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Thea Hurst: Das Tagebuch der Thea Gersten (Leseprobe)

Das Tagebuch der Thea Gersten, der späteren Thea Hurst, eingebunden in den Gardinenstoff ihres Leipziger Kinderzimmers, liegt über sechs Jahrzehnte in Theas Nachttisch-Schublade. So lange lebt die jüdische Leipzigerin in einer englischen Kleinstadt in der Nähe von Manchester. Erst nach langem Zögern lässt sie sich dazu überreden, ihre ganz persönlichen Aufzeichnungen aus den Jahren 1939–1947 für die Nachwelt freizugeben. Die Namen von lebenden Personen werden geändert. Sie verliert als Dreizehnjährige mit der Flucht aus Leipzig nahezu alles, was man außer dem Leben verlieren kann: ihre behütete Kindheit, ihren Vater, ihre Freunde, ihre Sprache und ihre kulturelle Verwurzelung. Auf der Suche nach Gott und voller Sehnsucht nach Sinn vertraut sie dem Tagebuch alle ihre Gefühle und Geheimnisse an, die sonst keiner wissen darf. Sie ist manchmal verzweifelt, aber sie kann nicht hassen. Es ist eine Geschichte für heute. Viele junge Menschen werden vertrieben aus ihrer Heimat. Die Botschaft dieses Tagebuches könnte ihnen helfen.

Das Tagebuch der Thea Gersten, der späteren Thea Hurst, eingebunden in den Gardinenstoff ihres Leipziger Kinderzimmers, liegt über sechs Jahrzehnte in Theas Nachttisch-Schublade. So lange lebt die jüdische Leipzigerin in einer englischen Kleinstadt in der Nähe von Manchester. Erst nach langem Zögern lässt sie sich dazu überreden, ihre ganz persönlichen Aufzeichnungen aus den Jahren 1939–1947 für die Nachwelt freizugeben. Die Namen von lebenden Personen werden geändert.
Sie verliert als Dreizehnjährige mit der Flucht aus Leipzig nahezu alles, was man außer dem Leben verlieren kann: ihre behütete Kindheit, ihren Vater, ihre Freunde, ihre Sprache und ihre kulturelle Verwurzelung. Auf der Suche nach Gott und voller Sehnsucht nach Sinn vertraut sie dem Tagebuch alle ihre Gefühle und Geheimnisse an, die sonst keiner wissen darf. Sie ist manchmal verzweifelt, aber sie kann nicht hassen. Es ist eine Geschichte für heute. Viele junge Menschen werden vertrieben aus ihrer Heimat. Die Botschaft dieses Tagebuches könnte ihnen helfen.

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<strong>Thea</strong> <strong>Hurst</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Tagebuch</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Thea</strong><br />

Flucht aus Leipzig, Warschau<br />

und London (1939–1947)


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Bildnachweis /6/<br />

Vorwort /7/<br />

Einführung /9/<br />

Abschied /14/<br />

Warschau — eine wichtige Zwischenstation /46/<br />

Anfang in London /55/<br />

Abbildungen /65/<br />

Als Pelznäherin in Nordengland /95/<br />

Flüchtlingskin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> zionistischen Jugendgruppe /103/<br />

Gedanken über meinen Glauben /116/<br />

Aufbruch ins Unbekannte /148/<br />

Nord Wales — ein verän<strong>der</strong>tes Leben /175/<br />

Rückkehr nach London /183/<br />

Epilog /199/<br />

Dank /205/<br />

Anhang<br />

Anmerkungen /zo6/<br />

Worterklärungen /zo8/<br />

5


Bildnachweis<br />

Die meisten <strong>der</strong> Abbildungen befinden sich im Privatbesitz <strong>der</strong> Autorin.<br />

Für die freundlicherweise erteilte Genehmigung zur Reproduktion<br />

<strong>der</strong> folgenden Bil<strong>der</strong> sind wir dem Stadtgeschichtlichen<br />

Museum <strong>der</strong> Stadt Leipzig zu Dank verpflichtet: Bild des Pelzhändlers<br />

Chaim Lazar <strong>Gersten</strong> (S. 65 oben), Bil<strong>der</strong> des Pelzgeschäftes<br />

<strong>Gersten</strong> am Brühl in Leipzig (S. 66) und Bild von <strong>Thea</strong> 1938 (S. 68<br />

links oben).<br />

Der Ausweisungsbescheid des Polizeipräsidenten zu Leipzig<br />

(S. 69 oben) wurde vom Sächsischen Staatsarchiv Leipzig zur Verfügung<br />

gestellt.


VORWORT<br />

<strong>Thea</strong>, ein dreizehnjähriges Mädchen, muß 1939 ihre<br />

Heimatstadt Leipzig verlassen. Sie verliert nahezu alles,<br />

was man außer dem Leben verlieren kann: ihren Vater,<br />

ihre Freunde, ihre behütete Kindheit, ihre Sprache, ihre<br />

kulturelle Verwurzelung.<br />

Wie geling es ihr, diese Vertreibung durchzustehen, ohne<br />

sich selbst aufzugeben? Wo findet sie Halt bei all ihrer<br />

Verzweiflung? Wie schafft sie es, in allem, was ihr wi<strong>der</strong>fährt,<br />

das Gute zu sehen? Wie kann sie ohne jeden Haß<br />

weiterleben?<br />

Dieses Buch ist mehr als ein zeitgeschichtliches Dokument.<br />

Und es enthält auch viel mehr als die romantische<br />

Liebesgeschichte eines jungen Mädchens aus den vierziger<br />

Jahren. Die authentischen Reflexionen <strong>der</strong> Vierzehn- bis<br />

Zwanzigjährigen sind von entwaffnen<strong>der</strong> Ehrlichkeit. Von<br />

Selbstzweifeln geplagt, auf <strong>der</strong> Suche nach Gott und voller<br />

Sehnsucht nach Sinn, vertraut sie dem liebsten Freund, dem<br />

<strong>Tagebuch</strong>, alle Geheimnisse an, die sonst keiner wissen darf.<br />

Der Abschied von <strong>der</strong> deutschen Sprache, <strong>der</strong> fließende<br />

Übergang und schließlich <strong>der</strong> vollständige Wechsel ins<br />

Englische kann hier nur erfühlt werden. Die von Alan<br />

Nothnagle angefertigte Übersetzung <strong>der</strong> letzten <strong>Tagebuch</strong>aufzeichnungen<br />

bemüht sich um eine Annäherung an <strong>Thea</strong>s<br />

deutsche Sprache von damals.<br />

Zum besseren Verständnis hat die Autorin an verschiedenen<br />

Stellen Ergänzungen eingefügt, die in Klammern<br />

erscheinen o<strong>der</strong> durch einen kleineren Schriftgrad abgesetzt<br />

sind. Alle hebräischen Begriffe werden am Ende erläutert.<br />

Die Namen von noch lebenden Personen wurden<br />

geän<strong>der</strong>t.<br />

Ich bin <strong>Thea</strong> sehr dankbar dafür, daß sie sich dazu überreden<br />

ließ, dieses <strong>Tagebuch</strong> nach zweiundsechzig Jahren<br />

7


für eine Veröffentlichung freizugeben. Denn es ist eine<br />

Geschichte für heute.<br />

Wie viele junge und alte Leute kennen keinen einzigen<br />

Menschen, <strong>der</strong> ihnen zuhört. Wie viele sind entwurzelt und<br />

finden nirgendwo Halt. Wie viele haben eine Sehnsucht<br />

nach Sinn und vertun dennoch ihre Kräfte in sinnlosen<br />

Aktivitäten. Wie viele junge Menschen werden auch heute<br />

vertrieben aus ihrer Heimat, noch bevor sie Wurzeln schlagen<br />

konnten. Die Botschaft dieses <strong>Tagebuch</strong>es könnte ihnen<br />

helfen.<br />

Leipzig, im Juni Zoos<br />

Elke Urban<br />

8


EINFÜHRUNG<br />

Ich bin Jüdin und in Leipzig geboren. Schon in diesen<br />

wenigen Feststellungen ist eine Linie für mein Leben erkennbar.<br />

Meine Großeltern mütterlicherseits kamen 188o aus<br />

Galizien nach Leipzig. Meine Mutter, ihre Schwestern und<br />

Brü<strong>der</strong> sind in Leipzig geboren und aufgewachsen.<br />

Mein Vater war polnisch-jüdischer Abstammung. Er lebte<br />

schon vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin. Bei Ausbruch<br />

des Krieges meldete er sich freiwillig zur Armee. Er diente<br />

vier Jahre in <strong>der</strong> österreichischen Artillerie, die an <strong>der</strong> Seite<br />

<strong>der</strong> deutschen Armee kämpfte.<br />

192o lernte er meine Mutter kennen, zog nach Leipzig<br />

und heiratete sie. Mein Bru<strong>der</strong> wurde 1923 geboren und<br />

ich 1925.<br />

Ich kann mich gut an die Zeiten damals, nachdem Hitler<br />

die Macht ergriffen hatte, erinnern: Meine Eltern waren<br />

ständig besorgt und beschäftigt. Wenn sie nach einem langen<br />

Arbeitstag aus dem Laden nach Hause kamen, waren<br />

sie müde und unnahbar. Mein Bru<strong>der</strong> und ich hörten uns<br />

ihre nächtlichen Gespräche an. Wir haben sie nur halb<br />

verstanden: Visum, Reisepaß, Emigration, Quote, Palästina,<br />

Amerika, Kanada — diese Worte wurden ständig wie<strong>der</strong>holt.<br />

Wir spürten, daß dies ernste und wichtige Themen<br />

waren, aber wir waren zu jung, um sie in ihrer ganzen<br />

Bedeutung zu begreifen. Jetzt, viele Jahre später, weiß ich,<br />

daß meine Eltern dabei waren, unsere Flucht zu planen,<br />

und unsere Chancen in diesen Län<strong>der</strong>n ausrechneten. Damals,<br />

vor langer Zeit, waren sie fremde Namen, die mir<br />

nichts sagten, außer daß sie meine Eltern davon abhielten,<br />

mehr Zeit mit mir zu verbringen.<br />

Solange wir klein und unsere Bedürfnisse einfach waren,<br />

hat sich ein ältliches Kin<strong>der</strong>mädchen um uns gekümmert.<br />

9


Später kam an den Nachmittagen eine Reihe von jungen<br />

jüdischen Frauen, um unsere Hausaufgaben zu beaufsichtigen.<br />

Sie spielten mit uns, gingen mit uns in den Park o<strong>der</strong><br />

zum Schwimmbad im Sommer o<strong>der</strong> in den Wintermonaten<br />

zum Schlittschuhfahren auf den Seen.<br />

Der Donnerstagabend hat mir am besten gefallen. Nachmittags<br />

lieferten <strong>der</strong> Metzger, <strong>der</strong> Lebensmittelhändler und<br />

<strong>der</strong> Gemüsehändler die wöchentlichen Bestellungen. Sobald<br />

meine Mutter vom Laden zurückkam und ihre Tasse<br />

Kaffee getrunken hatte, zog sie ihre schicken Klei<strong>der</strong> aus<br />

und wickelte sich eine Schürze um. Nachdem sie die Schürzenbän<strong>der</strong><br />

hinten zu einer ordentlichen Schleife geknotet<br />

hatte, war sie wie<strong>der</strong> meine wirkliche Mutter. Sie gehörte<br />

mir. Wir gingen gemeinsam in die Küche und bereiteten die<br />

traditionellen Sabbatspeisen vor. Mein Vater und mein<br />

Bru<strong>der</strong> waren aus dieser rein weiblichen Domäne verbannt.<br />

Meine Mutter herrschte souverän und ich war ihre Gehilfin.<br />

Ich war stolz und glücklich. Ich wünschte mir, daß es<br />

für immer so bleiben möge.<br />

Freitagabend — <strong>der</strong> Anfang des Sabbats. <strong>Das</strong> war immer<br />

ein großes Ereignis in meiner Familie. Bei Sonnenuntergang<br />

entzündete meine Mutter die Kerzen. Dies war das<br />

Signal, daß <strong>der</strong> Sabbat begonnen hatte. Ab diesem Zeitpunkt<br />

herrschte eine festliche Atmosphäre. Gäste kamen —<br />

Tanten, Onkels, Freunde — um unser Festessen zu teilen.<br />

Ich erinnere mich an den langen Tisch mit dem weißen<br />

Tuch, an das polierte Silber, den süßen roten Wein in den<br />

gefüllten Gläsern. Am intensivsten aber erinnere ich mich<br />

an meinen Vater, wie er am Kopfende des Tisches saß. Sein<br />

Alltagsblick war verschwunden. Er lächelte, machte Witze,<br />

stellte uns Fragen und unterhielt unsere Gäste. Es fiel<br />

kein Wort mehr über Visa und Auswan<strong>der</strong>ung. Es war<br />

Sabbat und wir feierten G'ttes' Schöpfung. Wir freuten uns<br />

unseres Lebens. Wie könnten wir an einem solchen Tag<br />

traurig sein?<br />

*Erläuterung <strong>der</strong> Fußnoten und <strong>der</strong> mit * gekennzeichneten<br />

häbräischen Begriffe ab Seite zo6<br />

I0


Ich war zwölf Jahre alt, als unser Zuhause zerstört wurde.<br />

Meine Mutter und ich haben nie wie<strong>der</strong> ein Sabbatessen<br />

vorbereitet. Mein Vater hat sich nie wie<strong>der</strong> seines<br />

Lebens gefreut. In dieser kalten, dunklen Nacht haben uns<br />

die Nazis auf unmißverständliche Art und Weise gezeigt,<br />

daß wir ungewollt, daß wir nichts waren, daß wir keine<br />

Rechte hatten und daß es niemanden gab, bei dem wir uns<br />

beschweren o<strong>der</strong> an den wir uns wenden konnten. Sie brachen<br />

die Türen unserer Häuser und unserer Läden auf. Sie<br />

plün<strong>der</strong>ten und zerstörten. Sie brannten unsere Synagogen<br />

und Schulen nie<strong>der</strong> und verschleppten die meisten unserer<br />

Männer.<br />

Wir Juden haben geschau<strong>der</strong>t und gezittert und rafften<br />

uns endlich zur Tat auf: Wir müssen gehen, abreisen, Schutz<br />

suchen. Doch wo? — Wenn man am Tor eines Konzentrationslagers<br />

ein Visum vorzeigen konnte, hat man uns unsere<br />

Männer zurückgegeben. Aber es waren geschlagene Männer<br />

— in Geist und Körper. Fassungslose Männer — unfähig<br />

zu verstehen, was ihnen und uns passiert war. Wir mußten<br />

Deutschland verlassen und suchten ein Land, das uns aufnehmen<br />

würde. Viele mußten bleiben, da kein Land sie<br />

nehmen wollte. Die Welt war nicht groß genug, um einer<br />

Handvoll Menschen Asyl zu geben.<br />

In jener schicksalhaften Nacht endete meine Kindheit.<br />

Denn was bedeutet Kindheit? Ist sie nicht das Gefühl, verwurzelt<br />

und sicher, behütet und gebraucht zu sein? Die<br />

Welt kennt diese Nacht als »Kristallnacht«.<br />

Die darauffolgenden Monate hatten für mich keine Ordnung.<br />

Sie hatten we<strong>der</strong> Rhythmus noch Form, aber sie waren<br />

und sind voller Erinnerungen.<br />

Immer neue Wörter tauchten im täglichen Wortschatz<br />

meiner Eltern auf und wurden bald von uns Jugendlichen<br />

angenommen: Sponsor, Bürge, Erlaubnis und Kin<strong>der</strong>transport.<br />

Den Spruch »Laßt uns unsere Kin<strong>der</strong> retten«<br />

hörten wir immer wie<strong>der</strong>.<br />

Gute, großzügige Menschen in Großbritannien hatten<br />

sich bereit erklärt, so lange auf jüdische Kin<strong>der</strong> aufzupassen,<br />

bis ihre Eltern sie holen kamen. In diesen Monaten<br />

II


eisten die meisten meiner Schulfreunde ab. Ich kann mich<br />

an den Bahnsteig erinnern. Ich ging oft hin, um mich von<br />

ihnen zu verabschieden. Eines Tages brachten wir meinen<br />

Bru<strong>der</strong> zum Bahnhof. Ein großer, weißer Zettel war an<br />

seinem Revers befestigt, worauf stand: »London über Hook<br />

van Holland«.<br />

Dann ging auch mein Vater. Eines Nachts flüchtete er.<br />

Am darauffolgenden Morgen sagte meine Mutter zu mir:<br />

»Weine nicht, wir werden Papa nach Warschau folgen.<br />

Sobald wir die amtliche Erlaubnis bekommen haben, unsere<br />

Möbel und persönlichen Gegenstände mitzunehmen,<br />

werden wir packen und auch nach Warschau reisen.« Meine<br />

Mutter und ich warteten. Die Kriegsgefahr wurde immer<br />

bedrohlicher. Immer mehr Verwandte und Freunde reisten<br />

ab. Sie reisten nach Kuba, Brasilien, Paraguay und Uruguay.<br />

Unsere Freunde verkauften ihre Habseligkeiten, um<br />

die weite Reise zu bezahlen. Was hätten sie sonst machen<br />

sollen? Die Türen <strong>der</strong> näher gelegenen Län<strong>der</strong> schlossen<br />

sich nacheinan<strong>der</strong>. —<br />

Unsere Schule wurde für uns paar Kin<strong>der</strong>, die noch keine<br />

Bleibe gefunden hatten, wie<strong>der</strong> eröffnet. Ich kann mich<br />

nicht mehr an den Unterricht o<strong>der</strong> an unsere Lehrer erinnern,<br />

aber ich erinnere mich noch an die Namen <strong>der</strong> Schüler<br />

und an ihre Gesichter. Wir schlossen enge, intensive<br />

Freundschaften, die uns voll in Anspruch nahmen und die<br />

große, häßliche Außenwelt ausschlossen. Es war gerade<br />

eine solche Freundschaft, die den Anlaß für mein <strong>Tagebuch</strong><br />

gab.<br />

<strong>Das</strong>, was vor sich ging, war aufregend und seltsam und<br />

ganz wun<strong>der</strong>bar. Wie konnte ich alles für mich allein behalten?<br />

Ich mußte es mit jemandem teilen, aber meine beste<br />

Freundin war nicht mehr da. Ich überzog unbenutzte Schulhefte<br />

mit Resten von Gardinen aus meinem Schlafzimmer<br />

und ich fing an, das, was in mir und um mich herum passierte,<br />

aufzuschreiben. Mein <strong>Tagebuch</strong> wurde zu meinem<br />

besten Freund. Ich diskutierte meine Probleme und beobachtete<br />

die Welt.<br />

Obwohl dieses <strong>Tagebuch</strong> meine persönliche Geschichte<br />

IZ


ist, möchte ich behaupten, daß es die Kämpfe und Konflikte<br />

vieler junger Menschen meiner Generation wi<strong>der</strong>spiegelt,<br />

die das Glück hatten, den Krieg zu überleben. Sie sollen<br />

nicht vergessen werden.<br />

13


ABSCHIED<br />

Leipzig, den 16.6.39<br />

HEUTE will ich mein <strong>Tagebuch</strong> beginnen. Eigentlich sieht<br />

ein <strong>Tagebuch</strong> ja von außen an<strong>der</strong>s aus, aber das Wichtigste<br />

ist ja, was drinnen steht. Ich habe so viel erlebt, daß ich es<br />

jemandem erzählen muß. <strong>Das</strong> kann ich aber nicht, und so<br />

will ich alles meinem <strong>Tagebuch</strong> anvertrauen. Ich tue es auch,<br />

weil ich mein jetzt Erlebtes nicht vergessen will. Ich glaube<br />

kaum, daß ich das jemals tun werde, aber wer weiß, wie<br />

man einmal fühlt und denkt, wenn man mal ganz groß ist.<br />

Ich bin 13 Jahre und 7 Monate, nur ungefähr, aber das<br />

spielt ja keine Rolle. Ich will anfangen, als ich wie<strong>der</strong> anfing<br />

zur Schule zu gehen. Es war ungefähr Februar o<strong>der</strong><br />

Anfang März. Wir wurden mit unserer Parallelklasse, 15<br />

Jungen, zusammengelegt. Einesteils freuten wir uns, einesteils<br />

genierten wir uns ein bißchen vor den Jungen. In den<br />

ersten paar Tagen schielten wir uns nur gegenseitig von <strong>der</strong><br />

Seite an, sprachen aber kein Wort miteinan<strong>der</strong>. Dann wurde<br />

das Verhältnis schon etwas wärmer. Die Jungens wollten<br />

uns unterhalten und veranstalteten eine Schönheitskonkurrenz<br />

zwischen den Mädchen. Lolo war unserer<br />

Meinung nach die Hübscheste. Aber die Jungens haben ja<br />

einen ganz an<strong>der</strong>en Geschmack. Sie wählten Lorli, die<br />

meiner Meinung nach gar nicht hübsch, son<strong>der</strong>n nur niedlich<br />

ist. Im Schiedsgericht waren: Philipp, Sigi und Bübchen.<br />

Mir gefiel Philipp von Anfang an immer sehr gut. Ich<br />

fand ihn hübsch und sehr verständig. Mit Lorli bin ich<br />

befreundet. Auf dem Nachhauseweg sprachen wir dann<br />

von Philipp. Lorli gefiel er auch. Nun sprachen wir oft von<br />

ihm. Ich hatte auch mit Lorli und Lilli zusammen Berlitz<br />

(internationale Sprachschule). — Ein paar Tage später stellte<br />

Philipp durch Günther <strong>der</strong> Lorli einen Antrag. Antrag<br />

stellen, ein schrecklich blödes Wort. Aber wir gebrauchen<br />

15


es sehr oft. Er brachte sie immer von <strong>der</strong> Schule nach Hause<br />

und holte sie von <strong>der</strong> Berlitz. Zuerst war Lorli begeistert<br />

von ihm, allmählich aber flaute es ab, und schließlich konnte<br />

sie ihn überhaupt nicht mehr leiden. Die beiden haben ja<br />

auch nicht zusammengepaßt. Lorli erzählte nur, er würde<br />

immer nur von Kunst, guten Büchern und Musik sprechen,<br />

und das interessiert sie nicht. Ich wun<strong>der</strong>te mich, worüber<br />

soll man sich denn unterhalten?! Nach ungefähr einer Woche<br />

war auch Philipp nicht mehr begeistert, man merkte es ihm<br />

an. Ein paar Tage später, nein, es war schon knapp vor<br />

Ostern, kam Philipp nicht mehr zur Schule. Er war einmal<br />

sitzen geblieben, und alle, die schon 14 waren, mußten aus<br />

<strong>der</strong> Schule heraus. So sahen sich Philipp und Lorli dann<br />

nicht mehr, und dann hörte es ganz auf. Inzwischen ist mit<br />

mir auch allerhand passiert. Ungefähr 14 Tage später, als<br />

Günther zu Lorli kam, kam Philipp zu mir und fragte mich,<br />

ob ich mit Günther gehen wolle. Ich überlegte es mir ein<br />

paar Minuten und willigte dann ein. Ich hatte eigentlich<br />

nicht viel Interesse an Günther, wollte aber kennenlernen,<br />

wie es ist, mit einem Jungen zu gehen. Noch etwas an<strong>der</strong>es<br />

hat dazu beigetragen, daß ich mit Günther angefangen habe.<br />

Wie ich schon schrieb, waren Lilli, Lorli und ich zusammen<br />

in <strong>der</strong> Berlitz. Nach <strong>der</strong> Berlitz warteten immer Sigi auf<br />

Lilli und Philipp auf Lorli. Ich war dann immer allein und<br />

habe mich benachteiligt gefühlt. Günther holte mich dann<br />

am selben Tag ab und wir gingen spazieren. Er war sehr<br />

nett und wir unterhielten uns ganz gut. Nun brachte er<br />

mich auch öfter nach Hause, und wir trafen uns oft nachmittags.<br />

Mit <strong>der</strong> Zeit langweilte er mich, aber ich hatte<br />

nicht den Mut zu sagen, daß wir Schluß machen wollen.<br />

Einmal sagte mir Mutti, daß sie nie erlauben werde, daß<br />

ich mit einem Jungen weggehe. Ich sagte das Günther, er tat<br />

ziemlich verschnupft. Ich sagte ihm, wir sähen uns doch<br />

genug in <strong>der</strong> Schule und können doch Kameradschaft halten,<br />

ohne uns zu treffen. Wenn ich mich manchmal in <strong>der</strong><br />

Schule mit ihm unterhalten wollte, tat er sehr abweisend,<br />

daß ich ihn dann mit <strong>der</strong> Zeit laufen ließ. Er tat auch nicht<br />

mehr <strong>der</strong>gleichen. —<br />

16


Während <strong>der</strong> ganzen Zeit war ich mit Lolo und Lorli<br />

befreundet. Ich hatte dann auch mit Lolo zusammen Berlitz.<br />

Wir befreundeten uns dann immer tiefer. Ich merkte es gar<br />

nicht so. Aber jetzt, da sie weg ist, fehlt sie mir unsagbar.<br />

Wir drei gingen oft zusammen in die Stadt und verbrachten<br />

überhaupt eine lustige Zeit. Lorli holte uns immer von <strong>der</strong><br />

Berlitz ab und dann ging's Eisessen. An einem Nachmittag<br />

haben wir mal alle Eisdielen2 von Leipzig probiert, dann<br />

hatten wir aber wirklich einen kalten Magen. Lolo und ich<br />

schwärmten dann beide für Clarke, einen unserer Berlitzteacher.<br />

Vor sieben Wochen bekam sie dann ihr Permit 3.<br />

Zwei Wochen später fuhr sie ins College. Ich habe Sehnsucht<br />

nach ihr, aber vielleicht sehen wir uns mal wie<strong>der</strong>. Sie<br />

machte eine kleine Abschiedsfeier, bevor sie fuhr. Natürlich<br />

abends. Wir fühlten uns schon ganz erwachsen. Wir<br />

stellten Tanzmusik an und rauchten sogar. Natürlich wußten<br />

es ihre Eltern. Es hat niemandem geschmeckt, aber wir<br />

taten natürlich so, als ob es nichts Besseres in <strong>der</strong> Welt<br />

gäbe. Erst um halb zwölf gingen wir nach Hause. Lilli war<br />

auch da, ich hatte schon eine riesige Wut auf sie. Irgend<br />

jemand hatte mir nämlich erzählt, Lilli hätte im Palastcafe<br />

gesessen, Günther wäre hochgekommen und sie hätte gesagt:<br />

»Komm Günther, wir gehen ein Stückchen in die<br />

Stadt.« Günther, das dumme Schaf, hat natürlich eingewilligt.<br />

Es ist doch ungezogen, so etwas zu machen, wo sie<br />

genau wußte, daß wir befreundet waren. Daß wir uns nicht<br />

mehr treffen, wußte ja niemand außer Lorli und Lolo. Lolo<br />

holte uns dann oft von <strong>der</strong> Schule. Zum Abschied, daß<br />

heißt, wenn wir uns trennten, küßten wir uns immer ab.<br />

Zum Abschied waren wir dann alle an <strong>der</strong> Bahn. Es war ein<br />

sehr tränenreicher Abschied.<br />

In <strong>der</strong> Schule hat mich Lilli bei allen Jungens schlecht<br />

gemacht, weil sie sich mehr mit mir als mit ihr unterhielten.<br />

Natürlich rede ich nicht mehr mit ihr. Jetzt ist sie weg, ich<br />

will sie überhaupt ganz ausschalten, denn ich mag sie nicht<br />

leiden.<br />

Ich schloß mich, als Lolo weg war, immer mehr an Lorli<br />

an. Wir verstehen uns auch sehr gut. Aber sie kann mir<br />

17


Lolo doch nicht ersetzen. Sie ist überhaupt nicht meine<br />

richtige Freundin. Sie ist noch zu unreif für eine richtige<br />

Freundschaft. Aber wir haben oft die gleichen Interessen.<br />

Seit ungefähr vier Wochen sind wir wie<strong>der</strong> beide in Philipp<br />

verknallt. Wenn wir in die Stadt gingen, wollten wir ihn<br />

immer treffen.<br />

Leipzig, den 17.6.39<br />

HEUTE will ich nun weiter schreiben, und zwar da, wo ich<br />

aufhörte. Zwar habe ich heute sehr, sehr viel erlebt, aber<br />

vielleicht bleibt mir auch noch dazu Zeit.<br />

Wir trafen ihn aber nie. Dann, vielleicht vor drei Wochen,<br />

klingelte es. <strong>Das</strong> war morgens um halb zehn. Zufällig<br />

machte ich die Türe auf. Draußen stand Philipp. Ich war so<br />

perplex, daß ich nicht mal erschrak. Er sagte, er wolle mich<br />

einmal sprechen. Ich glaube, er hat nicht gemerkt, daß ich<br />

erstaunt war. Er wartete unten auf mich. Als ich herunterkam,<br />

gab er mir die Hand und sagte sehr artig »Guten<br />

Morgen«. Zuerst war er etwas verlegen, aber dann rückte<br />

er mit <strong>der</strong> Sprache heraus. Er wollte von mir wissen, ob ich<br />

Günther eigentlich gerne hätte. Die Frage kam sehr überraschend<br />

für mich. Ich dachte nicht, daß er mich so etwas<br />

fragen würde. Und dann noch dazu »er«. Ich fragte ihn<br />

dann, warum er das wissen wolle. Und ob Günther ihn<br />

geschickt habe. Er versicherte hoch und heilig, daß Günther<br />

ihn nicht schicke, und daß, warum er frage, eine sehr<br />

verzwickte Angelegenheit wäre. Es hinge mit Malka Silberburg<br />

zusammen. Nun wußte ich, daß Günther mit Malka<br />

ging. Sie wurde aber dann abgeschoben.4 Er schwärmte<br />

immer von ihr. Schließlich antwortete ich ihm. Ich sagte<br />

»nein«. Er konnte es sich schon denken. Wenigstens sagte<br />

er es. Wir unterhielten uns dann noch über Günther. Von<br />

ihm erfuhr ich auch, daß Günther bei ihm in Grimma sei.<br />

Schließlich verabredeten wir, daß ich mich mit Günther<br />

richtig aussprechen soll.<br />

Wir verabredeten uns dann auch. Ich versuchte Günther<br />

klarzumachen, daß es keine Freundschaft zwischen uns<br />

gewesen wäre, und daß es keinen Zweck mehr hätte. Gün-<br />

8


ther konnte o<strong>der</strong> wollte mich aber nicht verstehen. Er hielt<br />

mir immer wie<strong>der</strong> dieselben Dinge vor. Lauter Kleinigkeiten,<br />

die ich angeblich mal gesagt haben sollte. Die ich aber,<br />

soweit ich mich erinnern kann, ganz an<strong>der</strong>s gesagt habe.<br />

Ich sagte ihm dann, warum er mir das erst jetzt vorhalte<br />

und nicht gleich damals gesagt habe. Darauf wußte er mir<br />

nicht zu antworten. Der Hauptfehler bei Günther ist, wie<br />

ich glaube, daß er, wenn er sich etwas einredet, nicht wie<strong>der</strong><br />

davon abzubringen ist. Er verfleischt sich <strong>der</strong>maßen in<br />

seine Ideen, daß man ihn gar nicht verstehen kann. Er hat<br />

auch einen sehr kleinen Gesichtskreis. Er interessiert sich<br />

für sehr wenig Dinge. Und versteht auch sehr wenig. Moralische<br />

sowie weltliche Probleme existieren meiner Meinung<br />

nach bei ihm nicht. Wir gingen dann ohne ein definitives<br />

Resultat auseinan<strong>der</strong>.<br />

Ein paar Tage später, wir hatten gerade die Packer (Umzugsfirma),<br />

schaute ich so gegen elf Uhr zum Fenster herunter<br />

und Philipp stand unten. Er bemerkte mich dann,<br />

und ich ging wie<strong>der</strong> zu ihm herunter. Er sagte mir, er habe<br />

gehört, daß ich bald wegfahre, und wolle sich von mir verabschieden.<br />

Ich war angenehm überrascht. Denn ich dachte,<br />

daß er doch etwas an mir gefunden haben müßte, wenn<br />

er wie<strong>der</strong>kommt. Denn, soweit ich Philipp kannte, tat er<br />

das nie. Wir unterhielten uns dann ungefähr eineinhalb<br />

Stunden über Kunst, Musik, Malerei und auch weltliche<br />

Probleme. Mittendrin sagte er mir, ich habe großes gesellschaftliches<br />

Talent. Wenn er die Augen zumachte, könnte<br />

er denken, er spreche mit einer ganz großen Dame. Ich<br />

wollte so etwas natürlich nicht hören, obwohl es ganz angenehm<br />

ist, so etwas gesagt zu bekommen. Er beteuerte<br />

noch, es wäre wirklich kein Kompliment, son<strong>der</strong>n es sei so.<br />

Mir haben schon viele gesagt, daß man sich gut mit mir<br />

unterhalten könnte. Es hat mich aber nie so gefreut. Aber<br />

als Philipp es sagte, war ich sehr glücklich. Viele Leute<br />

fanden mich auch altklug. Aber ich konnte nun mal nichts<br />

dagegen tun. Man kann aus seiner Haut eben nicht heraus.<br />

Schließlich mußte ich hoch. Ich sagte: Wir wollen uns nun<br />

verabschieden. Er fand aber, wir wollen uns unbedingt noch<br />

19


mal sehen. Wir verabredeten uns dann, daß er mich nachmittags<br />

von <strong>der</strong> Berlitz abholt.<br />

Leipzig, den 18.6.39<br />

PHILIPP kam, wir gingen in eine Eisdiele und dann ins Rosenthal.<br />

Ich lernte Philipp besser und besser kennen, und er<br />

gefiel mir mehr und mehr. Seine Ansichten sind klar und<br />

gescheit, und er hat eine passende Antwort für alle möglichen<br />

Dinge.<br />

Wir sprachen über unsere zukünftigen Berufe. Er möchte<br />

Ingenieur auf einem großen Schiff werden. Ich wollte<br />

ihm gar nicht sagen, was ich werden möchte, weil es blöd<br />

und unmöglich ist: Ich möchte Forscherin werden und im<br />

Altertum herumkramen. Dazu brauchte ich aber eine gute<br />

und teure Ausbildung. Und ich glaube kaum, daß ich diese<br />

werde genießen können. Außerdem bin ich doch religiös.<br />

Und wenn ich einmal so eine Expedition mitmachen würde,<br />

würde ich von all diesem absehen müssen.' Vielleicht<br />

ist dieses für an<strong>der</strong>e eine Lappalie, aber für mich, da ich<br />

noch mit niemandem darüber gesprochen habe, ist es ein<br />

schwieriges Problem. Aber ich brauche mir doch darüber<br />

keine Sorgen machen, denn dieses ist ja nur mein Phantasie-Beruf.<br />

Über meinen wirklichen habe ich mir noch keine<br />

ernsten Sorgen gemacht. Ich weiß ja noch gar nicht, wo ich<br />

überhaupt einmal lande. In dieser Beziehung lasse ich mich<br />

vorläufig vom Schicksal leiten. Auf alle Fälle brachte er<br />

mich dann nach Hause. Donnerstagmorgen sahen wir uns<br />

wie<strong>der</strong>. Es war ein sehr, sehr schöner Tag für mich. Damals<br />

sicherlich <strong>der</strong> schönste in meinem Leben. Ich spreche so<br />

wie damals, als ob es schon lange her wäre, dabei sind es<br />

erst drei Tage. Mir scheint es schon unendlich lange. —<br />

Wir wußten nicht viel zu sprechen. Wir hatten einfach<br />

kein Thema. <strong>Das</strong> war aber auch ganz schön. Er erzählte<br />

mir dann noch, daß er am Tag zuvor sehr viel gearbeitet<br />

habe. Er schreibt nämlich an einer Geschichte, verschiedene<br />

Tonstücke hat er auch geschrieben. Ich stellte mir dann<br />

seine Handschrift vor: groß, schräg, nach <strong>der</strong> richtigen Seite<br />

und energisch. So richtig zu seinem Wesen passend. Ich bat<br />

2.0


WARSCHAU-<br />

EINE WICHTIGE ZWISCHENSTATION<br />

Warschau, den 5.7.3 9<br />

ICH bin in Warschau. Mir kommt es gar nicht so vor. Es<br />

waren wie<strong>der</strong> zwei aufregende Tage. Gestern zuerst <strong>der</strong><br />

Abschied von <strong>der</strong> Verwandtschaft. Max und Anna fuhren<br />

mit uns bis Berlin mit. Dann kam etwas Wun<strong>der</strong>bares: das<br />

Fliegen. Als wir vor dem Fluggebäude ausstiegen, kamen<br />

uns schon bildhübsche Kerle entgegen. Sie sehen aus wie<br />

Matrosen. Sie tragen dunkelblaue lange Hosen, dazu eine<br />

Jacke aus demselben Stoff und einen Matrosenkragen. Dann<br />

haben sie dunkelblaue Matrosenmützen auf. <strong>Das</strong> Schönste<br />

an ihnen ist aber ihre Haut. Sie sind ganz braun gebrannt<br />

und haben fast alle blaue Augen und fabelhafte Figuren.<br />

Wir flogen mit einem englischen Flugzeug. Der Steward<br />

war auch bildschön. Beim Aufstieg schnallte er mich an. Er<br />

hat mich dabei so nett angelacht. Er dachte, ich könnte<br />

kein Englisch. Mama und ich hatten die hintersten Plätze.<br />

Hinter uns stand nur noch ein Schränkchen mit Lebensmitteln.<br />

Der Steward lehnte sich immer an meine Lehne, und<br />

wenn ich mich herumdrehte, lächelte er und sagte: »I am<br />

sorry«. Zuerst war es mir ein bißchen schlecht. Nach und<br />

nach ging aber das Gefühl weg. Es war wun<strong>der</strong>bar. Wir<br />

flogen über den Wolken. Wenn man herausschaute, dachte<br />

man, man ist von Schneebergen umgeben. Unter uns, wie<br />

durch einen Schleier, sah man die Landschaft. Es waren im<br />

ganzen acht Personen im Flugzeug. Wenn ich mir überlegte:<br />

Ich bin weg von meiner Heimatstadt, von <strong>der</strong> Stadt, wo<br />

ich eine sorglose und schöne Kin<strong>der</strong>zeit verbracht habe.<br />

Wir waren ja durch die Regierung in vielem gestört. Aber<br />

meine Eltern hatten Geld. Alles, was ich wollte, konnte ich<br />

mir kaufen. Ich hatte Freundinnen. Und nun stehen wir<br />

hier. Arm!! Emigranten! Ach, es ist furchtbar. Ich werde<br />

vielleicht nie wie<strong>der</strong> so glücklich sein wie in Deutschland.<br />

46


Es ist ein furchtbares Land. Aber, wo man Geld hat, empfindet<br />

man alles nicht so. In Leipzig war ich die Tochter<br />

von Herrn <strong>Gersten</strong>. Von jedem wurde ich höflich gegrüßt,<br />

und hier sind wir dasselbe wie alle an<strong>der</strong>en Emigranten.<br />

<strong>Das</strong> Schlimmste ist, daß Papa sich so schwer in das neue<br />

Leben hereinfindet. Er denkt immer zurück an unsere zwei<br />

Geschäfte. Er kann nicht vergessen. Ich kam hierher mit<br />

<strong>der</strong> festen Zuversicht auf eine neue schöne Zukunft. Aber<br />

Papa hat mir all meinen Mut genommen. Ich würde mich<br />

schon hereinfinden. Aber wenn ich sehe, wie es Mama<br />

mitnimmt, verzweifle ich auch. Gleich gestern, am ersten<br />

Abend, fing er an zu schimpfen, Mama hätte nicht genug<br />

gerettet. Wir haben beide geweint. Ich glaube, in den zwei<br />

Tagen habe ich mehr Tränen vergossen als sonst in einem<br />

halben Jahr. Und wieviel ungeweinte Tränen stecken mir<br />

noch in <strong>der</strong> Kehle. Man darf nicht zurückdenken. Sonst<br />

könnte man wahnsinnig werden. — Wir wohnen hier in<br />

einem jüdischen Viertel. <strong>Das</strong> Elend und die Armut mit anzusehen<br />

und nicht helfen zu können, kann einen wahnsinnig<br />

machen. Unsere Zukunft ist noch so unbestimmt. Die<br />

politische Lage wird alles bestimmen. Papa redet schon<br />

von Krieg. Er ist schon gemustert. Er will unbedingt mit.<br />

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn Papa noch weggeht,<br />

halte ich es überhaupt nicht mehr aus. Nach so langer Trennung<br />

schon wie<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gerissen werden. Nein, nein,<br />

es kann nicht sein. Aber ich darf gar nicht klagen. Ich habe<br />

ein wun<strong>der</strong>bares Bett, gutes Essen, und alle sind nett zu<br />

mir. Aber was nutzt das alles. Ich möchte zusammen mit<br />

meinen Eltern und Adi irgendwo leben. Ganz bescheiden.<br />

Nur Papa und Mama sollen sich vertragen. Papa soll mit<br />

dem, was er verdient, zufrieden sein und, wenn er nicht<br />

verdienen kann, sich in das Schicksal fügen. Wir haben<br />

einen G'tt im Himmel, er wird uns helfen.<br />

Warschau, den 6.7.39<br />

NUN bin ich schon den zweiten Tag hier. Mein Leben kommt<br />

mir vergeudet vor. Ich lerne nicht. Denke nur immer über<br />

die Zukunft nach. Papa muß vorläufig hier bleiben. Mama<br />

47


und ich werden sicher nach London fahren. Aber ist dann<br />

das ein Leben? Immer getrennt sein. Wenn wir nur schon<br />

wie<strong>der</strong> eine Heimat hätten. In England werden wir auch<br />

nicht bleiben können. Dort sind keine Verdienstmöglichkeiten.<br />

— Ich möchte so gern Lolo einen Brief schreiben. Ihr<br />

mein Herz ausschütten. Aber ich habe kein Geld für Briefmarken.<br />

Papa und Mama schreiben nicht, um kein Geld<br />

auszugeben. Ich traue mir nicht, Geld von Papa zu verlangen.<br />

Für uns ist es noch schlimmer. Leute, die schon in<br />

Deutschland nicht viel hatten, finden sich viel leichter in<br />

das verän<strong>der</strong>te Leben. Nur mein G'ttvertrauen erhält mich<br />

noch aufrecht. — Gestern waren wir im Emigrantencafe. Es<br />

ist furchtbar, die Gesichter anzugucken. Die Leute, die noch<br />

ein paar Zlotis in <strong>der</strong> Tasche haben, gehen dort herein. Sie<br />

sitzen alle da, mit Gesichtern, denen man ansieht: Was werde<br />

ich morgen essen und wie lange wird mein Geld noch reichen?<br />

Ein Junge aus Deutschland ist dort als Zigarettenjunge<br />

tätig.<br />

Warschau, den 9.7.39<br />

DER Junge ist bildhübsch. Ich denke jetzt so oft an Philipp.<br />

Aber nicht mehr leidenschaftlich. Eben habe ich mir sein<br />

Bild angeguckt. Er hat keine Bedeutung mehr für mich. Ich<br />

habe hier einen sehr netten jungen Mann kennengelernt. Er<br />

ist ein Cousin von den Leuten, bei denen wir wohnen. Er ist<br />

26. Ich habe ihn höchstens für 19 bis zo geschätzt. Neulich<br />

brachte er mich zu Papa. Wir haben uns sehr nett unterhalten.<br />

—<br />

Ich sehne mich sehr nach meiner Lolo. Ich habe in den<br />

letzten Tagen so viel durchgemacht: Papa macht Mutti<br />

Vorwürfe, sie hätte nicht genug gerettet. So fängt er jeden<br />

Tag mit demselben wie<strong>der</strong> an. Es ist zermürbend. Mama<br />

und ich haben schon so viel geweint. Heute endlich hat<br />

Papa versprochen, nicht mehr darüber zu sprechen. Wenn<br />

er sein Versprechen nur hält. Mama und ich werden Ende<br />

<strong>der</strong> Woche sicher schon nach London fahren. Ich weiß nicht,<br />

ob ich »G'tt sei Dank« o<strong>der</strong> »lei<strong>der</strong>« sagen soll. G'tt sei<br />

Dank, von Polen wegzukommen. Denn hier ist kein Leben<br />

48


für Leute, die in Deutschland gelebt haben. Die Lebensbedingungen<br />

sind hier ganz an<strong>der</strong>s. Alles ist so primitiv. Aber<br />

lei<strong>der</strong> müssen wir wie<strong>der</strong> weg von Papa. Er hat mir sehr<br />

weh getan. Er hat mir offen ins Gesicht gesagt, er hat Adi<br />

lieber als mich. Ich habe sehr geweint. Aber jetzt kommt es<br />

mir lächerlich vor. Papa redet an<strong>der</strong>s, als er denkt. Ich habe<br />

Papa sehr, sehr lieb. Er ist ein aufgeregter und nervöser<br />

Mensch. Die fünf Monate <strong>der</strong> Trennung und die geschäftlichen<br />

Sorgen haben es noch schlimmer gemacht. —<br />

Gestern waren wir im Kino. Es wurde ein wun<strong>der</strong>barer<br />

Film gegeben. Ich vergleiche jetzt immer alles mit mir und<br />

meinem Leben. Ich finde in je<strong>der</strong> Begebenheit, mag es in<br />

einem Buch o<strong>der</strong> sonstwo sein, immer etwas Verwandtes.<br />

-<br />

Ich denke so oft an die Berlitz zurück. Es war so eine<br />

wun<strong>der</strong>bare Zeit. Die Schwärmerei für Clark!!<br />

Warschau, den 10.7.39<br />

WIEDER ein Tag herum. Ich fühle mich viel wohler. Heute<br />

nachmittag waren wir bei einer befreundeten Familie. Den<br />

Sohn kenne ich schon von Leipzig. Er ist beim Konsulat<br />

angestellt. Er ist ein hübscher und angenehmer Mensch.<br />

Heute waren wir bei Mutter und Tochter. Die Tochter ist<br />

ein goldiges Mädel, z8 Jahre, sieht aber viel jünger aus.<br />

Beim Abschied hat sie mich geküßt. Ich finde sie so fabelhaft.<br />

Sie ist eine Sportlehrerin. Sie hat so ein nettes, einfaches<br />

Wesen. Sie leben bescheiden, aber sehr nett. Abends<br />

war wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Cousin da. Ich weiß nicht, ob es mir nur so<br />

vorkommt, aber ich glaube, er guckt mich oft an, wenn ich<br />

nicht hingucke. Überhaupt sagen mir jetzt sehr viele, ich<br />

wäre ein hübsches Mädel. Ich habe mir vorgenommen, nicht<br />

eingebildet zu werden. Aber es ist ein schönes Bewußtsein,<br />

hübsch zu sein. Morgens waren wir bei Bomowitsch,<br />

Emigrantencafe. Der deutsche Junge gefällt mir. Er guckt<br />

mich, glaube ich, auch oft an. Er kommt mir so bekannt<br />

vor. Ich muß ihn in Deutschland schon mal gesehen haben.<br />

Vielleicht, wenn wir mit dem »Bar Kochba« (jüdischer<br />

Sportclub) in Berlin waren. Jetzt denke ich manchmal an<br />

49


Hase Sternheim und an Luppi Kauber (beides Sportlehrer).<br />

Was werden sie wohl machen? Alle sind wir auseinan<strong>der</strong>gerissen.<br />

An Lolo denke ich am meisten. Ich male mir jetzt<br />

so oft ein Wie<strong>der</strong>sehen mit Philipp aus. Meine erste Liebe.<br />

Ich habe ihn bestimmt nicht richtig gern gehabt, denn sonst<br />

hätte ich mich nicht mit ihm verfeindet. Ich lese jetzt einen<br />

Liebesroman. Kitsch, aber auch das gehört zur Bildung.<br />

Ich glaube, es gibt kein Mädel in meinem Alter, das nicht<br />

mal Liebesromane liest. Schon wie<strong>der</strong> denke ich an Philipp.<br />

Wird er auch einmal an mich denken? Ich glaube es<br />

schon. Was wird er jetzt machen? Werde ich ihn wie<strong>der</strong>sehen?<br />

Wird er dann schon sein eigenes Heim haben? Ich bin<br />

sehr optimistisch, ich denke immer an ein Wie<strong>der</strong>sehen mit<br />

ihm. Ich bin mir noch nicht ganz einig, warum ich so viel<br />

an ihn denke. Weil er <strong>der</strong> erste Fall war, o<strong>der</strong> weil ich ihn<br />

noch lieb habe. Werde ich überhaupt noch einmal mit einem<br />

Jungen so gut stehen? Ich meine natürlich vor meiner<br />

Ehe. Ich denke jetzt oft daran, wen ich einmal heiraten<br />

werde. Was für ein Mensch er sein muß. Ich habe manchmal<br />

Angst vor meiner Zukunft. Ich denke oft daran, daß<br />

ich die Jungens, so wie es mir mit Philipp gegangen ist,<br />

langsam satt habe. Ich bin mir so ungewiß über meine<br />

Gefühle zu Philipp. Einmal sage ich mir, ich habe ihn noch<br />

gern. Dann wie<strong>der</strong> fühle ich Abscheu gegen ihn. Aber das<br />

will ja alles nichts sagen. Man än<strong>der</strong>t sich ja, wenn man<br />

älter wird. Alles ist Schicksal und Bestimmung. —<br />

G'tt sei Dank, die Kriegsgefahr ist momentan etwas abgeschwächt.<br />

Wenn ich in mein <strong>Tagebuch</strong> schreibe, fühle ich<br />

mich allem enthoben. Ich denke dann meist nur an meine<br />

eigenen Gefühle. Ich zwinge mich aber auch zum Weltlichen,<br />

denn ich komme mir so egoistisch vor. Morgen werde<br />

ich am Klavier das Stück probieren, das Philipp mir<br />

komponiert hat. Ich bin in Polen. Es kommt mir oft gar<br />

nicht so vor. Ich denke oft, ich bin zu Hause. Es träumt sich<br />

so wun<strong>der</strong>bar. Nur wenn mich jemand aufschreckt, komme<br />

ich wie<strong>der</strong> in die Wirklichkeit zurück. Gestern habe ich<br />

erfahren, daß <strong>der</strong> Cousin ein Kommunist ist. Er ist auch<br />

sehr unfromm. Aber was geht es mich an. Ich glaube, es<br />

50


geht allen Mädels so, daß, wenn sie einen Jungen kennenlernen,<br />

sie sich mit ihm beschäftigen. —<br />

Ich werde jetzt regelmäßig jeden Abend mein <strong>Tagebuch</strong><br />

weiterführen. Ich habe keine Pflichten momentan. Aber<br />

ich will mich in eine bestimmte Ordnung wie<strong>der</strong> eingewöhnen.<br />

Ich finde, man wird so faul und nachlässig durch dieses<br />

Leben. —<br />

Mein Beruf steht vorläufig fest. Ich sage vorläufig. Denn<br />

bei meiner Natur wechseln die Entschlüsse oft. Doch ich<br />

glaube, <strong>der</strong> bleibt bestehen. Ich werde Krankenpflegerin.<br />

Welcher Abteilung ich mich widmen werde, habe ich noch<br />

Zeit zu sehen. Am liebsten möchte ich in eine Kin<strong>der</strong>klinik.<br />

Ich finde es so beruhigend und zufriedenstellend, den Kranken<br />

ihr Los zu erleichtern. Ich weiß, daß das nicht leicht ist,<br />

aber schließlich ist kein Beruf ein Vergnügen. Ich glaube<br />

auch, ich werde mich dazu eignen. Schon von klein auf<br />

hatte ich eine Vorliebe, »krank« zu spielen. Mit mir selbst<br />

o<strong>der</strong> mit meinen Puppen, aber auch in meinen Phantasien<br />

spielten Kranke immer die Hauptrolle. Zu Kin<strong>der</strong>n verstehe<br />

ich auch zu sprechen. Also wären, meiner Meinung nach,<br />

alle Vorbedingungen da.<br />

Warschau, den 11.7.39<br />

EBEN war ein Studienfreund von Frau Sitkowskis (Familie,<br />

bei <strong>der</strong> wir wohnten) Sohn da. Sie hat ihm sofort gesagt, er<br />

solle mich abholen und mir einiges von Warschau zeigen.<br />

Mir war das im ersten Moment etwas unangenehm. Denn<br />

schließlich kenne ich den Jungen gar nicht. Aber ich habe<br />

ja gesellschaftliches Talent, wie Philipp sagte. —<br />

Heute vormittag war ich wie<strong>der</strong> bei Bomowitsch. Mama<br />

kommt <strong>der</strong> Junge (Zigarettenverkäufer) auch bekannt vor.<br />

Sie hat ihn an unseren Tisch gerufen und ihn gefragt. Er<br />

sagte, daß er schon ein paar Mal in Leipzig war. Ich sprach<br />

mit ihm dann auch ein paar Worte. Er hat mich dabei so<br />

seltsam angeblitzt. Ein Blick, für den ich keine Erklärung<br />

weiß. Auf alle Fälle ist <strong>der</strong> Junge bildhübsch. Er hat so<br />

etwas Edles und Vornehmes an sich. Ich freue mich, daß<br />

ich jetzt ein paar junge Menschen kennengelernt habe. Man<br />

51


EIN NEUER ANFANG IN LONDON<br />

London, den 26.7.39<br />

SCHON lange habe ich mein <strong>Tagebuch</strong> ruhen lassen. Aber<br />

es war in den Koffern eingepackt und ist erst gestern angekommen.<br />

Ich will <strong>der</strong> Reihe nach anfangen und zuerst meine<br />

Schlußerlebnisse in Warschau einschreiben. Der Adler hat<br />

die Hauptrolle gespielt. In den zwei letzten Tagen bin ich<br />

nicht mehr dazugekommen, zu Bomowitsch zu gehen. Ich<br />

mußte mich aber vom Adler verabschieden. Also, am Abend<br />

vor unserer Abreise war mein kleiner Cousin bei uns, ich<br />

mußte ins Hotel die Post holen, und er wollte unbedingt<br />

mit. Ich sagte ihm, ich glaube, Papa ist bei Bom. (Caf6<br />

Bomowitsch) und ich will ihn abholen. Ich wußte genau,<br />

daß Papa bei Gertner war, aber das spielte ja keine Rolle.<br />

Ich kam zu Born., er kam mir schon mit strahlenden Augen<br />

entgegen. Dann haben wir uns ein paar Minuten unterhalten<br />

und uns verabschiedet. Ich sagte natürlich immer »Sie«<br />

zu ihm. Auf einmal sagte er »Du«. Ich tat, als ob ich es<br />

nicht bemerkte, er meinte aber: »Warum sagst du denn Sie<br />

zu mir ?« Also habe ich auch »Du« gesagt. Dann wollte er<br />

unbedingt meinen Ring sehen und streichelte mir dabei die<br />

Hand. Ich hab zu ihm aufgeblickt. Er hat mir auch in die<br />

Augen geschaut. Nun ist alles aus. Ich werde ihn nicht<br />

wie<strong>der</strong>sehen. Ich lese jetzt »Maria Stuart« von Stefan Zweig.<br />

Sie hatte das Unglück, alles zu früh zu bekommen. Mit<br />

sechs Tagen war sie bereits Königin von Schottland usw.<br />

Bei mir ist es nun gerade umgekehrt. Bei mir kommt alles<br />

zu spät. Kurz vor unserer Abreise von Leipzig die Sache mit<br />

Philipp. Und dann die Sache mit dem Adler. Alles Anfänge<br />

ohne Ende. Ich bin überzeugt, hier in England lerne ich<br />

keine Jungens kennen. Wir bleiben vorläufig hier. Über Adi<br />

ärgere ich mich unaufhörlich. Er behandelt mich wie ein<br />

Baby. <strong>Das</strong> hat man nun von seinen Brü<strong>der</strong>n. Gestern traf<br />

55


ich ihn mit seiner Freundin. Er hat uns einan<strong>der</strong> vorgestellt.<br />

Ich war so in Eile und mir war alles dasselbe, da sagte<br />

ich statt: »angenehm« »danke«. Ich habe mich dann furchtbar<br />

geschämt. Gegen mich verschwört sich eben alles. Nun<br />

bin ich schon acht Tage hier und habe noch nichts getan.<br />

Aber nächste Woche beziehen wir unser Haus, dabei gibt<br />

es schon genug Arbeit. Ich freue mich aber drauf. Mein<br />

Zimmer richte ich mir ganz alleine ein. Es muß gemütlich<br />

werden. Ich möchte so gern wie<strong>der</strong> einen Jungen kennenlernen.<br />

Wenn man einmal einen gekannt hat, ist es zu verlockend.<br />

Manchmal beneide ich Lolo. Sie hat gar keine<br />

Erfahrungen mit Jungens und sehnt sich auch nicht danach.<br />

Ich möchte meine Lolo so gern bei mir haben.<br />

London, den 2.7.7.39<br />

GESTERN abend hat uns Herr Bach (ehemaliger Leipziger,<br />

Name geän<strong>der</strong>t) etwas auf dem Klavier vorgespielt. Ich<br />

weiß nicht, ich hatte so Lust und zeigte ihm die Noten von<br />

Philipp. Ich hatte solch dummes Herzklopfen dabei, als ob<br />

es von mir selber ein Stück wäre. Dann sagte Herr Bach:<br />

»So etwas wie eine >Horrahmelodie


nur auf dumme Gedanken. Aber wenn ich ein Buch lese,<br />

verliere ich mittendrin den Faden und grüble. Ich fühle<br />

mich überhaupt unglücklich. Keine feste und bestimmte<br />

Beschäftigung. Ich freue mich schon, wenn ich wie<strong>der</strong> auf<br />

die Schule kann. In Leipzig war ich immer froh und glücklich,<br />

wenn es Ferien gab. Jetzt erst sehe ich, wie schön die<br />

Schulzeit war. Dort hat man all seine Sorgen vergessen, war<br />

nur Schulkind. Jetzt mache ich mir wie<strong>der</strong> um Papa Sorgen.<br />

Er ist ganz alleine in Warschau, vorläufig verdient er<br />

noch gar nichts. Ich habe bis jetzt noch keine schöne Jugend<br />

gehabt. Als ich sieben Jahre alt war, kam die Hitlerregierung.<br />

Und jetzt, wo das Leben erst schön wird, sind<br />

wir arme Leute. Alles hat Hitler uns genommen. Hier in<br />

England ist es ja wun<strong>der</strong>schön, und ich bin glücklich, hier<br />

sein zu dürfen. Aber wer weiß, ob wir hier bleiben werden.<br />

Ich will nicht mehr denken und grübeln. Wie G'tt es führt,<br />

ist es gut. Nur meine Lolo möchte ich immer bei mir haben.<br />

Ich habe sie so lieb. Bitte, bitte, lieber G'tt, erfülle mir diesen<br />

einen Wunsch. —<br />

In Warschau gibt es eine Gemeinschaft frommer Juden,<br />

die beson<strong>der</strong>e Sitten haben. Eines hat mir sehr gut gefallen,<br />

und zwar beten sie in <strong>der</strong> Sprache, die sie am besten beherrschen.<br />

Ich finde das sehr richtig, denn meistens bete ich<br />

und weiß gar nicht was. Zwar sind wir Juden und müssen<br />

in unserer eigenen Sprache beten, obwohl wir sie aber nicht<br />

so gut beherrschen. Wenn ich mir etwas wünsche, o<strong>der</strong> G'tt<br />

für irgend etwas danke, tue ich es auch in Deutsch. Ich<br />

denke, G'tt wird mich auch so erhören. —<br />

London, den 3 1.7.3 9<br />

HEUTE haben wir unsere Möbel ausgepackt. Seit Wochen<br />

habe ich mich auf diese Arbeit gefreut. Aber mir wird ja<br />

alles verbittert. Mein Zimmer habe ich mir eingerichtet, es<br />

ist allerliebst. Natürlich ist Adi neidisch. Gleich will er mir<br />

etwas hereinstellen, das mir das ganze Zimmer vermiest.<br />

Seit ich hier bin, war ich noch keine Minute glücklich. Immer<br />

geht Adi weg, um sich zu vergnügen. Nie hat er mir gesagt,<br />

komm mit. Mich verletzt es so. Mit Mama verstehe ich<br />

57


mich auch nicht. O<strong>der</strong> besser: Mama versteht mich nicht.<br />

Die einzige, <strong>der</strong> ich einmal mein Herz ausschütten kann, ist<br />

Babette (Frau Bach). Immer sagt sie Adi, er soll mich mitnehmen.<br />

Sie hat alles gemerkt, ohne daß ich ihr ein Wort<br />

gesagt habe. Gestern habe ich den ganzen Tag geweint.<br />

Babette sagt, ich soll mir nicht alles so zu Herzen nehmen.<br />

Aber ich kann es nicht. Alles trifft mich.<br />

London, den 21.8.3 9<br />

SCHON so lange habe ich mein geliebtes <strong>Tagebuch</strong> ruhen<br />

lassen. Aber die vier Wochen waren so eine schwere Zeit<br />

für mich, daß ich zu nichts Geduld hatte. Ich will es aber<br />

gar nicht erwähnen, nicht daran denken. Jetzt hat sich alles<br />

etwas gebessert. Aber noch nicht vollkommen. Gut kann<br />

es erst werden, wenn ich meine Lolo wie<strong>der</strong>habe. Und es ist<br />

keine Aussicht, sie zu sehen. Ach, wie soll ich es nur aushalten.<br />

Ich sehne mich von Tag zu Tag mehr nach ihr. Ich bin<br />

ganz wahnsinnig nach ihr und dazu keine Post. -<br />

Mir ist <strong>der</strong> Tag zu kurz. Ich habe so viel zu denken und<br />

für mich zu tun, daß ich nie fertig werde. Ich mache keinen<br />

abend vor halb ein Uhr Schluß. Und trotzdem. Ich habe<br />

gerade gelesen, und da überkam mich so eine fürchterliche<br />

Sehnsucht nach Philipp. Aber jetzt ist schon alles wie<strong>der</strong><br />

vorbei. Es kommt immer so stellenweise. Ich habe sogar<br />

sein Bild geküßt. Er wäre <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> mich vollauf verstehen<br />

würde. Aber was soll ich tun. Ich möchte nur wissen,<br />

ob er noch in Grimma ist. Er schrieb mir: »Du hast<br />

mich gern gehabt, ich habe Dich noch gern!« Ob er jetzt<br />

immer noch so denkt? - Nun wohnen wir schon fast vier<br />

Wochen hier. Ich dachte, hier könnte ich Befriedigung finden.<br />

Aber im Gegenteil. Ich bin so unbefriedigt. Ich brauche<br />

eine Freundin. Aber ich möchte hier keine Freundschaft<br />

schließen. Ich möchte nur mit Lolo zusammen sein. Alle<br />

Bekanntschaften, die ich hier schließe, sind doch nur oberflächlich.<br />

Am Tage kommt mir das alles nicht so zum Bewußtsein,<br />

aber nachts, so wie jetzt, ach, da spürt man alles<br />

so deutlich. Ich bin so unbefriedigt. Ich freue mich auf<br />

morgen nachmittag. Höchstwahrscheinlich bin ich da al-<br />

58


leine. Dann kann ich wenigstens träumen. Oh, wie wun<strong>der</strong>bar.<br />

Ich möchte nur meinen Gedanken nachhängen<br />

können. Aber dazu habe ich nie Zeit. Ich bin so unzufrieden<br />

mit mir selbst, und gerade das ist das Schlimmste. Was<br />

soll ich nur tun. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich so wenig<br />

an meinen Vater denke. Aber dann, wenn ich an ihn denke,<br />

tue ich es mit ganzem Herzen. Auch bin ich unzufrieden,<br />

daß ich all das, was ich mir vorgenommen habe, noch nicht<br />

geschafft habe. Aber das sind alles Dinge, die ich noch<br />

nicht abän<strong>der</strong>n kann.<br />

London, den 2.2..8.39<br />

Zu nichts habe ich heute Lust. <strong>Das</strong> Reinemachen kotzt mich<br />

so langsam an. Immer das Gleiche. Nie wird es eine Än<strong>der</strong>ung<br />

darin geben. Aber wenn ich erst einmal Krankenschwester<br />

bin. Dann werde ich befriedigt sein. Dann werde ich<br />

mein Ideal verwirklicht haben. Aber ich muß ja noch so<br />

unendlich lange warten. Ich hörte, daß man erst mit 18 Jahren<br />

anfangen darf. Aber vielleicht ist es in England an<strong>der</strong>s.<br />

Doch muß ich trotzdem noch bis 16 warten. — Ich bin so<br />

gespannt auf die Schulzeit, die jetzt wie<strong>der</strong> beginnt.<br />

Zu jener Zeit gab es in England kaum Wohnungen. Die Bevölkerung<br />

— arm o<strong>der</strong> reich — wohnte in Häusern. Wir mieteten ein kleines,<br />

schäbiges Häuschen, das uns sowie unsere großen deutschen Möbel<br />

beherbergte. Unsere Freude, von gewohnten Gegenständen umgeben<br />

zu sein, war nur von kurzer Dauer: Der Zweite Weltkrieg war<br />

ausgebrochen, mein Vater in Warschau, das wenige Geld, das wir<br />

mitgebracht hatten, aufgebraucht, und so verkauften wir den größten<br />

Teil unserer Möbel, um Heizung, Miete und Essen zu bezahlen.<br />

Eine Arbeitsgenehmigung konnten wir Auslän<strong>der</strong> erst später bekommen.<br />

Die Monate September und Oktober 1939 sind verschwommen<br />

in meiner Erinnerung. Ich entsinne mich, daß wir an<strong>der</strong>e Flüchtlinge<br />

kennenlernten. Mit ihnen teilten wir unsere Sorgen und unseren<br />

Kummer.<br />

London, den 3.11.3 9<br />

ENDLICH will ich wie<strong>der</strong> anfangen, mein <strong>Tagebuch</strong> regelmäßig<br />

zu führen. Es tut mir wohl, alles durchzulesen, obwohl<br />

ich oft dabei weinen muß. Heute habe ich nur sehr<br />

59


wenig Zeit, aber ich will wie<strong>der</strong>, sooft es meine Zeit erlaubt,<br />

mein <strong>Tagebuch</strong> weiterführen. Ich muß sehr genau<br />

aufpassen, daß Adi es nicht liest, denn ich habe ihn schon<br />

einmal dabei erwischt. Ich habe das Gefühl, als ob er all<br />

das, was über Philipp drinsteht, gelesen hat. <strong>Das</strong> Bewußtsein<br />

macht mich rasend. Gerade er soll es am wenigsten<br />

wissen. Aber ich weiß mir schon keinen Rat mehr. Ich kann<br />

nicht mehr denken. Ich muß erst einmal wie<strong>der</strong> einen klaren<br />

Kopf bekommen. Alle meine Gedanken vermischen sich.<br />

Ich weiß nicht, was das werden soll. Ich brauche eine Freundin.<br />

Und meine Lolo ist so weit weg. Jetzt weiß ich nicht<br />

einmal, ob sie etwas von mir mehr wissen will. Ich weiß<br />

nicht mehr, was ich denken soll. Vor den an<strong>der</strong>en muß ich<br />

immer ganz gleichgültig erscheinen, und dabei ist alles so<br />

wüst in mir. Heute abend kommen Bachs zum Abendessen.<br />

Da heißt es wie<strong>der</strong>, alle Kräfte zusammennehmen und nichts<br />

anmerken lassen. Ich fürchte, mein Kopf zerspringt bei all<br />

meinen Sorgen. Aber was tun? Was tun?! Wenn mir nur<br />

Lolo schreiben würde. Aber auch sie läßt mich jetzt in meiner<br />

größten Verzweiflung im Stich. Ich muß jetzt schließen,<br />

weil gleich Sabbat beginnt.<br />

London, den 5.11.39<br />

NÄCHSTE Woche um die Zeit bin ich schon 14. O<strong>der</strong> vielleicht<br />

kommt ein Angriff, und wir werden alle vernichtet.<br />

Mir soll es recht sein. Was mach ich mir schon aus dem<br />

Leben! Wenn ich bedenke, vor einem halben Jahr habe ich<br />

mein <strong>Tagebuch</strong> angefangen. Was für ein Unterschied war<br />

doch zwischen meinem damaligen und meinem jetzigen<br />

Leben. Wieviel schöne und traurige Stunden habe ich erlebt.<br />

Aber ich glaube, ich kann eher sagen, wieviele traurige<br />

Stunden hinter mir liegen. Aber Herr Bach hat ganz<br />

richtig gesagt, je<strong>der</strong> Mensch muß eine schwere Zeit durchmachen.<br />

Ja, wenn ich nur wüßte, daß überhaupt einmal<br />

eine bessere Zeit kommt. Aber das liegt in G'ttes Hand.<br />

Wenn ich nur schon wüßte, wo mein Vater ist, wäre mir die<br />

größte Sorge genommen, es wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk,<br />

wenn ich wüßte, daß er gesund wäre. Und<br />

6o


<strong>Thea</strong>s Eltern, <strong>der</strong> Pelzhändler Chaim Lazar <strong>Gersten</strong> (1937/38)<br />

und Rosa <strong>Gersten</strong> (1955)<br />

,


Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong><br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

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<strong>Das</strong> Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Ulrike Vetter, Leipzig<br />

Coverbild: <strong>Thea</strong> <strong>Hurst</strong> im Alter von 21 Jahren (© privat)<br />

Satz: Jochen Busch, Leipzig<br />

Druck und Binden: CPI Druckdienstleistungen GmbH<br />

IISBN 978-3-374-07459-4 // eISBN (PDF) 978-3-374-07460-0<br />

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