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Stadtparterre

ISBN 978-3-98612-028-3

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<strong>Stadtparterre</strong><br />

Erdgeschoss, Straße, Hof<br />

und deren Übergänge<br />

Angelika Psenner


Inhalt<br />

I. VORWORT 10<br />

II. STADTSTRUKTURFORSCHUNG 12<br />

III. STADTPARTERRE WIEN – DIE STUDIE 15<br />

Hintergrund – behandelte Themenkreise 15<br />

Forschungsfragen16<br />

Methode18<br />

Städtebauliche Annäherung 18<br />

Die klassische Zusammenhängende Grundrissaufnahme ZGA (2-dimensional) 18<br />

Morphologische Studien auf Basis von 3D-Stadtmodellen 20<br />

UPM Urban Parterre Modelling (3-dimensional) 21<br />

Hausbiografien 25<br />

Feldforschung26<br />

Datenmanagement 32<br />

Zusammenfassung33<br />

IV. STADTPARTERRE WIEN – DIE TEILBEREICHE 35<br />

Der Boden – die Topografie 35<br />

Die plane Stadt des 19. Jahrhunderts 38<br />

Stadtplanerische Nivellierungsmaßnahmen 39<br />

Auswirkungen der historischen Niveauregulierungen 48<br />

Conclusio ad Höhennivellierung Wiens 49<br />

Der umbaute Raum 51<br />

Bebauungstypologien51<br />

Baurechtliche Rahmenbedingungen 52<br />

Serielles Arbeiterzinshaus und bürgerliches Zinshaus 52<br />

Das Arbeiterzinshaus 56<br />

Das bürgerliche Zinshaus – Arbeiterzinshaus mit bürgerlichem Touch 65<br />

Beide Zinshaus-Typen im direkten Vergleich 67<br />

Bebauungsdichte – Belichtung, Belüftung – Gebäudehöhe 67<br />

Wohnungsgrößen71<br />

Worin besteht der Unterschied? 73<br />

Souterrain und Hochparterre – Exkurs nach Linz 76<br />

Resilienz nutzungsneutraler Architekturen 77<br />

Der öffentliche Raum 79<br />

Verhandlung von Nutzungsrechten und Nutzungsansprüchen 82<br />

Lebensraum Straße 83<br />

Genealogie der Straßennutzungsregelung in Wien 85<br />

Die gegenwärtige Verhandlungslage 90<br />

Garageneinbauten93<br />

Die Mobilitätsfrage und das <strong>Stadtparterre</strong> 94<br />

Paradigmenwechsel96


<strong>Stadtparterre</strong><br />

V. STADTPARTERRE WIEN – STRUKTURANALYSE 101<br />

Strukturelle Eigenschaften der Wiener Gründerzeitareale 101<br />

Baulich-strukturelle Eigenschaften 101<br />

Strukturell-nutzungsrelevante Faktoren 105<br />

Nutzungsstrukturanalyse109<br />

Nutzungsstrukturanalyse der drei Straßenzüge 112<br />

Straßenzug A – innerhalb des Gürtels 112<br />

Straßenzug B und C – außerhalb des Gürtels 130<br />

Das <strong>Stadtparterre</strong> als zentrale Verknüpfungsebene 140<br />

Die Fassade als Membran zwischen innen und außen 142<br />

Aktuelle Tendenzen im <strong>Stadtparterre</strong> 154<br />

Introvertierte Erdgeschosszonen und menschenleere Straßenräume 154<br />

Der Verlust einer essenziellen urbanen (Verknüpfungs-)Funktion 155<br />

Interkonnektivität / Permeabilität / Portale / Verschattung 156<br />

Leerstand / Unternutzung / (Klein-)Garagen 157<br />

Lager / Selfstorage 161<br />

Das Parterre der Stadt als Zone der Begegnung – Aussichten und Lösungsansätze 162<br />

Zusammenhang zwischen Nutzung von öffentlichem Raum und Erdgeschoss 164<br />

Innenhöfe165<br />

Fazit aus der städtebaulichen Analyse zu Wien 166<br />

Nutzungsoffenheit 166<br />

Öffentlicher Raum – Straßenraum 166<br />

Gehsteig167<br />

Funktionierendes <strong>Stadtparterre</strong> – der räumliche Zusammenhang des <strong>Stadtparterre</strong>s 168<br />

Permeabilität der Fassade 169<br />

Ideen / Anleitung zur Reorganisation des <strong>Stadtparterre</strong>s 169<br />

Empfehlungen zur Ausgestaltung des öffentlichen Raums 172<br />

VI. STADTPARTERRE INTERNATIONAL 177<br />

Architektur des 19. Jahrhunderts aus städtebaulicher Perspektive – eine neue Rezeption 177<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Berlin 180<br />

Grundkonzeption der Stadt – Topos und Hobrecht 180<br />

Stadtraum in Nebenlage – Feldforschung 183<br />

Strukturelle Entwicklung des Berliner <strong>Stadtparterre</strong>s 184<br />

Block und Parzelle 185<br />

Straßenquerschnitt186<br />

Der umbaute Raum – Berliner Gründerzeitarchitekturen 188<br />

Stadtmorphologische Analyse zur Nollendorfstraße 191<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Berlin heute – Erkenntnisse in Relation zum Wiener Kontext 196<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Budapest 197<br />

Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert197<br />

Stadtmorphologische Betrachtungen 198<br />

Stadtgewebe198


Inhalt<br />

Bauordnungen199<br />

Gebäudetypologien199<br />

Feldstudie – Josefstadt und Józsefváros 201<br />

Erkenntnisse im Vergleich zwischen Wien und Budapest 202<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Prag 204<br />

Prager Gründerzeit – im Vergleich 204<br />

Vorstädte205<br />

Feldstudie – Žižkov 206<br />

Städtebauliche Entwicklung 206<br />

Das Prager <strong>Stadtparterre</strong> – Elemente und Funktionsabläufe 207<br />

Erkenntnisse209<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Paris 209<br />

Die Stadt des 19. Jahrhunderts 209<br />

Die Pariser Passage 211<br />

Entwicklungen und Hintergründe 212<br />

Nutzungen und Nutzungsprofile 212<br />

Das tertiäre Netzwerk 213<br />

Erkenntnisse216<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Basel 216<br />

Das gründerzeitliche Basel – im Vergleich 217<br />

Matthäus und Gundeldingen – zwei Stadtquartiere des 19. Jahrhunderts 218<br />

Bautypologie218<br />

Durchlässigkeit – Übergang vom Innen- zum Außenraum 219<br />

Straßenraum219<br />

Analyse – Funktionsabläufe im Baseler <strong>Stadtparterre</strong> 221<br />

Erkenntnisse222<br />

<strong>Stadtparterre</strong> Rom 224<br />

Die Stadtentwicklung des späten Ottocento in Rom 224<br />

Piano Regolatore 1873 225<br />

Straßennetz225<br />

Gebäudetypen226<br />

Umsetzung226<br />

Piano Regolatore 1883 226<br />

Bauvorschriften, Roms Ottocento, Wiener Gründerzeit 227<br />

Stadtteilentwicklung am Beispiel von Testaccio 228<br />

Erkenntnisse im Vergleich zwischen Wien und Rom 229<br />

Fazit aus der Analyse zu <strong>Stadtparterre</strong> international 230<br />

<br />

VII. AUSBLICK 232<br />

Streetscapes für ein klimagerechtes und gesellschaftsfreundliches <strong>Stadtparterre</strong> 232<br />

BIM-basierte UPM-Tools für ein Modellieren im städtebaulichen Maßstab UIM bzw. CIM 234


<strong>Stadtparterre</strong><br />

VIII. ANHANG 237<br />

Bibliografie237<br />

Abbildungsverzeichnis249<br />

Abkürzungen253<br />

Factsheet zum Forschungsprojekt 254<br />

Impressum255


10<br />

I. VORWORT<br />

Unsere Gesellschaft steht vor neuen Herausforderungen: Klimanotstand, Gesundheitskrise, Mobilitätswende,<br />

Digitalisierung. Nicht zuletzt weil ein Großteil der Bevölkerung in Städten lebt, gilt es diese<br />

Herausforderungen besonders im urbanen Raum zu bewältigen. Wobei aufgrund der Versäumnisse<br />

in der Vergangenheit nun radikale Schritte vonnöten sind. Dazu gehört auch, den uns zur Verfügung<br />

stehenden Raum neu zu lesen, zu denken und in Folge dann eben auch adäquat zu nutzen. Was uns in<br />

diesem Bestreben hindert, ist – zumindest aus städtebaulicher Sicht – ein nicht zeitgemäßer Umgang<br />

mit der Ressource Raum, der bereits dort beginnt, wo wir diese Raumkonstellationen benennen und<br />

„labeln“.<br />

1 „Er [der Städtebau] ist, noch bevor er eine Kunst<br />

wird eine Wissenschaft“, schreibt Lampugnani<br />

in der Einleitung zum „Manuale zum Städtebau“<br />

(Lampugnani 2017, 7).<br />

2 Um in Bezug auf konkrete Inhalte den fachlich<br />

intensiven Austausch mit anderen Disziplinen zu<br />

suchen, wurden die Ergebnisse der vorliegenden<br />

Studien regelmäßig international auf unterschiedlichen<br />

Fachkongressen präsentiert: EURA – European<br />

Urban Research Organisation; ISUF – International<br />

Seminar on Urban; EAUH – European<br />

Association for Urban History; USRN – Urban<br />

Space Research Network; UIA – World Congress<br />

of Architecture REAL CORP – International Conference<br />

on Urban Planning and Regional Development;<br />

Nordic Encounters – Research Group of<br />

Landscape Architecture and Urbanism; Walk21<br />

– international organisation for the right to walk;<br />

walk-space – Österreichische Fachkonferenz für<br />

Fußgänger*innen; International AISU Congress –<br />

Associazione Italiana di Storia Urbana.<br />

Hier setzt die Studie „<strong>Stadtparterre</strong>“ an. Unter Anwendung des methodischen Urban-Parterre-Modelling-Ansatzes<br />

(UPM, s. Kapitel „Methode“) wird eine grundlegend neue Lesart von städtischem Raum<br />

angestrebt. Dabei verfolgt die Herangehensweise der Stadtstrukturforschung eine multiskalare und<br />

multidisziplinäre holistische Erfassung von Raumqualitäten, die letztendlich eine Neuinterpretation<br />

ermöglichen soll. Der innovative Aspekt der vorliegenden Studie liegt also darin, urbane Qualitäten<br />

räumlicher Konfigurationen aus einem historischen Blickwinkel heraus zu lesen und im aktuellen städtebaulichen<br />

Kontext zu analysieren.<br />

An den Städtebau – die Kunst und Wissenschaft um das Gestalten von Stadt 1 – gibt<br />

es unterschiedliche fachliche Herangehensweisen, die je nach Sachlage, Aufgabenstellung<br />

und Zielvorstellung ihre Berechtigung haben. Gesamt betrachtet beschäftigt<br />

sich die Städtebau-Disziplin mit der „räumlichen, baulichen und gestalterischen Entwicklung<br />

von Stadt und Territorium unter den Aspekten der historischen, kulturellen,<br />

sozialen, politischen und ökonomischen Dimensionen“ (Luchsinger 2013). Aufgrund<br />

der hochkomplexen Materie ist es durchaus nachvollziehbar, dass in wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen, genauso wie in realen, stadtplanerisch-gestalterischen Eingriffen,<br />

eine umfassende, alle Themen gleichwertig behandelnde Position nicht eingenommen<br />

werden kann. Vielmehr geht es darum, dass wir – unserer jeweiligen Ausbildung und<br />

Intention entsprechend – bestimmte relevante Aspekte fokussieren, ohne jedoch den<br />

Umstand außer Augen zu lassen, dass es sich dabei um ein Segment, eine Facette des<br />

ganzheitlichen Themas handelt.<br />

Dieses Grundverständnis setzt voraus, dass wir die eigene Arbeit als Teil eines Umfeldes<br />

verschiedener Ansätze und Zugänge verstehen, den wertschätzenden Austausch<br />

mit den Vertreter*innen anderer Fachrichtungen suchen und nicht zuletzt auch deren<br />

Sichtweisen einfließen lassen. 2 Mit dieser Eingangsbotschaft soll unsere Position im<br />

sich immer wieder entfachenden Theorie-Praxis-Diskurs in Architektur, Städtebau und Stadtplanung<br />

dargelegt werden. Theorie und Praxis befruchten sich gegenseitig, beide haben ihren Stellenwert und<br />

sind ohne die Existenz der anderen Schule nicht denkbar.


11<br />

Die <strong>Stadtparterre</strong>-Studie befasst sich mit der grundlegenden Frage nach den Kräften, die Stadt (mit-)<br />

gestalten und nach den Einflüssen, die einen bestimmten Stadtraum formen. Konkrete Situationen<br />

werden individuell, anschaulich analysiert und behandelt. Immer wenn Städtebau a priori versucht,<br />

generische Antworten und allgemeingültige Regeln zu finden, kippt er erfahrungsgemäß in Formalismen,<br />

wird für andere Wissenschaften nicht nachvollziehbar und deshalb, bisweilen auch zu Recht,<br />

angreifbar.<br />

Die Stadt als die gebaute Umwelt menschlichen Lebens in all seinen vielfältigen, zeitgemäßen Formen<br />

und Beziehungen – das müßte eigentlich eine sehr selbstverständliche, dürfte aber in Wirklichkeit<br />

eine noch sehr unentwickelte und unpopuläre Vorstellung sein. Wäre es nicht sehr verlockend, mit<br />

dem ganzen Rüstzeug moderner Wissenschaft der Frage zu Leibe zu gehen, wie sich das menschliche<br />

Leben und das Leben der Gesellschaft räumlich am zweckmäßigsten, wirtschaftlichsten, gesündesten<br />

organisieren und gestalten ließe? (Rainer 1949, 5)<br />

Es versteht sich, dass die Analyse der Einzelfälle letztendlich Ergebnisse liefert, die auch für andere<br />

Stadtformationen und -konstellationen gelten dürften. Ob sie Allgemeingültigkeit erlangen, bleibt aber<br />

so lange in den Diskussionsraum gestellt, bis sich Situationen und Grundvoraussetzungen finden, die<br />

neue Schlussfolgerungen urgieren. Dass Forschungsergebnisse nun einmal im relativen Raum gelten,<br />

ist seit Präzisierung der Relativitätstheorie anerkannt und kann heute keine Verunsicherung mehr<br />

hervorrufen.


Abb. 71: Öffentlicher Freiraum in Wiens Gründerzeitarealen – Straßenraum für alle Nutzer*innen.


101<br />

V. STADTPARTERRE WIEN<br />

STRUKTURANALYSE<br />

Die vorangestellten Kapitel haben zuallererst die grundsätzliche Relevanz des Verknüpfungssystems<br />

<strong>Stadtparterre</strong> ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gebracht, sie haben aber auch gezeigt, dass das<br />

<strong>Stadtparterre</strong> letztlich einen immanenten und wesentlichen Teil der gesamtstädtischen Struktur bildet.<br />

Wenn es nun darum geht, diese räumliche Formation zum einen in seiner historischen Anlage zu verstehen<br />

und zum anderen auch seine aktuelle Nutzung zu erfassen, ist es folglich notwendig, das Gesamtkonstrukt<br />

Bestandsstadt in seinen Grundzügen entsprechend konzise zu begreifen. Es stellt sich<br />

also die Frage: Welche städtebaulichen Parameter schafft(e) die gründerzeitliche Gesamtstruktur?<br />

Strukturelle Eigenschaften der Wiener Gründerzeitareale<br />

Wiener Stadtbereiche, deren stadtstrukturelle Genese auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht,<br />

nennen wir Gründerzeitviertel oder Gründerzeitareale. Ihre stadtstrukturellen Eigenschaften<br />

lassen sie – wie im Folgenden beschrieben – grob auf wenige, dafür um so eindrücklichere Eigenschaften<br />

herunterbrechen. Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen baulich-strukturellen und strukturell-nutzungsrelevanten<br />

Faktoren.<br />

Baulich-strukturelle Eigenschaften<br />

Die baulich-strukturellen Eigenschaften der Wiener Gründerzeitarchitektur lassen sich folgendermaßen<br />

umreißen:<br />

• dichte Bebauung<br />

• nutzungsoffene Architekturen (einfaches, flexibles Raummodell und große Raumhöhen)<br />

• vernetztes Raumnutzungssystem im <strong>Stadtparterre</strong> (Permeabilität der Erdgeschossfassade,<br />

Möglichkeit zum Austausch zwischen öffentlichen und halböffentlichen Sphären der Stadt)<br />

Dichte Bebauung<br />

Wien ist eine Stadt des 19. Jahrhunderts. Dies war der Zeitraum, in dem sich die Grundzüge ihrer heutigen<br />

Gestalt entfalteten – sowohl im Hinblick auf den Bevölkerungsumfang als auch in Bezug auf die<br />

städtebauliche Entwicklung. Im internationalen Vergleich weist diese gründerzeitliche Stadtstruktur<br />

eine außerordentlich dichte Bebauung auf, was sich auf den Umstand zurückführen lässt, dass Wien<br />

in der Zeit seiner größten Expansion topografisch eingezwängt zwischen den Hügeln des Wienerwaldes<br />

und der Sumpflandschaft der noch unregulierten Donau lag und sich eben deshalb dicht und<br />

massig in das Umland einschrieb. (vgl. Kapitel „Der Boden – die Topografie“)<br />

Aus stadtplanerischer Sicht bringt eine kompakte Stadtstruktur wiederum beste Voraussetzungen für<br />

viele der heute geforderten städtebaulichen Leitbilder mit sich: für die „Stadt der kurzen Wege“, die<br />

„gemischte Stadt“, die „15-Minuten-Stadt“ oder die „produktive Stadt“. Auch ein nachhaltiger „Modal<br />

Split“ und alle Formen alternativer Mobilitätsplanung lassen sich in einer dichten Bebauungsstruktur<br />

gut bewerkstelligen. Darüber hinaus bringen schlanke Straßenquerschnitte und enge Hofsituationen ob<br />

ihrer wirksameren Verschattung auch Vorteile, wenn es darum geht, ein positives Mikroklima zu erzeugen.<br />

Wien ist also prädestiniert für die Umsetzung einer zukunftsweisenden, nachhaltigen Stadtpolitik.


102<br />

STRUKTURELLE EIGENSCHAFTEN<br />

Das engmaschige Stadtgewebe produziert jedoch auch Mängel, z. B. dort, wo Hitzeinseln sich in<br />

der Struktur festsetzen und nicht über Luftturbulenzen und Winde durch die Gassen ausgeblasen<br />

werden. Auch der Umstand, dass historische Planungen für das gründerzeitliche Wien – jedenfalls für<br />

die Straße in Nebenlage – generell keine Baumpflanzungen vorsahen, kommt uns heute ungelegen.<br />

Das Vorhandensein von Bäumen und deren mikroklimatische Auswirkungen galt unter den Akteuren<br />

des Wiener Städtebaus offensichtlich als irrelevant und wurde vor dem Hintergrund der per Bauordnung<br />

und in Reaktion auf die topografische Ausgangslage (vgl. Kapitel „Der Boden – die Topografie“)<br />

vorgegebenen geringen Straßenbreiten von 9, 12 und zuletzt 16 Metern nicht diskutiert.<br />

Anders in den Städten Barcelona und Berlin, deren Planer Ildefons Cerdà bzw. James Hobrecht den<br />

Baum als städtisches Grundelement in ihre Planung aufnahmen (vgl. Magrinyà / Marzá 2017 und<br />

Dolf-Bonekämpfer / Million / Pahl-Weber 2018). Während für Barcelona Themen wie Beschattung<br />

und Kühlung durch Vegetation ob des mediterranen Klimas quasi Grundwissen um die Konzeption<br />

von urbanem Lebensraum darstellte, waren im Falle Berlins Hobrechts wissenschaftliche Studien zur<br />

infrastrukturellen Ausstattung von Straßen (vgl. Hobrecht 1890) und zur Gestaltung von gesundheitsverträglichem<br />

öffentlichen Raum ausschlaggebend. Außerdem erlaubte in beiden Fällen die geplante<br />

luftige Proportion das Anlegen großzügiger Baumbestände, denn sowohl Hobrecht als auch Cerdà<br />

setzten die maximal zulässige Gebäudehöhe in direkte Relation zum Straßenquerschnitt.<br />

Der Umstand, dass Akteure der Stadtplanung im 19. Jahrhundert durchwegs der oberen sozialen Bevölkerungsschicht<br />

angehörten und wenig mit den Lebensumständen der durchschnittlichen Bevölkerung<br />

in Kontakt kamen, trug ebenso bei zum – in diversen Belangen – (alltags-)lebensfremden Planungszugang.<br />

Bekannterweise sollten ja erst die aufklärerische Arbeit der ersten Fotoreporter*innen<br />

(Jacob Riis, Brüder Séeberger, Helen Levitt) und der empirisch-feldforscherische Zugang der Chicagoer<br />

Schule für Soziologie eine neue Faktenlage in Bezug auf die Bedürfnisse von Stadtbewohner*innen<br />

ans Licht bringen und damit letztendlich eine neue Sichtweise auf die Aufgabenstellung „Stadtplanung“<br />

erlauben oder einfordern.<br />

Zudem verlangte die Ästhetik der Wiener Gründerzeit nach dunklen, schweren Raumgestaltungen:<br />

Entscheidungsträger*innen wohnten in der Beletage, wo der ob enger Gassenquerschnitte ohnehin<br />

geringe natürliche Lichteinfall durch schwere Samtvorhänge weiter dezimiert wurde. Die Räumlichkeiten<br />

waren farblich in dunklen Braun- und Grüntönen gehalten und mit schweren Holztäfelungen<br />

und wuchtigem Mobiliar ausgestattet. Der Bedarf nach Luftigkeit und Sonnenschein, der Wunsch<br />

nach Nähe zur Vegetation wurde beim Wochenendausflug ins Grüne und in der Sommerfrische am<br />

Land erfüllt. Dass der restlichen Bevölkerung diese Möglichkeiten nicht offenstanden, tat wenig zur<br />

Sache. Stadtbäume standen in Wien nicht zur Debatte.<br />

Abb. 72: Stadtbäume standen im<br />

gründerzeitlichen Wien nicht zur<br />

Debatte. Dementsprechend zeugen<br />

Wiens Gassenzüge bis heute<br />

von einer dichten, baumlosen<br />

Stadtarchitektur. Für Barcelona<br />

sorgte der Pla Cerdà hingegen<br />

für eine baumbestandene schattenreiche<br />

Straßenatmosphäre.


STADTPARTERRE WIEN<br />

103<br />

Abb. 73: Vergleich: <strong>Stadtparterre</strong><br />

Wien (innerer Bezirk) und Barcelona<br />

(Eixample)<br />

190 925 215<br />

500 1.000 500<br />

1.330 2.000<br />

Das größte Defizit liegt aber wohl darin, dass Wien keine Freiraumressourcen hat. Berlins Gassen sind<br />

doppelt bis dreimal so breit wie jene Wiens (vgl. Kapitel „<strong>Stadtparterre</strong> Berlin“) und der Wiener Gehsteig<br />

wirkt mit seinen durchschnittlich 2,20–2,70 Metern wie eine Hühnerleiter im Vergleich zu Berlins<br />

Bürgersteigen oder den 4-Meter-Sidewalks in New York City und den 5-Meter-Aceras in Barcelona<br />

und Valencia. So liegt also in der ersten baulich-strukturellen Eigenschaft, der Dichte, zwar ein spezifischer<br />

Nachteil, aber eben zugleich auch ein enormes Potenzial – sofern Nutzung und Verteilung der<br />

Raumressourcen sinnvoll und gerecht verhandelt und geregelt werden.<br />

GSEducationalVersion<br />

Nutzungsoffene Architekturen<br />

Die Stadt des 19. Jahrhunderts entstand einerseits aus der Überformung älterer, vorhandener Grundstrukturen,<br />

entwickelte sich aber größtenteils auf nach ökonomischen Grundsätzen parzelliertem<br />

Land. Dem akuten Bedarf nach Wohn- und Lebensraum nachkommend, erfolgte die Bebauung in<br />

rasantem Tempo und unter Anwendung industrialisierter und mechanisierter Vorgangsweisen: Basisgrundrisse<br />

kamen zum Einsatz, wurden entweder leicht verzerrt, um sie der geometrischen und<br />

topografischen Parzellenvorgabe anzupassen, oder einfach nur kopiert – wobei bisweilen gar der seitenverkehrte<br />

Durchschlag der Originaleingabe der Nachbarparzelle zur Einreichung kam (s. Abb. 39).<br />

Dies geschah vor allem dort, wo Baugesellschaften agierten und zumeist gleich mehrere nebeneinanderliegende<br />

Bauparzellen entwickelten.<br />

Diese industrialisierte Raumproduktion ergab serielle, unspezifische Architekturen, welche neben<br />

verschiedenen Unzulänglichkeiten eben auch den Vorteil der Nutzungsoffenheit aufweisen. Wie im<br />

Kapitel „Serielles Arbeiterzinshaus und bürgerliches Zinshaus“ beschrieben, verfügen Wiens gründerzeitliche<br />

Stadthäuser über ein einfaches Raummodell, das in seiner rigiden Klarheit wie ein Regalsystem<br />

funktioniert, welches gemäß zeitlich sich ändernder Anforderungen adaptiert werden kann.<br />

Das statische System von lastenableitender Straßen- und Hoffassade sowie tragender Mittelmauer<br />

erlaubt ein einfaches und relativ flexibles Raumfolgesystem. Darüber hinaus können Räume je nach<br />

geplanter Nutzung zusammengelegt und auch wieder getrennt werden. Die überdurchschnittlichen<br />

Raumhöhen unterstützen diesen Aspekt, da sie durchaus große und dennoch wohlproportionierte<br />

Einheiten ermöglichen (vgl. Kapitel „Resilienz nutzungsneutraler Architekturen“). Die gründerzeitlichen<br />

Stadthäuser – und hier vor allem die bürgerlichen Zinshäuser – bieten damit eine breite Nutzungspalette,<br />

der Fachjargon nennt dies architektonische Nutzungsoffenheit, bisweilen wird auch der<br />

aus unserer Sicht etwas ungünstigere Begriff Nutzungsneutralität verwendet. Von Beginn an diente<br />

das Wiener Massenmietshaus – das bürgerliche genauso wie das Arbeiterzinshaus – als Wohn-<br />

und als Arbeitsstätte. Ein Umstand, welcher der Tatsache geschuldet war, dass im 19. Jahrhundert<br />

kaum eine Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten bestand und dass in der rapid<br />

expandierenden Weltstadt größte Wohnraumnot herrschte. 125 In den „Wohnquartieren“<br />

wurde gegessen, geschlafen, gekocht, gearbeitet, produziert und gehandelt, es<br />

wurden hier Kinder geboren und Sterbende in den Tod begleitet. Die Räume boten<br />

allen Bewohner*innen und Benutzer*innen gleichermaßen Unterkunft und Raum.<br />

125 1901 errechnete das Arbeitsstatistische Amt<br />

ein durchschnittliches Maß für die „Dichtigkeit des<br />

Zusammenwohnens“, welches einer Prokopfwohnraumfläche<br />

von lediglich vier Quadratmetern entsprach<br />

(vgl. Psenner 2014b, 12).


104<br />

STRUKTURELLE EIGENSCHAFTEN<br />

Abb. 74: Nutzungsneutralität:<br />

Gründerzeitliche Architekturen<br />

werden von Beginn an gleichermaßen<br />

zum Wohnen, Arbeiten<br />

und für Freizeitbeschäftigungen<br />

(Kinosäle, Turn- und Boulderhallen,<br />

Bethäuser ...) genutzt.<br />

Sie sind bis zu einem gewissen<br />

Maß funktional und eignen sich<br />

zudem auch für repräsentative<br />

Zwecke – eine Aufgabe, die rein<br />

funktionale Wohngebäude des<br />

20. und 21. Jahrhunderts zumeist<br />

nicht übernehmen können.<br />

Aus heutiger städtebaulicher Sicht stellt sich die Frage nach der „Hardware“, nach Beschaffenheit und<br />

Konsistenz der Architekturen und der Bandbreite an Bespielmöglichkeiten, die sie bieten. Nutzungsneutrale<br />

Architektur definiert sich in erster Linie über ein flexibles Raummodell und angemessene<br />

Deckenhöhen – diese sind, wie wir im Kapitel „Das (serielle) Arbeiterzinshaus der Hochgründerzeit“<br />

erfahren, interessanterweise einem „volks- und gesundheitsökonomischen“ Seuchenaspekt geschuldet.<br />

Das flexible Raummodell sichert also die Möglichkeit der Anpassung: Eine Zusammenlegung<br />

von Räumen kann jederzeit durchgeführt und genauso wieder rückgängig gemacht werden. In einigen<br />

Fällen werden Wohnungen und Lokale, wenn es die Eigentumsverhältnisse zulassen, sogar über<br />

Parzellengrenzen hinweg vereint. So können in einem Gründerzeitwohnhaus repräsentative Büros<br />

für Rechtsanwaltskanzleien ebenso untergebracht werden wie Kindertagesstätten, Kaffeehäuser, Gemeindezentren,<br />

Yogaschulen usw. – sie alle finden ihren Platz in einem Gebäudetypus.<br />

Vernetztes Raumnutzungssystem im <strong>Stadtparterre</strong><br />

Die Vormittagspromenade wird nicht selten durch kleine Menscheninseln unterbrochen, die<br />

sich mitten im Korso gebildet haben und sich unentwegt vergrößern. Es zeugt aber keineswegs<br />

von schlechten Manieren, auf dem Trottoir längere Zeit stehen zu bleiben und eifrigst<br />

miteinander zu debattieren. Die Aristokraten tun das sogar sehr gerne, sie haben im Korsogewimmel<br />

ihre eigenen Standplätze, von denen der vor dem Sacher vielleicht der wichtigste<br />

ist. (Hirschfeld 1927, 63)<br />

Aus historischer Sicht stellten große Teile der Wiener Erdgeschosszone halböffentlichen Raum dar.<br />

Aufgrund der hohen Besucher*innenfrequenz bewirkte eine spezielle, dem Straßenraum zugewandte,<br />

offene Nutzungsweise, dass die Fassade als Permeable fungierte: Sie ermöglichte einen übergreifenden<br />

Austausch zwischen öffentlichen und halböffentlichen Sphären.


STADTPARTERRE WIEN<br />

105<br />

Abb. 75: Vernetztes Raumsystem:<br />

das <strong>Stadtparterre</strong> ist visuell verbunden<br />

(Einsichtigkeit des Erdgeschosses),<br />

hier wird gespielt,<br />

gewerkelt, man hält sich hier auf<br />

im Drinnen und Draußen.<br />

Literarische Dokumente und fotografische Originalaufnahmen aus der Zeit belegen, dass die Türen<br />

der Gassenläden und der sogenannten „Gewölbe“ (vgl. Kapitel „Das <strong>Stadtparterre</strong> als zentrale Verknüpfungsebene“),<br />

aber auch die diversen Tore und Hauseinfahrten tagsüber zumeist offenstanden.<br />

Ebenso zeigen Bilder vieler südeuropäischer Städte – nämlich jener, deren belebtes, funktionierendes<br />

Erdgeschoss uns augenblicklich in Erinnerung gerufen wird –, dass Erdgeschossfassaden dort noch<br />

heute durchlässig sind; und zwar nicht nur visuell einsichtig (eventuell mittels großer Glasscheiben),<br />

sondern eben real haptisch. Sie sind funktional miteinander verbunden.<br />

Auch die Wiener Innenhöfe des 19. Jahrhunderts waren über ihre Nutzung in das <strong>Stadtparterre</strong>-System<br />

eingebunden: Hier fand das Alltagsleben der Bewohner*innen statt, es wurden Teppiche geklopft,<br />

Pflanzen gezogen, Tiere gehalten, die Kleinkinder spielten im Innenhof, sofern sie sich nicht im Straßenraum<br />

aufhielten, und natürlich wurden die Innenhöfe auch gewerblich genutzt. Historisch gesehen<br />

stellte das Wiener <strong>Stadtparterre</strong> demnach ein einheitliches, in sich geschlossenes System dar – darüber<br />

hinaus bildete es eine essenzielle Verknüpfungsstruktur, welche die verschiedenen Sphären der<br />

Stadt untereinander verband. Seither wurde zuerst die Nutzungs-, zuletzt auch die bauliche Struktur<br />

des <strong>Stadtparterre</strong>s grundlegend verändert, worüber in den folgenden Abschnitten zu lesen ist.<br />

Strukturell-nutzungsrelevante Faktoren<br />

Aus städtebaulicher Perspektive sind für die Bestandsstadt und die Konstitution seines <strong>Stadtparterre</strong>s<br />

folgende nutzungsstrukturelle Faktoren besonders relevant:<br />

• Ausdünnen der Bevölkerungsdichte<br />

• Unter- und Fremdnutzung von Erdgeschosszone und öffentlichem Raum<br />

Ausdünnen der Bevölkerungsdichte<br />

Im internationalen Metropolenvergleich weist die Gesamtstadt Wien mit derzeit 4630 Personen<br />

per Quadratkilometer eine unterdurchschnittliche Bevölkerungsdichte auf. Obwohl in<br />

einigen inneren Bezirken wie Margareten (26.800 Pers./km 2 ), Josefstadt (22.670 Pers./km 2 ),<br />

Mariahilf (21.170 Pers./km 2 ), Rudolfsheim-Fünfhaus (19.780 Pers./km 2 ) und Neubau (19.680<br />

Pers./km 2 ) 126 durchaus große Dichten erreicht werden, liegt die Großstadt weit hinter den<br />

hochkompakten Megametropolen in Bangladesch, Zentralafrika, Indien und China. Aber<br />

auch in Europa finden sich z. B. mit Paris, London und Madrid Städte mit deutlich höheren<br />

Densitäten. 127 So erreicht Paris – mit 20.755 Pers./km² (Stand 2017) die derzeit dichteste Stadt<br />

in Europa – in einzelnen Bezirken Einwohner*innendichten von über 40.000 Pers./km 2 . 128<br />

Die geringe Gesamtdichte rührt daher, dass Wien aufgrund seiner hydro- und topografischen<br />

Lage zwar einerseits eine außerordentlich kompakte innere Bebauung aufweist<br />

(vgl. Kapitel „Stadtplanerische Nivellierungsmaßnah men“), dieser verpresste Kern aber<br />

umschlossen wird von einem breiten, nicht oder nur sehr dünn besiedelten Grüngürtel<br />

(Wiener Wald, Donauauen und die Kulturlandschaft des Marchfelds).<br />

126 Stand Jänner 2021, Zahlen gerundet. Quelle:<br />

www.statistik.at: Statistik Austria – Bevölkerung zu<br />

Jahresbeginn 2002–2020 nach Gemeinden (Gebietsstand<br />

1.1.2020)<br />

127 Dhaka, Bangladesch: 33.878 Pers./km 2 , Kinshasa,<br />

Kongo: 28.542 Pers./km 2 , Hongkong, China:<br />

25.327 Pers./km 2 , Mumbai, Indien: 24.773<br />

Pers./km 2 . Quelle: Wendell Cox Consultancy;<br />

United Nations. Zeitpunkt der Veröffentlichung:<br />

Juni 2020; https://de.statista.com/statistik/daten/<br />

studie/37168/umfrage/ranking-der-10-staedtemit-der-weltweit-hoechsten-bevoelkerungsdichte/<br />

(02.03.2021). Paris 20.755 Einw./km², London 5667<br />

Einw./km² und Madrid 5392 Einw./km². (Quelle:<br />

Institut national de la statistique e des études économiques;<br />

insee.fr) (12.03.2021).<br />

128 Das 11. Arrondissement weist eine Einwohner*innendichte<br />

von 40.182 Einw./km² (Stand: 2017,<br />

Quelle: Institut national de la statistique et des études<br />

économiques; insee.fr) (12.03.2021).


106<br />

STRUKTURELLE EIGENSCHAFTEN<br />

Tab. 9: Einwohner*innendichte<br />

in den einzelnen Stadtbezirken<br />

Wiens. Tabelle © Psenner 2021,<br />

Datenquellen Statistik Austria<br />

Abb. 76: Topografieplan,<br />

Schwarzplan<br />

Zum höchsten Bevölkerungsstand, den Wien kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hatte, fasste die<br />

Stadt bei einer baulichen Struktur, die weit hinter dem aktuellen Ausmaß liegt, über 2,2 Millionen Einwohner*innen<br />

(Hauer 2019, 22 und Weigl 2000). Bereits im Jahr 1901 hatte das k. k. Arbeitsstatistische Amt im<br />

Handelsministerium als Maß für die sogenannte „Dichtigkeit des Zusammenwohnens“ einen Prokopf-<br />

Wohnraumbedarf von lediglich vier Quadratmeter (!) Bodenfläche errechnet (vgl. Psenner 2014b, 12).


STADTPARTERRE WIEN<br />

107<br />

Aus einer Gewerbegenehmigung zu einem der in der Studie untersuchten Gebäude des Straßenzuges<br />

in Stadtkernlage geht hierzu für das Kalenderjahr 1915 folgender Eintrag hervor:<br />

„Genehmigung der Betriebsanlage zur Ausübung des Pfaidlergewerbes unter den nachstehenden<br />

Bedingungen: [...] 6) In den Arbeitsräumen dürfen nur so viele Personen beschäftigt<br />

werden, dass auf jede derselben ein Luftraum von mindestens 10 m 3 entfällt.“ (Psenner,<br />

<strong>Stadtparterre</strong>-Studie 2019, anonymisierte Hausbiografie, Quelle: Archiv der Baupolizei)<br />

Mit dem Ersten Weltkrieg knickte die bis dorthin kontinuierlich und rasant ansteigende Bevölkerungsentwicklung<br />

jedoch abrupt ein und war ab diesem Zeitpunkt stark rückläufig. Im Jahr 1981, dem bevölkerungstechnischen<br />

Tiefpunkt, fasste die Stadt nur mehr knapp 1,5 Millionen Einwohner*innen. Also<br />

war die Ressource Wohnraum zur Genüge vorhanden, was dazu führte, dass eine Vielzahl von kleineren<br />

Wohnungen und vor allem die meisten Garçonnièren zu größeren Wohneinheiten<br />

zusammengelegt wurden. So reagierte der Immobilienmarkt in den vergangenen vier<br />

Jahrzehnten – nicht zuletzt, um den gestiegenen Ansprüchen ans Wohnen entgegenzukommen.<br />

Parallel dazu entwickelte sich die durchschnittliche Wohnnutzfläche: Nach jahrelangem,<br />

beständigem Ansteigen erreichte sie im Jahr 2017 mit 38 Quadratmetern einen<br />

Peak, verzeichnete zuletzt einen leichten Rückgang und liegt heute bei 34 m 2 /Person. 129<br />

An der progressiven Entwicklung der Per-Capita-Wohnraumflächenzahl und damit der<br />

regressiven Dichteentwicklung änderte in der Vergangenheit auch der Umstand der<br />

Ostöffnung 1989 und des damit einhergehenden – langsamen – Bevölkerungswachstums<br />

wenig. Vielmehr wurde ab 1990 mit den ersten Vorbereitungsmaßnahmen zur<br />

geplanten – jedoch nicht durchgeführten – Weltausstellung (1995) und den in Folge<br />

einsetzenden Spekulationsgeschäften der Immobilienmarkt neu angefacht und führte<br />

noch vermehrt zur Revitalisierung des Altbestandes, was letzten Endes immer auch<br />

eine Vergrößerung der Wohneinheiten bedeutete.<br />

Erst die letzte Bevölkerungsentwicklung seit 2015, die erstmals wieder zu nennenswerten<br />

jährlichen Anstiegen führte, schreibt sich mit dem Aufkommen der sogenannten<br />

Smart- oder Micro-Wohnungen in einem leichten Absinken der durchschnittlichen<br />

Wohnnutzfläche nieder. Jedoch wird, wenn man die bezirksbezogenen Bevölkerungsdichten<br />

betrachtet, ersichtlich, dass die Bevölkerungszunahmen sich in erster Linie in<br />

den neuen Stadtentwicklungsarealen in Floridsdorf, Donaustadt und Liesing niederschlagen,<br />

aber die Bestandsstadt nach einem kurzen Anschwellen zwischen 2015<br />

und 2019 nun wieder kontinuierlich ausdünnt (vgl. Grafik ad Josefstadt und Neubau).<br />

Nun führt aber ein Ausdünnen der Bevölkerung notgedrungen zu einer Beeinträchtigung<br />

des Systems <strong>Stadtparterre</strong>, da entsprechend weniger Menschen die Verknüpfungszone<br />

nutzen und beleben. Daniel Fuhrhop bringt diesen Zusammenhang folgendermaßen<br />

auf den Punkt:<br />

129 In Österreich lebende Menschen beanspruchen<br />

derzeit durchschnittlich 42 Quadratmeter<br />

Wohnfläche pro Kopf, womit sie im europäischen<br />

Mittel liegen (Statistik Austria; MA 41 und wien.<br />

gv.at).<br />

Tab. 10: Bevölkerungsdichte (Einwohner*innen/<br />

km 2 ); © Psenner 2021<br />

Quellen: Statistik Austria – Bevölkerung zu Jahresbeginn<br />

2002–2020 nach Gemeinden (Gebietsstand<br />

1.1.2020) und wien.gv.at<br />

Abb. 77: Geschlossene Erdgeschosszone<br />

im Neubau


128<br />

STRASSENZUG A 1910<br />

Lager und Leerstand:<br />

Lager, Leerstand und Nicht<br />

erhebbar<br />

Anteil von Flächen in der<br />

Erdgeschossnutzung, welche<br />

keine aktive Nutzung aufweisen


129<br />

2020<br />

Lager und Leerstand:<br />

Lager, Leerstand und Nicht<br />

erhebbar<br />

Anteil von Flächen in der<br />

Erdgeschossnutzung, welche<br />

keine aktive Nutzung aufweisen


130<br />

NUTZUNGSSTRUKTURANALYSE<br />

Straßenzug B und C – außerhalb des Gürtels<br />

Die Archive der Baupolizei weisen für die äußeren Bezirke eine grundsätzlich andere, nämlich bedauerlicherweise<br />

bescheidene Datenlage auf: Umbauten und räumliche sowie nutzungsbezogene<br />

Adaptierungen wurden in den historischen, zuletzt eingemeindeten Vororten relativ selten offiziell angezeigt.<br />

Ebenso fanden nahezu keine Gewerbegenehmigungen ihren Eingang in die Archivmappen,<br />

weshalb hier die Situation um 1930 als Ausgangslage herangezogen wurde. Erst ab diesem Zeitpunkt<br />

finden sich im offiziellen Adressenkataster, dem sogenannten Lehmann (URL 4), eindeutige, hausnummernbezogene<br />

Bewohner*innen-Listen und Nachweise über ihre jeweilige berufliche Tätigkeit.<br />

Womit sich, unter Einbeziehung der korrekten Plandokumente, die Nutzung der einzelnen Gebäudeteile<br />

und (Wohn-)Einheiten rekonstruieren lässt.<br />

Aus der Analyse der hierbei erfassten und erarbeiteten Daten – speziell aus der Gegenüberstellung<br />

der historischen und aktuellen Nutzungssituationen – lassen sich auch hier sehr aufschlussreiche Zusammenhänge<br />

feststellen.<br />

Straßenzug B<br />

Die Forschungsstraße B wurde als Beispiel für eine streng orthogonale Blockrasterung in den westlichen<br />

Bereichen der konsolidierten Stadt (vgl. STEP 2025 Fachkonzept Hochhäuser) gewählt. Für eine<br />

gründerzeitliche Anlage ist sie mit 19 Meter Breite im Verhältnis zu einer durchschnittlichen faktischen<br />

Bebauungshöhe von 12–15 Metern relativ großzügig ausgebildet. Über den beobachteten Zeitraum<br />

(1930–2020) lassen sich folgende strukturelle Nutzungsverschiebungen ablesen:<br />

Neben dem öffentlichen Raum, der hier so wie in den inneren Bezirken zugunsten des motorisierten,<br />

und zwar vor allem des ruhenden Verkehrs gravierend beschnitten wurde (–68,4 %), zählt vor allem<br />

die Gewerbenutzung und im Besonderen die Gastronomie zu den größten Verlierern im <strong>Stadtparterre</strong>.<br />

Das produzierende und dienstleistende Gewerbe, welches um 1930 noch knapp 40 % der Gesamtfläche<br />

belegte (prod. Gew.: 32 %; Dienstl.: 7 %), verlor mehr als ein Viertel der ursprünglichen Räume.<br />

Drastischer sind die Verschiebungen nur noch in der Gastronomie, die zur Gänze verschwand (–100 %).<br />

Auch die für Handel genutzten Flächen gingen um 87 % zurück, was in der Gesamtbetrachtung<br />

jedoch nicht unbedingt im Vordergrund steht, da der Handel mit ursprünglich knapp 14 % nicht der<br />

Hauptnutzer im <strong>Stadtparterre</strong> war. Diesen stellt hier vielmehr, neben dem zuvor erwähnten Gewerbe,<br />

das Wohnen (über 30 %) dar. Die Wohnnutzung erhöhte sich im Vergleich zur historischen Situation<br />

um 19 %.<br />

Wenn wir uns jedoch die hochrelevante Sphäre der halböffentlich genutzten, gassennahen Räume<br />

ansehen, so müssen wir feststellen, dass diese – mit 1715,36 Quadratmetern und 34,8 % ursprünglich<br />

eine der zentralen Facetten der Gasse – um über 87 % zurückgehen und damit in die Marginalität<br />

fallen.<br />

Wenn alle die Urbanität fördernden Nutzungen verlustig gehen, stellt sich die Frage nach den großen<br />

„Gewinnern“, und diese sind – wie bereits in Forschungsstraße A – der subjektive Leerstand, Lagerräume<br />

und die Erdgeschossgaragen. Wenn wir um 1930 noch knapp 39 Quadratmeter oder 0,8 %<br />

Lagernutzung verzeichneten, so sind es heute über ein Viertel des <strong>Stadtparterre</strong>s, das entweder leer<br />

steht oder zur Lagerung von Gütern verwendet wird. Dies bedeutet einen Anstieg von 3344 %! So<br />

auch die Garagennutzung, welche um 440 % zunahm.<br />

Zuletzt fällt als Besonderheit auf, dass Lichthöfe offensichtlich zunehmend verbaut wurden (– 52 %).<br />

Straßenzug C<br />

So wie alle hier untersuchten Forschungsareale handelt es sich auch bei diesem um eine Nebenlage<br />

mit überwiegend gründerzeitlicher Bebauung. Die Forschungsstraße C, die mit einer variierenden<br />

Breite von 12–15 Metern schmal bis durchschnittlich bemessen ist, dient als Standardbeispiel für eine<br />

der speziell-topografisch kopierten Lage angepasste, die streng orthogonale Rasterung aufbrechen-


STADTPARTERRE WIEN<br />

131<br />

de Blockrandbebauung. Sie liegt in den äußeren, nordwestlichen Bereichen der konsolidierten Stadt<br />

(vgl. STEP 2025 Fachkonzept Hochhäuser). Über den beobachteten Zeitraum (1930–2020) lassen sich<br />

folgende Nutzungsverschiebungen ablesen:<br />

Neben dem öffentlichen Raum – der hier so wie in den besprochenen Beispielen davor zugunsten des<br />

motorisierten Individualverkehrs, und zwar vor allem des ruhenden MIV gravierend beschnitten wurde<br />

(–73 %) –, zählt insbesondere die Gewerbenutzung zu den größten Verlierern im <strong>Stadtparterre</strong>. Das<br />

produzierende und dienstleistende Gewerbe, welches um 1930 noch mehr als die Hälfte der Gesamtfläche<br />

belegte (prod. Gew.: 51 %; Dienstl.: 2 %), verlor über 90 % der ursprünglichen Räumlichkeiten.<br />

Drastischer sind die Verschiebungen nur noch im Handel, der nahezu zur Gänze verschwand (–94 %),<br />

wobei hier unbedingt wieder betont werden muss, dass der Handel – wie andernorts in der Stadt – mit<br />

ursprünglich gerade mal 10 % der Gesamtfläche kein Hauptnutzer war. Diesen stellt vielmehr neben<br />

dem zuvor erwähnten produzierenden Gewerbe das Wohnen dar, welches ursprünglich mehr als ein<br />

Viertel der <strong>Stadtparterre</strong>fläche einnahm und heute interessanterweise noch weiter zugenommen hat<br />

und damit auf 39 % angestiegen ist.<br />

Halböffentlich genutzte gassennahe Räume standen in diesem Straßenzug nicht so sehr im Vordergrund<br />

wie in den Forschungsstraßen A und B, sie nahmen hier ursprünglich fast 16 % des <strong>Stadtparterre</strong>s<br />

ein. Heute ist diese aus urbanistischer Perspektive erwiesenermaßen besonders heikle Sphäre<br />

auf gerade einmal 4,8 % geschrumpft.<br />

Auch bei der dritten Forschungsstraße kommen wir zum Ergebnis, dass der subjektive Leerstand und<br />

die Erdgeschossgaragen zu den absoluten Gewinnern der über Jahrzehnte relativ unauffällig vollzogenen<br />

Nutzungsumverteilung zählen. Während wir um 1930 gerade einmal 5 % Lagernutzung verzeichnen,<br />

so ist es heute nahezu ein Drittel des <strong>Stadtparterre</strong>s, das entweder leer steht oder zur Lagerung<br />

von Gütern verwendet wird. Dies bedeutet einen Anstieg von 554 %! So auch die Garagennutzung,<br />

welche sich vervierfachte.<br />

In diesem Teil der Stadt wurden die Ausmaße der unverbauten Innenhöfe ebenfalls dezimiert, ihre<br />

Fläche verringerte sich um –13 %; darüber hinaus wurden auch ursprüngliche Lichtschächte im Erdgeschossbereich<br />

zunehmend verbaut (–52 %).<br />

Auf den folgenden Seiten sind Grafiken zu den beiden Forschungsstraßen B und C abgebildet, welche<br />

die aktuelle Nutzungsstruktur detailliert aufschlüsseln und sie den verschiedenen historischen Nutzungsformen<br />

gegenüberstellen.


138<br />

STRASSENZUG C 1930<br />

Öffentliche und<br />

halböffentliche Räume<br />

Anteil halböffentlicher Räume<br />

in der Erdgeschossnutzung<br />

Anteil gewerblicher<br />

Nutzungen<br />

Anteil Leerstände, Lager<br />

sowie Garagen und Ställe


139<br />

2020<br />

Öffentliche und<br />

halböffentliche Räume<br />

Anteil halböffentlicher Räume<br />

in der Erdgeschossnutzung<br />

Anteil gewerblicher<br />

Nutzungen<br />

Anteil Leerstände, Lager<br />

sowie Garagen und Ställe


140<br />

VERKNÜPFUNGSEBENE<br />

Das <strong>Stadtparterre</strong> als zentrale Verknüpfungsebene 133<br />

133 Auszüge des Kapitels wurden für das 2019 bei<br />

Park Books verlegte Buch Wo die Dinge wohnen.<br />

Das Phänomen Selfstorage (Hg.: Nußbaumer, Martina/<br />

Pichler, Klaus/ Wien Museum) verfasst. Der<br />

Textbeitrag erschien unter dem Titel: „Wenn das<br />

Lokal zum Lager wird. Kritische Anmerkungen zum<br />

Boom von Selfstorages im urbanen Erdgeschoss“.<br />

Der Eintrittsflur, die Treppe sind eigentlich ein Zubehör der öffentlichen Straße und in der<br />

Regel Jedermann zugänglich. Ein besonderer Pförtner muss das Haus bewahren und den<br />

Treppenraum für den allgemeinen Verkehr beleuchten. (Stübben 1890, 16)<br />

Denken Sie, vor nicht allzu langer Zeit wurden alle Haustore Wiens pünktlich zehn Uhr offiziell<br />

zugesperrt. Und wer nach zehn Uhr nach Hause kam musste sich vom Portier, der bei<br />

uns Hausmeister oder Hausmeisterin heißt, öffnen lassen. (Hirschfeld 1927, 126)<br />

134 „Ebenerd“ ist neben „Parterre“ die gängigste<br />

Bezeichnung für das Erdgeschoss, welche wir in<br />

frühgründerzeitlichen Einreichplänen finden.<br />

Der Journalist, Künstler und Autor Ludwig Hirschfeld wunderte sich 1927 noch darüber, dass nachts<br />

um 22 Uhr die Haustore der Stadthäuser verschlossen wurden. Jetzt sind wir erstaunt darüber, dass<br />

diese irgendwann einmal tatsächlich offen gestanden haben sollen!<br />

Das „Ebenerd“ 134 städtischer Gebäude hat eine Sonderfunktion zu erfüllen: Es bildet das<br />

Hinterland zum öffentlichen Raum. Im besten Fall versorgt und nährt es das Geschehen<br />

in der Straße und auf den Plätzen vor dem Haus und trägt damit essenziell zur Kommunikation<br />

und zum Austausch in der Stadt bei. Bereits in der Antike erfuhr deshalb<br />

der zum Straßenraum orientierte Teil eines (Wohn-)Hauses eine besondere Gestaltung und Bezeichnung.<br />

Die römische taberna stand in Kommunikation mit der Umwelt: Breite, raumhohe Öffnungen<br />

ließen Straße und Innenraum ineinanderfließen und eine halböffentliche Zone entstehen. So wie die<br />

heutigen botteghe dienten tabernae als Geschäfte, Werkstätten, Schankstuben und Gasthäuser, in<br />

denen ursprünglich immer auch gewohnt wurde. In italienischen Städten hat sich diese kleinteilige,<br />

halböffentliche Grundstruktur erhalten und permanent in das Erdgeschoss eingeschrieben. In den historischen<br />

Stadtteilen, in denen es statt Hausnummern Tür- und Öffnungsnummern gibt, besitzt jede<br />

bottega nach wie vor eine eigene Ordnungsnummer. Das Haupteingangstor eines Hauses reiht sich<br />

dabei neben Ladentüren und (Schau-)Fenstern unprätentiös in die durchgängige Nummerierung ein.<br />

Diese besondere Strukturierung des Erdgeschosses ist mit ein Grund dafür, dass wir auch heute bei<br />

Reisen in südliche Städte und Orte fasziniert dem lebhaften Treiben, dem Ein und Aus in den Gassen<br />

beiwohnen können.<br />

Der italienischen bottega entspricht das Wiener Gewölb(e) oder Gwölb (vgl. Psenner 2018a). Dieser<br />

Begriff geht auf eine Vorgabe der Wiener Bauordnung von 1829 zurück, welche für die Deckenkonstruktion<br />

über dem Erdgeschoss „der Feuersicherheit wegen“ – aber auch aus Gründen der statischen<br />

Festigkeit – ein Gewölbe vorschrieb. Obwohl in späteren Bauordnungen (1859 bzw. 1868) nur mehr<br />

„massive Decken“ gefordert wurden, konsolidierte sich das Gwölb im allgemeinen und fachspezifischen<br />

Sprachgebrauch als Begrifflichkeit für die dem Straßenraum unmittelbar zugewandten Räume.<br />

Die Bezeichnungen „Gewölb“ und „Gewölbe“ finden sich z. B. auch häufig in original gründerzeitlichen<br />

Einreichplänen. Nach hinten schlossen sie zumeist an kleine Küchen und/oder Magazine an, sodass<br />

sie als Minimaleinheit dem Wohnen und Arbeiten zudienten. Die Gewölbe wiesen Gassentüren, also<br />

einen unmittelbaren Zutritt zum öffentlichen Raum, auf, dienten als Verkaufslokale oder Werkstätten<br />

und erfuhren so eine halböffentliche Nutzung, welche sie mit dem Straßenraum in direkte Verbindung<br />

setzte. Ihre Fassaden erhielten eine besondere Gestaltung: Vorgesetzte Holz-Glas-Konstruktionen,<br />

sogenannte Portale, inszenierten den Austausch zwischen innen und außen; individuell justierbare<br />

Sonnenschutzplachen sorgten bei direkter Sonneneinstrahlung für ein angenehm kühles Mikroklima<br />

in und vor dem Lokal. Aufgrund der hohen Besucher*innenfrequenz bewirkte die spezielle, dem Straßenraum<br />

zugewandte offene Nutzungsweise, dass die Fassade als Permeable, als Zone der Durchlässigkeit<br />

fungierte: Sie ermöglichte einen übergreifenden Austausch zwischen der öffentlichen und<br />

der halböffentlichen Sphäre der Stadt.<br />

Darüber hinaus standen – wie bereits im Kapitel „Städtebauliche Annäherung“ erwähnt – auch die<br />

Haustore tagsüber offen und wurden erst um 22 Uhr von der Hausmeisterin oder dem Hausmeister<br />

versperrt.


STADTPARTERRE WIEN<br />

141<br />

Abb. 85: Ausschnitt aus dem<br />

Fassadenplan zur Einreichung für<br />

die „Herstellung eines Portales<br />

samt Sonnenschutzplache“ 1897,<br />

Architekt: Stadt-Zimmermeister<br />

Franz Bezchleba jun., Bauherr:<br />

Heinrich Weiner. Ab 1906 wurde<br />

in diesem Gassenlokal dann eine<br />

„Privatlehranstalt für Kravattennähen“<br />

eingerichtet. „Urban Parterre<br />

Vienna“ Hausbiografien unter<br />

Verwendung der Daten aus dem<br />

Archiv der Baupolizei<br />

Abb. 86: Ausschnitt aus dem<br />

Fassadenplan zur Einreichung für<br />

die „Bewilligung zur Herstellung<br />

eines Portales sammt Sonnenschutzplache“<br />

1887, Bauherr:<br />

Heinrich Weiner; „Urban Parterre<br />

Vienna“ Hausbiografien unter<br />

Verwendung der Daten aus dem<br />

Archiv der Baupolizei<br />

Abb. 87: Bereichsübergreifende<br />

Nutzung von öffentlichem Straßenraum<br />

– der hier als Teil des<br />

<strong>Stadtparterre</strong>s gelesen werden<br />

kann.


142<br />

VERKNÜPFUNGSEBENE<br />

135 Interessant sind in diesem Zusammenhang<br />

auch die Studien zum Wiener Durchhaus, welche<br />

Friedrich Hauer im Rahmen seiner Lehr- und Forschungstätigkeit<br />

am Forschungsbereich Städtebau,<br />

TU Wien unternimmt.<br />

136 Das Ausspucken dürfte einem gesellschaftlich<br />

anerkannten Habitus entsprechen, denn es finden<br />

sich ähnliche Vorgaben auch in anderen – z. B. italienischen<br />

– Städten.<br />

Nicht zuletzt daraus wird erklärlich, wie stark Erdgeschoss und Gassenraum miteinander kommunizieren<br />

und dass die Konstitution beider Sphären sich gegenseitig beeinflusst. Jedoch ging die Verbindung<br />

von umbautem und nicht umbautem Raum historisch gesehen tatsächlich noch viel weiter.<br />

Josef Stübben bezeichnet in seinem 1890 verfassten Werk Der Städtebau den Eingangsbereich eines<br />

städtischen Mietshauses allgemein als „Zubehör der öffentlichen Straße“ (Stübben 1890, 16). An anderer<br />

Stelle im vorliegenden Buch wurde bereits hervorgehoben, dass das Wiener Zinshaus aufgrund<br />

seiner speziellen Form der Belegung eine eigentümliche Sphäre formte, die neben dem Foyer auch<br />

das Stiegenhaus und den Bassenagang umschloss und die nicht nur dazu führte, dass diese Bereiche<br />

als halböffentlich empfunden wurden, sondern die eine eigene, urtypische Form des verbalen Umgangs<br />

hervorbrachte. Es erschließt sich also, dass der umbaute Raum in Wien ursprünglich stark mit<br />

dem öffentlichen Raum der Straße verzahnt war – dass beide ineinandergriffen. 135<br />

Auch das Erdgeschoss folgte, sofern es eine gewerbliche Nutzung barg, diesem Auftrag.<br />

Auf der Straße galt ein regelmäßiges Ausspucken von Nasen- und Rachensekreten<br />

als anerkannte Hygienemaßnahme, die offensichtlich auch in der halböffentlichen<br />

Zone des Erdgeschosses, also in den Lokalen und Gewölben, als angemessen erachtet<br />

wurde. Historische Gewerbegenehmigungen belegen dies, denn Genehmigungen<br />

wurden unter Einhaltung diverser Auflagen erteilt, welche unter anderem auch eine Reglementierung<br />

dieses Spuckverhaltens und das Aufstellen von obligatorischen Spucknäpfen<br />

umfasste. 136<br />

Aus historischen Gewerbegenehmigungen geht hierzu hervor:<br />

Genehmigung der Betriebsanlage zur Ausübung des Pfaidlergewerbes unter den nachstehenden<br />

Bedingungen: [...] 12) In den Arbeitsräumen sind mit Wasser gefüllte Spucknäpfe in<br />

entsprechender Anzahl aufzustellen, welche täglich zu reinigen sind; das freie Ausspucken<br />

ist durch Anschlag strengstens zu verbieten. (1915 Gewerbegenehmigung für Gassenlokal)<br />

Genehmigung für Bäckerei-Betriebsanlage unter Einhaltung diverser Auflagen: [...] 14) Die<br />

Betriebsräume dürfen zum Wohnen und Schlafen nicht verwendet werden. 16) Mit Wasser<br />

gefüllte Spucknäpfe in entsprechender Zahl sind aufzustellen, das Verbot des freien Ausspuckens<br />

ist anzuschlagen. (1925 Gewerbegenehmigung für Gassenlokal)<br />

Betriebsanlagegenehmigung zur Ausübung des Gewerbes der Wäscheerzeugung.<br />

Lage der Betriebsstätte: ein Gassenladen mit anschließendem Hofraum im Vordergebäude<br />

an der Schultz-Strassnitzkygasse [...] Anzahl der Arbeiter: sieben weibliche,<br />

[...] unter Einhaltung der folgenden Bedingungen [...] 17) Im Arbeitsraum ist ein mit<br />

Wasser gefüllter Spucknapf aufzustellen und täglich zu reinigen. Das freie Ausspucken<br />

ist durch Anschlag zu verbieten. (1936 Gewerbegenehmigung für Gassenlokal)<br />

(Quelle für alle drei Auszüge: Psenner 2018, Hausbiografien unter Verwendung der Daten<br />

aus dem Archiv der Baupolizei)<br />

Abb. 88: Gewerbegenehmigung<br />

für Gassenlokal aus dem Jahr<br />

1915; Hausbiografien unter Verwendung<br />

der Daten aus dem<br />

Archiv der Baupolizei<br />

Die Fassade als Membran zwischen innen und außen<br />

Das historische Wiener <strong>Stadtparterre</strong> stellte ein einheitliches, in sich geschlossenes System dar. Es<br />

fungierte als Verknüpfungsstruktur, welche die verschiedenen Sphären der Stadt miteinander verband.<br />

Dabei fiel der Erdgeschossfassade die zentrale Rolle einer Membran zu, deren Permeabilität<br />

über eine entsprechende Gestaltung sichergestellt wurde: Die Erdgeschosse, welche straßenseitig<br />

vor allem Gassenlokale und Werkstätten aufwiesen, verfügten über eine Vielzahl an Ladentüren,<br />

wobei die gesamte Ladenfront meist als vollflächiges Portal (vorgestellte Holz-Glas-Konstruktion zur<br />

Präsentation und Auslage von Waren mit einer eingearbeiteten Eingangssituation) ausgestaltet war.


STADTPARTERRE WIEN<br />

143<br />

Darüber hinaus standen die Haustore und -einfahrten tagsüber zumeist zur Gänze offen und ließen<br />

dergestalt in das Hausinnere und in die Innenhöfe blicken. Die unterschiedlichen öffentlichen, halböffentlichen<br />

und privaten Bereiche des <strong>Stadtparterre</strong>s waren so nicht nur funktional miteinander verbunden,<br />

sondern wurden auch über eine (visuell) durchlässige Fassade organisiert. Die Permeabilität<br />

der Erdgeschossfassade lässt sich bei Tag und bei Nacht beobachten und analysieren.<br />

Abb. 89: Fassadenabwicklung<br />

der beiden Straßenseiten; Fokus<br />

EG-Fassaden (Forschungsstr. A1<br />

– Ausschnitt)


144<br />

FASSADENABWICKLUNG<br />

mit den jeweiligen Bauherr*innen, Architekten und Baumeistern<br />

1959<br />

Pittel und Brausewetter (A)<br />

BJ<br />

A<br />

B<br />

1904<br />

Carl Stephann<br />

Therese Sagasser<br />

1863<br />

?<br />

?<br />

1995-1997<br />

Rainer Bernhard u. August Steinlesberger<br />

el Appartmentbau<br />

1902<br />

Rudolf Marek<br />

Rudolf Marek<br />

1847<br />

Carl Högl<br />

Johann Högl (Bruder)<br />

1827<br />

Wenzel Deimel<br />

?<br />

1978<br />

Adalbert Kallinger<br />

EWOG<br />

1889<br />

Theodor Bauer<br />

Josef u. Maria<br />

Bauer<br />

1883<br />

Carl Schlimp<br />

Ferdinand u. Anna<br />

Schlimp<br />

1883<br />

Carl Schlimp<br />

Carl Schlimp<br />

1875<br />

S. Jolanusch, Theodor Neumayer<br />

Louise Edle v. Mannstein<br />

BJ<br />

A<br />

B<br />

1897<br />

Franz Baurath v. Neumann<br />

k.k. Post. und Telegraphen Direktion<br />

für Österreich a/d Enns<br />

1895<br />

Hermann Stierlin<br />

Johann Keck sen.<br />

1896<br />

Ludwig Wilhelm jun.<br />

Ludwig u. Antonie Wilhelm<br />

1891<br />

Josef Marek<br />

Adele Marek<br />

1875<br />

Isidor Neumaier<br />

Julius Fränkel (Frankl)<br />

1878<br />

Stanislaus Hanusch<br />

Ferdinand u. Friderike<br />

Stick<br />

1875<br />

Franz Tellmann Georg<br />

Anna Baumann<br />

1877<br />

?<br />

Ignaz Pollak, Ignaz Freund,<br />

Julius Frankl, Moritz Bäder, dann:<br />

Franz Berchleba & Sohn<br />

1898<br />

Leopold Vritter<br />

Pauline Eppstein<br />

durch Max Eppstein<br />

J<br />

Abb. 90 Fassadenplan Forschungsstr.<br />

A – mit Informationen zu Baujahr,<br />

Bauherrschaft, Architekten und<br />

Baumeistern


145<br />

Forschungsstraße A<br />

ayer<br />

ein<br />

1881<br />

Franz Macher sen., Leonhard Kysela<br />

Magdalena u. Leonhard Kysela<br />

1895<br />

Adolf Goldenberg<br />

Samuel Dub<br />

Schule<br />

1882<br />

Eduard Frauenfels<br />

Johann Lukas<br />

1882<br />

Anna Obadalek<br />

Andreas Fried<br />

1906<br />

Heinrich Weiner<br />

Leopold Fuchs<br />

1897<br />

Heinrich Weiner<br />

Franz Bezchleba<br />

Johannes Kohler<br />

1881<br />

Mathias Bittmann B<br />

August Ribak<br />

1884<br />

Andreas Lukeneder<br />

u. Gustav Korompay<br />

Maria Korompay<br />

1881<br />

August Ribak<br />

Johan Stepan (Stepann)<br />

1888<br />

Honus & Lang<br />

Josef Honus &<br />

Anton Lang<br />

1885<br />

Anna + Josef Rossi<br />

Urban Weis<br />

1891<br />

Johann Freytag<br />

Josef Strauss<br />

1892<br />

Josef Kalas<br />

Adolf Ritter<br />

v. Bergmüller


146<br />

FASSADENABWICKLUNG<br />

Permeabilitätsanalyse bei Tag<br />

Abb. 91: Fassadenabwicklung, Permeabilitätsanalyse<br />

bei Tag (Forschungsstr.<br />

B)


147<br />

Forschungsstraße B


255<br />

Impressum<br />

© 2023 by jovis Verlag GmbH<br />

Das Copyright für die Texte liegt bei der Autorin.<br />

Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotograf*innen/Inhaber*innen der Bildrechte.<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Umschlagmotiv: Daniel Löschenbrand unter Verwendung einer Grafik/Bild von Angelika Psenner<br />

Lektorat: Johanna Frank-Stabinger<br />

Korrektorat: Julia Blankenstein<br />

Gestaltung und Satz: Daniel Löschenbrand<br />

Grafiken: Angelika Psenner mit Daniel Löschenbrand<br />

Gedruckt in der Europäischen Union<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Der Druck wurde finanziert mit den Mitteln der Wirtschaftskammer Wien, des Forschungsbereichs<br />

Städtebau TUWien, des Österreichischen Wissenschaftsfonds und der Stadt Wien MA7, Kultur und<br />

Wissenschaft.<br />

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10785 Berlin<br />

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ISBN 978-3-98612-028-3 (Softcover)<br />

ISBN 978-3-98612-003-7 (E-Book)

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