FOCUS_31_2023_Cancel Culture
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AUSGABE <strong>31</strong> 29. Juli <strong>2023</strong> € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2023</strong> COVER /// INFOGRAPHIC<br />
Ist Merz<br />
glaubwürdig?<br />
Der schwierige<br />
Umgang der Union<br />
mit der Af D<br />
Greift<br />
China an?<br />
Reise nach Taiwan,<br />
einem Hotspot<br />
der Weltpolitik<br />
Darf ich noch<br />
alles sagen?<br />
Ein Plädoyer gegen die<br />
<strong>Cancel</strong> <strong>Culture</strong> und für das<br />
eigenständige Denken<br />
VOM GLÜCK<br />
DES GEHENS<br />
Wie wir uns so bewegen,<br />
dass wir gesünder, klüger und besser leben
KULTUR<br />
Volker Bruch<br />
Weil er eine Kampagne<br />
gegen die Corona-Politik<br />
mitinitiierte, wurde<br />
der „Babylon Berlin“-<br />
Star im Netz scharf<br />
kritisiert<br />
Fo t o s : action press, AP, dpa, Erik Weiss, Getty Images, imago images<br />
76<br />
Donald Trump<br />
Nach dem Sturm auf<br />
das US-Kapitol 2021<br />
sperrten die Betreiber<br />
sozialer Netzwerke<br />
seine Accounts<br />
Feine Sahne<br />
Fischfilet<br />
Die linksorientierte<br />
Punkband sollte mit<br />
Diffamierungen<br />
mundtot gemacht<br />
werden
ESSAY<br />
Lisa Eckhart<br />
Wegen angeblich antisemitischer<br />
Klischees<br />
im Bühnenprogramm<br />
sagten Veranstalter<br />
Auftritte der Kabarettistin<br />
ab<br />
Ein Verbrechen an<br />
der Demokratie<br />
Wir müssen die Meinung anderer<br />
aushalten, auch wenn sie uns noch so abwegig<br />
erscheint, schreibt der Philosoph<br />
Julian Nida-Rümelin in seinem neuen Buch<br />
„<strong>Cancel</strong> <strong>Culture</strong>“ – ein Vorabdruck<br />
J. K. Rowling<br />
Die „Harry Potter“-<br />
Autorin zog sich mit<br />
Äußerungen in der<br />
Genderdebatte den<br />
Zorn einer woken<br />
Szene zu<br />
Julian Nida-Rümelin, 68<br />
Der ehemalige SPD-Kulturstaatsminister war bis 2020<br />
Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und<br />
politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München und ist seit 2020 stellvertretender<br />
Vorsitzender des Deutschen Ethikrats<br />
Qui est<br />
wb. Quis earum faccabo.<br />
Et et hil eossinia<br />
volupti omnimporerro<br />
tem illaborrore earum<br />
doluptae ium nestium<br />
et<br />
Ein großer Teil der politischen Kommunikation<br />
und der Meinungsbildung hat sich auf digitale<br />
Plattformen, insbesondere die Social Media, verlagert.<br />
Daher haben manche Aktivistinnen und<br />
Aktivisten das Ziel, bestimmte Meinungen von<br />
diesen Plattformen fernzuhalten, also Deplatforming<br />
zu betreiben.<br />
Kritiker sehen die Praxis des Deplatforming<br />
als eine besonders wirksame Form von <strong>Cancel</strong><br />
<strong>Culture</strong> an. Da es, jedenfalls in demokratischen<br />
Staaten, keine Zensur gibt, muss sie sich anderer Methoden<br />
bedienen. Eine besonders wirksame besteht darin, die Vertreterin<br />
einer unerwünschten Meinung zu diffamieren, ihr etwa<br />
Motive zu unterstellen, die sie gar nicht hat, oder sie mit einer<br />
sogenannten Kontaktschuld zu belegen. Gemeint ist, dass es in<br />
weiten Kreisen derjenigen, die sich selbst als politisch korrekt<br />
bezeichnen, als unzulässig gilt, überhaupt in Kontakt zum Beispiel<br />
mit rechtspopulistischen Politikern, Aktivisten oder Medien<br />
zu treten. Allein schon die Teilnahme an einer Podiumsdiskussion,<br />
auf der auch eine rechtspopulistische Position vertreten<br />
wurde, kann zu diesem Vorwurf der falschen Kontakte führen<br />
und damit vermeintlich den Ausschluss aus Kommunikationsräumen<br />
und von Plattformen rechtfertigen.<br />
77
KULTUR<br />
Der Ausschluss erfolgt also meist weder rechtlich noch technisch,<br />
sondern in der Regel durch Diskreditierung. Silvio Berlusconi,<br />
der langjährige italienische Ministerpräsident, hatte diese<br />
Diskreditierungspraxis noch vor den Zeiten der Social Media<br />
mit der Etikettierung „Kommunist“, „alles Kommunisten“, „rote<br />
Roben“ vorgenommen. Und das in einer Zeit, in der sich die Kommunistische<br />
Partei Italiens längst aufgelöst hatte. Allerdings war<br />
es Berlusconi damit nicht gelungen, seine Kritiker mundtot zu<br />
machen, sie so weit zu diskreditieren, dass sie im öffentlichen<br />
Diskurs keine Rolle mehr spielten, aber immerhin hatte er damit<br />
trotz aller rechtlicher Verfehlungen und dubioser Verbindungen,<br />
auch zur Mafia, mehrfach die Wahlen gewonnen. Die Diskreditierung,<br />
die auch von seinen Gegnern praktiziert wurde, führte<br />
nicht zu einem Ausschluss aus dem öffentlichen Diskursraum.<br />
W<br />
enn man etwas weiter in der Geschichte der politischen<br />
Öffentlichkeit zurückgeht, in Deutschland<br />
etwa in die Weimarer Republik oder auch<br />
ins Kaiserreich, dann werden die Unterschiede<br />
noch deutlicher. Die Medienlandschaft war nach<br />
politischen und weltanschaulichen Standpunkten<br />
hochgradig polarisiert. Man könnte, um einen Ausdruck<br />
avant la lettre zu verwenden, von einer massiven Blasenbildung<br />
sprechen. Das katholische Zentrum hatte seine eigenen Medien,<br />
die rechtsliberale Presse ebenso wie die sozialdemokratische, und<br />
es ist anzunehmen, dass ein Großteil der jeweiligen Anhänger<br />
nur diese Presseorgane überhaupt zur Kenntnis nahm. Diese<br />
Form der Polarisierung wirkte bis weit in die Nachkriegszeit fort.<br />
Bestimmte Magazine, bestimmte Zeitungen, bestimmte Sendungen<br />
konnten politisch-weltanschaulich eindeutig verortet werden.<br />
Sie blendeten widersprechende Informationen aus, gaben<br />
tendenziöse Darstellungen, waren sich auch für Kampagnenjournalismus<br />
nicht zu schade.<br />
Zugleich aber wirkte diese Polarisierung einem Diskursausschluss<br />
entgegen. Dissidente Stimmen des einen Lagers wurden<br />
dann gelegentlich zu Kronzeugen des anderen, jedenfalls<br />
sorgten sie für ein breites Meinungsspektrum. Ein interessantes<br />
Phänomen ist die Wirkung der sogenannten Studentenrebellion<br />
in den späten 1960er und 1970er Jahren. Sie verschob das Meinungsspektrum;<br />
vormals bürgerliche Zeitungen unterstützten die<br />
zum Teil radikalen Positionen, konservative und liberale Stimmen<br />
gerieten unter einen öffentlichen Meinungsdruck, dem sie<br />
aber erstaunlich gut standhielten, um dann ab Mitte der 1970er<br />
Jahre wieder dominant zu werden. Was sich dann am Ende auch<br />
politisch niederschlug und den frisch gewählten konservativen<br />
Kanzler Helmut Kohl zur Ausrufung einer geistig-moralischen<br />
Wende veranlasste, die allerdings dann in den 1980er Jahren eher<br />
zur Lachnummer wurde, wohl auch deswegen, weil diese schon<br />
längst stattgefunden hatte und die 1980er Jahre von einer neuen<br />
Pluralisierung der politischen und weltanschaulichen Positionen<br />
und einer zunehmenden Leichtigkeit des Seins geprägt waren<br />
– am Ende belohnt durch die Auflösung des bedrückenden Ost-<br />
West-Gegensatzes und dem Ende des Kalten Krieges.<br />
Gegenwärtig befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass<br />
bestimmte Diskursformate von einer Dominanz von Positionen,<br />
die üblicherweise, wenn auch fälschlich, als linksliberal bezeichnet<br />
werden (in den USA als liberal oder very liberal), die aber tatsächlich<br />
eher links-kommunitaristisch geprägt sind, während in<br />
der Bevölkerung oft konservative bis reaktionäre Auffassungen<br />
weitverbreitet sind, wie die Erfolge rechtspopulistischer Bewegungen<br />
und Parteien, auch Regierungen, belegen. Von daher hat die<br />
Praxis der <strong>Cancel</strong> <strong>Culture</strong> auch einen defensiven Charakter.<br />
Auch wenn das manchen Aktivistinnen und Aktivisten nicht<br />
bewusst sein mag: Sie nutzen die möglicherweise<br />
zu Ende gehende Phase der Dominanz<br />
bestimmter Diskursformate in der Hoffnung,<br />
dadurch eine kulturhegemoniale Rolle bewahren<br />
zu können. Dies allerdings scheint<br />
mir auf einer mit der 68er-Bewegung vergleichbaren<br />
Selbstüberschätzung zu beruhen.<br />
Zu keiner Zeit waren die radikalen Stimmen aus<br />
der damaligen Bewegung mehrheitsfähig; sie wurden<br />
Wir sollten<br />
Unternehmen<br />
nicht die Entscheidung<br />
darüber überlassen,<br />
welche<br />
Meinung wünschenswert<br />
ist<br />
Peter Handke<br />
Kritiker seiner<br />
pro-serbischen Haltung<br />
während der Jugoslawienkriege<br />
protestierten<br />
gegen die Nobelpreis-<br />
Verleihung<br />
auch in der eigenen Generation nur von einer Minderheit geteilt,<br />
und doch entfalteten sie eine kulturelle Prägekraft, die erst in<br />
den letzten Jahren deutlich nachließ.<br />
Ein ähnliches Phänomen ist aktuell in den USA zu beobachten:<br />
Während in liberalen Medien, auch in der Demokratischen<br />
Partei, radikale Woke-Positionen an Einfluss gewonnen haben,<br />
lassen sich damit offensichtlich keine Wahlen gewinnen. Erst<br />
Joe Biden, ein „middle of the road“-Politiker proletarischer Herkunft<br />
und jeder intellektuellen Radikalität unverdächtig, konnte<br />
Donald Trump, wenn auch nur knapp, bei der Präsidentschaftswahl<br />
2020 besiegen. Dass ein Rüpel mit frauenfeindlichen und<br />
rassistischen Sprüchen und diffamierenden Attacken gegenüber<br />
allen Andersmeinenden mehr als die Hälfte der weißen Wählerinnen<br />
in den USA für sich gewinnen konnte – trotz anhaltender<br />
Vorwürfe mangelnder Integrität, unseriösem Geschäftsgebaren,<br />
Seitensprüngen etc. –, ist ein Indiz dafür, dass die mehr oder weniger<br />
woken Positionen, die die vielen Diskursformate und einen<br />
Großteil der Agenda der Demokratischen Partei prägen, in weiten<br />
Teilen der Bevölkerung nur eine geringe Resonanz haben.<br />
Dennoch können Minderheitenpositionen eine beeindruckende<br />
Medienmacht entfalten, zumal<br />
unter den Bedingungen digitaler<br />
Kommunikation. Es scheint<br />
fast so, als wären die alten Zeiten<br />
überfüllter griechischer oder<br />
römischer Marktplätze zurückgekehrt.<br />
Auch damals gehörten Diffamierungen<br />
nicht nur von Meinungen,<br />
sondern von Personen,<br />
die diese Meinungen haben, zum<br />
Repertoire. Die vermutlich in<br />
der menschlichen Stammesgeschichte<br />
verankerte Tendenz,<br />
sich in Zeiten der Krisen und Konflikte<br />
gegen einen tatsächlichen<br />
oder nur vermeintlichen äußeren<br />
Feind zusammenzuschließen,<br />
äußert sich dann in mehr oder weniger orchestrierten Shitstorms,<br />
deren sich wiederholende Inhalte ermüden, deren Wirkung aber<br />
bis zum Suizid von Betroffenen gehen kann.<br />
Unternehmen, die auf Massenabsatz setzen, wie etwa die großen<br />
Filmproduktionen aus Hollywood, sehen sich genötigt, Schauspielerinnen<br />
und Schauspieler, die unter öffentlichen Meinungsdruck<br />
geraten sind, die – berechtigt oder nicht – Shitstorms über<br />
sich ergehen lassen mussten, aus schon abgedrehten Filmen heraus<br />
zu schneiden und für alle zukünftigen Produktionen auszuschließen.<br />
Gelegentlich ist schwer zu beurteilen, was das treibende<br />
Moment ist: die Stimmungslage in bestimmten Gefilden<br />
sozialer Medien oder das ökonomische Kalkül. Die Formatierung<br />
des Diskurses und die Verengung der Meinungsvielfalt, die es in<br />
den untergegangenen Medienwelten des 19. und 20. Jahrhunderts<br />
jeweils innerhalb der politischen und weltanschaulichen<br />
Cluster gegeben hat, transformiert sich zu einer Formatierung der<br />
Diskurse und einer Verengung des Meinungsspektrums durch<br />
78 <strong>FOCUS</strong> <strong>31</strong>/<strong>2023</strong>
Marie-Luise<br />
Vollbrecht<br />
Die Berliner Humboldt-<br />
Uni sagte einen<br />
Vortrag der Biologin<br />
zum Thema<br />
Geschlecht ab<br />
ESSAY<br />
Kevin Spacey<br />
Wegen des Verdachts,<br />
Männer missbraucht<br />
zu haben, wurde<br />
der Schauspieler<br />
aus Filmen<br />
entfernt<br />
Fo t o s : API, Röhnert, dpa (2), The Mega Agency<br />
Winnetou<br />
Weil die Geschichten<br />
Karl Mays „Gefühle<br />
anderer verletzen“ könnten,<br />
nahm der Verlag<br />
Ravensburger sie aus<br />
dem Programm<br />
eine dominante, in der Bevölkerung nicht<br />
einmal mehrheitsfähige Praxis des Deplatformings.<br />
Aber sind wir nicht froh, wenn ein Teil des<br />
Meinungsspektrums unterdrückt wird? Müssen<br />
wir uns tatsächlich immer wieder aufs Neue mit Verdrehungen,<br />
offensichtlichen Falschbehauptungen, verfassungswidrigen<br />
Vorhaben, mit Europafeindlichkeit, mit Demokratieverachtung<br />
und Schlimmerem, wie Rassismus,<br />
Islamophobie, Antisemitismus und generell der Verächtlichmachung<br />
von Minderheiten, auseinandersetzen?<br />
Und geschieht es nicht denjenigen recht, die ihre<br />
Macht für Vorteilsannahmen, Machtmissbrauch und<br />
Übergriffigkeit genutzt haben, dass sie aus dem Diskursraum<br />
und unter Umständen auch vom Arbeitsmarkt<br />
verschwinden? Meine Antwort hat zwei Teile:<br />
1. Rechtswidrige Aktivitäten, zum Beispiel Beleidigungen,<br />
Aufstachelung zum Völkerhass, Leugnung des<br />
Holocausts, Anstiftung zu Straftaten wie Terrorakten,<br />
müssen, auch wenn sie in den digitalen Kommunikationsräumen<br />
stattfinden, verfolgt und geahndet werden.<br />
2. Alles andere müssen wir aushalten, beziehungsweise<br />
allem anderen müssen wir diskursiv und nicht<br />
Lasst sie reden!<br />
Nida-Rümelins<br />
Denkschrift erscheint<br />
im Piper<br />
Verlag (24 Euro)<br />
Axel Springer<br />
Der Verleger war<br />
ein Feindbild der<br />
Studentenbewegung,<br />
die vehement seine<br />
„Enteignung“<br />
forderte<br />
durch Deplatforming oder andere Praktiken der <strong>Cancel</strong> <strong>Culture</strong><br />
begegnen. Wir bleiben dann im Raum der Gründe, wir bringen<br />
Gegengründe vor und setzen uns mit vorgebrachten Gründen<br />
auseinander, solange minimale Standards der Rationalität eingehalten<br />
werden.<br />
Insbesondere überlassen wir großen Privatunternehmen, die<br />
die Infrastruktur digitaler Kommunikation prägen,<br />
nicht die Entscheidungen darüber, welche Meinungsäußerungen<br />
sie wünschenswert finden und welche sie<br />
unterdrücken. Die community rules von Facebook oder<br />
Twitter dürfen den Diskursraum nicht formatieren, so<br />
verständlich es ist, dass die staatlichen Instanzen angesichts<br />
ihrer Überforderung durch die Flut von kommunikativen<br />
Akten in den Social Media kapitulieren und<br />
versuchen, die Verantwortung möglichst weitgehend<br />
an die Anbieter zu delegieren. Es handelt sich dabei<br />
jedoch um eine Form der Privatisierung des öffentlichen<br />
Raumes und in letzter Instanz des Einverständnisses<br />
mit der Praxis des Deplatformings, die – unter<br />
welchen politischen und weltanschaulichen Vorzeichen<br />
auch immer – mit dem Projekt der Aufklärung,<br />
mit Demokratie und freier Meinungsäußerung nicht<br />
vereinbar ist. 7<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>31</strong>/<strong>2023</strong><br />
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