FOCUS_31_2023_Merz
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AUSGABE <strong>31</strong> 29. Juli <strong>2023</strong> € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2023</strong> COVER /// INFOGRAPHIC<br />
Ist <strong>Merz</strong><br />
glaubwürdig?<br />
Der schwierige<br />
Umgang der Union<br />
mit der Af D<br />
Greift<br />
China an?<br />
Reise nach Taiwan,<br />
einem Hotspot<br />
der Weltpolitik<br />
Darf ich noch<br />
alles sagen?<br />
Ein Plädoyer gegen die<br />
Cancel Culture und für das<br />
eigenständige Denken<br />
VOM GLÜCK<br />
DES GEHENS<br />
Wie wir uns so bewegen,<br />
dass wir gesünder, klüger und besser leben
POLITIK<br />
Carsten Linnemann steht unter<br />
Strom. Schlagzeilen, Parteifeste,<br />
Wahlkampftortur. Volles<br />
Programm. Für all das hat<br />
Parteichef Friedrich <strong>Merz</strong><br />
seinen Duz-Freund ja in die<br />
Zentrale beordert. Wenn da<br />
nur nicht der Nebenjob wäre, den er seit<br />
dieser Woche erledigen muss: Carsten,<br />
der Tatortreiniger.<br />
Montag, Schloss Biebrich in Wiesbaden.<br />
Es ist Tag eins nach dem Auftritt des<br />
Parteichefs im ZDF-Sommerinterview, in<br />
dem er kommunale Kooperationen mit der<br />
AfD nicht ausschloss. Tag zwei<br />
der Empörungslawine. Und Tag<br />
fünf nach <strong>Merz</strong>’ Besuch bei der<br />
CSU-Klausur in Andechs, wo er<br />
die eigene Partei als „Alternative<br />
für Deutschland mit Substanz“<br />
bezeichnete.<br />
Kaum einen in der Partei lassen<br />
diese wankelmütigen Statements<br />
kalt. Wie auch, wenn es<br />
ums Grundsätzliche geht?<br />
In Wiesbaden hüpft Linnemann<br />
auf die Bühne, greift zum<br />
Mikrofon. Und sagt: „Seit heute<br />
weiß ich, was es bedeutet,<br />
Generalsekretär zu sein.“ Ein<br />
Lacher. Aber einer, der manchem<br />
im Hals stecken bleibt.<br />
Noch in der Nacht auf Montag,<br />
um 0.01 Uhr, setzte die<br />
Partei einen Tweet ab. „Keine<br />
Zusammenarbeit mit der AfD,<br />
egal auf welcher Ebene“, ließ<br />
Linnemann verlauten. Es gehört<br />
zur Paradoxie der Debatte, dass<br />
daran kaum einer zweifelt.<br />
Zu laut waren die Beteuerungen<br />
aus der Partei, zu deutlich<br />
ist auch der Vorsitzende<br />
zurückgerudert.<br />
Die eigentliche Debatte<br />
aber konnte nicht einmal diese<br />
getwitterte Selbstvergewisserung<br />
ersticken. Im Zentrum<br />
steht: der Parteichef selbst. Und<br />
die Frage: Wie lange geht das noch gut?<br />
Also mit ihm, dem <strong>Merz</strong>, der sogar aus<br />
einem harmlosen Sommerinterview ein<br />
Pulverfass macht.<br />
Dabei waren die Rollen in Berlin doch<br />
so klar verteilt: Egal ob sich <strong>Merz</strong> vor laufenden<br />
Kameras über „kleine Paschas“<br />
echauffierte oder ukrainischen „Sozialtourismus“<br />
beklagte – an der Basis musste<br />
er keinen Schaden fürchten. Der ein<br />
oder andere moserte vielleicht hinter vorgehaltener<br />
Hand, rüffelte die <strong>Merz</strong>’sche<br />
Hemdsärmeligkeit. Öffentlich aber hielten<br />
fast alle die Füße still.<br />
Kein Herz<br />
für <strong>Merz</strong>?<br />
Der Parteichef taumelt von<br />
Krise zu Krise. Die CDU<br />
streitet über seinen Satz zur<br />
AfD. War das der eine Fehler<br />
zu viel? Eine Analyse<br />
Was ist nur mit Friedrich los? Die strategischen Fehler der vergangenen<br />
Woche dürfte der Parteichef so schnell nicht vergessen<br />
Nur diesmal ist das anders, von der Spitze<br />
bis zur Basis. Und genau das macht die<br />
Debatte so gefährlich für den Chef.<br />
Kurzer Stimmungstest in Wiesbaden.<br />
Frage an einige CDU-Mitglieder, auf halbem<br />
Weg zwischen Theke und Grill: Wie<br />
schlimm ist es denn jetzt wirklich, das mit<br />
dem Friedrich? Kopfschütteln. Augenrollen.<br />
Widerworte. So etwas habe er noch nie<br />
erlebt, sagt ein Gast. „Und ich war schon<br />
Mitglied, als Helmut Kohl noch Parteivorsitzender<br />
war.“ Im Bekanntenkreis müsse<br />
sie sich anhören, wie schlimm der <strong>Merz</strong><br />
sei, sagt eine andere. Man merkt ihr an,<br />
wie unangenehm das sein kann, bei Kaffee<br />
und Kuchen den Parteivorsitzenden zu<br />
verteidigen. Einen Mittsechziger, den sie<br />
selbst nur aus dem Fernsehen kennt.<br />
Je länger man sich umhört, desto deutlicher<br />
wird: Die Fehltritte der vergangenen<br />
Tage haben die CDU erschüttert. Bis<br />
hinunter zur Basis der Partei, auf der <strong>Merz</strong><br />
eigentlich seine Macht gründet.<br />
Der <strong>FOCUS</strong> hat das <strong>Merz</strong>-Phänomen<br />
diese Woche demoskopisch vermessen lassen.<br />
Wie glaubwürdig ist der Parteichef<br />
noch? Wie gut kommt er an – im eigenen<br />
Lager und darüber hinaus?<br />
Selbst unter Unionswählern<br />
halten nur noch 43 Prozent<br />
<strong>Merz</strong> für den richtigen CDU-<br />
Vorsitzenden. In der Gesamtbevölkerung<br />
sind es sogar nur<br />
23 Prozent. 55 Prozent der Deutschen<br />
halten ihn für unglaubwürdig.<br />
Und lediglich die Hälfte<br />
der Anhänger verteidigt ihn<br />
gegen diesen Vorwurf.<br />
Gefährliche Umfragewerte<br />
„Das Kapital jeder politischen<br />
Partei ist ihre Glaubwürdigkeit“,<br />
sagt die Politikwissenschaftlerin<br />
Ursula Münch.<br />
„Wenn man hinter jedes fünfte<br />
Interview des Vorsitzenden<br />
erst mal einen Erklärungstext<br />
klemmen muss, kommt das bei<br />
Wählern eben schlecht an.“<br />
Dass der Sauerländer nach<br />
Umfragen als extrem unbeliebt<br />
gilt, sei „ein Trend, der schon<br />
länger zu erkennen ist“, so<br />
Münch, die in Tutzing die Akademie<br />
für Politische Bildung<br />
leitet. „Bei Frauen kommt Friedrich<br />
<strong>Merz</strong> etwa bei Weitem<br />
nicht so gut an wie Angela Merkel.“<br />
Auch bei der Mobilisierung<br />
junger Wähler sieht sie<br />
den Nachfolger der Kanzlerin<br />
im Hintertreffen.<br />
Laut Münch sei es immer<br />
die „Kunst der Union“ gewesen, „konservative<br />
und christlich geprägte, soziale<br />
und wirtschaftsliberale Wähler“ zu binden.<br />
„Der deutlich konservativere Kurs<br />
von Friedrich <strong>Merz</strong> könnte diese Stärke<br />
gefährden.“<br />
Natürlich sind Umfragen nur Momentaufnahmen.<br />
Schlechte Beliebtheitswerte<br />
versperren einem noch lange nicht den<br />
Weg ins Kanzleramt. Doch Umfragen<br />
geben Stimmungen wieder – aus der<br />
Bevölkerung, der Partei, der Fraktion.<br />
Und die können einem Parteivorsitzenden<br />
selbst im Sommerloch gefährlich werden.<br />
Foto: Peter Rigaud/laif<br />
40 <strong>FOCUS</strong> <strong>31</strong>/<strong>2023</strong>
UNION<br />
So hat das <strong>Merz</strong>-Interview auch den<br />
Graben, der durch die Bundestagsfraktion<br />
geht, vertieft. Auf der einen Seite stehen<br />
die Unterstützer des Vorsitzenden,<br />
die ihren Chef als Opfer einer linken<br />
Kampagne wähnen. Auf der anderen die<br />
Skeptiker, die <strong>Merz</strong> vorwerfen, aus Trotz<br />
und Uneinsichtigkeit schweren Schaden<br />
angerichtet zu haben. „Wie kann es sein,<br />
dass er als Partei- und Fraktionschef in<br />
ein Interview geht, genau weiß, dass die<br />
Brandmauer thematisiert wird, und sich<br />
vorher nicht genau überlegt hat, was seine<br />
zentralen Botschaften sind?“, fragt ein<br />
Fraktionsmitglied. Längst zweifeln Teile<br />
der Partei am Beraterkreis des Vorsitzenden.<br />
Gibt es niemanden, der ihn vor Fallstricken<br />
bewahrt? Oder ist er, die sauerländische<br />
Urgewalt, schlicht zu impulsiv?<br />
<strong>Merz</strong> ohne Chance gegen Söder<br />
Besonders gefährlich ist für <strong>Merz</strong>, dass<br />
selbst einige seiner Unterstützer zweifeln,<br />
ob er das Zeug zum Kanzlerkandidaten<br />
hat. Auch diese Kandidatenpräferenz hat<br />
<strong>FOCUS</strong> abgefragt. Demnach wünschen<br />
sich die Deutschen mehrheitlich Markus<br />
Söder als Kandidaten der Union, gefolgt<br />
von Hendrik Wüst. Erst an dritter Stelle<br />
steht <strong>Merz</strong>. Noch deutlicher liegt der bayerische<br />
Ministerpräsident im konservativen<br />
Wählermilieu vorn.<br />
Kritiker des Parteivorsitzenden zitieren<br />
solche Zahlen besonders gern. Einen<br />
Königsmord aber scheint sich trotzdem<br />
niemand zuzutrauen. Nicht einmal Markus<br />
Söder. Jedenfalls nicht bis zum 8. Oktober,<br />
wenn Bayern einen neuen Landtag wählt.<br />
Ohnehin bleibe es fraglich, ob mit<br />
einem anderen Parteichef alles besser<br />
würde, meint Ursula Münch. „Im Grunde<br />
besteht die Union noch immer aus einem<br />
Merkel- und einem Anti-Merkel-Flügel“,<br />
so die Politologin. „Ein Vertreter des Merkel-freundlichen<br />
Lagers muss den Spagat<br />
zwischen den Flügeln nicht zwangsläufig<br />
besser hinbekommen als Friedrich <strong>Merz</strong>.“<br />
Was also bleibt vom Aufreger der Woche<br />
übrig? Vorerst wohl nur die miserable<br />
Beliebtheit. Und das Bild einer schwer verunsicherten<br />
Partei. Im Spätsommer 2024<br />
aber, so ist es zwischen <strong>Merz</strong> und Söder<br />
vereinbart, will die Union ihren Kanzlerkandidaten<br />
bestimmen. Spätestens dann<br />
dürfte jeder Fehler zur Sprache kommen,<br />
den <strong>Merz</strong>’ Kontrahenten derzeit noch<br />
stillschweigend auf Wiedervorlage legen.<br />
Inklusive Sommerinterview.<br />
Für <strong>Merz</strong> und sein Team, Linnemann<br />
und alle anderen <strong>Merz</strong>ianer dürfte es ein<br />
heißes Jahr werden. 7<br />
FELIX HECK ⁄ JAN−PHILIPP HEIN<br />
Quelle: Insa<br />
Friedrich <strong>Merz</strong> im Umfrage-Check<br />
Wie zufrieden sind die Deutschen mit dem CDU-Chef? Halten sie ihn für glaubwürdig?<br />
Wäre er ein guter Kanzlerkandidat? Die repräsentativen Antworten<br />
12 %<br />
Friedrich<br />
<strong>Merz</strong><br />
gesamt<br />
CDU/CSU-Anhänger<br />
„Wie glaubwürdig oder unglaubwürdig ist Friedrich <strong>Merz</strong> Ihrer Meinung nach?“<br />
eher glaubwürdig eher unglaubwürdig eher glaubwürdig eher unglaubwürdig<br />
24 %<br />
21 %<br />
weiß<br />
nicht/k. A.<br />
weiß<br />
nicht/k. A.<br />
„Ist Friedrich <strong>Merz</strong> Ihrer Meinung nach der richtige Vorsitzende für die CDU?“<br />
23 %<br />
27 %<br />
16 %<br />
Hendrik<br />
Wüst<br />
55 %<br />
50 % 43 %<br />
30 %<br />
Markus<br />
Söder<br />
28 %<br />
keiner<br />
davon<br />
23 %<br />
Friedrich<br />
<strong>Merz</strong><br />
48 % 32 %<br />
15 %<br />
Hendrik<br />
Wüst<br />
20 % weiß<br />
nicht/k. A.<br />
(eher) ja (eher) nein (eher) ja (eher) nein<br />
35 %<br />
22 %<br />
„Finden Sie es richtig oder falsch, dass die CDU/CSU eine Zusammenarbeit<br />
mit der AfD auf allen politischen Ebenen ausschließt?“<br />
57 %<br />
33 % 68 %<br />
10 %<br />
weiß<br />
nicht/k. A.<br />
Abweichungen zu 100 %<br />
sind rundungsbedingt<br />
24 %<br />
„Wer ist Ihrer Meinung nach der beste Kanzlerkandidat für die CDU/CSU?“<br />
42 %<br />
weiß<br />
nicht/k. A.<br />
richtig falsch richtig falsch<br />
8 %<br />
weiß<br />
nicht/k. A.<br />
11 %<br />
Markus keiner<br />
Söder davon<br />
Rest zu 100 %: weiß nicht/k. A.<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>31</strong>/<strong>2023</strong><br />
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