hilfreich, denn so steckten wir nicht gleich<br />

von Beginn an in dieser Extremsituation in der Hütte im Wald.<br />

Dann stiess die kleine Kristen zu uns, die unsere achtjährige<br />

Tochter spielt. Mit ihr haben wir möglichst viel Zeit verbracht<br />

– auch wenn die Kamera nicht lief –, damit echtes Vertrauen<br />

zwischen uns entstehen konnte. Ben war mit ihr Schlittschuhlaufen,<br />

wir haben zusammen «Just Dance» auf der Playstation<br />

gespielt . . . solche Dinge eben. Der Liebe und Verbundenheit,<br />

die zwischen unseren Figuren herrscht, waren wir uns und auch<br />

Night sich immer sehr bewusst, deswegen verloren wir das nie<br />

aus den Augen.<br />

Hofft ihr, dass das Publikum von «Knock at the Cabin» sich<br />

am Ende nicht nur gruselt, sondern vielleicht auch noch etwas<br />

anderes mitnimmt?<br />

«Knock at<br />

the Cabin»<br />

Ausgerechnet M. Night Shyamalan,<br />

der Mann hinter Welterfolgen wie<br />

«The Sixth Sense», «Signs» oder<br />

«Split», hat mit «Knock at the Cabin»<br />

(aktuell im Kino) den ersten grossen<br />

Mainstream-Psychohorror vorgelegt,<br />

in dessen Zentrum ein schwules Paar<br />

samt Adoptivtochter steht. Dass ihm<br />

das überzeugend gelingt, verdankt<br />

sich neben seinem Talent als Regisseur<br />

auch den beiden Hauptdarstellern.<br />

Shyamalan konnte für<br />

seinen Film der erfolgreichsten offen<br />

queeren Schauspieler dieser Tage<br />

gewinnen: den Amerikaner Jonathan<br />

Groff, der nach Broadway-Erfolgen<br />

und Serien wie «Looking» und «Mindhunter»<br />

zuletzt Gastauftritte in «And<br />

Just Like That» oder «Life & Beth»<br />

hatte, sowie den Briten Ben Aldridge,<br />

der jüngst Hauptrollen in den Serien<br />

«Pennyworth» und «The Long Call»<br />

spielte und demnächst im Film «Spoiler<br />

Alert» zu sehen ist.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

67


Interview<br />

Bild: <strong>2023</strong> Universal Studios<br />

Regisseur M. Night Shyamalan gab Ben Aldridge 24 Stunden Zeit, um das Drehbuch zu lesen und für die Rolle zuzusagen.<br />

Aldridge: Das ist natürlich die spannende Frage! Nights Filme<br />

werden ja wirklich nicht nur von sehr vielen, sondern auch sehr<br />

unterschiedlichen Menschen gesehen, und da wird es viele geben,<br />

die noch nie eine Regenbogenfamilie dieser Art gesehen haben.<br />

Ich würde mir natürlich wünschen, dass der eine oder die andere<br />

dadurch vielleicht einen neuen Blick auf das Thema bekommt<br />

oder ein paar Vorurteile über Bord wirft. Es ist sicherlich nicht<br />

das Ziel des Films, voreingenommene Menschen zum Umdenken<br />

zu bringen, aber wenn das nebenbei passiert, wäre das doch famos.<br />

Davon abgesehen denke ich, dass es auch für unsere Community<br />

selbst toll ist, diese Figuren auf der Leinwand zu sehen.<br />

Queerness in einem Film dieser Art so prominent repräsentiert<br />

zu sehen, hat ja etwas sehr Bestärkendes und Mutmachendes. Ich<br />

zumindest empfinde das als echtes Zeichen von Fortschritt.<br />

Für dich ist «Knock at the Cabin» auch Teil eines ganz neuen<br />

Karriereabschnitts, zu dem auch der Film «Spoiler Alarm»<br />

gehört, der im Mai in die Kinos kommt. Die Zeiten, in denen die<br />

meisten dich als Arschlochtyp aus «Fleabag» kennen, sind<br />

langsam vorbei, oder?<br />

Aldridge: Meinetwegen dürfen die Leute bei meinem Anblick ein<br />

Leben lang an den Arschloch-Typ denken. Ich bin den nie leid gewesen,<br />

sondern im Gegenteil bis heute unglaublich stolz darauf,<br />

ein kleiner Teil dieser fantastischen Serie gewesen zu sein. Phoebe<br />

Waller-Bridge ist eine der witzigsten, smartesten Personen unserer<br />

Branche, und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir damals<br />

diese Rolle gegeben hat. Aber ich freue mich natürlich auch wirklich<br />

sehr, dass ich in letzter Zeit an so vielen spannenden, höchst<br />

verschiedenen Projekte teilhaben durfte und sogar grosse, noch<br />

dazu schwule Kinorollen spielen konnte. Ich geniesse meinen Job<br />

gerade sehr und freue mich nicht zuletzt, wie vielfältig und divers<br />

die Geschichten inzwischen sind, die in Film und Fernsehen<br />

erzählt werden.<br />

Jonathan, du hast schon lange viele queere Figuren gespielt,<br />

von «The Normal Heart» bis «Looking». Aber dann gab es eben<br />

auch Rollen wie den Protagonisten in der Serie «Mindhunter»<br />

oder den Animationserfolg «Frozen». Sorge, in einer Schublade<br />

für LGBTIQ-Projekte festzustecken, hattest du nie?<br />

Groff: Tatsächlich hatte ich nie den Eindruck, auf irgendetwas<br />

festgelegt zu sein. Aber die Gefahr droht als Schauspieler immer,<br />

nicht nur als schwuler. Hollywood steckt Leute gerne in Schubladen,<br />

gerade wenn man mit einer bestimmten Sache bekannt<br />

wurde. Als Broadwaydarsteller muss man dann beweisen, dass<br />

man mehr kann als Musicals, als Komiker, dass man auch ernste<br />

Rollen spielen kann. Wir alle haben es aber letztlich selbst in der<br />

Hand zu beweisen, wie vielseitig wir sind. Und wir alle müssen<br />

uns deswegen immer wieder darum bemühen, so spannende und<br />

facettenreiche Rollen wie möglich zu finden.<br />

68 Frühling <strong>2023</strong>


Musik<br />

Bild: Lucas Coersten<br />

Fragen<br />

an Bi Your<br />

Side<br />

Anna Ruhland und Jan<br />

Willems haben zusammen<br />

den Podcast «Bi<br />

Your Side» ins Leben<br />

gerufen, um den bisexuellen<br />

Identitäten<br />

mehr Sichtbarkeit zu<br />

verschaffen.<br />

«Das B in LGBTIQ wird<br />

gerne vergessen»<br />

Anna und Jan, wann habt ihr selbst<br />

festgestellt, bi zu sein?<br />

Anna: Bei mir fiel der Groschen, als ich<br />

das erste Mal Sex mit einer Frau hatte. Im<br />

Nachhinein merkte ich, dass das nicht nur<br />

ein Punkt auf meiner To-do-Liste war. Mir<br />

aber einzugestehen, dass ich bisexuell bin,<br />

dauerte noch lang.<br />

Jan: Unterbewusst wusste ich schon immer,<br />

dass ich Jungs auch gut finde. Aber ich<br />

konnte es mir erst mit 23 eingestehen. 100<br />

Prozent sicher war ich mir jedoch noch<br />

nicht. Zwei Jahre später erzählte ich es meiner<br />

Freundin, meiner heutigen Frau. Als wir<br />

unsere Beziehung öffneten, hatte ich mein<br />

erstes Mal mit einem Mann. Danach war ich<br />

mir sicher.<br />

Wie steht es aus eurer Sicht um die<br />

Akzeptanz gegenüber Bisexualität?<br />

Jan: Da ist Luft nach oben! Die allgemeine<br />

Akzeptanz ist grösstenteils vorhanden. In<br />

der breiten Masse kann aber noch etwas<br />

passieren. Man kann Bisexualität von aussen<br />

kaum erkennen, wenn man nicht – wie ich<br />

es tue – mit Frau und Freund aufkreuzt.<br />

Gerade die Präsenz bisexueller Männer ist<br />

gering und begrenzt sich fast ausschliesslich<br />

auf Apps. Es fehlen Vorbilder.<br />

Anna: Die fehlende Sichtbarkeit ist auch<br />

innerhalb der queeren Community ein Problem.<br />

Auch wenn es LGBTIQ heisst, wird das<br />

B gerne vergessen.<br />

Was hat euch bewogen, einen Podcast<br />

über Bisexualität zu starten?<br />

Anna: Es war ein ganz intrinsischer Wunsch,<br />

Bisexualität eine Bühne zu geben. Ich habe<br />

mit meinem inneren Coming-out total gehadert<br />

und wusste nicht, ob ich mich als bi<br />

bezeichnen «darf» und ob ich einen Platz in<br />

der Community habe.<br />

Was ist für euch das Schöne daran,<br />

bi zu sein?<br />

Jan: Das Verlieren des Schubladen-Denkens<br />

in vielen Situationen. Ich habe die Fähigkeit,<br />

den Facettenreichtum von Liebe, Beziehung<br />

und Sex komplett auskosten zu können,<br />

wenn ich denn will.<br />

Anna: Man hinterfragt plötzlich, was man<br />

alles angenommen haben könnte, das<br />

vielleicht nicht zu einem passt. Müssen Beziehungen<br />

immer monogam und zwischen<br />

zwei Menschen sein? Definitiv nicht! Das<br />

Leben ist bunt, fluide, individuell und schön,<br />

das hat mir die Bisexualität deutlich gemacht.<br />

Was erwartet die Hörer*innen in eurem<br />

Podcast?<br />

Jan: Wir versuchen so viele Themen wie<br />

möglich anzugehen. Uns hören Menschen<br />

innerhalb und ausserhalb der Community<br />

zu, die unterschiedliche Kenntnisse mitbringen.<br />

Deswegen klären wir am Anfang jeder<br />

Folge Begriffe und wissenswerte Fakten.<br />

Wir haben auch Gäste, die uns einen neuen<br />

Blickwinkel auf verschiedene Themen ermöglichen.<br />

Im Groben geht es um Liebe,<br />

Beziehungen, Queerness und Sex, und<br />

zwar alles aus Sicht von zwei bisexuellen<br />

Menschen.<br />

Interview – Martin Busse<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

69


REISEN<br />

Tasmanien<br />

«Tassie» – so nennen die Einheimischen<br />

ihre Insel liebevoll. Sie<br />

ist der südlichste und damit auch<br />

kälteste Bundesstaat Australiens.<br />

Seine Vielfalt ist unschlagbar.<br />

Für die Mannschaft<br />

unterwegs:<br />

Kriss Rudolph<br />

Bild: Tourism TasmaniaKathryn Leahy<br />

Vermutlich ist Tasmanien ein ziemlich guter<br />

Vorgeschmack auf Neuseeland, auch wenn<br />

man dazu noch mal gut 2000 Kilometer von<br />

Australien Richtung Osten durch die Tasmanische<br />

See zurücklegen muss. Obwohl es<br />

kaum vorstellbar ist, dass es irgendwo noch<br />

grüner werden kann. Beim Durchqueren der<br />

Insel fällt der Blick auf endlose Wiesen, auf<br />

denen Schafe weiden, für den europäischen<br />

Gast nicht die spannendsten Tiere hier. Das<br />

sind neben dem Känguru zweifellos der<br />

Tasmanische Teufel und der Wombat, die anderswo<br />

auf der Welt ein Leben im Zoo fristen<br />

müssen.<br />

Auch sonst ist die Insel ausgesprochen vielseitig:<br />

schneebedeckte Berge, weisse Sandstrände,<br />

nicht enden wollende Moor- und<br />

Heidelandschaften und üppige Regenwälder.<br />

Das alles ist nicht nur wunderschön: Es riecht<br />

auch noch gut, was den hiesigen Eukalyptusbäumen<br />

zu verdanken ist; rund 700 Eukalyptusarten<br />

zählt allein die Insel. Auch die Luft ist<br />

unverschämt sauber, jedenfalls in Cape Grim.<br />

Der Nordwestzipfel der Insel gilt als der Ort<br />

mit der saubersten Luft der Welt. Je nachdem<br />

wie der Wind steht – idealerweise aus dem<br />

Süden kommend, das nächste Festland ist<br />

die Antarktis –, tendiert das Aufkommen an<br />

Schmutzpartikeln pro Kubikmeter teils gegen<br />

Null.<br />

Wer Fisch mag: Seafood ist hier unbedingt<br />

zu empfehlen. Barsch, Forelle, Makrele, Roter<br />

Schnapper – dank der grossen Bandbreite<br />

an Klimazonen und Ökosystemen gibt es hier<br />

nichts, was es nicht gibt. Allerdings müssen<br />

Australien-Reisende wissen: Günstig isst und<br />

lebt man hier nicht.<br />

Bild: Paul Fleming<br />

70 Frühling <strong>2023</strong>


REISEN<br />

Sattes Grün, klares Wasser, einsame Strände: Erholung auf Tasmanisch.<br />

Grindelwald<br />

Lesbisch und lustig<br />

Die berühmteste lebende Tochter Tasmanians<br />

dürfte Hannah Gadsby sein; auch<br />

der 1959 verstorbene Schauspieler Errol<br />

Flynn wurde hier geboren.<br />

Gadsby, Jahrgang 1978, wuchs in Smithton<br />

im Nordwesten Tasmaniens auf – «die<br />

kleine Insel, die am Arsch von Australien<br />

davon treibt», wie die Comedienne<br />

in ihrem Programm «Nanette» witzelt,<br />

das auf Netflix zu sehen ist. Die Insel sei<br />

berühmt für Kartoffeln und «ihren beängstigend<br />

kleinen Genpool». Dort wuchs<br />

Hannah als junge Lesbe an einem Ort auf,<br />

an dem Homosexualität noch illegal war<br />

und LGBTIQ verfolgt wurden.<br />

Comedy beschreibt das, was sie auf der<br />

Bühne tut, nur sehr unzureichend. Kritiker*innen,<br />

die nicht über sie lachen können<br />

oder wollen, nennen ihr Programm<br />

abschätzig einen Vortrag. Aber den hält<br />

sie immer wieder mit grossem Erfolg. So<br />

spielt sie in ausverkauften Häusern nicht<br />

nur in Australien, sondern auch in<br />

London, New York und Los Angeles. Sie<br />

wurde u.a. mit einem Emmy-Award ausgezeichnet<br />

und erhielt die Ehrendoktorwürde<br />

der University of Tasmania.<br />

Gadsby habe, so die Begründung, «Standup-Comedy<br />

von innen nach aussen dekonstruiert<br />

und gleichzeitig ein unbeirrbares<br />

Licht auf Homophobie, Sexismus,<br />

Gewalt und Frauenfeindlichkeit geworfen<br />

– alles im Zusammenhang mit ihrer eigenen<br />

gelebten Erfahrung». Sie habe zudem<br />

einen tiefgreifenden Einfluss auf die<br />

zeitgenössische Populärkultur, trotz der<br />

ernsten Themen, die sie behandelt – etwa<br />

die Brutalität der europäischen Invasion.<br />

Viele Orte, die man aus Europa<br />

kennt, finden sich in dem klassischen<br />

Einwanderungsland<br />

Australien wieder: Liverpool,<br />

Heidelberg und sogar Grindelwald.<br />

Der Touristenort im<br />

Norden Tasmaniens beherbergt<br />

rund 1000 Seelen und einen<br />

Golfplatz.<br />

Die Siedlung besteht seit<br />

gut 40 Jahren und ist stilistisch<br />

einem typischen Schweizer<br />

Dorf nachempfunden. Die<br />

Häuser haben ausladende,<br />

teils spitzwinklige Dächer,<br />

unter den Fenstern hängen<br />

Blumenkästen.<br />

Der Ruf Tasmaniens als<br />

«Schweiz des Südens» ist aber<br />

älter. Auf einem historischen<br />

Werbeplakat ist Mount Ida mit<br />

dem St. Clair See zu sehen.<br />

Zum Skifahren fährt man aber<br />

besser in den Ben Lomond National<br />

Park, rund 80 Kilometer<br />

weiter im Osten gelegen.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

71


REISEN<br />

Port Arthur<br />

In einer Bucht im südöstlichen Teil der Insel<br />

liegt Port Arthur. Auf den ersten Blick<br />

wirkt der Ort friedlich und idyllisch. Doch<br />

er ist eng verbunden mit der Gründungsgeschichte<br />

des heutigen Australiens - zu<br />

der das Verdrängen der Ur-Bevölkerung<br />

ebenso gehört wie die Gründung unerbittlicher<br />

Strafkolonien durch die Briten.<br />

Damals wurden vor allem Männer nach<br />

Australien geschickt, zwischen 1788 und<br />

1868 waren es wohl über 162 000. Einige<br />

kamen schon im Kindesalter, damals war<br />

man bereits mit 7 Jahren strafmündig.<br />

In Tasmanien behauptet man gerne im<br />

Scherz, die dortige Bevölkerung stamme<br />

nicht von den damaligen Strafgefangen<br />

ab, die seien nämlich alle in den Bundesstaat<br />

Victoria gezogen. Reines Wunschdenken.<br />

Auf Tasmanien gab es einst zahlreiche<br />

Strafkolonien, darunter Port Arthur, das<br />

erste Gefangenenlager Australiens, eins<br />

der ausbruchsichersten, grausamsten<br />

und grössten im Land und heute UNESCO<br />

Weltkulturerbe. Hierhin wurden auch aufsässige<br />

Häftlinge anderer Gefängnisse<br />

entsandt. Port Arthur war benannt nach<br />

George Arthur, dem einstigen Vize-Gouverneur<br />

von Van Diemen’s Land, wie die<br />

Briten Tasmanien zunächst nannten,<br />

nachdem sie die Aboriginal-Bevölkerung<br />

abgeschlachtet und das Land geraubt<br />

hatten.<br />

Wer versuchte zu entkommen, wurde<br />

mit bis zu 100 Peitschenhieben bestraft.<br />

An Grausamkeit übertroffen wurde Port<br />

Arthur vielleicht nur noch von Norfolk Island,<br />

südlich von Neukaledonien gelegen<br />

und näher an New Zealand als an Australien.<br />

Dort wurde der erste überlieferte<br />

schwule Liebesbrief geschrieben, von<br />

Denis Prendergast, der in Quellen auch<br />

mit dem Namen Pendergast auftaucht.<br />

1838 kam er in Australien als Strafgefangener<br />

an und wurde später erhängt, weil<br />

er an einem Aufstand beteiligt war. Sein<br />

Brief an den Geliebten Jack, aus dem<br />

queere Medien gerne zitieren, endet mit<br />

den Worten: «Ich hoffe, Du verliebst dich<br />

in keinen anderen Mann, wenn ich tot<br />

bin, und dass ich dein wahrer Liebhaber<br />

bleibe.»<br />

Homosexuelle Kontakte unter Europäern<br />

waren im kolonialen Australien durchaus<br />

verbreitet, wie etwa der Historiker Robert<br />

Aldrich nachgewiesen hat. Angesichts<br />

«gleichgeschlechtlicher Verbrechen» der<br />

Inselbevölkerung sprach die Kirche damals<br />

von Vorgängen, die «einem das Blut<br />

gefrieren und vor lauter Horror die Haare<br />

zu Berg stehen» liessen.<br />

Traurige Berühmtheit erlangte der Ort<br />

Port Arthur erneut am 28. April 1996:<br />

Bei einem Massaker erschoss der damals<br />

28-jährige Martin Bryant insgesamt<br />

35 Menschen und verletzte mindestens<br />

20 weitere.<br />

Bild: Hype TV<br />

Tasmanien<br />

Hauptstadt — Hobart<br />

Landessprache — Australisches<br />

Englisch<br />

Einwohner*innen — ca. 540 000<br />

Beste Reisezeit — Wer milde Sommer<br />

mag, kommt von Dezember bis März,<br />

dann liegen die Temperaturen um<br />

20 Grad. Im dortigen Winter, Juni bis<br />

September, wird es zwischen 5 und 12<br />

Grad kalt bzw. warm. Auf dem Mount<br />

Wellington, dem Hausberg von Hobart,<br />

liegt dann stellenweise Schnee.<br />

Einreise — Tasmanien gilt, wie ganz<br />

Australien, als sicheres Reiseland. Die<br />

Insel erreicht man über einen der beiden<br />

Flughäfen, Hobart oder Launceston.<br />

Die Anreise per Fähre bietet sich<br />

nur an, wenn man viel Zeit hat – oder<br />

ein Mietauto. Bus und Zug fahren dauert<br />

irrsinnig lange.<br />

Queer Life<br />

Tasmanien war 1997 der letzte<br />

Bundesstaat, der Homosexualität<br />

legalisierte. Inzwischen<br />

hat sich das Blatt gewendet:<br />

2003 wurden hier die ersten<br />

eingetragenen Lebenspartnerschaften<br />

in ganz Australien<br />

erlaubt; auch was die Geschlechtsoptionen<br />

in Geburtsurkunden<br />

angeht, ist der<br />

Bundesstaat sehr modern. In<br />

einem Vorort von Hobart trat<br />

im Jahr 2015 die ehemalige<br />

Fussballspielerin Martine<br />

Delaney an, die erste trans<br />

Bundespolitikerin Australiens<br />

zu werden. Sie kandidierte<br />

für die Grünen, landete aber<br />

nur auf Platz 3.<br />

Queerometer:<br />

Queeres Leben findet weitgehend<br />

in der Hauptstadt Hobart<br />

statt. Dort wird jeden<br />

Februar ein eigenes Pride<br />

Festival gefeiert, die Tas-<br />

Pride. Ansonsten gibt es<br />

eine Handvoll Bars wie The<br />

Grand Poobah, dessen<br />

Limbo-Party berüchtigt ist,<br />

oder das Twisted Lime, wo<br />

man mit Musik der australischen<br />

Lokalmatadoren AC/DC<br />

empfangen wird. Der einzige<br />

queere Club, das Flamingos,<br />

musste zu Beginn der Corona-Pandemie<br />

schliessen, nach<br />

17 Jahren Bestehen. Mittlerweile<br />

sucht man nach einer<br />

neuen Location, bisher vergeblich.<br />

72 Frühling <strong>2023</strong>


REISEN<br />

Ehemalige Strafkolonie Port Arthur mit brutaler Geschichte.<br />

Insidertipps<br />

Das Polarlicht, Aurora borealis, findet auf der<br />

Südhalbkugel seine Entsprechung, und zwar<br />

in Tasmanien: das Südlicht Aurora australis.<br />

Da es auf der Insel so gut wie keine Lichtverschmutzung<br />

gibt, lässt sich das grün-blauviolett-rote<br />

Spektakel hier besonders gut geniessen,<br />

vor allem zwischen Mai und August.<br />

Dazu begibt man sich am besten nach Bruny<br />

Island, 30 Autominuten von Hobart entfernt,<br />

für die restliche Strecke gibt es eine Fähre.<br />

In Cape Bruny steht auch einer der ältesten<br />

Bild: Simon Kruit<br />

Leuchttürme Australiens. Ausserdem kann<br />

man hier seltene Wildtiere wie Weisse Wallabys,<br />

eine Känguru-Art, beobachten oder sich<br />

mit regional hergestellten Leckereien wie<br />

Käse, Whisky und Schokolade eindecken.<br />

Bei schlechtem Wetter oder ausserhalb der<br />

Saison empfiehlt sich ein Besuch im noch<br />

recht jungen Mona Museum, das sich vor<br />

allem den Themen Sex und Tod widmet. Sein<br />

Gründer und Besitzer, David Walsh, nannte<br />

es mal ein «subversives Disneyland für Erwachsene».<br />

Vor ein paar Jahren lief hier die<br />

erste australische Retrospektive des schwulen<br />

Künstlerpaars Gilbert & George. Diesen<br />

Februar trat Peaches beim jährlichen «Mona<br />

Foma»-Sommerfestival auf.<br />

Es sei einer dieser Ort, wo man als Besucher*in<br />

sagen kann: «Ich bin mir bei der<br />

Kunst nicht sicher, aber die Architektur ist<br />

toll», heisst es in der ironischen Selbstbeschreibung<br />

des Museums, nachzulesen<br />

auf:<br />

– mona.net.au/<br />

«Ich habe auf<br />

meiner Australientour<br />

vieles gesehen,<br />

aber die sattgrünen<br />

Landschaften und<br />

der wunderschöne,<br />

saubere, fast leere<br />

Stand – selbst am<br />

Wochenende! –<br />

haben mir am besten<br />

gefallen.»<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

73


Story — 5<br />

5<br />

Wenn die<br />

Synapsen<br />

Karneval<br />

feiern<br />

74 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 5<br />

Text: Greg Zwygart<br />

Bilder: Silvie Brucklacher-Gunzenhäußer<br />

Torsten Poggenpohl<br />

ist schwul, HIV-positiv<br />

und bipolar. In seiner<br />

Manie setzte er reihenweise<br />

aufs Spiel: den<br />

Job, seine Gesundheit,<br />

Freund*innen und<br />

Familie. Um seine Diagnose<br />

zu akzeptieren,<br />

musste er sich zuerst<br />

seiner grössten Herausforderung<br />

stellen –<br />

sich selbst.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

75


Story — 5<br />

en Gürtel von Hermès kaufte sich Torsten Poggenpohl<br />

am Flughafen auf dem Weg zum Gate. Einfach so,<br />

quasi im Vorbeigehen. Die 1000 Euro blätterte er hin,<br />

ohne gross nachzudenken.<br />

Auf den ersten Blick war das auch nichts Aussergewöhnliches.<br />

Leisten konnte er sich’s ja. Ausserdem<br />

waren Luxus-Accessoires ein wichtiger Bestandteil<br />

seiner Garderobe. Torsten liebte es, Kleidung von<br />

H&M oder Zara mit einem edlen Eyecatcher zu akzentuieren:<br />

Loafers von Bally, ein Schal von Burberry, ein<br />

Gürtel von Gucci oder eben von Hermès. «Wie Carrie<br />

Bradshaw, die ihr Outfit im Vintage-Laden kauft und<br />

mit ein paar Manolo-Blahniks kombiniert», sagt er im<br />

Interview lachend.<br />

Rückblickend weiss Torsten, dass dieser Spontankauf<br />

nur eines von vielen Anzeichen war, die sich in<br />

jener Zeit, 2013, häuften. Der damals 33-Jährige verlor<br />

den Realitätsbezug zum Geld, lebte in einem Dauergehetze<br />

zwischen Arbeit und Party an der Grenze<br />

zur Dekadenz. Ohne es zu wissen, fiel Torsten in eine<br />

Manie.<br />

Der Pakt mit dem Teufel<br />

Torsten konnte nicht nur teure Güter kaufen, er besass<br />

auch ein Talent für deren Verkauf. Nach einem<br />

abgeschlossenen Jurastudium entschied er sich gegen<br />

die Anwaltskarriere und wagte den Quereinstieg in<br />

der Parfümerie eines Stuttgarter Luxuskaufhauses.<br />

Sein oberstes Gebot war es, den Kundinnen das beste<br />

Einkaufserlebnis zu bieten. In seinem Kopf rollte<br />

er ihnen den roten Teppich aus und entführte sie<br />

mit Champagner und Stretchlimo in die glamouröse<br />

Welt der Stars und Sternchen. Mit dieser Motivation<br />

arbeitete sich Torsten schnell zur Counterleitung und<br />

schliesslich zum Gebietsverkaufsleiter hoch. Im Gebiet<br />

Augsburg zwischen Schwäbisch Hall, Füssen,<br />

Garmisch-Partenkirchen, München und Ingolstadt<br />

war er für über hundert Parfümerien zuständig, in<br />

denen es darum ging, das Beste aus Personal und Verkaufszahlen<br />

zu holen. Mit einem nigelnagelneuen<br />

Audi fuhr er kreuz und quer durch Bayern, die Verkäufer*innen<br />

liebten ihn, der Umsatz schoss in die<br />

Höhe. Torsten war die Nummer eins.<br />

Als die Geschäftsleitung ihm den Wechsel in seine<br />

Traumstadt Hamburg vorschlug, sagte er zu. Doch<br />

der Norden machte ihn nicht glücklich. Über mehrere<br />

Monate hinweg fand er keine Wohnung, auch mit dem<br />

Verkauf wollte es nicht hinhauen. Im Ranking der Gebietsverkaufsleiter*innen<br />

fiel Torsten von der Spitze<br />

auf den letzten Platz zurück. Es dauerte nicht lange<br />

und er bereute seinen Wegzug aus Bayern.<br />

Nachdem seine Nachfolgerin im Gebiet Augsburg<br />

abgesprungen war, bat er um seine Rückversetzung.<br />

Die Geschäftsleitung willigte ein – mit einer Bedingung:<br />

Torsten müsse nebenbei die Mutterschaftsvertretung<br />

für die Kollegin aus dem angrenzenden Gebiet<br />

Nürnberg und somit die Verantwortung für ihre 45<br />

Geschäfte übernehmen. Er nahm das Angebot sofort<br />

an. Heute bezeichnet er es als «Pakt mit dem Teufel».<br />

Torstens Tag begann nun um 6 Uhr mit Kaffee und<br />

Zigaretten, bevor er nach mehreren hundert Autokilometern<br />

um 20 Uhr nach Hause kam, um dann<br />

E-Mails zu beantworten und Bestellungen in Auftrag<br />

zu geben. Das Wochenende schlug er sich im schwulen<br />

Nachtleben in Augsburg, Stuttgart oder München<br />

um die Ohren – mit wenig Schlaf und viel Alkohol. Er<br />

fragte sich: «Warum muss man für einen anständigen<br />

Club nach München oder Stuttgart fahren?» Torsten<br />

beschloss kurzerhand, in Augsburg einen extravaganten<br />

Nachtclub zu eröffnen und beantragte Kredite<br />

für mehrere hunderttausend Euro. Die als Sicherheit<br />

benötigte Lebensversicherung setzte einen HIV-Test<br />

voraus, der zu seiner grossen Überraschung positiv<br />

ausfiel. Torstens Blutwerte waren katastrophal: 16<br />

Helferzellen blieben übrig bei einer Virenlast von<br />

rund 5 Millionen. Er hatte Glück, dass sein Immunsystem<br />

nicht noch von anderen Krankheiten geschwächt<br />

wurde. Doch seine Ärztin warnte ihn: «Wenn es so<br />

weitergeht, sind Sie bald ein toter Mann.»<br />

Das Kartenhaus stürzt ein<br />

Zu diesem Zeitpunkt hatte Torstens finanzieller Realitätsverlust<br />

bereits begonnen. Für die Promotion seiner<br />

anstehenden Nachtcluberöffnung scheute er keine<br />

Auslagen, von teuren Plakatkampagnen bis hin zum<br />

grosszügigen Sponsoring anderer Events. Er bestellte<br />

stets teuren Champagner, kaufte Outfit um Outfit –<br />

wenn nicht für sich, dann für seine guten Freundinnen<br />

– und nahm auch mal das Taxi in einen Münchner<br />

Club, nachdem er in Augsburg von einer Kneipe rausgeworfen<br />

worden war.<br />

Die HIV-Diagnose war der Tropfen, der das Fass<br />

langsam zum Überlaufen brachte. Wenn Dinge nicht<br />

so liefen, wie Torsten es wollte, und auch seine Redegewandtheit<br />

nichts mehr nützte, konnte er ruppig<br />

werden. Egal, ob Fremde, geschäftliche Kontakte,<br />

76 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 5<br />

Viel Arbeit, viel<br />

Party, kein Bezug<br />

mehr zum Geld:<br />

Torsten glitt immer<br />

mehr ab in eine<br />

Manie.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

77


Story — 5<br />

«Wenn es so weitergeht, sind<br />

Sie bald ein toter Mann.»<br />

Freund*innen oder Familie: Er scherte sich nicht<br />

mehr darum, was andere von ihm hielten oder ob er<br />

verbrannte Erde hinterliess. «Ich war mitten in meiner<br />

Manie», erinnert sich Torsten heute. Als ihn die Verkäufer<br />

des Nachtclubs schliesslich zur Rede stellten,<br />

weil er den vereinbarten Kaufpreis noch nicht überwiesen<br />

hatte, flüchtete er im Taxi. Er war am Rande<br />

des Zusammenbruchs.<br />

Alle sahen es, nur Torsten selbst nicht. Nachdem<br />

seine Eltern und Geschwister ihn in die Psychiatrie<br />

überwiesen hatten, stufte ihn der Arzt als keine Gefahr<br />

für sich oder für seine Mitmenschen ein. Torsten<br />

hatte sich wieder herausreden können.<br />

Wenige Wochen später konnte er niemanden mehr<br />

täuschen – auch sich selbst nicht. Ein richterlicher Beschluss,<br />

den seine HIV-Ärztin beantragt hatte, verdonnerte<br />

ihn schliesslich zu vier Wochen geschlossener<br />

Anstalt. Doch zur Einsicht kam er deswegen<br />

nicht. Medikamente, die nicht zu seiner HIV-Therapie<br />

gehörten, lehnte er ab. Nachdem seine Freund*innen<br />

im Stau steckten und die Besuchszeiten verpassten,<br />

schickte er ihnen ausfällige Textnachrichten. Daran,<br />

dass die Freund*innen sich untereinander abgesprochen<br />

und ihn bis dahin jeden Tag besucht hatten,<br />

dachte er nicht mehr.<br />

Die Wende brachte schliesslich das Buch «Lieber<br />

Matz, Dein Papa hat 'ne Meise» von Sebastian Schlösser,<br />

das Torsten zu seinem 34. Geburtstag von einer<br />

guten Freundin in die Psychiatrie geschickt bekam.<br />

Der Autor beschreibt darin offen seinen Umgang<br />

mit der bipolaren Störung. «Schon nach den ersten<br />

Seiten war mir klar: Egal, was er hat, ich habe es definitiv<br />

auch», sagt er. Er las Wort für Wort, Zeile für<br />

Zeile, manchmal auch mehrmals. Das Buch wurde zu<br />

seinem ständigen Begleiter. «Das war mein Gamechanger.»<br />

Zur Einsicht kommen: gar nicht so einfach!<br />

Zur grossen Erleichterung des Psychiatriepersonals<br />

wurde Torsten zunehmend kooperativer. Er nahm<br />

seine Medikamente ein, beteiligte sich aktiv an der<br />

Therapie und akzeptierte die Diagnose bipolare Störung.<br />

«Mein Arzt sagte mir später mal, dass ich von<br />

einem seiner schwierigsten manischen Patienten seiner<br />

Laufbahn zum Vorzeigepatienten der Klinik geworden<br />

sei.»<br />

Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung,<br />

die die neurochemische Signalübertragung im<br />

Gehirn betrifft. Der Dopamin- und Serotoninhaushalt<br />

– Hormone, die für unsere Gefühlslage verantwortlich<br />

sind – fällt aus dem Gleichgewicht. Die Folge<br />

sind entgegengesetzte, extreme Stimmungsschwankungen,<br />

die die betroffene Person nicht kontrollieren<br />

kann: Manie und Depression. Diversen Studien<br />

zufolge dürfte die bipolare Störung erblich veranlagt<br />

sein, muss jedoch nicht ausbrechen. Auslöser können<br />

einschneidende Lebensereignisse, Traumata oder –<br />

wie im Falle von Torsten – erhöhter und andauernder<br />

Stress sein. «Jeder Mensch hat seine persönliche<br />

Stresskante», sagt er. «Mit der Belastung in meinem<br />

Job, den Vorbereitungen für den Club und der HIV-<br />

Diagnose hatte ich diese Stresskante eindeutig überschritten<br />

und glitt ab in die Manie.»<br />

Wenn Torsten von seiner Manie spricht, dann beschreibt<br />

er sie oft mit «Karneval der Synapsen». «Die<br />

totale Reizüberflutung. Als würden dir 1000 Eindrücke<br />

gleichzeitig durch deinen Kopf jagen. Bevor<br />

du den einen Gedanken verarbeitet hast, springst du<br />

schon zum nächsten. Du kannst gar nicht auf deinen<br />

Kopf zugreifen», sagt er. Dann war da der schwindende<br />

Bezug zum Geld, den Respekt vor anderen Menschen,<br />

den er zunehmend verlor.<br />

Ist die bipolare Störung einmal ausgebrochen,<br />

kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Mit<br />

Medikamenten, die die Stimmung stabilisieren, lässt<br />

sich die Erkrankung jedoch gut therapieren. Doch so<br />

einfach ist es nicht. Das Heimtückische bei der bipolaren<br />

Störung ist die mangelnde Einsicht der Betroffenen,<br />

die Diagnose überhaupt zu akzeptieren. Das kann<br />

Torsten aus eigener Erfahrung nur bekräftigen. «In<br />

meiner Manie war ich komplett von mir selbst überzeugt.<br />

Ich hatte immer recht und alle anderen kapierten<br />

es einfach nicht», sagt er. «Der schwierigste Schritt<br />

ist, sich die Erkrankung einzugestehen und die Therapie<br />

anzunehmen.»<br />

«Wer ist der blasse Typ auf dem Foto?»<br />

Seit bald zehn Jahren lebt Torsten nun mit den Diagnosen<br />

bipolare Störung und HIV. Sein Körper und<br />

seine Psyche sprechen gut auf beide Behandlungen<br />

an: Die Medikamente sind aufeinander abgestimmt,<br />

seine Stimmungslage seit Jahren stabil. Der Erfolg<br />

setzt aber auch viel Selbstdisziplin voraus. So achtet<br />

er zum Beispiel auf eine pünktliche Einnahme seiner<br />

Tabletten und verzichtet auf Alkohol, der die Wirksamkeit<br />

seiner Therapie beeinträchtigen kann. «Ich<br />

kenne Betroffene, die das eine oder andere Glas Alkohol<br />

trinken oder eine Pille auslassen, weil es ihnen<br />

ja gut geht», erzählt er. Das könne bereits ausreichen,<br />

um eine manische oder depressive Phase auszulösen.<br />

Dem behandelnden Arzt ist Torsten sehr dankbar,<br />

denn der Erfolg der medikamentösen Behandlung ist<br />

78 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 5<br />

Aktionstag 30. März<br />

Der Geburtstag des Malers Vincent Van Gogh, der<br />

posthum als bipolar diagnostiziert wurde, wird heute als<br />

Internationaler Tag der bipolaren Störung begangen. Besonders<br />

im anglo-amerikanischen Raum sollen diverse<br />

Aktionen an diesem Tag zur Aufklärung der Erkrankung<br />

und somit zur Entstigmatisierung beitragen.<br />

Van Goghs Schaffen stand in direktem Zusammenhang<br />

mit seinen Krankheitsschüben, die sich unter anderem<br />

durch Wahnvorstellungen und Angstzustände ausdrückten.<br />

Einige seiner bedeutendsten Werke entstanden in<br />

Zeiten, in denen er mit seinen persönlichen Dämonen<br />

kämpfte. Van Gogh starb 37-jährig durch eine selbst zugefügte<br />

Schussverletzung. Ob es ein Unfall oder Suizid<br />

war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.<br />

Bild: Selbstbildnis mit Strohhut, Vincent van Gogh 1887<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

79


«Ich war ein<br />

Mensch, der<br />

immer Angst<br />

hatte, etwas<br />

zu verpassen.»<br />

Story — 5<br />

Bezüglich HIV stellt Torsten fest, dass in der Community noch viel Angst vor Stigmatisierung besteht.<br />

nicht selbstverständlich. «Ich bin so froh, dass ich in<br />

der Lage bin, Gefühle der Freude und der Trauer zu<br />

empfinden und mit anderen zu teilen», sagt er. Viele<br />

seiner Freund*innen hätten sich sehr darüber gefreut,<br />

dass er wieder ganz der Alte sei. «Die Tabletten machen<br />

keinen emotionslosen Zombie aus mir.»<br />

Mit dem medizinischen Personal musste Torsten<br />

jedoch auch enttäuschende Erfahrungen machen, gerade<br />

in Verbindung mit seinem HIV-Status. So kam<br />

einmal eine Stationsärztin in sein Zimmer und sagte<br />

zu ihm: «Hier haben wir also den jungen Mann, der<br />

nichts von Safer Sex versteht.» Ein weiterer Vorfall<br />

ereignete sich Jahre später bei einer Darmspiegelung.<br />

Zu diesem Zeitpunkt lag seine Virenlast bereits<br />

unter der Nachweisgrenze. Die Assistentin hatte<br />

von Kopf bis Fuss die Schutzbekleidung angelegt, inklusive<br />

Schutzbrille. «Als ob sie jetzt zum Mars fliegt»,<br />

sagt Torsten. Nachdem er sie darauf angesprochen<br />

hatte, gab sie zu Angst zu haben, sich mit HIV anzustecken.<br />

Eine Enttäuschung musste er auch in der Community<br />

erleben. «2018, fünf Jahre nach meiner HIV-Diagnose,<br />

wagte ich mich wieder in die Dating-Welt und<br />

lernte einen Mann kennen», erzählt er. Die beiden<br />

Männer seien wie verliebte Teenager gewesen, machten<br />

Fotos. «Mit Knutschen auf der Parkbank und so.»<br />

Torsten offenbarte seinen Status und die beiden Männer<br />

führten ein langes Gespräch – nicht nur über HIV,<br />

sondern über Gott und die Welt. Beim nächsten Treffen<br />

sagte ihm der Mann, dass sein Bruder ihn gefragt<br />

habe, wer denn der blasse Typ neben ihm auf dem Foto<br />

sei, er sehe so krank aus. Torsten brach den Kontakt<br />

ab: «Ich musste gleich 20 Freund*innen anrufen und<br />

fragen, ob ich denn wirklich so krank aussehe.»<br />

Ein Plädoyer für die Offenheit<br />

Seine Redegewandtheit stellt Torsten auch im Videocall<br />

unter Beweis. Auf die Frage, ob in der schwulen<br />

Community Nachholbedarf bezüglich HIV besteht,<br />

zeigt er sich jedoch erstmals unschlüssig. «Die PrEP*<br />

hat viele Berührungsängste mit HIV abgebaut – das<br />

finde ich grossartig», sagt er. Die Angst vor Stigmatisierung<br />

bleibe aber trotzdem. «Viele Männer, die ich<br />

von der HIV-Praxis kenne, geben bei Planet Romeo<br />

oder Grindr an, dass sie auf PrEP sind. Das zeigt mir,<br />

dass die Leute nicht mutig genug sind, ihren wahren<br />

Status offenzulegen. Sie verstecken sich lieber hinter<br />

der PrEP statt zu sagen: Eine wirksame HIV-Therapie<br />

schützt vor HIV-Übertragungen.»<br />

Auch wenn die Stigmatisierung der Gesellschaft<br />

der Auslöser für diese Mutlosigkeit sei: Solche Notlügen<br />

seien insofern problematisch, als dass sie für die<br />

Betroffenen zur Belastung würden. «Wenn du etwas<br />

vor der Welt versteckst, – wenn du nicht sein darfst,<br />

wer du bist – dann kann dich das krank machen», sagt<br />

er.<br />

Mit «einfach!ch» schrieb Torsten ein Buch über<br />

seine Diagnosen, das er 2022 im Eigenverlag veröffentlichte.<br />

Lesungen, Vorträge und Gesprächsrunden<br />

führen ihn durch ganz Deutschland und in die<br />

Schweiz, wo er für einen offeneren Umgang mit HIV<br />

und mit psychischen Erkrankungen plädiert. Für<br />

Betroffene der bipolaren Störung gründete er einen<br />

Stammtisch.<br />

80 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 5<br />

Jagt Torsten immer noch von Termin zu Termin,<br />

von Projekt zu Projekt? Er winkt lachend ab. «Ich war<br />

ein Mensch, der immer Angst hatte, etwas zu verpassen.<br />

War kein optisch passender Mann in der Bar, zog<br />

ich in die nächste und so weiter», sagt er. «Heute kann<br />

ich am Freitag- und Samstagabend zuhause sitzen und<br />

habe kein Problem damit.» Überhaupt spiele die Achtsamkeit<br />

heute eine bedeutende Rolle in seinem Alltag.<br />

Mit positiven Aktivitäten will er negativen Gedanken<br />

entgegenwirken, bevor diese überhaupt entstehen<br />

können. «Bei mir ist das zum Beispiel Spazieren», sagt<br />

er. «Oder Frühstücken! Daher achte ich darauf, jeden<br />

Tag mit einem schönen Frühstücksmoment zu beginnen.<br />

Du musst es dir wert sein, dir etwas zu bescheren,<br />

das deiner Seele guttut.»<br />

Gibt es einen Indikator dafür, dass der persönliche<br />

Stresslevel gefährliche Höhen erreicht? «Die wohl<br />

beste Achtsamkeitsübung ist der Rückzug in den bequemen<br />

Sessel mit einem guten Buch», sagt er. «Wenn<br />

man das nicht mehr hinkriegt, wird es Zeit Hilfe zu<br />

holen.»<br />

Heute ist Torsten im Reinen mit sich selbst. Die<br />

Verantwortung über ein weiteres Verkaufsgebiet, der<br />

Plan der grossen Cluberöffnung – er bereut nichts. Im<br />

Gegenteil, er habe viel über sich selbst gelernt. «Wer<br />

einmal Schiffbruch erlitten hat, setzt alles daran, dass<br />

es nicht nochmal geschieht», sagt er. «Ich war damals<br />

nicht klug genug zu verstehen, dass ich nicht immer<br />

auf Platz 1 von 16 Verkaufsleiter*innen stehen muss.<br />

Man kann auch auf Platz 7 ein erfülltes Leben haben.<br />

Ich muss nicht immer die Nummer 1 sein.»<br />

* PrEP steht für Prä-Expositions-Prophylaxe und ist ein<br />

Medikament in Tablettenform. Richtig eingenommen, schützt<br />

es HIV-negative Menschen vor einer Ansteckung mit HIV.<br />

einfach!ch<br />

In seinem Buch «einfach!ch»<br />

schildert<br />

Torsten Poggenpohl seine<br />

Reise durch seine manischen<br />

Gedanken. Ob<br />

tiefste Depression, oder<br />

die panische Angst vor<br />

dem Verlust seines Genies,<br />

alles breitet er<br />

schonungslos offen und<br />

ehrlich aus, bevor er<br />

die Leser*innen mit in<br />

die Welt seiner Therapien<br />

nimmt.<br />

Books on Demand<br />

ISBN: 978-3-7557-2349-3<br />

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KOLUMNE<br />

Sex-Ed auf dem<br />

Dancefloor<br />

DIE TRANS PERSPEKTIVE<br />

Anastasia war die erste<br />

trans Kommandeurin der<br />

deutschen Bundeswehr und<br />

Protagonistin des Films<br />

«Ich bin Anastasia». Sie<br />

wohnt in Berlin.<br />

anastasia@mannschaft.com<br />

Illustration: Sascha Düvel<br />

Ich bin immer noch erstaunt, wie<br />

ruhig ich geblieben bin. Als ob es nur<br />

eine andere Art Small Talk gewesen wäre.<br />

Und dennoch könnte ich beim Schreiben<br />

gerade laut schreien.<br />

Ein kurzer Ausflug in das Berliner<br />

Nachtleben mit meinen Freund*innen<br />

sollte es werden. Frivol, entspannt, sexy<br />

und mit geilem Sound. Mehr wollten wir<br />

nicht. «Lasst uns ‹Heten› gucken gehen<br />

und etwas Queerness in das Partyleben<br />

bringen», sagte ein Freund. Ein einfacher<br />

Plan, brillant und schnell umgesetzt.<br />

Knapp angezogen, ein bisschen gestylt,<br />

mit queerer Berliner Attitüde auf den Weg<br />

gemacht. An der viel zu langen Schlange<br />

selbstbewusst vorbeispaziert, die Anund<br />

Umstehenden gemustert und an der<br />

Tür um direkten Einlass gebeten. Es war<br />

schliesslich kalt und wir Queers frieren<br />

nicht wirklich gerne. Ein kurzes Mustern,<br />

ein verständiges Lächeln und die Pforten<br />

zur Nachtfeier schwingen auf.<br />

Während meine Freund*innen unsere<br />

warmen Winterklamotten bei der<br />

Garderobe deponierten, entspannte ich<br />

mich im Vorraum des Clubs und schaute<br />

mir das herrliche Treiben an. Menschen<br />

verschiedenen Alters, mit mehr oder weniger<br />

Erfahrung in derartigen sexpositiven<br />

Räumen, lächelnd und etwas Abstand<br />

haltend. Einige vielleicht etwas<br />

zurückhaltend, aber mit offensichtlicher<br />

Vorfreude. Und zugleich merkte ich: Wir<br />

Queers waren an diesem Abend deutlich<br />

in der Unterzahl und ich fragte mich, ob<br />

wir hier entspannt feiern können. Egal,<br />

es ist Berlin. Der Gedanke war noch nicht<br />

ganz aus meinem Kopf, da standen SIE<br />

schon vor mir. Jung, unschuldig und unerfahren,<br />

war mein erster Eindruck. Ich<br />

sollte mich nicht täuschen.<br />

«Bist du aus Berlin?» war der unschuldige<br />

Einstieg in eine Unterhaltung,<br />

die mich immer noch nachhaltig beeindruckt.<br />

«Du bist doch trans*, oder?» Bevor<br />

ich überhaupt antworten konnte, fügte<br />

sie hinzu: «Ich arbeite nämlich in der<br />

Psychiatrie.» Ein «Uff» entwich mir, aber<br />

nur in meinen Gedanken. Ihr Freund, so<br />

nahm ich aus den Augenwinkeln, lächelte<br />

leicht betreten, blieb aber interessiert<br />

stehen und wartete wohl auf meine Antwort.<br />

«Ja, ich bin aus Berlin». Und aus<br />

irgendeinem Grund beschloss ich weiterzusprechen.<br />

«Ich bin Ana. Schön euch<br />

kennen zu lernen.» «Bist Du eine Frau?»,<br />

fragte ich zurück. Sie schaute mich etwas<br />

zu lange an und erwiderte: «Natürlich.»<br />

Ah, eine Bio-Cis-Frau. Offensichtlich aus<br />

dem süddeutschen Raum, so meine Einschätzung<br />

des Dialektes. Weiterbildung<br />

ist angesagt.<br />

Auf einmal sprang er an, mein<br />

innerer Bildungsantrieb, und mit höflicher<br />

Miene versuchte ich sie aufzuklären.<br />

Bildungsarbeit kann sich auch in einem<br />

Club vollziehen. Jeder Ort ist dafür geeignet.<br />

Also los. Ein kurzer Hinweis auf meine<br />

Geschlechtsidentität sollte ja ausreichen<br />

und meinen Gegenübern bei der<br />

Einordnung helfen. «Bist du allein hier?».<br />

«Nein.» «Ist deine Partnerin auch trans?»<br />

«Ach, deine Partnerin ist eine richtige<br />

Frau?» «Ah, sorry . . . cis, oder?» «Das ist<br />

ja mega spannend. Das kennen wir aus<br />

Heidelberg gar nicht. Und willst du den<br />

ganzen Weg gehen? Oder bist du schon<br />

operiert? Hast du denn Spass beim Sex?<br />

Also, fühlst du so richtig? Und bist du<br />

jetzt lesbisch oder wie ist das genau?»<br />

Ich konnte sie gar nicht bremsen. Offensichtlich<br />

hatten sich diese Fragen aufgestaut<br />

und endlich hatte sie eine Möglichkeit,<br />

all das zu fragen. Der Ort schien ihr<br />

vielleicht dafür geeignet. Ich weiss es<br />

nicht. Mir rauchte nach der Barrage an<br />

Fragen der Kopf. Und dennoch blieb ich<br />

konziliant. Geduldig klärte ich sie und<br />

ihren Freund auf und liess sie mit einem<br />

wichtigen Hinweis gehen: «Stellt diese<br />

Art von Fragen bitte nicht. Wir sind hier<br />

zum Feiern und Spass haben.»<br />

Ich sollte mich öfters an meine<br />

eigenen Ratschläge halten. Wir sind<br />

nicht dafür da, die Welt stets und in<br />

jedem Setting aufzuklären. Wir sind nicht<br />

die Befriedigung jedweder Neugier. Ihr<br />

könnt uns erleben und in der respektvollen<br />

Begegnung auf Augenhöhe und<br />

wertschätzend von uns erfahren. Lasst<br />

uns unseren Raum und unsere Würde<br />

und degradiert uns nicht zu Zootieren.<br />

82 Frühling <strong>2023</strong>


LOVE IS IN<br />

THE HAIR<br />

Was haben David Bowie, Prince, Debbie Harry<br />

und der Prinz von «drei Nüsse für Aschenbrödel»<br />

mit seinen hellblauen Leggins und dem<br />

blonden Rundschnitt gemeinsam? Sie haben<br />

ihren ganz eigenen Brand. Und so soll es sein.<br />

Auch für dich. Denn du bist in erster Linie du.<br />

Und du darfst sein, wer du bist. Denn wenn du<br />

ganz du selbst bist, dann machst du die Welt<br />

so viel bunter und schillernder. Also:<br />

Stay extraordinary<br />

TIME TO <strong>CH</strong>ANGE<br />

TAKE THE <strong>CH</strong>ANCE<br />

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YOURS IS THE <strong>CH</strong>OICE<br />

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Story — 6<br />

6<br />

«Ich zeige<br />

den verborgenen<br />

Teil der<br />

Welt»<br />

84 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 6<br />

Interview – Denise Liebchen<br />

Fotos – Romain Berger<br />

In seiner Heimat Frankreich hat er vergeblich<br />

gesucht, was er schliesslich<br />

im Ausland gefunden hat: Anerkennung.<br />

Romain Berger inszeniert mit<br />

seinen Bildern das geheime Leben der<br />

Menschen, ihre dunklen Seiten, sonst<br />

verborgen aus politischer Korrektheit.<br />

Das Werk des Szenefotografen ist eine<br />

schräge und bunte Ode an das Leben,<br />

die Liebe und die Meinungsfreiheit.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

85


Story — 6<br />

Dein Bild «La fine fleur de la société patriarcal» zeigt zwei<br />

verschlungene Männer im Bad, während Hausfrauen in der<br />

Küche schwatzen. In «Bon appétit» fläzt einer an der offenen<br />

Kühlschranktür und gibt sich der Völlerei hin. Wie viel Romain<br />

steckt in diesen Bildern?<br />

In diesen Bildern lebe ich den Teil von mir aus, den ich verborgen<br />

habe. Ich traute mich sehr lange nicht, mich zu kleiden, zu<br />

frisieren und zu tun, was ich wollte, aus Angst vor den Blicken<br />

der anderen. Die zwei Männer verstecken sich im Bad, um ihr<br />

queeres Verlangen zu befriedigen. Der Mann in «Bon appétit»<br />

vergnügt sich ohne Scham – das Bild ist eine Metapher für Sex,<br />

für die Freiheit des eigenen Körpers und dafür, zu seinen sexuellen<br />

Wünschen zu stehen. All das steht für meine dunkle Seite, die<br />

ich seit einigen Jahren zu erforschen beginne. Und ich fühle mich<br />

immer freier mit mir selbst.<br />

Was bedeutet das Patriarchat für dich und welchen Teil<br />

davon forderst du heraus?<br />

Das Patriarchat steht für die Gesellschaft, die weissen cis-gender<br />

heterosexuellen Männer, die ein System geschaffen haben, indem<br />

sie sich als Norm durchgesetzt haben. Sie haben Regeln geschaffen<br />

und akzeptieren nicht, dass man aus ihnen ausbrechen kann.<br />

Sie haben Angst vor der Freiheit. Daher fordere ich die Gewalt<br />

heraus, mit der sie Minderheiten und Frauen unterdrücken. Ich<br />

versuche, den Menschen etwas anderes zu zeigen, weit weg von<br />

dem, was die Gesellschaft versucht, uns als normal aufzuzwingen.<br />

Ich finde ihre Regeln idiotisch.<br />

Du willst mit jedem Bild eine Geschichte erzählen.<br />

Hast du eine, die dir besonders am Herzen liegt?<br />

Eine bestimmte nicht, aber das geheime Leben von Menschen zu<br />

inszenieren . . . das ist es, was ich mag. Wir alle haben ein öffentliches<br />

Image, und oft ist dieses Image klassisch, um den Regeln<br />

und Normen der Gesellschaft zu entsprechen. Wie sieht das Leben<br />

aus, das die Menschen führen, wenn sie ihre Wohnungstür<br />

geschlossen haben? Was machen sie in ihrer Freizeit? Ich zeige<br />

gerne den verborgenen Teil der Welt, den man nicht offenbaren<br />

darf, weil man sonst von anderen verurteilt und als abnormal<br />

angesehen wird.<br />

Deine Ästhetik ist sehr gay, sagst du. Wie drückst du sie aus?<br />

Meine Ästhetik ist sehr schwul, schon deswegen, weil mein<br />

Hauptthema auf queeren Menschen basiert und weil ich die<br />

Codes der LGBTIQ-Kultur aufgreife und sie verfremde. Die Farben,<br />

die ich verwende, spielen viel mit dieser Ästhetik, die häufig<br />

in Schwulenclubs und -saunen zu finden sind.<br />

Wie findest du deine Models?<br />

Die meisten meiner Modelle finde ich über Instagram oder<br />

manchmal sind es Leute, die ich auf Partys treffe, Jungs, mit denen<br />

ich geschlafen habe und die ich perfekt für meine Kreationen<br />

finde.<br />

Deine Arbeit ist gesellschaftskritisch: Du stellst Menschen in<br />

den Mittelpunkt, die sonst diskriminiert werden. Was forderst<br />

du mit deinen Bildern ein?<br />

Ich fordere, dass man sein kann, wer man will, und tun kann, was<br />

man will, ohne beurteilt zu werden und ohne die Zustimmung<br />

anderer zu benötigen. Das ist es, was mir am meisten am Herzen<br />

liegt. Die Freiheit, sich selbst zu sein. Und dass der Hass der<br />

Liebe weicht.<br />

Du benutzt Neonlicht und sagst, es gehört mittlerweile zu deiner<br />

künstlerischen Identität. Woher kam die Idee?<br />

Ich bin ein grosser Fan des Regisseurs Gregg Araki, der Neonröhren<br />

in seinen Szenen verwendet. Diese Art von Licht erinnert<br />

mich auch an die Saunen und Clubs von Paris, die ich früher oft<br />

besucht habe. Das sind Atmosphären, die mich geprägt haben,<br />

und mit denen ich Sinnlichkeit und Sexualität verbinde.<br />

Deine Bilder muten fast an wie Gemälde. Wie viel Zeit steckst<br />

du in die Vor- und Nachproduktion?<br />

Für ein neues Bild benötige ich etwa zwei bis drei Wochen.<br />

Zwischen der Idee, der Skizze auf Papier, der Suche nach dem<br />

Modell oder den Modellen und dem Finden der Elemente der<br />

Kulisse kann ich schon eine Woche verbringen. Dann muss ich<br />

die Kulissen komplett zusammenbauen, das ist wie ein Filmsetaufbau.<br />

Manchmal brauche ich bis zu 24 Stunden, um ein Set<br />

fertigzustellen. Das anschliessende Shooting geht sehr schnell,<br />

weil ich mir vorher schon alles überlegt habe. Die Postproduktion<br />

kann von 3 bis 15 Stunden dauern, das hängt vom Bild ab. Ich bin<br />

sehr perfektionistisch, also nehme ich mir die Zeit.<br />

Deine Ausstellungstour heisst «All You Need Is Love». Ist es<br />

die Liebe, die dich zu deinen Arbeiten antreibt?<br />

Ja, ich glaube zutiefst, dass die Liebe das beste Heilmittel gegen<br />

das Böse in dieser Welt ist. Dieser Titel ist auch eine Art zu sagen,<br />

dass jeder Mensch Liebe verdient, unabhängig von seiner Sexualität.<br />

Niemand sollte gehasst werden, nur weil er von den «Normen»<br />

des Patriarchats abweicht. Das ist lächerlich und bringt<br />

nichts.<br />

Du stellst dieses Jahr in deiner Heimat Frankreich aus,<br />

in England und Deutschland. Kommst du auch mal in die<br />

Schweiz und nach Österreich?<br />

Ich werde in die Schweiz kommen, aber derzeit nicht für die «All<br />

You Need Is Love»-Tour, sondern für eine Gruppenausstellung im<br />

Mai oder Juni, um einige meiner neuen Kreationen vorzustellen.<br />

Falls eine Galerie an meiner Ausstellung «All You Need Is Love»<br />

interessiert ist, kann sie mich gern kontaktieren.<br />

Stimmt es, dass du in deinem Heimatland kaum gewürdigt<br />

wirst, während man dich im Ausland feiert?<br />

Das ist absolut wahr. Französische Galerien und Zeitschriften<br />

sind nicht begeistert davon, mich auszustellen. Sie halten mich<br />

für zu trashig, zu bunt und zu queer. Sie wollen kein Risiko eingehen<br />

und glauben nicht wirklich an meine Arbeit. Bisher hatte ich<br />

nur zwei Ausstellungen in Frankreich und jedes Mal war es sehr<br />

kompliziert. Es gibt enorm viele Regeln und wenig Freiheit. Die<br />

anderen Ausstellungen, die ich regelmässig im Ausland mache,<br />

sind anders. Galerien und Zeitschriften lieben meine Arbeit und<br />

ermutigen mich sogar, Frankreich zu verlassen, um zu ihnen zu<br />

kommen. Es gibt einen echten Unterschied zwischen Frankreich<br />

und anderen Ländern und in meiner Heimat sind sie sich nicht<br />

bewusst, was für mich im Ausland passiert.<br />

Wie erklärst du dir diesen Unterschied?<br />

Frankreich kontrolliert sein Image. Man sagt, man sei ein sehr<br />

kulturelles Land, aber nur für eine Art von Kultur. Man mag<br />

Schlösser, klassischen Tanz und schöne Renaissancegemälde. Wir<br />

mögen auch alles, was zeitgenössisch und manchmal abstrakt ist.<br />

Aber Kunst wie meine, die eine andere und freizügige Realität<br />

darstellt, wird unsichtbar gemacht. Es wird gerne das Gerücht<br />

86 Frühling <strong>2023</strong>


verbreitet, dass Frankreich ein offenes Land sei, aber bis jetzt<br />

war es das Land, das am härtesten zu mir war und sehr kritisch<br />

gegenüber meiner Arbeit ist. Deshalb habe ich vor, nach Berlin zu<br />

ziehen und dieses Land ohne Reue zu verlassen.<br />

Wenn du einen Wunsch frei hättest, was möchtest<br />

du als Fotograf noch erreichen?<br />

Ich wurde von Dian Hanson, der Verlagsredakteurin bei Taschen,<br />

entdeckt und würde mich sehr freuen, wenn sie mich verlegen.<br />

Deshalb arbeite ich neben meinen Ausstellungen intensiv an neuen<br />

Entwürfen. Träume habe ich viele: Bilder für Jean Paul Gaultier<br />

zu machen, mit Sängern für Albumcover zu arbeiten wie Lil<br />

Nas X, Olly Alexander oder in Frankreich Eddy de Pretto. Ich<br />

habe seit sieben Jahren keinen Film mehr gemacht, obwohl ich<br />

das studiert habe. Als ich jetzt einen Clip für die Promotion meiner<br />

Tournee drehte und merkte, wie sehr mir das Filmen fehlt,<br />

habe ich beschlossen wieder etwas zu machen. In meinem Kopf<br />

gibt es eine Million Wünsche und Träume. Ich hoffe, dass ich sie<br />

alle erfüllen kann.<br />

Story — 6<br />

«Das Neonlicht<br />

erinnert mich an<br />

die Saunen und<br />

Clubs von Paris.»<br />

Romain Berger<br />

ist ein französischer Szenefotograf,<br />

Ende der Achtziger in der Normandie<br />

geboren. Er absolvierte eine Film- und<br />

Theaterausbildung. Die Populärkultur,<br />

Stereotypen und die Geschlechterfrage<br />

faszinieren ihn seit langem.<br />

Er greift bewusst Klischees der Schwulenkultur<br />

auf und verfremdet sie, um<br />

unsere Welt zu beleuchten, in ihren<br />

besten Seiten als auch in ihren schlechtesten:<br />

Zu seinen Themen gehören etwa<br />

Einsamkeit, Oberflächlichkeit, Überkonsum,<br />

Gewalt, Sucht, Sex und Politik.<br />

Der englische Verlag Men on Paper<br />

Art veröffentlichte im September 2022<br />

«Life’s a cabaret», ein Buch über seine<br />

Arbeit, in dem alle seine Fotografien seit<br />

2018 zusammengefasst sind. Vom 13.<br />

Mai bis 11. Juni sind seine Werke in der<br />

Bowie Gallery in Genf zu sehen, vom 28.<br />

Juli bis 6. August führt ihn seine Ausstellungstour<br />

«All You Need Is Love» nach<br />

Berlin.<br />

Mehr über Romain Berger:<br />

romainberger-photography.com<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

87


88 Frühling <strong>2023</strong><br />

Story — 6


Story — 6<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

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90 Frühling <strong>2023</strong><br />

Story — 6


Story — 6


92 Frühling <strong>2023</strong><br />

Story — 6


Story — 6<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

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94 Frühling <strong>2023</strong><br />

Story — 6


Story — 6<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

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96 Frühling <strong>2023</strong><br />

Story — 6


Story — 6<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

97


31.3.–2.4.<br />

KONGRESSHAUS ZÜRI<strong>CH</strong><br />

BLICKFANG.<strong>CH</strong>


KOLUMNE<br />

Wie Heteros<br />

Verstecken spielen<br />

S. und J. sind ein Paar. Davon<br />

wusste bis jetzt aber noch niemand. Sie<br />

sitzen in einem Fernsehstudio und werden<br />

gleich zum ersten Mal über ihre Liebe<br />

sprechen. Auf RTL um 20:15. Über<br />

Monate mussten die beiden ihre Beziehung<br />

vor der Öffentlichkeit geheim halten.<br />

Kein Händchenhalten, kein Kuss<br />

beim Spazierengehen, alles Gemeinsame<br />

war ein Risiko. Man könnte ja von den<br />

anderen gesehen werden. Im Interview<br />

sagen die beiden, es sei ein «Versteckspiel»<br />

gewesen – und das «über Monate»<br />

hinweg. Wie gut, dass das Verheimlichen<br />

heute ein Ende hat. Endlich dürfen sie<br />

offen zu ihrer Liebe stehen.<br />

S. und J. sind Sharon und Jan. Sie<br />

war die Bachelorette und er hat «ihr Herz<br />

erobert». Im fröhlichen Plauderton wird<br />

im TV über die Zeit des Verheimlichens<br />

gesprochen und über diese «verrückte<br />

Zeit» gelacht. Sie mussten ihre Beziehung<br />

ein halbes Jahr geheim halten, weil bis<br />

zur Ausstrahlung des Finales natürlich<br />

niemand wissen durfte, wer gewinnen<br />

würde. Eigentlich ist diese Geschichte<br />

nicht mehr als eine nette, kleine Anekdote.<br />

Trotzdem passiert hier etwas sehr Seltsames:<br />

Ist es nicht interessant, dass das<br />

Gewinnerpärchen für ein paar Monate jenes<br />

Leben leben musste, welches schwule<br />

Männer oft ihr ganzes Leben lang<br />

durchhalten müssen? Ihre Beziehung zu<br />

verheimlichen? Sich gemeinsam nicht<br />

öffentlich zeigen zu dürfen? Ihr ganzes<br />

Leben nur hinter verschlossenen Türen zu<br />

organisieren? Überspitzt formuliert könnte<br />

man sagen: Wer als Hetero Lust hat,<br />

sich für ein paar Monate so zu fühlen, wie<br />

sich viele schwule Männer oft ihr ganzes<br />

Leben lang fühlen (oder gefühlt haben),<br />

muss nur beim Bachelor teilnehmen.<br />

Und nicht einmal dann ist es genau<br />

dasselbe: Das Wort «Versteckspiel»<br />

beschreibt es am besten. Das Geheimhalten<br />

der Beziehung ist für das Gewinnerpärchen<br />

nur ein Spiel und nicht Ernst.<br />

Es ist nur ein kurzer Teil ihres Lebens<br />

und nicht die Grundmelodie ihrer<br />

gesamten Beziehung. Die Zeit des Versteckens<br />

ist begrenzt. Ausserdem können<br />

sich die beiden im Nachhinein mit<br />

dem «Geschafft haben» des Geheimhaltens<br />

schmücken: Sie bekommen vom Publikum<br />

und ihren Followern mitfühlende<br />

Reaktionen, wenn sie davon erzählen.<br />

«Das muss ja wirklich schwierig gewesen<br />

sein!» Es ist wie eine bestandene Prüfung,<br />

für die man viel Applaus und Bewunderung<br />

bekommt. Und sollten sie<br />

dennoch von jemandem vor der finalen<br />

Sendung erwischt werden, droht im<br />

schlimmsten Fall nur ein Vertragsbruch<br />

und keine strafrechtlichen Konsequenzen<br />

inklusive gesellschaftlicher Ächtung.<br />

Es scheint so, als würden die<br />

beiden für das erfolgreiche Verstecken<br />

mehr Anerkennung und Würdigung bekommen,<br />

als es schwule Männer für ein<br />

gesamtes Leben im Geheimen je bekommen<br />

haben – und vermutlich auch werden.<br />

Nicht als Einzelpersonen und auch<br />

nicht als Kollektiv. Über Jahrzehnte etwas<br />

aushalten zu müssen, das im Verborgenen<br />

stattfinden muss, ist vermutlich<br />

schwerer fassbar als ein offenes Leben,<br />

das man für ein kurzes Verstecken spielen<br />

unterbricht. Weil «da hat man bemerkt,<br />

wie schwierig das war». Und erst<br />

durch den Vergleich zum freien Leben<br />

wird es zu etwas Besonderem. Und damit<br />

zu etwas besonders Bewundernswertem.<br />

In den letzten 10 Jahren haben<br />

es immer mehr Bereiche schwuler Kultur<br />

in den Mainstream geschafft: Heidi Klum<br />

sucht im Fernsehen nach Dragqueens,<br />

Sendungen wie «Queer Eye» sind breitenwirksame<br />

Netflix-Erfolge und «slay»<br />

das Jugendwort 2022. Ist das probeweise<br />

Verstecken von Beziehungen in der<br />

Öffentlichkeit, wie beim Bachelor, auch<br />

einer dieser Einflüsse? Oder ist das schon<br />

kulturelle Aneignung?<br />

REDEN IST GOLD<br />

Peter Fässlacher ist<br />

Moderator und Sendungsverantwortlicher<br />

bei<br />

ORF III und Stimme des<br />

Podcasts «Reden ist Gold»<br />

über die Liebe und das<br />

Leben mit Menschen<br />

der LGBTIQ-Community.<br />

Er lebt in Wien.<br />

peter@mannschaft.com<br />

Illustration: Sascha Düvel<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

99


Story — 7<br />

7<br />

Die<br />

Schlacht<br />

um den<br />

Stern<br />

100 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 7<br />

Text – Denise Liebchen<br />

Illustrationen – Katarzyna Zietek<br />

Die Sprache gehört uns allen und<br />

wenn sie sich ändert, bricht Streit aus.<br />

Die einen schreien «Gender-Terror»,<br />

die anderen fordern «Gleichheit».<br />

Dabei sollte es längst nicht mehr um<br />

das OB gehen, sondern um das WIE.<br />

Und um die Fakten.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

101


Story — 7<br />

1. Gendergerechte<br />

Sprache ist ein alter Hut.<br />

ie Gendersprache führt ein merkwürdiges Doppelleben.<br />

Obwohl sie längst Teil der Öffentlichkeit ist<br />

– Bundesministerien, Verwaltungen, Universitäten<br />

geben Leitfäden mit Tipps zum inklusiven Sprachgebrauch<br />

heraus –, wird sie mit harten Bandagen bekämpft.<br />

Anfang Jahr sagte etwa die Programmchefin<br />

der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Karin Friedli:<br />

«Wenn ich eine Mail erhalte, die sich an Parlamentarier*innen<br />

wendet, drücke ich direkt auf Delete.» Ihre<br />

Partei hat angekündigt, dass sie auf allen politischen<br />

Ebenen Vorstösse einreichen wird, um das Gendern<br />

zu verbieten. Auch in Deutschland und in Österreich<br />

schiessen Gegner*innen scharf und fordern Verbote.<br />

Die Zeit der sanften Worte ist abgelaufen.<br />

Was überhaupt will die geschlechtergerechte Sprache?<br />

Nein, sie will keinesfalls den Untergang der Sprache.<br />

Was sie will, ist, so gesprochen und geschrieben<br />

zu werden, dass sich weibliche, männliche und diverse<br />

Menschen angesprochen fühlen. Sie will alle<br />

Geschlechtsidentitäten sichtbar machen und gleichbehandeln.<br />

Aber einen Untergang gibt es, den sie definitiv<br />

will: den des generischen Maskulinums. Das ist<br />

nämlich ein böses Ding, weil es Frauen und nicht-binäre<br />

Identitäten unsichtbar macht. Wenn das biologische<br />

Geschlecht (Mann – männlich, Frau – weiblich, Auto<br />

– sächlich) vermeintlich unwichtig ist, greift verallgemeinernd<br />

das generische Maskulinum: Die männliche<br />

Bezeichnung meint andere Geschlechter mit. Das ist<br />

zwar gut lesbar, aber irreführend. Aus einer Veranstaltung<br />

mit 20 Studenten und 40 Studentinnen kann eine<br />

Veranstaltung mit 60 Studenten werden.<br />

In der gegenwärtigen und gefühlsgeladenen<br />

Sprachschlacht plädieren wir für eine ruhige und argumentative<br />

Haltung. Deshalb haben wir ausgewählte<br />

Einwände gegen das Gendern einem Faktencheck<br />

unterzogen. Herausgekommen sind einige Erkenntnisse,<br />

die wir in sieben schlauen Sätzen auf den Punkt<br />

bringen.<br />

Der Versuch nach geschlechtergerechter Sprache findet sich in allen<br />

Phasen der deutschen Sprache (Quelle der nachfolgenden Beispiele<br />

ist ein Vortrag des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch).<br />

Schon 1817 vermied Johann Wolfgang von Goethe in seinem Roman<br />

«Wilhelm Meisters Lehrjahre» Personenbezeichnungen: «Für Reisende<br />

ist wenig gesorgt; wer zu Fuss geht, wird nicht hoch genug<br />

geachtet; wer fährt, lebt mit dem Postillon in einer Art von Ehe.» In<br />

einer Erzählung verwendet Herman Schmid 1864 die Doppelformel:<br />

« . . . und noch nahmen die Fussgänger und Fussgängerinnen kein<br />

Ende, welche von allen Seiten herbeiströmten.» Oder 1874 standen<br />

geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen im «Landes-Gesetzund<br />

Verordnungsblatt für das Königreich Galizien und Lodomerien<br />

sammt dem Großherzogthume Krakau»: « . . . das Recht zur Erhebung<br />

der Mautgebühr . . . von jeder zu Fuss gehenden, zu Wagen<br />

fahrenden, oder zu Pferd reitenden Person . . . »<br />

Gegner*innen der geschlechtergerechten Sprache wenden ein,<br />

dass erst die verstärkte Verwendung von weiblichen Personenbezeichnungen<br />

dazu geführt habe, dass wir das Maskulinum mit Männern<br />

assoziieren, ursprünglich sei es generisch gewesen.<br />

Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch entkräftet diese<br />

Kritik: «Die Idee, das Maskulinum sei eine generische Form, entstand<br />

erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als Frauen begannen am öffentlichen<br />

Leben teilzuhaben. Auch in Sprachen, in denen nicht oder erst<br />

seit kurzem gegendert wird, wird das Maskulinum mit männlichen<br />

Personen assoziiert (z.B. im Französischen). Das Maskulinum war<br />

also nie wirklich generisch, sondern bezog sich schon immer vorrangig<br />

auf Männer.»<br />

Und wenn er das Argument hört, wir dürften in die natürliche<br />

Sprachentwicklung nicht eingreifen, dann antwortet er, dass es keine<br />

«natürliche» Sprachentwicklung gebe. Sprachwandel geschehe sowohl<br />

durch bewusste Eingriffe (vor allem Wortschatz, Rechtschreibung)<br />

als auch durch unbewusste, langfristige Prozesse (vor allem<br />

Laut- und grammatischer Wandel). Wir haben also schon immer in<br />

die Sprachentwicklung eingegriffen und dürfen es auch weiterhin.<br />

2. Gendern fixiert<br />

sich nicht per se aufs<br />

Geschlecht.<br />

Einerseits gibt es das genderinklusive Sprechen und Schreiben: Traditionelle<br />

oder neu entwickelte Formen wie der Genderstern machen<br />

auch Frauen und andere Geschlechter sichtbar (siehe auch «Eine kurze<br />

Geschichte des Genderns» auf Seite 105). Andererseits gibt es das<br />

Entgendern, also genderabstrahierende Formen, die das Geschlecht<br />

weitestgehend aus dem Sprachgebrauch heraushalten, wo es nicht<br />

unmittelbar von Bedeutung ist: zum Beispiel Radfahrende, wer mit<br />

dem Rad fährt, oder kreative Formen wie das Radfahry, dx Radfahrx<br />

oder ens Radfahrens.<br />

102 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 7<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

103


Story — 7<br />

3. Sprache beeinflusst,<br />

was wir tun.<br />

Einer der Einwände gegen geschlechtergerechte Sprache lautet,<br />

dass sie unsere Wirklichkeit und ihre Ungleichheiten nicht<br />

verändern könne. Die Studie von Vervecken & Hannover (2015)<br />

wies jedoch nach, dass Stellenanzeigen im generischen Maskulinum<br />

dazu führen, dass Mädchen und junge Frauen den betreffenden<br />

Beruf für weniger zugänglich halten. Sie senken auch<br />

die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich den Beruf zutrauen. Sprich<br />

der traditionelle Sprachgebrauch kann nicht nur unser Denken<br />

beeinflussen, sondern auch unser Handeln. Wenn wir unseren<br />

Sprachgebrauch ändern, öffnen wir damit neue Denkräume.<br />

4. Gendersprache stört<br />

den Lesefluss nicht.<br />

Wenn in einem Satz fünf Gendersternchen strahlen, ist unser<br />

Auge verblendet. Das leuchtet sofort ein. Doch in der Praxis<br />

kommt es selten so weit und sollte es auch nicht (siehe «So genderst<br />

du richtig» auf Seite 106).<br />

Kritische Stimmen argumentieren häufig, dass eine geschlechtergerechte<br />

Sprache die Verständlichkeit und Lesbarkeit von Texten<br />

beeinträchtigt. Friedrich und Heise testeten diese Annahme<br />

für die deutsche Sprache in ihrer Studie (2019): 355 Studierende<br />

lasen einen zufällig zugewiesenen Text. Anschliessend beantworteten<br />

sie einen Verständlichkeitsfragebogen. Die, die einen Text<br />

in geschlechtergerechter Sprache gelesen hatten, gaben keine statistisch<br />

signifikant schlechteren Bewertungen der Verständlichkeit<br />

ab als solche, die einen Text gelesen hatten, der ausschliesslich<br />

maskuline Formen verwendete. Die Ergebnisse deuten darauf<br />

hin, dass geschlechtergerechte Sprache die Verständlichkeit von<br />

Texten nicht beeinträchtigt. Jedoch nahmen an dieser Studie ausschliesslich<br />

neurotypische Lesende teil. Forschungen mit neuroatypischen<br />

Menschen gibt es noch nicht. Der deutsche Blindenund<br />

Sehbehindertenverband empfiehlt unter den verschiedenen<br />

gendergerechten Formen den Genderstern, da er als «Sternchen»<br />

vorgelesen wird und keine andere Bedeutung hat wie etwa ein<br />

Genderdoppelpunkt.<br />

5. Die Ablehnung<br />

gegen das Gendern<br />

ist weitgehend<br />

inszeniert.<br />

Wir benutzen Sprache automatisch und unbewusst. Es ist also<br />

vollkommen normal, dass wir eine Veränderung als anstrengend<br />

wahrnehmen. Erst recht, wenn wir denken, dass die Mehrheit<br />

gegen Gendersprache ist. Jedoch existiert zu dieser Frage bisher<br />

keine Studie, die nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt<br />

wurde, und Meinungsumfragen sind typischerweise suggestiv<br />

formuliert und lassen offen, was sie mit «Gendersprache» überhaupt<br />

meinen.<br />

Die öffentliche Aufregung in ihrer Tonalität und Wucht ist weitgehend<br />

inszeniert, um Aufmerksamkeit zu generieren und politische<br />

Botschaften zu platzieren. Begriffe wie «Genderwahn» oder<br />

«Gender-Terror» werden insbesondere von rechtspopulistischen<br />

und rechtskonservativen Gruppen benutzt, um Bestrebungen der<br />

sprachlichen Gleichstellung abzuwerten und um zu zeigen, dass<br />

sie sich gegen etwas Neues einsetzen, stellvertretend für alles, was<br />

Veränderung anstösst. Ein jüngeres Beispiel zu dieser Debatte aus<br />

der Schweiz: Die eingangs erwähnte SVP-Programmchefin Karin<br />

Friedli hat angekündigt, dass ihre Partei auf allen politischen<br />

Ebenen Vorstösse einreichen werde, um das Gendern zu verbieten.<br />

Sie will Gleichstellungsbüros abschaffen, den Genderstern<br />

verbieten und Steuergelder streichen, wenn öffentliche Institutionen<br />

«diese Ideologien» unterstützen. Denn sonst würden wir<br />

unsere Sprache verhunzen und «diese weltfremden Ideologien<br />

sind mittlerweile so dominant, dass es einen Gegenpol braucht».<br />

Die Co-Präsidentin der Sozialdemokrat*innen (SP) Mattea Meyer<br />

sagte in einem Interview, dass diese Debatte um den Genderstern<br />

vorgegaukelt sei: «Dahinter steckt die Absicht, die Frauenrechte<br />

einzuschränken. Vor ein paar Jahren wurde es von vielen als<br />

wahnsinnig stossend empfunden, dass man jetzt beispielsweise<br />

von Bürgerinnen und Bürgern sprechen sollte. Heute ist es eine<br />

Selbstverständlichkeit, dass die männliche Form nicht automatisch<br />

Frauen mit meint. So wird es auch beim Genderstern sein. Er<br />

wird im Privaten ja niemandem aufgezwungen. Ich finde es aber<br />

angebracht, dass öffentliche Stellen in ihren Dokumenten versuchen,<br />

alle Menschen anzusprechen. Diskriminierungen und Gewalt<br />

gegen queere Menschen sind leider Realität.»<br />

Ein anderes Beispiel aus Hamburg: Dort will die AfD (Alternative<br />

für Deutschland) die Gendersprache an den Schulen verbieten<br />

lassen und hat Zuspruch von der christdemokratischen Bildungsexpertin<br />

Birgit Stöver erhalten: Sternchen und Unterstriche hätten<br />

«in der deutschen Sprache nichts zu suchen». Der sozialdemokratische<br />

Nils Hansen ist gegen das Verbot der Gendersprache: «Sprache<br />

verändert sich, Sprache entwickelt sich – ich als Deutschlehrer<br />

finde das super, ich mag lebendige Sprache». Es gebe an den<br />

Schulen klare Rechtschreibregelungen. Mit dem Genderverbot<br />

104 Frühling <strong>2023</strong>


wolle die AfD den Schüler*innen eine Entscheidungsmöglichkeit<br />

nehmen. «Hinter diesem Antrag steht ganz viel Angst vor einer<br />

meinungsstarken Jugend.»<br />

In Österreich zog Ende letzten Jahres die Kärntner Landesregierung<br />

ihren Gender-Leitfaden zurück – nach heftiger Kritik<br />

vonseiten der rechtsgerichteten FPÖ, unterstützt von der konservativen<br />

Volkspartei (ÖVP). In dem 71-seitigen Leitfaden war eine<br />

geschlechtsneutrale Sprache vorgesehen. Die Vorgaben sollten im<br />

«gesamten Schriftverkehr der Verwaltung» gelten.<br />

In den Schlachten um die Sprache geht es auch um Meinungsfreiheit.<br />

Sätze wie «Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu<br />

sagen habe» betonen den Willen, die eigene Meinung frei zu äussern.<br />

Wer dieses Argument benutzt oder hört, sollte bedenken,<br />

dass geschlechtergerechte Sprache nicht das «Was», sondern das<br />

«Wie» betrifft. Wir können mit ihr alles ausdrücken. Die einzige<br />

Meinung, die durch geschlechtergerechte Sprache eingeschränkt<br />

wird, ist die, dass nur Männer Sichtbarkeit verdient haben. Wer<br />

also die verschiedenen Geschlechter für gleichberechtigt hält,<br />

kann nicht so sprechen oder schreiben, als bestünde die Welt nur<br />

aus Männern.<br />

Story — 7<br />

1989: Fussnoten<br />

die Hörer 1<br />

der Hörer 1<br />

1<br />

Frauen sind mitgemeint<br />

Eine kurze<br />

Geschichte des<br />

Genderns<br />

1980<br />

1990<br />

1980: Das Binnen-I<br />

die HörerInnen<br />

die HörerIn<br />

1991:<br />

Kreatives<br />

Entgendern<br />

das Höry<br />

6. Sprache gehört allen.<br />

Doch man muss nicht gleich antifeministisch und diversitätsfeindlich<br />

sein, um sich mit Sprachveränderung schwerzutun. Ein<br />

plötzlich anderes Sprachbild irritiert uns und stört – Sprache wird<br />

anstrengend. Dabei ist dieser Störeffekt aber ganz beabsichtigt.<br />

Warum? Weil nur so Ungleichheiten bewusst gemacht und neue<br />

Sprachweisen durchgesetzt werden können – bis wir sie nach<br />

einiger Zeit wie selbstverständlich und quasi automatisch umsetzen.<br />

Dass sich Sprache mit der Zeit und zusammen mit einer Gesellschaft<br />

ändert, ist unvermeidbar. Was vor einigen Jahren noch<br />

normal war, bewerten wir heute anders – das betrifft nicht nur<br />

die Sprache. Um Sprache unserer Realität anzupassen, bedarf es<br />

manchmal aktiver Anstrengung – bis die Veränderung als ganz<br />

normal verinnerlicht wird.<br />

Ein Beispiel hierfür findet sich im Jahr 1522, als Martin Luther<br />

die Bibel ins Deutsche übersetzte: Teilweise fehlte dafür das Vokabular<br />

und es gab grosse regionale Unterschiede im Wortgebrauch,<br />

ohne, dass es eine allgemein akzeptierte Standardform gab. Deshalb<br />

prägte Luther neue Wörter oder wählte nach eigenem Empfinden<br />

eine Standardform. Wörter, die wir bis heute verwenden,<br />

sind etwa Bluthund, Denkzettel, Ebenbild, Feuertaufe, Gewissensbisse,<br />

Herzenslust, Lockvogel, Machtwort, Nächstenliebe,<br />

Schandfleck und viele mehr. «Auch diese Wörter dürften zunächst<br />

fremd und etwas künstlich geklungen haben, heute kommen sie<br />

uns selbstverständlich vor», sagt Anatol Stefanowitsch.<br />

Die Sprache gehört allen. Gendern ist keine Ideologie, sondern<br />

konform mit den Prinzipien unserer Gesellschaftsordnung, in der<br />

wir alle vor dem Gesetz gleich sind, alle Geschlechter gleichberechtigt<br />

und Freiheit vor Diskriminierung gilt.<br />

Eine Mehrheit kann nicht für alle stehen, weil sie die Minderheit<br />

nicht abdeckt; eine Mehrheit muss gehört werden, aber sie<br />

kann die Diskussion nicht beenden.<br />

2021: Kreatives<br />

Entgendern<br />

ens Hörens (das ens<br />

ist der mittlere Teil des<br />

Wortes Mensch)<br />

2000<br />

2020<br />

2010<br />

<strong>2023</strong><br />

2003: Gender-Gap<br />

die Hörer_innen<br />

die_der Hörer_in<br />

2014: Genderstern<br />

die Hörer*innen<br />

die*der Hörer*in<br />

2014: Kreatives<br />

Entgendern<br />

dx Hörx (ausgesprochen<br />

«dix Hörix»)<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

105


7. Der Genderstern<br />

strahlt hell und könnte<br />

erlöschen.<br />

Unter allen geschlechtergerechten Formen wird es wahrscheinlich<br />

der Genderstern sein, der sich durchsetzen wird. So schätzt<br />

es der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch ein. Personen,<br />

die einwenden, das Gendern oder der Stern seien hässlich,<br />

sei gesagt: Schönheit – auch die sprachliche – liegt im Auge der<br />

Betrachtenden. Und nicht-binäre und weibliche Menschen zu diskriminieren,<br />

ist auch hässlich.<br />

In den Achtzigern forderten die Feminist*innen, dass der<br />

«Lehrer» nicht direkt von der «Lehrperson» ersetzt wurde, weil<br />

sie befürchteten, dass das Bild des männlichen «Lehrers» direkt<br />

in die «Lehrperson» überging. Deshalb kämpften sie dafür, dass<br />

die Frauen in «LehrerInnen» sichtbar wurden. Diese Logik zeigt,<br />

warum es nun gendergerechte Formen wie den Genderstern als<br />

Übergang braucht, bis wir queere Menschen mitdenken. Es ist<br />

wahrscheinlich, dass es noch neue Formen geben wird. Denn wie<br />

die Sprache selbst, ist auch das Gendern dynamisch.<br />

So genderst<br />

du richtig<br />

→ Überfrachte den Text nicht mit Genderzeichen-Konstruktionen.<br />

→ Wir empfehlen den Genderstern, da er<br />

die Symbolkraft hat für geschlechtliche<br />

Vielfalt. Faustregel: Nur ein Stern pro Satz.<br />

Überlege, ob du deine Inhalte anders<br />

formulieren kannst und werde kreativ.<br />

→ Wenn du den Genderstern im Plural<br />

(Mehrzahl) einsetzt, ist es unproblematisch.<br />

Beispiel: Lehrer*innen<br />

→ Sei vorsichtig bei der Einzahl: Verwende<br />

ihn nicht allzu oft, verbinde den männlichen<br />

und weiblichen Artikel mit einem<br />

Stern. Beispiel: jede*r Reporter*in<br />

→ Es werden nur Menschen gegendert.<br />

Frage dich, ob Personen oder Institutionen<br />

gemeint sind. Manche Wörter bleiben<br />

gleich (wie Arztbrief). Je mehr es darum<br />

geht, Personen zu beschreiben, desto<br />

wichtiger ist es zu gendern, aber feststehende<br />

Bezeichnungen von Verbänden<br />

etwa darf man nicht eigenmächtig ändern.<br />

→ Tipp: Oft hilft ein gleichbedeutendes<br />

Wort als Ersatz. Beispiel: Redepult statt<br />

Rednerpult.<br />

→ Schreibe geschlechtsneutral. Geht<br />

es um konkrete Personen und um deren<br />

Geschlecht, dann gendere, wenn nicht,<br />

dann verwende geschlechtsneutrale<br />

Formulierung: Oberbegriffe, Synonyme,<br />

Umschreibungen, Partizipien. Beispiele:<br />

Radfahrende, wer mit dem Rad fährt.<br />

→ Um aus der Schreibroutine des generischen<br />

Maskulinums herauszukommen, hilft<br />

das Beschreiben von Tätigkeiten. Beispiel:<br />

nicht Steuerzahler, sondern alle, die Steuern<br />

zahlen. Das Maskulinum ist nur dann<br />

berechtigt, wenn ausschliesslich Männer<br />

gemeint sind.<br />

Mehr Tipps zum Genderstern<br />

findest du hier:<br />

106 Frühling <strong>2023</strong>


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Literatur<br />

Die guten Seiten<br />

tin*stories<br />

Trans / inter / nichtbinäre<br />

Geschichte(n)<br />

seit 1900<br />

Der erste Satz<br />

Wir haben keine Geschichte.<br />

Das Genre<br />

Eine Spurensuche in 14 Beiträgen.<br />

Die Handlung<br />

17 Autor*innen führen durch einen Teil der<br />

Geschichte von trans, inter und nicht-binären<br />

Menschen von 1900 bis heute. Unter<br />

anderem gehen wir dabei den Erfahrungen<br />

von Liddy Bacroff nach, die als trans Frau<br />

und Sexarbeiterin während des Nationalsozialismus<br />

verfolgt wurde. Oder Karl M. Baer,<br />

der sein Leben als inter Person in einem<br />

Roman niederschrieb.<br />

Herausgegeben von Joy Reißner und<br />

Orlando Meier-Brix. Milena Leutert<br />

vom Buchladen Queerbooks<br />

hat «tin*stories» für dich gelesen.<br />

Das Urteil<br />

Die tin*stories leisten meiner Meinung<br />

nach einen wichtigen und spannenden<br />

Einblick in die Leben von trans, inter und<br />

nicht-binären Personen der Vergangenheit.<br />

Die Erfahrungen und Dokumentationen<br />

zu lesen fällt einem in Anblick der oft<br />

grausamen Ungerechtigkeit nicht immer<br />

leicht, auch wenn einige der Autor*innen<br />

einen optimistischen Blick in die Zukunft<br />

wagen. Während manche Texte roh,<br />

aktivistisch und ergreifend sind, blicken<br />

andere wiederum mit einer akademischen<br />

Distanz auf das Geschehene und widmen<br />

sich auch den Begrifflichkeiten, die wir für<br />

trans, inter und nicht-binäre Personen aus<br />

der Geschichte verwenden.<br />

Die queerfeindlichen Aussagen von<br />

wegen «Trendthema» sollten nach dieser<br />

Lektüre allemal Geschichte sein.<br />

Sammelband, edition assemblage,<br />

192 Seiten<br />

108 Frühling <strong>2023</strong>


Literatur<br />

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weiter durch:<br />

Douglas Stuart<br />

Young Mungo<br />

Der Bookerpreisträger Douglas Stuart erzählt<br />

von der Liebe zweier Jungen in einer<br />

von Gewalt geprägten homophoben Welt.<br />

Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel<br />

im Glasgow der Neunziger ist<br />

Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder<br />

Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn<br />

zum Mann machen und schleift ihn zu den<br />

brutalen Kämpfen zwischen Protestanten<br />

und Katholiken. Dann trifft Mungo auf James<br />

und mit ihm kann er sein, wie er ist. Die<br />

Liebe, die zwischen den Jungen wächst,<br />

ist lebensgefährlich – und zugleich ihre<br />

Rettung.<br />

Wir finden: Wir lieben dieses Buch, seinen<br />

Sog und Sozialrealismus, seine Sprache<br />

und Spannung, und die Figuren erst recht.<br />

Kann Stuart den Erfolg seines Erstlings<br />

«Shuggie Bain», der ein Weltbestseller wurde,<br />

toppen? Mit dem glühenden, düsteren<br />

und emotional fesselnden «Young Mungo»<br />

sehr, sehr gut möglich.<br />

Roman, 414 Seiten, Hanser Berlin<br />

Neuerscheinungen<br />

Zain Khalid<br />

Bruder<br />

Über der Moschee auf Staten Island<br />

wachsen drei Adoptivbrüder auf, die<br />

unterschiedlicher nicht sein können. Dayo<br />

stammt aus Nigeria und Iseul aus Korea. Nur<br />

Youssef weiss nichts von seiner Herkunft. Er<br />

sucht die Nähe ihres Adoptivvaters Salim,<br />

doch der charismatische Mann steckt voller<br />

Rätsel. Während die Brüder in die Glitzerwelt<br />

Manhattans eintauchen, hält Salim<br />

anti westliche Reden in der Moschee. Avancen<br />

von Frauen weist der gutaussehende<br />

Mann stets zurück, nur um nachts aus dem<br />

Haus zu schleichen. Als er nach Saudi-Arabien<br />

aufbricht, folgen Youssef und seine<br />

Brüder ihm und begeben sich auf einen<br />

Weg der Erkenntnis wie der Verstörung.<br />

Wir finden: «Bruder» dreht sich um Religion<br />

und Kapitalismus, um Väter und Söhne und<br />

um Rache. Zain Khalids Debütroman ist philosophisch<br />

und intellektuell anspruchsvoll<br />

mit der einen oder anderen überraschenden<br />

Wendung. Wundervoll ausgearbeitete<br />

Charaktere und ein ergreifender Schicksalsstrang<br />

vermitteln einen Einblick in eine<br />

islamisch geprägte Utopie.<br />

Roman, 464 Seiten, Kjona<br />

TITEL GATTUNG VERLAG SEITEN IN EINEM SATZ<br />

ABBA Hallo<br />

Ralf König<br />

Comic Rowolth 208 Der Zeichner und Autor Ralf König verarbeitet mit seinen<br />

beiden liebsten Figuren – das schwule Paar Konrad und<br />

Paul – das eigene Altern.<br />

The Fine Art of<br />

Erections<br />

Gruenholtz<br />

Bildband Salzgeber 176 Gruenholtz widmet er sich in 108 Fotografien der<br />

natürlichen Schönheit des erigierten Penis – stilvoll und<br />

schamlos.<br />

Florentia – Im Glanz<br />

der Medici<br />

Noah Martin<br />

Roman Droemer 544 Die Zutaten: Der Glanz der Renaissance, ein tödlicher<br />

Machtkampf, eine scheinbar aussichtslose Liebe im<br />

Florenz der Medici und mittendrin Leonardo da Vinci.<br />

README.txt – Meine<br />

Biografie<br />

Harper Collins<br />

336 Ein eindrückliches Zeugnis des digitalen Zeitalters<br />

Geschichte<br />

Germany<br />

darüber, wie und warum Aktivistin und trans Frau Man-<br />

Chelsea Manning<br />

ning Militärdokumente an WikiLeaks schickte.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

109


Comic<br />

Alice Oseman: Heartstopper<br />

Comic, Netflix-Serie, LGBTIQ-Universum<br />

In welches Regal?<br />

In die «Verfilmte queere Comics»-Abteilung<br />

im Bücherregal zu Kiriko Nananans<br />

«Blue», Brian K. Vaughans «Runaways»<br />

und «Paper Girls» (gemeinsam mit Cliff<br />

Chiang). Denn nach der Serie ist vor dem<br />

nächsten Lesen und umgekehrt.<br />

Wie sieht es aus?<br />

Das Heartstopper-Universum war und ist<br />

ein Work in Progress. Das macht es nicht<br />

nur inhaltlich authentisch, sondern ist auch<br />

an den unterschiedlichen Zeichenstilen zu<br />

sehen: Charmant, scheinbar mit schnellem<br />

Strich und schwarz-weiss in den bisher<br />

erschienenen vier Bänden (ein fünfter ist<br />

in Planung); detailverliebt, fantasievoll und<br />

in Farbe im zusätzlichen Buch «Heartstopper<br />

– Ein ganzes Jahr» oder den colorierten<br />

Webcomics. Hier wie dort: Alice<br />

Oseman hat ein ganz besonderes Talent<br />

für Gesichtsausdrücke.<br />

Um was geht es?<br />

An seiner Schule wissen alle Bescheid:<br />

Charlie Spring ist schwul. Nicht alle<br />

reagieren allerdings auch gut auf diese<br />

Neuigkeiten. Mithilfe seiner (äusserst<br />

diversen) Freund*innen und seiner grossen<br />

Schwester kommt der 14-Jährige durch die<br />

110 Frühling <strong>2023</strong><br />

nicht gerade einfache Zeit. Wenn er in der<br />

klassenübergreifenden Lerngruppe einen<br />

Platz neben dem 16-jährigen Hockey-<br />

Star Nick zugewiesen bekommt, ist das<br />

der Beginn einer aufregenden, behutsam<br />

erzählten Liebesgeschichte. Der Weg zur<br />

eigenen Identität, zu Selbstliebe und zum<br />

Verarbeiten schlechter Erfahrungen kann<br />

jedoch auch mit liebevoller Unterstützung<br />

schmerzhaft und langwierig sein.<br />

Wie finden wir es?<br />

Themen wie Identitätsfindung, mentale Gesundheit<br />

und die damit verbundene Herausforderungen<br />

machen «Heartstopper» zu<br />

weit mehr als einer mitreissenden Liebesgeschichte.<br />

Zusätzlich lassen sich in anderen<br />

Veröffentlichungen von Alice Oseman<br />

Inhalte finden, die vermutlich auch in die<br />

Netflix-Serie miteinfliessen. So beispielsweise<br />

die zwei Kurzromane «Nick and<br />

Charlie» (2020) und «This Winter» (2022).<br />

Das schon 2014 auf Englisch (und <strong>2023</strong> in<br />

überarbeiteter Neulauflage auf Deutsch) erschienene<br />

Debut der Autorin, «Solitair», in<br />

dem es um Charlies grosse Schwester Tori<br />

geht, spielt einige Monate nach dem Ende<br />

der ersten Netflix-Staffel. Der letztes Jahr<br />

auf Deutsch erschienene Roman «Nothing<br />

left for us» (im Original «Radio Silence»)<br />

wirft mehr Licht auf Charlies Freund Aled.<br />

Und dann gibt es noch schier unendlich<br />

viele Mini-Geschichten auf Tumblr, Tapas<br />

und Webtoons – eben ein ganzes Universum.<br />

Eintauchen lohnt sich.<br />

– Simone Veenstra<br />

Alice Oseman: «Heartstopper»,<br />

4 Bände Hardcover, Loewe<br />

Graphix Verlag, auch als Softcover<br />

und E-Book


ZITIERT<br />

Gehört, gelesen, gesehen:<br />

«Wir haben<br />

Ja gesagt.»<br />

Rebel Wilson (rechts)<br />

via Instagram. Der australische<br />

Hollywoodstar<br />

verlobte sich im Februar<br />

mit ihrer Partnerin, der<br />

Modedesignerin Ramona<br />

Agruma.<br />

«Unsere Welt hat<br />

Angst vor zärtlichen<br />

Männern.»<br />

Regisseur Lukas Dhont über Freundschaften<br />

in seinem Film «Close»: «Junge<br />

Männer lernen schon früh, dass Intimität<br />

etwas ist, das man beim Sex oder in einer<br />

Romanze sucht, aber nicht in einer<br />

Männerfreundschaft.»<br />

«Man sieht<br />

überall Ärsche,<br />

Brüste,<br />

Sixpacks.»<br />

Anna Strigl über ihre Teilnahme in der<br />

Realityshow «Too Hot to Handle» auf<br />

Netflix. Hier müssen Singles körperlich<br />

Distanz zueinander halten. «Immer,<br />

wenn man etwas nicht darf, ist es gleich<br />

nochmals viel attraktiver», so die pansexuelle<br />

Österreicherin.<br />

«Im Hip-Hop hat sich<br />

unglaublich viel getan, was<br />

die Akzeptanz der LGBTIQ-<br />

Community angeht.»<br />

Bilder (im Uhrzeigersinn von oben links): Nicolas Landemard, Le Pictorium/Imago,<br />

instagram.com/rebelwilson, Netflix, Press/Jake Magraw<br />

Rapper Macklemore im Interview mit der britischen<br />

Zeitung Metro. Er glaube, dass der Hip-Hop im Wandel<br />

sei. «Man muss niemanden herabsetzen, um<br />

sich selbst nach oben zu bringen. Das funktioniert<br />

nicht, das ist ein veraltetes Modell.» Gemeinsam mit<br />

Ryan Lewis landete Macklemore 2012 den Hit «Same<br />

Love», das dazugehörige Album «The Heist» erhielt<br />

2014 einen Grammy als bestes Rap-Album.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

111


Story — 8<br />

8<br />

Zu Besuch<br />

bei Madame<br />

Condomeria<br />

<strong>112</strong> Frühling <strong>2023</strong>


Story — 8<br />

Text – Cesare Macri<br />

Erika Knoll führt seit 15<br />

Jahren die Condomeria,<br />

ein Fachgeschäft für Kondome<br />

und Erotikartikel in<br />

Zürich. Ursprünglich als<br />

Aufklärungs- und Präventionsprojekt<br />

während der<br />

Aids-Epidemie gegründet,<br />

ist es heute eine Referenz<br />

für Verhütung und<br />

Erotik. Wie hat sich das<br />

Bewusstsein für Sex und<br />

Lust in der Gesellschaft<br />

entwickelt? Welche Bedeutung<br />

hat das Kondom<br />

heute in Zeiten von PrEP<br />

und wirksamer HIV-Therapie?<br />

Eine Spurensuche.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

113


Story — 8<br />

Es ist ein vergleichsweise ruhiger<br />

Nachmittag im sonst<br />

geschäftigen Zürcher Niederdorf,<br />

das einzig Laute befindet<br />

sich unmittelbar vor der<br />

Condomeria: eine Baustelle,<br />

die in den nächsten Monaten<br />

für neue Pflastersteine sorgen<br />

soll. Einmal eingetreten<br />

und Türe geschlossen, hört<br />

man den Lärm immer noch. «Vergiss es, wir sind in<br />

der Altstadt», winkt Erika ab. Sichtlich wohl fühlt sie<br />

sich hinter dem Tresen ihres kleinen Reiches Condomeria:<br />

Rechts von ihr ein Wandregal mit Sextoys in<br />

allen Farben und Formen, links eine Wand voller Kondome<br />

für alle möglichen Bedürfnisse, dazwischen plüschige<br />

Handschellen, Nippel-Aufkleber, Massageöle<br />

und -kerzen, Teigwaren in Penisform und vieles mehr.<br />

Genauso wie das Sortiment ist auch die Geschäftsführerin<br />

selbst eine Erscheinung: strahlendes Lachen,<br />

farbenfrohe Tattoos, die unter schwarzer Kleidung<br />

hervorschauen, und eine goldene Halskette, die eindeutig<br />

einer BDSM-Peitsche nachempfunden ist («Die<br />

Einen merken’s nicht, die Anderen sprechen mich<br />

drauf an oder lächeln einfach vor sich hin», sagt sie).<br />

Wenn sie von der Geschichte des Ladens erzählt, tut<br />

sie das bescheiden, aber nicht ohne Stolz. Ihr guter<br />

Freund Heinze Baumann führte ab 1989 mehrere Geschäfte<br />

und bot darin Kondome, Gleitmittel und eine<br />

Handvoll Spassartikel an. Erika unterstützte ihn dabei<br />

und bot gleichzeitig Sex-Workshops für Frauen an,<br />

die damals um einiges nötiger gewesen seien als in<br />

der heutigen Feminismuswelle, wobei ihr der Laden<br />

in Sachen Arbeitstools sehr behilflich war. Mit der<br />

Zeit etablierte sich die Condomeria, unter anderem<br />

auch für die schulische Aufklärung, für welche ein<br />

Verhütungsmittel-Koffer kreiert wurde. Dies änderte<br />

sich erst, als Vereine wie «Lust und Frust» begannen,<br />

diese Arbeit zu übernehmen. Von der Arbeit mit Kindern<br />

ist noch das Sportlager der Stadt Zürich übriggeblieben,<br />

in dem Erika zusammen mit anderen jährlich<br />

vor Ort ist.<br />

Leidenschaftliches Engagement<br />

Als die Condomeria entstand, war HIV noch ein<br />

sicheres Todesurteil und in der Bevölkerung herrschte<br />

grosse Unsicherheit: «Man hat sich Gedanken gemacht,<br />

die heute unvorstellbar sind, etwa ob man sich<br />

über Mückenstiche anstecken kann.» Kondome waren<br />

zwar in aller Munde, aber nur in Apotheken erhältlich.<br />

Mit dem Angebot in Supermärkten oder bei Snackautomaten<br />

ist die Hemmschwelle heute deutlich niedriger,<br />

war damals aber noch lange nicht in Sicht. Es<br />

sei eine intensive Zeit gewesen, meint die 63-Jährige:<br />

Das intensive Feiern einerseits durch die Anfangszeit<br />

des Technos, das intensive Sterben in der Community<br />

andererseits. «Als queere Frau war diese Community<br />

damals meine Wahlfamilie und es fühlte sich an, als<br />

würde sie mir langsam wegsterben», erzählt Erika<br />

und wird nachdenklich. Ausserdem habe sich lange<br />

das Vorurteil gehalten, dass HIV nur «Schwule und<br />

Junkies» betreffe – bis man gemerkt habe, dass auch<br />

Heteros durch Bluttransfusionen und queere Affären<br />

durchaus gefährdet waren. Jedenfalls war es mit dem<br />

unbeschwerten Sex vorbei, denn erstmal brachte man<br />

diesen mit Tod in Verbindung.<br />

Dies bestätigt auch Andreas Lehner, Geschäftsleiter<br />

der Aids-Hilfe Schweiz; jahrzehntelang sei die<br />

Sexualität von schwulen Männern vom Sicherheitsgedanken<br />

überschattet gewesen. «Erst die PrEP* hat<br />

uns wieder die Möglichkeit gegeben, während des<br />

Aktes nicht an den Schutz denken zu müssen», stellt<br />

er fest. Allerdings sei sie auch kein Allheilmittel (dazu<br />

später mehr).<br />

Die Aids-Krise sei jedenfalls nur ein Teil des Auslösers<br />

gewesen für Erikas Engagement. Ihr ist es wichtig<br />

zu betonen, dass sie seit jeher ein quicklebendiges<br />

Sexualleben gehabt und ihre Berufung folglich immer<br />

auch eine sehr lustvolle Seite gehabt habe. Dieser Aspekt<br />

sei mit der Zeit auch mehr und mehr zum Tragen<br />

gekommen: die Allgegenwärtigkeit von Kondomen<br />

wurde in den letzten Jahren vom Sextoy-Trend abgelöst.<br />

Junge Frauen hätten irgendwann aufgehört, sich<br />

für Masturbation zu schämen und angefangen, sich<br />

gegenseitig Vibratoren zu schenken. Ausserdem seien<br />

sie in Sachen Schwangerschaftsverhütung selbstbestimmter<br />

geworden: Wo man früher widerstandslos<br />

die Pille und deren Nebenwirkungen in Kauf nahm,<br />

steht man heute für die eigene physische und mentale<br />

Gesundheit ein. «Zu mir sind auch schon Teenager<br />

gekommen, die die Pille gegen Akne verschrieben bekommen<br />

hatten und genug hatten von Traurigkeit und<br />

schwacher Libido», berichtet Erika kopfschüttelnd. In<br />

ihrer Kundschaft seien alle Geschlechter und Orientierungen<br />

vertreten, sogar für heterosexuelle Männer<br />

seien Sextoys seit einer Weile kein Tabu mehr – auch<br />

anale nicht. «Die haben gemerkt, dass sie nicht schlagartig<br />

schwul werden, sobald sie sich penetrieren lassen<br />

und sogar Gefallen daran finden», lacht Erika.<br />

* PrEP steht für Prä-Expositions-Prophylaxe und ist ein Medikament<br />

in Tablettenform. Richtig eingenommen, schützt es HIVnegative<br />

Menschen vor einer Ansteckung mit HIV.<br />

114 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 8<br />

«Als Frau bin ich<br />

die bevorzugte<br />

Ansprechpartnerin<br />

für alle Geschlechter.»<br />

Bild: Cesare Macri<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

115


Story — 8<br />

«Heterosexuelle<br />

Männer haben<br />

gemerkt, dass sie<br />

nicht schlagartig<br />

schwul werden,<br />

sobald sie sich<br />

penetrieren lassen.»<br />

116 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 8<br />

Bild: New Africa, AdobeStock<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

117


Story — 8<br />

Drei unvernünftige Gründe, weshalb<br />

oft auf das Kondom verzichtet wird:<br />

Alkohol, Drogen und die Liebe.<br />

Die ganze Palette an Kund*innen<br />

Überhaupt sei die Condomeria immer ein Ort für<br />

Menschen und nicht für Schubladen gewesen. Man<br />

glaubt es ihr gerne, wenn man ein paar Stunden lang<br />

mit ihr im Laden steht: Vom verunsicherten Teenie<br />

auf der Suche nach der richtigen Gummigrösse über<br />

kichernde Mädchengruppen bis zum einsamen alten<br />

Mann, der nur einen Schwatz braucht, ist so ziemlich<br />

alles dabei. Eine Altersbeschränkung gibt es jedenfalls<br />

nicht, da man hier nichts Pornografisches findet. Erika<br />

erzählt auch von einer interessanten Neuerscheinung,<br />

die sie besonders freue: Junge Menschen aus der Sexpositivity-Bewegung.<br />

Grundsätzlich ist sie überzeugt,<br />

dass es die Institution vor allem deshalb immer noch<br />

gebe, weil man hier Fachwissen und persönliche Beratung<br />

kriege. Beispielsweise die Krebspatientin, die<br />

aufgrund der Behandlung eine verengte Vagina habe,<br />

oder der ältere Herr mit dem Prostataproblem. «Meine<br />

Erfahung zeigt, dass ich als Frau die bevorzugte Ansprechpartnerin<br />

bin für alle Geschlechter», sagt Erika.<br />

Frauen oder FLINTA**-Personen liessen sich nicht<br />

gerne von einem Mann beraten, wenn es um Sextoys<br />

oder Beckenbodentraining gehe – und auch Männer<br />

hätten aufgrund alter Geschlechterrollen Hemmungen,<br />

mit einem anderen Mann über sexuelle Dysfunktionen<br />

zu sprechen, wobei sich das zum Glück langsam<br />

ändere. Deshalb wäre es ihr am liebsten, wenn<br />

das Geschäft weiterhin von einer Frau geführt werden<br />

würde. Denn bald sei die Zeit für den grossen Wandel<br />

gekommen: «Ich bin langsam in einem Alter, in dem<br />

ich nicht mehr die gleiche Energie zur Verfügung habe<br />

wie früher», sagt Erika und wird etwas melancholisch.<br />

Darum halte sie Ausschau nach einer 35-40-jährigen<br />

Frau, die vielleicht zwei Tage und später dann vier bis<br />

fünf Tage pro Woche übernehmen würde. Man ahnt<br />

es schon: Ganz aufhören möchte sie auch trotz Ruhestand<br />

nicht, dafür liebt sie ihr «Baby» zu sehr. Sie sei<br />

aber durchaus bereit, Kontrolle und Entscheidungen<br />

abzugeben, schliesslich würde die Condomeria durchaus<br />

frischen Wind vertragen. Wichtig sei nur, sie irgendwie<br />

zu erhalten für diejenigen Leute, denen sie<br />

ans Herz gewachsen sei, und für alle anderen, die in<br />

Zukunft einen Safer Space mit kompetenter Beratung<br />

brauchen würden.<br />

** FLINTA ist eine Abkürzung für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche,<br />

nicht-binäre, trans und agender Personen<br />

Von der Scham, ein Gummi zu nehmen<br />

Zurück zum anderen Protagonisten unserer Recherche,<br />

dem Kondom. «Natürlich habe ich in meinem privaten<br />

Umfeld von PrEP und wirksamen Medikamenten gehört,<br />

aber die Auswirkung auf den Kondomverbrauch<br />

kann ich tatsächlich zu wenig beurteilen, da die Community<br />

andere, schwule Orte bevorzugt», so Erika.<br />

Während eines kleinen Shop- und Saunamarathons<br />

stossen wir auf mehrere Betreiber, die uns bestätigen,<br />

dass sie immer weniger Kondome bestellen müssten.<br />

Auch Melchior Burch, Geschäftsführer und Inhaber<br />

vom MZ Shop, verrät uns, dass in den letzten vier bis<br />

fünf Jahren die Kondomverkäufe zurückgegangen seien.<br />

Das korreliere in etwa mit der Ankunft der PrEP<br />

in der Mitte der (schwulen) Gesellschaft: «Wir hören<br />

von Kunden, die auf PrEP sind, oft, dass sie deswegen<br />

auf das Kondom verzichten. Ich persönlich empfehle<br />

es nach wie vor, da PrEP zwar gut gegen HIV, aber<br />

nicht vor anderen Krankheiten schützt.» Und Andreas<br />

Lehner der Aids-Hilfe Schweiz ergänzt: «Wer regelmässig<br />

PrEP nimmt, bekommt schnell das S-Wort zu<br />

hören, was wir als PrEP-Shaming bezeichnen könnten.<br />

Ich habe aber auch Fälle von Kondom-Shaming<br />

mitbekommen, zum Beispiel bei Sexpartys, bei denen<br />

jemand ausgelacht wurde, weil er ein Kondom benutzen<br />

wollte.» Wichtig sei aber unter dem Strich, dass<br />

man sich schütze und respektvoll miteinander umgehe,<br />

egal wie der Schutz der jeweiligen Person aussehe.<br />

Drei klassische Gründe, unvernünftigerweise plötzlich<br />

auf das Kondom zu verzichten, liessen sich nicht<br />

so schnell ausrotten: Alkohol, Drogen und Liebe.<br />

Der Mythos des Lustkillers<br />

Natürlich verlassen wir die Condomeria nicht ohne<br />

etwas Insiderwissen: Was für Anliegen haben<br />

Kund*innen rund ums Kondom, liebe Erika? «Das<br />

Wichtigste: Gummis gibt zwischen Grösse 45 bis 72<br />

mm (Umfang), obwohl wir aus Supermärkten und<br />

Apotheken nur die Spanne zwischen 52 und 57 mm<br />

kennen.» Das sei verheerend, da viele Menschen mit<br />

Penis aufgrund eines zu engen Kondoms zur Überzeugung<br />

kämen, dieses sei ein Lustkiller an sich. Dabei<br />

leide die Erektion oder das Gefühl nur, weil der<br />

Druck auf den Penis und die Blutgefässe zu hoch sei.<br />

Und wenn man auch noch lange rummurksen müsse,<br />

bis das Kondom abgerollt ist, sei die Ablehnung<br />

perfekt; da könne es nur schon reichen, eine Packung<br />

von weitem zu sehen, um die Erektion zu verlieren.<br />

Doch auch für Leute, die trotz richtiger Grösse zu<br />

wenig spüren würden, gebe es Lösungen: extradünne<br />

118 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 8<br />

Vielfältige<br />

Kondome<br />

MY.SIZE<br />

An alle, die «zu wenig fühlen»,<br />

wenn sie ein Kondom benutzen: Es<br />

könnte an der Grösse liegen. Bei<br />

My.Size sollte für alle etwas dabei<br />

sein.<br />

SKYN<br />

Dank dünnem, wärmeleitendem<br />

Material garantieren Skyn-Gummis<br />

beim Sex ein naturnahes Erlebnis.<br />

MANIX OHNE LATEX<br />

Für diejenigen, die Latexgeruch<br />

nicht ausstehen können, gibt es<br />

latexfreie Kondome von Manix.<br />

FAIR SQUARED<br />

Diese Marke bietet faire Handelsbeziehungen,<br />

ökologische Verantwortung<br />

und ein konsequentes<br />

Nein zu Kinderarbeit und Tierversuchen.<br />

NEON VON AMOR<br />

Wie es Erika ausdrücken würde:<br />

«Wer wollte nicht schon immer mal<br />

im Bett das Leuchtschwert schwingen<br />

und Star Wars spielen?»<br />

Kondome aus wärmeleitendem Material beispielsweise<br />

(genauso wie es extradicke gebe für Zu-viel-<br />

Spürende oder Zu-früh-Kommende).<br />

Junge Menschen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen<br />

machen würden, seien oft verunsichert oder<br />

gar abgestossen von den unbekannten intimen Körpergerüchen.<br />

«Da kann ein Gummi mit Erdbeergeruch<br />

durchaus helfen», sagt Erika. Nicht zu vergessen<br />

sei das Lecktuch für den After beziehungsweise die<br />

Vulva, denn auch durch Oralsex würden Ansteckungen<br />

passieren.<br />

Die Sonne ist mittlerweile schlafen gegangen an<br />

diesem winterlichen Nachmittag, und auch die Baustelle<br />

vor dem Haus macht langsam dicht. Jemand<br />

anderes hingegen denkt gerade weder ans Schlafen<br />

noch ans Aufhören: Es ist Erika Knoll, Madame<br />

Condomeria.<br />

Das Kondom<br />

Bereits vor mehreren hundert<br />

Jahren wurden Kondome<br />

hergestellt, damals aus<br />

Schafs därmen oder anderen<br />

tierischen Membranen. Der für<br />

seine Liebschaften berüchtigte<br />

Schriftsteller Giacomo Casanova<br />

soll solche Exemplare<br />

verwendet haben, um sich vor<br />

der gefürchteten Syphilis zu<br />

schützen. Nach der Entwicklung<br />

der Vulkanisation konnten<br />

Kondome aus Gummi ab 1870<br />

serienmässig hergestellt werden.<br />

Im Ersten Weltkrieg gehörten<br />

sie zur Standardausrüstung<br />

britischer, französischer und<br />

deutscher Soldaten. Seit 1930<br />

werden Kondome hauptsächlich<br />

aus Latex hergestellt. Bis<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts war<br />

der Verkauf von Kondomen vielerorts<br />

verboten und nur zu medizinischen<br />

Zwecken erlaubt, in<br />

Irland galt eine entsprechende<br />

Regelung sogar bis in die Achtzigerjahre.<br />

Nicht ganz geklärt ist<br />

die Namensherkunft. Eine Theorie<br />

beruft sich auf einen angeblichen<br />

Dr. Condom, Leibarzt<br />

des britischen Königs Charles II.<br />

Eine andere bezieht sich auf die<br />

Bezeichnung «con domino» –<br />

eine humorvolle Anspielung auf<br />

den Kapuzenmantel der Geistlichen.<br />

1987 wurden «AIDS» und<br />

«Kondom» zu den Wörtern des<br />

Jahres gewählt.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

119


mannschaft.com<br />

mehr News auf<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

120 Frühling <strong>2023</strong>


TENNESSEE S<strong>CH</strong>RÄNKT<br />

DRAGSHOWS EIN<br />

Nashville – In Tennessee sind Dragshows<br />

in der Öffentlichkeit oder im Beisein von<br />

Minderjährigen neu verboten. Das neue<br />

Gesetz untersagt verschiedene Formen<br />

der Erwachsenenunterhaltung, darunter<br />

Aufführungen von Stripper*innen, Go-Go-<br />

Tänzer*innen sowie «Männer- und Frauenimitationen».<br />

Ein Verstoss gegen diese<br />

Regelung werde als Ordnungswidrigkeit<br />

geahndet, beim zweiten Mann als Straftat.<br />

Für Wirbel in den Medien sorgte ein altes<br />

Foto des republikanischen Gouverneurs<br />

Lee, das ihn 1977 mit Perlenkette und Minirock<br />

zeigt. Der heute 63-Jährige nannte<br />

die Vergleiche zwischen den im Gesetz<br />

aufgezählten Darbietungen und dem alten<br />

Bild «lächerlich». Dragqueens bezeichneten<br />

seine Aussage als «heuchlerisch».<br />

Gegenüber NBC News sagte Dragqueen<br />

Denise Sadler: «Für Heteros ist es in Ordnung,<br />

das zu tun, aber nicht für die schwule<br />

Gemeinschaft. Das ist die Botschaft, die<br />

er den Menschen vermittelt.»<br />

Der Gourverneur<br />

posierte 1977 selbst<br />

in Frauenkleidung<br />

TRANS FRAU KANDIDIERT FÜR<br />

MISS UNIVERSE PUERTO RICO<br />

San Juan – Zum ersten Mal kandidiert mit<br />

Daniela Arroyo González eine offene trans<br />

Frau bei den «Miss Universe Puerto Rico»-<br />

Wahlen. Der Nachrichtenagentur AP zufolge<br />

war es das zweite Mal, dass sie sich für<br />

die Wahlen beworben hatte. Nun kämpft<br />

sie mit über 35 anderen Kandidatinnen<br />

um den Titel und somit um die Gelegenheit,<br />

Puerto Rico bei den «Miss Universe»-Wahlen<br />

zu vertreten. «Schreiben wir<br />

gemeinsam Geschichte!», schrieb Arroyo<br />

González, als sie ihre Kandidatur mit einem<br />

Video auf Instagram bekannt gab.<br />

DAS «HOMOPHOBSTE GESETZ<br />

DER WELT» IN GHANA?<br />

Accra – In Ghana steht eine Verschärfung<br />

der Rechtslage für LGBTIQ-Menschen bevor.<br />

Im Juni 2021 hatten acht Parlamentsmitglieder<br />

in der Hauptstadt Accra einen<br />

ersten Entwurf für die «Proper Human<br />

Sexual Rights and Ghanaian Family Values<br />

Bill» vorgelegt. Es würde die Höchststrafe<br />

für homosexuelle Kontakte in Ghana von<br />

drei auf bis zu zehn Jahre erhöhen. Neben<br />

langen Haftstrafen für die Verbreitung von<br />

Informationsmaterial über Geschlechtervielfalt<br />

fordert der Gesetzesvorschlag,<br />

dass Unterstützer*innen und Familienangehörige,<br />

die queere Menschen beherbergen<br />

oder Treffen von queeren Gruppen<br />

tolerieren, mit bis zu zehn Jahren Gefängnis<br />

bestraft werden können. Aktivist*innen<br />

bezeichnen den Gesetzesvorschlag als<br />

das «homophobste Dokument, das die<br />

Welt je gesehen hat».<br />

ELLY S<strong>CH</strong>LEIN NEUE OPPOSITI-<br />

ONSFÜHRERIN IN ITALIEN<br />

Rom – Ende Februar wählten die italienischen<br />

Sozialdemokrat*innen Elly Schlein<br />

zur neuen Parteichefin und damit zur<br />

Organisationsführerin. Erstmals stehen<br />

in Italien damit Frauen an der Spitze der<br />

zwei wichtigsten Parteien; neben Schlein<br />

ist dies Regierungschefin Giorgia Meloni<br />

als Vorsitzende der ultrarechten Fratelli<br />

d’Italia. In einer Talkshow vor zwei Jahren<br />

sprach Schlein offen über ihre Bisexualität:<br />

«Ich habe Männer geliebt und ich habe<br />

Frauen geliebt. Derzeit bin ich mit einer<br />

Frau zusammen. Und ich bin glücklich,<br />

solange sie es mit mir aushält.»<br />

SIEG VOR GERI<strong>CH</strong>T FÜR<br />

LGBTIQ-ORGANISATION<br />

Nairobi – Der Ausschuss der Nichtregierungsorganisationen<br />

Kenias weigerte sich<br />

bis anhin, LGBTIQ-Organisationen zur<br />

offiziellen Registrierung zuzulassen. Diese<br />

Haltung sei nicht rechtens, entschied nun<br />

das oberste Gericht des ostafrikanischen<br />

Staates. Das Urteil kam mit einer knappen<br />

Mehrheit von drei zu zwei Stimmen<br />

zustande. Damit findet ein zehnjähriger<br />

Rechtsstreit sein Ende. 2013 klagte Eric<br />

Gitari, der ehemalige Geschäftsführer der<br />

National Gay and Lesbian Human Rights<br />

Commission (NGLHRC), gegen die Weigerung<br />

des Ausschusses, eine NGO mit dem<br />

Wort «schwul» oder «lesbisch» im Namen<br />

zu registrieren. Für die LGBTIQ-Community<br />

in Kenia ist dieses endgültige Urteil zwar<br />

ein Sieg – doch unverändert bleibt die Tatsache,<br />

dass Sex zwischen Männern illegal<br />

bleibt. Das Gesetz wurde unter britischer<br />

Kolonialherrschaft eingeführt und sieht<br />

Freiheitsstrafen von bis zu 14 Jahren vor.<br />

GERI<strong>CH</strong>T ERKENNT RE<strong>CH</strong>TE<br />

EINES S<strong>CH</strong>WULEN PAARS AN<br />

Seoul – Der oberste Gerichtshof von<br />

Seoul urteilte Ende Februar, dass eine<br />

staatliche Krankenversicherung dem Ehepartner<br />

eines Kunden ebenfalls Versicherungsschutz<br />

schulde. Dieser war zunächst<br />

genehmigt, dann zurückgezogen worden,<br />

als die Versicherung herausfand, dass<br />

das Paar schwul ist. Es hiess, man habe<br />

einen Fehler gemacht. Das Gericht in<br />

Seoul stellte fest, dass das Verweigern<br />

von Versicherungsvorteilen für gleichgeschlechtliche<br />

Paare eine Diskriminierung<br />

darstellte. Die beiden Männer hatten 2019<br />

eine Hochzeitszeremonie gefeiert, jedoch<br />

wird die Ehe in Südkorea nicht anerkannt.<br />

Aktivist*innen erklärten, das Urteil sei ein<br />

«wichtiger Schritt» nach vorne für LGBTIQ-<br />

Rechte im Land. Der Fall wird allerdings<br />

noch vor dem obersten Gerichtshof des<br />

Landes angefochten.<br />

«Ein wichtiger Schritt<br />

für Südkorea.»<br />

TRANS PIONIERIN GEORGINA<br />

BEYER GESTORBEN<br />

Wellington – Georgina Beyer, die weltweit<br />

erste offen trans Parlamentsabgeordnete,<br />

verstarb am 6. März mit 65 Jahren.<br />

Die Neuseeländerin war eine ehemalige<br />

Sexarbeiterin, Schauspielerin und Dragqueen<br />

und wurde 1995 Bürgermeisterin<br />

der Kleinstadt Carterton als weltweit<br />

erste trans Person. 1999 wurde sie in das<br />

nationale Parlament gewählt, wiederum<br />

als erste trans Person überhaupt. Beyer<br />

war bekannt für ihren Einsatz für die Einführung<br />

von Lebenspartnerschaften und<br />

zur Öffnung der Ehe sowie zur Entkriminalisierung<br />

der Prostitution. 2020 war sie<br />

von Königin Elizabeth II. für ihre Verdienste<br />

um die LGBTIQ-Community zum Mitglied<br />

des neuseeländischen Verdienstordens<br />

ernannt worden. Der Nachrichtenagentur<br />

Reuters zufolge kämpfte Beyer lange mit<br />

einer Nierenerkrankung.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

121


Story — 9<br />

9<br />

Im<br />

Paradies<br />

des<br />

Teufels<br />

122 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 9<br />

Text – Sarah Stutte<br />

Illustrationen – Sascha Düvel<br />

«Ins Herz gemeisselt» heisst<br />

es so schön auf den Plakaten<br />

von Wallis Tourismus. Ob Skifahren<br />

oder Wandern, das<br />

Sonnenland der Schweiz ist<br />

toll für einen Urlaub – doch<br />

zum Aufwachsen für jemanden<br />

mit nicht heteronormativer<br />

Gefühlslage eher schwierig.<br />

Mittlerweile scheint sich aber<br />

etwas getan zu haben im<br />

Wallis. Ein persönlicher Bericht<br />

von Sarah Stutte.<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

123


Story — 9<br />

ür diejenigen, die noch nie da waren: Das Wallis ist<br />

der drittgrösste Schweizer Kanton, der ganz unten<br />

im Südwesten liegt und an den französischen Teil<br />

(Romandie) des Landes grenzt. Deshalb ist das Wallis<br />

auch zweisprachig – im Oberwallis wird Deutsch<br />

gesprochen (oder zumindest ein für alle restlichen<br />

Schweizer*innen sowie Ausländer*innen ein vollkommen<br />

unverständlicher Dialekt) und im Unterwallis<br />

Französisch. Der Kantonshauptort Sitten (Sion)<br />

liegt im französischen Teil, hübsch eingebettet in die<br />

vielen beschaulichen Rebberge. Im Oberwallis findet<br />

sich dafür das legendäre Matterhorn, samt dem Ferienort<br />

Zermatt und anderen Touristenmagneten. Auch<br />

der bis jetzt noch grösste Alpengletscher, der Aletsch,<br />

liegt in unmittelbarer Nähe. Das ist alles toll und an<br />

der Natur gibt es auch nichts zu beanstanden. Doch<br />

hier aufzuwachsen, ist kompliziert. Vor allem als Jugendliche<br />

auf Identitätssuche. Denn das Wallis ist<br />

überdies tief katholisch – im Grunde das Bayern der<br />

Schweiz – und deswegen auch stockkonservativ.<br />

Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt<br />

Ich bin mit einem eher offenen, deutschen Gemüt<br />

und meinen 13 Jahren von einer eher städtischen<br />

Umgebung nach «Zaniglas» (St. Niklaus) verpflanzt<br />

worden – ein Dorf im Mattertal mit knapp 2200<br />

Einwohner*innen. Der längste Weiler im Oberwallis,<br />

in dem einmal im Jahr, nämlich am 6. Dezember, etwas<br />

Aufregendes passiert. Dann wird über den Zwiebelturm<br />

der katholischen Kirche der grösste Nikolaus<br />

der Welt gezogen, der es mit seinen 37 Metern Höhe<br />

sogar bis ins «Guiness Buch der Rekorde» geschafft<br />

hat. Die restlichen 364 Tage sagen sich hier – meist im<br />

Schatten des Tals – Fuchs und Hase gute Nacht, und<br />

vom Tod des Altpfarrers erfährt man schon, bevor dieser<br />

tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden weilt.<br />

Sich in diesem ureigenen Mikrokosmos mit seinen<br />

Regeln und Geheimnissen zurechtzufinden, umgeben<br />

von hohen Bergen, die manchmal genauso gespenstisch<br />

wirken wie die Geschichten, die von ihnen<br />

widerhallen, war für mich als Teenager erstmal<br />

nicht einfach. Ich fühlte mich innerlich zerrissen, da<br />

ich hier wie dort nicht dazugehörte und äusserlich<br />

gefangen, weil abgeschnitten von der Welt. Ich musste<br />

nicht erst merken, dass ich anders bin, mir wurde<br />

diese Andersartigkeit jeden Tag gespiegelt. Es war, als<br />

ob ich mich auf einem fremden Planeten befand, auf<br />

dem alle sich in stillem Einvernehmen miteinander<br />

verständigten, während ich den Mund aufmachte und<br />

kein Wort über meine Lippen brachte. Stumm blieb.<br />

Das resignierte mich und in diesem Gefühl wollte<br />

ich nicht bleiben. Also versuchte ich nach und nach,<br />

die mir unwirtliche Umgebung zu erforschen, lernte<br />

die doch ganz irdischen Walliserinnen und Walliser<br />

kennen, ihre durchaus komplizierte Sprache und Gepflogenheiten.<br />

Kulturschock mit 20 Jahren<br />

Doch irgendetwas stimmte immer noch nicht – trotz<br />

der erweiterten Stufe mit Freundschaften und der mir<br />

heimisch gewordenen Dorf-Videothek (Ja, die gab es<br />

noch in den 90ern!), in der ich jede freie Minute verbrachte.<br />

Ich kam aber nicht darauf, was es war – und<br />

so verging die Zeit. Erst als ich mit 20 Jahren für ein<br />

Radiopraktikum nach Bern zog, fiel es mir wie Schuppen<br />

von den Augen: Ich mochte Frauen – und ein<br />

bisschen auch Männer, aber vielmehr Frauen. In Bern<br />

prasselten so viele Zeichen wie ein Holzschlaghammer<br />

auf mich ein, dass ich sie gar nicht ignorieren konnte.<br />

Da war dieses lesbische Pärchen, das Hand in Hand in<br />

der Fussgängerzone schlenderte und sich mitten auf<br />

der Strasse küsste. Ich hatte im Studentenwohnheim<br />

plötzlich eine queere Nachbarin, und diese nahm mich<br />

dann auch noch mit in den damaligen Gay-Club «Samurai»,<br />

wo mich buchstäblich der Kulturschock traf.<br />

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Story — 9<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

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Story — 9<br />

Von Deutschland in die Schweiz: Mit 13 Jahren zog Sarah mit ihrer Familie ins Oberwallis.<br />

Bild: Privat<br />

Engstirnigkeit in engen Tälern? Im Dorf St. Niklaus gab es für Sarah keine queeren Vorbilder.<br />

Bild: Roy Lindmann, CC BY-SA 3.0<br />

126 Frühling <strong>2023</strong>


Story — 9<br />

Meine Mutter schnitt mir ein paar<br />

Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten<br />

aus der Bravo heraus.<br />

Diesmal aber nicht, weil ich mich wieder auf einem<br />

fremden Planeten befand, sondern sich eher ein Gefühl<br />

von Heimat in mir ausbreitete.<br />

Keine «Role Models» im Oberwallis<br />

Dieses ganze Universum voller Möglichkeiten war<br />

vor mir geheim gehalten worden, durch einen Ort, an<br />

dem es nicht existierte. Und das lag sicher nicht nur<br />

daran, dass ich eine Spätzünderin war, weil meine<br />

Mutter mir ein paar Jahre lang die «Dr. Sommer»-Seiten<br />

aus der Bravo herausgeschnitten hatte. Nein, der<br />

Grund war, dass ich in meiner Schule in St. Niklaus<br />

– wo damals noch in jedem Klassenzimmer ein Kreuz<br />

hing – im Aufklärungsunterricht nie etwas anderes<br />

gehört hatte als das heteronormative Geschlechtermodell.<br />

Ich habe natürlich auch nie ein queeres Pärchen<br />

gesehen, das eng umschlungen bei Tageslicht auf<br />

den Dorfstrassen unseres entlegenen Tals herumspaziert<br />

wäre – Gott bewahre. Hier kennt jede*r jede*n<br />

und das Getuschel ist nie weit entfernt. Ich erinnere<br />

an den Pfarrer! Als ich im Oberwallis aufwuchs, gab<br />

es ferner noch keinerlei Beratungsstellen in den grösseren<br />

Städten Visp und Brig, die mich in irgendeiner<br />

Weise erleuchtet hätten. Auch das Internet steckte zu<br />

dieser Zeit noch in den Kinderschuhen respektive hatte<br />

ich keinen Zugang zu einem Computer – das kam<br />

alles erst viel später.<br />

Zugegeben, dass die Vorbilder fehlten, war seinerzeit<br />

nicht nur im Wallis so, sondern auch anderswo<br />

in ländlichen Gegenden. Doch in Deutschland gibt<br />

es beispielsweise seit 1996 den Verein FLUSS e.V., der<br />

im Raum Freiburg und überregional gesellschaftspolitische<br />

Bildungsarbeit zu Geschlecht und sexueller<br />

Orientierung leistet. Dazu bieten die ehrenamtlichen<br />

Mitarbeitenden neben Beratungen für queere Menschen<br />

unter anderem auch Workshops und Projekte<br />

in Schulen an, um dort ein grundlegendes Rollenverständnis<br />

und Themen wie Identitätsfindung überhaupt<br />

einmal aufs Trapez zu bringen. Das wäre auch<br />

für das Oberwallis, für mich und andere Jugendliche,<br />

die in den frühen 90er-Jahren dort feststeckten, hilfreich<br />

gewesen. An ein Coming-out war unter diesen<br />

Umständen gar nicht zu denken. Vor allem nicht für<br />

trans Menschen, die für ihre Transitionsprozesse auf<br />

therapeutische Begleitung angewiesen sind. Dafür<br />

fehlte das Gefühl der Sicherheit in einer Umgebung,<br />

die so tat, als gäbe es uns nicht.<br />

An den Gefühlen zerbrochen<br />

Wo waren die anderen queeren Jugendlichen und<br />

was ist mit ihnen passiert? Diese Frage habe ich mir<br />

später immer wieder gestellt. Denn es war sonnenklar,<br />

dass ich nicht die Einzige war. Viele sind vermutlich<br />

abgewandert und hatten wie ich Glück, dass der<br />

Selbstfindungsprozess sich erst nach ihrer Landflucht<br />

in Gang setzte. Andere, die schon vorher mit ihren<br />

Gefühlen gerungen haben, hielten den Druck in sich<br />

vielleicht nicht mehr aus und wählten den Weg zur<br />

Ganterbrücke. Die Selbstmordrate im Oberwallis war<br />

damals sehr hoch. Allein in meiner Oberstufe nahmen<br />

sich innerhalb dreier Jahre mindestens drei Jugendliche<br />

das Leben. Das mag verschiedene Gründe gehabt<br />

haben, doch es kann gut sein, dass auch jemand darunter<br />

war, der sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung<br />

oder Geschlechtsidentität zermürbte und dem<br />

oder der im entscheidenden Moment niemand zur<br />

Seite stand.<br />

Mit der ersten Pride, die im Sommer 2001 in Sitten<br />

stattfand, wurde dann erstmals ein Zeichen der Sichtbarkeit<br />

gesetzt. Dieses hatte sich die Koordinatorin<br />

des Anlasses, Marianne Bruchez, auf die Regenbogenfahne<br />

geschrieben. Die «Jeanne d'Arc von Sitten», wie<br />

sie aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes genannt<br />

wurde, bekam dafür natürlich reichlich Gegenwind<br />

zu spüren. Da lag mein Coming-out schon drei Jahre<br />

zurück und ich war zwar nicht überrascht, aber<br />

durchaus befremdet von der vornehmlich religiösen<br />

Hetze im Vorfeld des Anlasses. Vor einer «teuflischen<br />

Versuchung» wurden beispielsweise in der Unterwalliser<br />

Zeitung Nouvelliste die Leser*innen mit einem<br />

ganzseitigen Inserat gewarnt. Was das gekostet haben<br />

muss! Das schien aber die geringste Sorge der Auftraggeberin<br />

zu sein – einer Gruppierung namens «RomanDit»,<br />

die der schon seit über 40 Jahren im Wallis<br />

aktiven, erzkatholischen Piusbruderschaft nahesteht.<br />

Erste Pride und Sturm der Entrüstung<br />

Hauptsache, sie konnten kundtun, dass «Homosexualität<br />

schädlich für die öffentliche Gesundheit,<br />

die Jugend, die Familie und die Kirche ist», wie in<br />

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Story — 9<br />

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Story — 9<br />

Je näher der Termin der ersten<br />

Pride rückte, desto grotesker wurde<br />

die Debatte.<br />

der Anzeige weiter zu lesen war. Einige Wochen zuvor<br />

hatte schon der damalige Bischof die Diskussion<br />

um die Pride befeuert, indem er ebenfalls den Teufel<br />

bemühte, der hier seine Hände im Spiel hätte. Anscheinend<br />

stiess die Kreativität an ihre katholischen<br />

Grenzen. Im Walliser Boten versuchte er dann zu verschlimmbessern,<br />

denn Homosexualität im Allgemeinen<br />

sei nicht das Problem, sondern «diese freizügige<br />

Parade». Ein solcher Anlass – ähnlich der Streetparade<br />

– gehöre schliesslich nach Zürich und nicht ins beschauliche<br />

Sitten.<br />

Je näher der Termin der Pride rückte, desto grotesker<br />

wurde die Debatte. Von den Müttern, die mit ihren<br />

Kindern im Schlepptau vor der Sittener Kathedrale gegen<br />

den Anlass protestierten, um ihre Kinder vor «der<br />

Perversion» zu schützen, bis zu den «RomanDit's»,<br />

die einfach keine Ruhe gaben. Da der Teufel offenbar<br />

keine grosse Rückendeckung gab, versuchte sich die<br />

Gruppierung nun in Verschwörungstheorien. Von einer<br />

«internationalen Bewegung, die aus allen Jugendlichen<br />

Homosexuelle machen will», war die Rede. Am<br />

Schluss half dann nur noch Beten vor einer Kirche<br />

im Stadtzentrum – da war der Umzug aber schon in<br />

vollem Gang, mit über 20 000 Menschen (einschliesslich<br />

mir), die sich friedlich feiernd und fröhlich tanzend<br />

ihr Leben nicht vorschreiben lassen wollten. Als<br />

2015 dann die zweite Pride in Sitten stattfand, gab es<br />

wiederum Misstöne des Bischofs – inzwischen ein anderer<br />

– und Widerstand regte sich diesmal in den Untiefen<br />

der Social-Media-Gefilde. Doch die Kontrastimmen<br />

waren schon leiser geworden, weil im Wallis<br />

inzwischen bemerkt wurde, dass man sich selbst hier<br />

der Welt gegenüber nicht ganz verschliessen kann.<br />

Dass dies ausgerechnet in dem Kanton geschehen<br />

ist, in dem ich früher nur selten das Gefühl hatte, zu<br />

mir selbst finden zu können, zeigt den Wandel, der<br />

sich in den Köpfen und Herzen mit den Jahren vollzogen<br />

hat, und dass auch das Wallis bezüglich Toleranz<br />

und liberaler Haltung gewachsen ist. Natürlich gibt<br />

es immer noch die Gegenstimmen und die Hater, die<br />

versteckt soziale Ausgrenzung im Alltag und die offen<br />

gezeigten Aggressionen. Da mache ich mir nichts vor.<br />

Trotzdem ist etwas passiert. Das zeigt sich auch daran,<br />

dass der Kanton in eine Pionierrolle schlüpfen will<br />

und im Januar dieses Jahres einen umfassenden Aktionsplan<br />

gegen LGBTIQ-Diskriminierung vorstellte.<br />

Dieser beinhaltet ein breiteres Netz an Beratungsstellen<br />

sowie Schulungen für Fachpersonen oder in<br />

Schulklassen. Endlich. Im Sommer 2024 soll in der<br />

französischsprachigen Stadt Martigny im Unterwallis<br />

eine Pride stattfinden. Jetzt fehlt nur noch die erste<br />

Pride im Oberwallis – die hoffentlich nicht mehr allzu<br />

lange auf sich warten lässt.<br />

«Wo waren die anderen queeren Jugendlichen und was<br />

ist aus ihnen geworden?», fragt sich Sarah immer wieder.<br />

Oberems als Pionierin<br />

Die Pride war ein Türöffner und ebnete schliesslich<br />

den Weg für Anlaufstellen wie den Verein «QueerWallis»,<br />

der sich 2016 formierte. Heute bietet dieser neben<br />

Beratungsangeboten für die Community und deren<br />

Angehörige auch regelmässige Anlässe wie Filmabende<br />

oder gemeinsame Ausflüge an. Mit öffentlichen<br />

Themenabenden unter dem Motto «Wir sind wie ihr –<br />

und queer» versuchen die Mitglieder zudem, Vorurteile<br />

in der Bevölkerung abzubauen. Und dann dies: Als<br />

im September 2021 über die «Ehe für alle»-Initiative<br />

abgestimmt wurde, nahm die kleine Oberwalliser Gemeinde<br />

Oberems mit sagenhaften 85,7 % die Vorlage<br />

an. Das mag nur eine Randnotiz sein, bedeutet mir<br />

persönlich aber sehr viel.<br />

Bild: Privat<br />

Frühling <strong>2023</strong><br />

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COMIC<br />

IMPRESSUM<br />

Mannschaft Magazin <strong>Nr</strong>. <strong>112</strong>, Frühling <strong>2023</strong>, Ausgabe für die Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein<br />

Auflage 22 000 Ex. Aboservice Mannschaft Magazin ist im Abo (<strong>CH</strong>F 79/EUR 59 Jahr) sowie im Spezialabo für<br />

Studierende/Lernende (<strong>CH</strong>F 49/EUR 39 Jahr) erhältlich, mannschaft.com/shop, kontakt@mannschaft.com Herausgeberin<br />

Lautes Haus GmbH, Blumensteinstrasse 2, <strong>CH</strong>-3012 Bern Redaktionsverantwortung Denise Liebchen, Greg Zwygart<br />

Art Direction Sandro Soncin Bildredaktion Raffi p.n. Falchi Korrektorat Curdin Seeli, Schaumkino Anzeigenverkauf<br />

Christina Kipshoven, Jasmin Zaccone, medien@lauteshaus.com Druck Radin Print Rechtschreibung Mannschaft Magazin<br />

nimmt die Schweizer Rechtschreibung als Vorlage. Urheberrecht Jegliche Wiedergabe und Vervielfältigung von Artikeln<br />

und Bildern ist nur mit ausdrück licher Genehmigung des Verlags gestattet. Mannschaft Magazin erscheint quartalsweise.<br />

Die nächste Ausgabe erscheint am 7. Juni <strong>2023</strong>.<br />

130 Frühling <strong>2023</strong>


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