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Leseprobe_Bletschacher_Studien zu Philosophie

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Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>Philosophie</strong><br />

und<br />

Geschichte


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

3


Richard <strong>Bletschacher</strong>: <strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

Hollitzer Verlag, Wien, 2023<br />

Coverbild: Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Selbstporträt auf S. 234: Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Covergestaltung und Satz: Nikola Stevanović<br />

Hergestellt in der EU<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© Hollitzer Verlag, 2023<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99094-115-7


INHALT<br />

Vorwort 7<br />

Die Sprüche des Thales und der Satz des Anaximandros 15<br />

Johannes der Evangelist 39<br />

Was uns das Mittelalter <strong>zu</strong> sagen hat 75<br />

Voltaire 107<br />

Jean Paul Sartre und das Theater des Existentialismus 115<br />

Von der Schönheit 153<br />

Vom Haben und Entbehren und vom Geben und Nehmen 159<br />

Vom Sammeln und Bewahren 183<br />

Vom Träumen 189<br />

Werte, die uns leiten 201<br />

Die ewigen Fragen und die neuesten Nachrichten 209<br />

Schlussbemerkung 233<br />

5


Vorwort<br />

VORWORT<br />

Die hier vorliegenden elf <strong>Studien</strong>, die meisten während der<br />

letzten zwanzig Jahre entstanden, erscheinen mir heute als<br />

Bruchstücke von unterschiedlichem Ausmaß und Gewicht aus<br />

einem größeren Steinbruch. Ein Teilstück, um das ich nicht<br />

ablassen wollte <strong>zu</strong> graben, hat sich, als es endlich <strong>zu</strong> Tage kam,<br />

als so um fang reich erwiesen, dass ich es unter dem Titel Versuch<br />

einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung als eigenen Band im<br />

Hollitzer Verlag publiziert habe. Gewarnt durch das Ausmaß<br />

dieser Unternehmung und weit entfernt von der Absicht, mit<br />

den hier ohne logischen Zwang versammelten Texten ein<br />

<strong>zu</strong>sammenhängendes Denk gebäude <strong>zu</strong> errichten, habe ich alle<br />

weiteren Grabungsgänge auf enge Be reiche beschränkt.<br />

Hätte ich es auf gänzliche Genauigkeit abgesehen, so hätte ich<br />

neben der <strong>Philosophie</strong> und der Geschichte auch die Geschichte<br />

der <strong>Philosophie</strong> im Titel erwäh nen müssen, denn nichts anderes<br />

sind die Betrachtungen der historischen grie chischen und der<br />

neuzeitlichen französischen Denker. Wohin ins Maßlose aber<br />

wäre ich im Gefolge eines berühmten Vordenkers geraten,<br />

wenn ich auch noch die Phi losophie der Geschichte hätte in<br />

Betracht ziehen wollen?<br />

<strong>Philosophie</strong> und Geschichte sind ineinander verschlungen<br />

wie aus einem Schoß geborene Zwillinge. Auch wenn man dem<br />

französischen Existentialisten Merleau-Ponti nicht <strong>zu</strong>stimmen<br />

mag, dass die beiden ein und dasselbe seien, so muss man doch<br />

erkennen, dass sie im merfort auf einander an gewiesen herangewachsen<br />

sind. Bei de wurden <strong>zu</strong> fortschreitenden Versuchen einer<br />

Weltdeutung. Dabei nährt und bedingt das eine das andere,<br />

denn alles Sein lässt sich nur begreifen als ein Gewordenes. Was<br />

gedacht wird lenkt das Geschehen und was ge schehen ist wirkt<br />

auf die Gedanken. Das ge schichtliche Forschen und Entdecken<br />

bewahrt die <strong>Philosophie</strong> davor, sich in abstrakten Theo rien <strong>zu</strong><br />

ver irren. Das eine gräbt sich in die organische Rinde der Erde<br />

und hindert durch das Wachhalten des Gedächtnisses das an-<br />

7


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

dere, sich in Wolken und Nebel <strong>zu</strong> verlieren. So weit sich das<br />

Gebiet abstrakten Denkens <strong>zu</strong> dehnen scheint, so eng erweist<br />

sich, wenn die Geschichte den Spaten ansetzt, das Feld des mit<br />

Händen <strong>zu</strong> Greifenden. Es stehen den dem Gedächtnis und der<br />

Berechnung <strong>zu</strong>gänglichen Gebieten, den schmalen Berei chen<br />

also des Erkennbaren, unermessliche Räume des Unerforschlichen<br />

gegen über. Ohne die Gewissheit des eigenen Standpunk<br />

tes lässt sich auch an dessen Rändern nicht forschen, es sei<br />

denn, wir stünden außerhalb unserer Erde. Was immer über die<br />

Ver gan genheit gesagt wird erweist sich als von einem Temperament<br />

beleuch tet. Absolute Objektivität eines Betrachters ist<br />

eine Illusion. Eine Wertung fließt immer mit ein. Dies gilt für<br />

beide Disziplinen. Und, um ein Beispiel <strong>zu</strong> nennen, ist für<br />

Thomas von Aquin, die Autorität des Mittelalters, die <strong>Philosophie</strong><br />

die Magd der Theologie. Da sie keinen Zweifel <strong>zu</strong>lässt<br />

an der geoffenbarten Wahrheit, ist für ihn alles, was geschieht,<br />

auf ei ne Heilserwartung gerichtet, auch wenn die Wissenschaft<br />

von dem auf solche Wei se Behaupteten nichts <strong>zu</strong> beweisen vermag.<br />

Aquins <strong>Studien</strong> werden getragen von dem Mitgefühl des<br />

Autors für die Lei den unserer Vorfahren, deren Le bensdauer<br />

weniger betrug als die Hälfte der unseren, und, in gleichem<br />

Maße, von seiner Bewunderung für deren Entwurf und Erschaffung<br />

eines neuen geis tigen Kontinents und Kulturraums.<br />

Wenn auf den nachfolgenden Seiten nun also von <strong>Philosophie</strong><br />

und Geschichte gehandelt werden soll, so soll dabei<br />

nicht übersehen werden, dass die beiden geschwisterlichen<br />

Disziplinen des menschlichen Geistes ihre Eltern haben in den<br />

Religionen und Mythologien der Völker. Die aber, aus unvordenklichen<br />

Zeiten kommend, sind durch so etwas wie „<strong>Studien</strong>“,<br />

die gleichsam mit dem Brennglas und der Pinzette sich der<br />

Betrachtung einzelner Bemühungen des menschlichen Geistes<br />

<strong>zu</strong>wenden, nicht <strong>zu</strong> erfassen. Religion und Mythologie hat<br />

man in unseren Tagen, die sich von den Naturwissenschaften<br />

noch immer alle Antworten erhoffen, in ein Abseits geschoben,<br />

aus welchem sie, wenn wir an unserem Wissen und Können<br />

<strong>zu</strong> scheitern fürchten, gerufen und herbeigeholt werden.<br />

8


Vorwort<br />

Doch sollen sie für die Dauer dieser <strong>Studien</strong> außer Betracht<br />

bleiben, auch wenn vielen unter uns bewusst ist, dass dies auf<br />

ewige Dauer nicht so sein kann. Wir haben es als Kinder unserer<br />

Zeit hier jedoch unternommen, vorerst nur von Dingen<br />

<strong>zu</strong> handeln, die durch unsere Wahrnehmung, unsere Sprache<br />

und die logische Folgerung unserer Schlüsse <strong>zu</strong> erfassen und<br />

<strong>zu</strong> beschreiben sind.<br />

Um ein und dieselbe Zeit, im siebten Jahrhundert vor unserer<br />

Zeitrechnung, sind sowohl die <strong>Philosophie</strong> als auch die<br />

Geschichtsschreibung in Ionien entstanden, in einer Landschaft<br />

am asiatischen Ufer des ägäischen Meeres, umgeben<br />

von blühenden Inseln, die als die eigentliche Geburtsstätte des<br />

griechischen Geistes gelten kann. Auf einer dieser Inseln oder<br />

Küstenstädte wird auch mit guten Grün den, wenn nicht die<br />

Ge burtsstätte, so doch die Lebens- und Sterbensstätte Homers<br />

und also der Ent ste hungsort seiner Epen Ilias und Odyssee angenommen.<br />

In diesen bis <strong>zu</strong>m heutigen Tag lebendig gebliebenen<br />

Büchern waren, nach der Wieder gewinnung der lange<br />

verloren gegangenen Schrift, und etwa in gleicher Zeit mit<br />

den Werken des boötischen Landmannes Hesiod, die Göttersagen<br />

und He roen mythen aus Jahrhunderte alter mündlicher<br />

Tradition in die griechische Sprache gefasst worden.<br />

Das „Erkenne dich selbst“ ist, als gnoti sauton in griechischen<br />

Lettern eingeschrieben auf der Front des delphischen Tempels,<br />

<strong>zu</strong>m Wahr- und Mahnspruch dieser beiden Dis ziplinen geworden.<br />

Denn die <strong>Philosophie</strong> sucht das Wesen allen Seins <strong>zu</strong><br />

er kennen und auch die Ge schichte will durch die Erforschung<br />

des Geschehenen den Weg zeigen, <strong>zu</strong>r Erkenntnis dessen, was<br />

weiterhin mit uns sein wird. Sie ist der vom Ver stand geleitete<br />

Ver such einer Schau und Erfassung all des bisher dem Menschen<br />

in seinem Dasein Wider fahrenen.<br />

Da aber alles Sein ein Werden und Vergehen ist, wie Heraklit<br />

uns lehrte, wird man auch an diesem Ort keine systemischen<br />

Behauptungen vom Wesen der Dinge finden. Wer nach dem<br />

Woher, dem Warum und dem Wohin fragt, mag sich Antworten<br />

bei den Propheten suchen. Ob aus dem Hinblick auf alles<br />

9


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

Geschehen und dem Rückblick auf die über lieferten Ereignisse<br />

ein Sinn, der in eine erwartbare Zukunft weist, <strong>zu</strong> erkennen<br />

und was aus einem solchen <strong>zu</strong> lernen sei, darüber haben<br />

sich Philosophen und Historiker oftmals gestritten. Ein Sinn<br />

kann ohne erkenn bares oder doch <strong>zu</strong> mindest erahnbares Ziel<br />

nicht gegeben sein. Er muss von dem, der ihn nicht ent behren<br />

will, geschaffen werden. Nach den Erfahrungen der jüngsten<br />

Jahrhunderte und Jahrzehnte aber kann auch der vom Prinzip<br />

der Hoff nung Ge leitete nicht mehr darauf ver trauen, dass sich<br />

die Erkenntnisse von <strong>Philosophie</strong> und Ge schichte in eine dem<br />

gan zen Erdenrund gedeihliche Zukunft fortschreiben las sen.<br />

Der bis ins Unüber schaubare an ge häufte Schatz des Wissens<br />

hat uns wohl reicher gemacht, aber auch miss trauischer. Die<br />

aufgeklärte Vernunft und das Vertrauen auf ein kau sa les Denken<br />

hat entgegen aller Erwartungen kein tragendes Gebälk<br />

geschaffen im europäischen Haus. Mit dem Hammer wurden<br />

die Denksysteme zertrümmert und gestürzt. Die Geschichtsbücher<br />

wurden verworfen und umgeschrieben so oft die Verhältnisse<br />

der Macht sich verän derten. Die nach schrecklichen<br />

Erfahrungen geschmiedeten Völ ker- und Men schen rechte<br />

kamen immer wieder unter gepanzerte Rä der.<br />

Das Vertrauen haben wir verloren, nicht aber die Zuversicht.<br />

Denn schon sehen wir einander <strong>zu</strong>, wie wir uns aufs<br />

Neue niederbeugen, um die zerstreuten Steine <strong>zu</strong> sam meln<br />

und wiederum aneinander <strong>zu</strong> fügen. Da wir einmal <strong>zu</strong>r<br />

Mündigkeit erwacht nicht mehr bereit sein werden, uns der<br />

Willkür und Gewalt eines über uns waltenden Schicksals <strong>zu</strong><br />

fügen, wollen wir weiter bauen an einem gemeinsamen Haus.<br />

Und wollen, durch die Erfahrung belehrt, das, was wir wieder<br />

errichten, gegen die Schwan kungen des Bodens sichern durch<br />

bieg samere Gelenke. Dabei können wir ebenso viel Nützliches<br />

lernen von den überlieferten Erzählungen und Theorien als<br />

von den lebendig wachsenenden Strukturen rings um uns, die<br />

sich den Winden beu gen, ohne <strong>zu</strong> fallen. Vieles, was all<strong>zu</strong> starr<br />

aufragte und darum stürzen musste, lässt sich auch wei terhin<br />

und besser gebrauchen. Not tut es je doch, noch einmal ein paar<br />

10


Vorwort<br />

Schritte <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong> treten und <strong>zu</strong> sehen, ob die Fundamente<br />

gut aufgelegt wurden auf dem gewachsenen Felsen. Der selbst<br />

aber ist uns seither <strong>zu</strong> einem schwankenden Boden geworden.<br />

Darum sollen zwischen den immer aufs Neue aufgerichteten<br />

und immer wieder zerfallenden Gebäuden des menschlichen<br />

Geistes hiermit einige schmale Wege gesucht und Einblicke<br />

genommen werden in weit aus einander lie gende Epo chen,<br />

ohne ein dahinter liegendes hö heres Ziel an<strong>zu</strong> stre ben. Dann<br />

aber, in einem zweiten Teil, sollen auch einige der Fragestellungen<br />

aller und damit auch unserer eigenen Zeiten geprüft<br />

werden.<br />

Begonnen sei nun also mit dem Erwachen des kritisch forschenden<br />

Geistes unter den ersten Denkern der Antike. Es waren<br />

dies die ionischen Philosophen, Thales, Anaximandros und<br />

Anaximenes, die es unternommen haben, ringsum erwachende<br />

Fragen über das Entstehen und Vergehen der sie umgebenden<br />

und immer dringlicher erforschten Welt durch Messungen und<br />

erste Schlussfolgerungen <strong>zu</strong> beantworten. So wurden sie angeregt<br />

<strong>zu</strong> wissenschaftlichem Denken. Und diese ersten Hinwendungen<br />

ihrer Theorien <strong>zu</strong> den erfassbaren Tatsachen sollten<br />

ihren Nachfolgern noch bis in die Zeiten des Pythagoras und<br />

Aristoteles Bedeutsames <strong>zu</strong> denken geben.<br />

Auch die ersten Historiker wollten aus eigenem Anschauen<br />

und nicht nur aus von Mund <strong>zu</strong> Mund Überliefertem Rechenschaft<br />

geben. Hekataios aus Milet hat vermut lich als Erster in<br />

einem Versuch der Erdbeschreibung geographische Nach richten<br />

und Berichte der Seefahrer mit Erzählungen von Mythen,<br />

als entstammten sie einer gleichen Wirklichkeit, <strong>zu</strong>sammengefasst.<br />

Er hat dabei versucht, durch Deu tung alter Mythen ein<br />

plausibles Bild der Vergangenheit <strong>zu</strong> gewinnen, erstmals aber<br />

auch, an geleitet von sei nem Leh rer Anaximandros, mit kritischem<br />

Verstand Zweifel an alten Glau bensinhalten geäußert.<br />

Als Beispiel hierfür sei angeführt, dass er die Behauptung des<br />

My thos, Aigyptos habe 50 Söhne und Danaos 50 Töchter gehabt,<br />

nicht wahrhaben, sondern einem jeden höchstens 20 <strong>zu</strong>gestehen<br />

wollte. He rodot, um 484 ver mutlich in Halikarnassos<br />

11


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

an der Südwestküste Klein asiens geboren, und über 100 Jahre<br />

jünger, Herodot, den man auch heute noch als den Vater der<br />

Geschichts schreibung aner kennt, reiste weit umher, um als<br />

Naturforscher, Geograph und Eth nograph mit ei genen Augen<br />

Dinge <strong>zu</strong> sehen, von denen er bisher nur vom Hören sagen der<br />

Reisenden und Seefahrer hatte erfahren können. Auf seinen<br />

Reisen auch in weit entlegene Kolonien grie chischer Siedlung<br />

und darüber hinaus, öffneten sich ihm auch seine Ohren für die<br />

Berich te von der Entstehung, der Bewah rung und dem Zerfall<br />

der Herrschaftsbereiche rund um das Mittelmeer. So floss in<br />

seine Niederschriften nach und nach immer Be deut sameres ein<br />

über das Werden und Vergehen des Lebens der Men schen in<br />

fernen Ländern. Und nicht immer vermochte er, wie viele nach<br />

ihm, Selbst ge schautes und von an deren Vernommenes kritisch<br />

<strong>zu</strong> trennen.<br />

Was solcher Art aber gewonnen war, das wurde für Einblicke<br />

in das wirkliche Leben erachtet und nur selten kritisch in<br />

Zweifel gezogen. Es ging Herodot und seinen Nach folgern,<br />

unter denen Thukydides als der bedeutendste gelten mag, bei<br />

diesem Begin nen allein um die Beschreibung und Erinnerung<br />

des Geschehenden. Ob ein Sinn in all dem waltete und alles<br />

auf ein Ziel gelenkt sei, das blieb einem, der inmitten stand,<br />

als dem Rat schluss der Götter oder einer durch göttliche Eingebung<br />

erfahrenen Offen barung anheimgestellt. Von dieser<br />

aber weiß uns keiner so bildhaft und <strong>zu</strong>gleich er schreckend <strong>zu</strong><br />

berichten wie der Evangelist Johannes auf Patmos. Erst wer<br />

die letzte der hier nachfolgenden Betrachtungen gelesen hat,<br />

wird auch verstehen, warum ich in diesem Zusammenhang<br />

auf die Betrachtung der Offenbarung des Johannes nicht habe<br />

verzichten wollen. Erst Jahrhunderte später mehrten sich nun<br />

die Versuche, das von lang her Vernommene in das vor Augen<br />

Ge sche hende hinein<strong>zu</strong>tragen. Dabei aber trübt sich der Blick<br />

durch mancherlei Ab sich ten und es beginnen die Zweifel.<br />

Ebenso wie in den Köpfen der Philosophen wollte und will<br />

noch immer die Hoffnung auch in denen der Historiker nicht<br />

schwinden, dass die Erforschung des Weltgeschehens und des<br />

12


Vorwort<br />

menschlichen Handelns, sei es durch Erfahrung, sei es durch<br />

Überlieferung, ihnen einen Ausblick bescheren könnte in das<br />

Dunkel der künftigen Zeit. Einen Sinn und ein wenn auch<br />

sehr fernes Ziel allen Geschehens werden sie und wir mit ihnen<br />

auch dann nicht erkennen. Denn den Sinn muss der Mensch<br />

selbst hin eintragen in das, was er tut. Selbst muss er sich da<strong>zu</strong><br />

ermächtigen, da er die Götter vertrieben und allem blind vertrauenden<br />

Glauben aufge kündigt hat. Die Gefühle von Schuld<br />

und Reue schienen dem Menschen Beweise genug für seine<br />

innere Über zeugung, dass er bei seinen Taten freie Wahl gehabt<br />

und anders hätte entscheiden können, wenn er nur durch<br />

vermehrtes und besseres Wissen belehrt worden wäre. Darum<br />

wird er trotz überquellender Bibliotheken und Datenspeicher<br />

nicht ablassen von der Suche nach dessen Vermehrung.<br />

Die Epoche der Aufklärung muss uns heute als eine der entscheidenden<br />

Wenden der abendländischen Geistesgeschichte<br />

erscheinen. Wohl ist sie eingeleitet worden durch die genialen<br />

Forscher und Denker im England des 17. und 18. Jahrhunderts.<br />

Ihre pro minentesten Vertreter aber hat sie in Frankreich<br />

mit Voltaire, der sich auch als Historiker und Dichter einen<br />

Namen machte, und in Deutsch land mit dem nüchternen Immanuel<br />

Kant gefunden.<br />

Wohl haben sich schon Platon und Aristoteles wortreich mit<br />

den Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens befasst,<br />

aber erst in den beiden letzten Jahrhunderten und <strong>zu</strong>mal nach<br />

der Abkehr vom christlichen Glauben und nach den Erlebnissen<br />

der furchtbaren Weltkriege meinten viele der Philosophen, <strong>zu</strong><br />

den tagespolitischen Fragen sozialen und politischen Lebens<br />

Stellung beziehen <strong>zu</strong> müssen. Die Zeitgeschichte trennte sich ab<br />

vom Historismus. Und die Vertreter der beiden Dis ziplinen, im<br />

Versuch sich der Literatur <strong>zu</strong> nähern, gerieten in die Fänge der<br />

Publizistik. Es war die zornige Bestrebung der Philosophen unserer<br />

eigenen Epoche, die sie trieb, sich bis hinab <strong>zu</strong> Wahlaufrufen<br />

<strong>zu</strong> versteigen. <strong>Philosophie</strong> und Ge schichtsschreibung haben<br />

durch solche Parteinahme ihre Distanz <strong>zu</strong> allem Geschehenden<br />

und damit ihre Urteilsberechtigung verloren.<br />

13


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

Dass dem Leser die Gegenstände der hier aneinander gefügten<br />

Betrachtungen so disparat und weit auseinander liegend<br />

erscheinen mögen, wurde nicht ganz ohne Absicht be stimmt.<br />

Es sollte nämlich der Anspruch vermieden werden, dass in diesen<br />

<strong>Studien</strong> so etwas wie ein <strong>zu</strong>sammenhängendes, aus Balken<br />

kausaler Logik errichtetes Weltgebäude geboten würde. Da<strong>zu</strong><br />

hätten weder meine Kräfte noch meine Absichten hingereicht.<br />

Und das hätte ohne Sinnstiftung nicht wohl geschehen können.<br />

Als getrennte Steine sol len die nachfolgend vorgetragenen<br />

Gedanken neben einander bestehen. Denn, wie Friedrich<br />

Hölderlin schrieb, einsam schon verdämmernd in seinem<br />

Turm:<br />

Die Linien des Lebens sind verschieden<br />

Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.<br />

Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen<br />

Mit Harmonien und ew’gem Lohn und Frieden.<br />

14


Die Sprüche des Thales<br />

DIE SPRÜCHE DES THALES<br />

UND DER SATZ DES ANAXIMANDROS<br />

Es gibt in der Geschichte des abendländischen Denkens einen<br />

benennbaren Zeitpunkt, in dem sich die Nebel des mythischen<br />

Träumens nach und nach heben und ein Bereich hel len Lichtes<br />

er kennbar wird, den <strong>zu</strong> betreten einige Männer sich ge trauten.<br />

So wie ihre Ge stalten jedoch sich aus dem Schatten der Vergangenheit<br />

lös ten, so sanken sie bald für lan ge Jahrhunderte<br />

wie der <strong>zu</strong> rück in das Vergessen. Ihre Gedanken, soweit sie sie<br />

ihren Zeitgenossen deutlich <strong>zu</strong> machen vermoch ten, wur den<br />

entweder nicht schriftlich festge halten oder haben sich nur<br />

mehr in Bruch stücken er halten. Denn weni ge von ih nen wurden<br />

von den nachfolgenden Genera tio nen in ihrer Bedeutung<br />

er kannt und für wert er achtet, zitiert <strong>zu</strong> wer den.<br />

Die Samen des neuen Denkens aber waren ausgesät. Und<br />

manche fassten Wur zeln auf frem den Äckern. Und dort, wo<br />

etwa Platon, Aristoteles, Theophrast, He rodot oder Plu tarch,<br />

die Viel be le se nen und viel Schrei ben den, in der Gewiss heit,<br />

dass ihre eigenen Wer ke sorgsamer ge hütet wür den, ihrer<br />

Vor fahren im Geis te gedachten, hat sich die Erin nerung fortgeerbt.<br />

Dem wun der lichen Samm ler Dioge nes Laer tius, der<br />

im 3. nach christ lichen Jahrhun dert unter schieds los alles <strong>zu</strong> -<br />

sam menhäuf te, was ihm die ernste For schung oder der Klatsch<br />

in die Schreibstu be trug, ha ben wir, un geachtet vie ler Un gereimtheiten,<br />

<strong>zu</strong> dan ken, dass neben den im Volke um lau fenden<br />

Anek do ten auch man cher kundige Hin weis überliefert wur de.<br />

Hat er doch ver mut lich in den äolischen Ko lo nien gelebt und<br />

war dem Ort un serer Hand lung na he gewesen. Noch ein mal<br />

im 6. Jahr hun dert nach un se rer Zeit rechnung hat der Byzantiner<br />

Simpli kios, in ei nem Kom mentar <strong>zu</strong> Aris tote les’ „Phy sik“<br />

auf die vorsokratischen Denker Be<strong>zu</strong>g genom men und uns unter<br />

ande rem je nes Frag ment des Anaximand ros überliefert, das<br />

er in seinen Exem p laren der Theo phrast’schen Bücher über die<br />

späterhin so genannten „Hylozoiker“ gefunden hatte. Seither<br />

15


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

nennt man, nach dem Titel des Theophrast’schen Wer kes Physikon<br />

doxai, diese Nachrichten die doxographischen. Nach Jahrhunderten<br />

des Schweigens war Friedrich Nietzsche, der damals<br />

noch junge Pro fessor der Alt phi lologie, einer der ersten, die ihr<br />

Augenmerk richteten auf die lange Ver ges se nen. In sei ner Entdeckerfreude<br />

bekundete er die Absicht, das Erhaltene neu <strong>zu</strong><br />

über setzen und <strong>zu</strong> edie ren. Den Plan hat er be dau er licherweise<br />

nicht verwirklicht. Im mer hin hat die zorn glühende Ver achtung,<br />

die er in seinem offenbar nicht recht <strong>zu</strong> Ende geführten<br />

Essay über Die Philoso phie im tragischen Zeit alter der Grie chen den<br />

Zeiten aussprach, die achtlos an den ver streuten Schät zen vorüber<br />

ge gangen waren, eine weithin vernehm bare Stimme verliehen.<br />

Nietzsches Vor le sungs texte aus dem Jahre 1873 wurden<br />

jedoch erst in seinem Nachlass publiziert. Und so han del ten die<br />

deut schen Phi lo logen wohl aus eigenem Antrieb, als sie sich<br />

et wa um dieselbe Zeit daranmachten, <strong>zu</strong> sichten, was noch<br />

<strong>zu</strong> erkennen war. Her mann Diels er warb sich das seit her oft<br />

bedankte Ver dienst, die Frag mente der vorsokrati schen Philosophen<br />

<strong>zu</strong>sam men ge tra gen, ver glichen, ge ordnet über setzt<br />

und herausgegeben <strong>zu</strong> haben. Seine mehrfach auf gelegte Pub -<br />

li ka tion, die durch sei nen Schü ler Walter Kranz später ergänzt<br />

und erweitert wurde, bildet auch heu te noch die allgemein<br />

an erkannte Grund lage jeder wei teren For schung. Martin<br />

Heideg ger hat in seinem Band Holzwege in ei nem Essay über<br />

den Spruch des Anaxi man dros <strong>zu</strong> dessen neuer Beachtung beigetragen.<br />

Und so ist heu te kein <strong>Philosophie</strong>unterricht mehr <strong>zu</strong><br />

den ken, der nicht mit einer Er örterung der Zeit der Morgenröte<br />

des abend ländischen Den kens begänne.<br />

Wenn hier nun allein über die ersten Philosophen der milesischen<br />

Schule gehandelt wer den soll, so liegt der Anlass da<strong>zu</strong> in<br />

der Faszination, die eben dieser Be ginn, wie aller An fang ei ner<br />

großen Be we gung, ver breitet. Es lässt sich hierin wie an wenigen<br />

anderen Beispielen erkennen, was <strong>Philosophie</strong>ren bedeutet<br />

und wa rum sich unsere abendländische Welt auf diesem Felde<br />

so deutlich von allen an deren Kul turen getrennt hat. Es war<br />

die ers te Ab sicht meines Ver suchs, allein die Figur des Ana xi-<br />

16


Die Sprüche des Thales<br />

mand ros in ihren noch er kenn baren Um rissen heraus<strong>zu</strong>heben.<br />

Da bei je doch hat sich bald schon er wiesen, dass er ohne seinen<br />

Vorgänger Thales kaum <strong>zu</strong> er fas sen ist, und dass auch sein<br />

Schüler und Nach folger Ana ximenes Erwäh nung am Rande<br />

ver dient. So mögen denn auch einige An mer kun gen <strong>zu</strong> ihnen<br />

mit ein fließen, damit sie auf diesen Papieren ne beneinander<br />

stehen, wie sie einst im Le ben ne beneinander gelehrt und gewirkt<br />

haben. Man weiß nicht recht, ob sie als Söh ne einer Stadt<br />

ein an der gesucht oder gemieden haben, begegnet sind sie ein -<br />

ander und ge kannt hat ei ner den an dern. Das ist gewiss.<br />

Die gemeinsame Heimat der ersten Philosophen war die<br />

älteste und größte der ionischen Städ te an der öst li chen Küs te<br />

Kleinasiens, Milet, die reich war durch die fruchtbare Landschaft<br />

und durch die Schiff fahrt, die ihr den Handel mit den<br />

entlegenen Küs tenstädten des Schwar zen Meeres, des öst li chen<br />

und des westlichen Mit telmeeres, eröff nete. Gehandelt wurde<br />

mit Papy rus aus Ägyp ten, mit Ze dern holz aus Phönikien, mit<br />

Erzen und Metallen vom Tau rusgebirge, mit Wein, Früch ten,<br />

Oliven öl und Getreide aus eigenem An bau. Die klein asiatische<br />

Küste, und hier vor al lem die ioni schen Städte und die ih nen<br />

vor ge la ger ten Inseln der südlichen Sporaden, waren <strong>zu</strong> jener<br />

Epoche die bedeu tendsten Stät ten hellenischen Geistes und<br />

hel lenischer Kunst. Schon seit älterer Zeit nannte sich die Insel<br />

Chios die Heimat des großen Homer, der wie kein zwei ter von<br />

großen Meerfahrten, von fer nen Inseln und Ländern erzählt<br />

hatte. Ihr Anspruch wurde von der um diesen Ruhm wett ei -<br />

fernden Küstenstadt Smyrna mit gu ten Gründen bestrit ten. Unter<br />

den so genannten sie ben Weisen, de ren Kreis aus etwa zehn<br />

Namen be stand, die ge le gentlich ausgetauscht wur den, finden<br />

wir nicht weniger als fünf, die von der io nischen oder nachbar<br />

li chen äoli schen Küste stammten. Neben Thales aus Milet<br />

sind dies: Bias aus Pri ene, Phe re kydes aus Syros, Pythagoras aus<br />

Samos und Pit takos aus Les bos. Der mythische Sän ger Ari on<br />

soll um 620 auf Les bos gelebt und dort seine dithyrambischen<br />

Chorlie der erson nen ha ben, aus denen die Bak chos chöre der<br />

Böcke ent standen. In Lesbos leb ten <strong>zu</strong>dem die Dich terin Sap pho<br />

17


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

und der Dichter Alkaios, in Ephe sos der Ly riker Kallinos,<br />

in Kolo phon Mim neros und auf Paros Archilochos. In Ephe sos<br />

auch wurde der weithin berühm te Tem pel der Ar temis, eines der<br />

sie ben Welt wunder, erbaut, in den sich der altern de He raklit<br />

schweigend <strong>zu</strong> rück zog. In Di dyma, unweit Milet, sprach das<br />

Ora kel Apol lons und im südlich an gren zenden Halikarnassos,<br />

spä ter der Heimat des He rodot, der uns all diese Nach richten<br />

überlie fert hat, ließ Mausolos sein viel be staun tes Grab mal errichten.<br />

Über die Insel Sa mos herrsch te der glück ver wöhn te<br />

Ty rann Po ly krates und über das nordöstlich an Ionien grenzende<br />

Ly dien der sagenhaft reiche Kroisos als König.<br />

Ver wandt waren die Ionier mit den Bewohnern Attikas und<br />

Euböas, die Äolier mit den Be woh nern Böo tiens, von denen sie<br />

sich beide etwa um das Jahr 1000 vor unserer Zeit rech nung getrennt<br />

hatten, um auf der östlich gegenüber liegenden Küste <strong>zu</strong><br />

siedeln. Man ches in der Be trach tung des Lebens und Schaffens<br />

in den nachfolgenden Jahr hunderten griechi scher Ge schichte<br />

lässt sich heute besser verstehen, wenn wir nicht das stark<br />

zerglie derte und durch ho he Gebirge oft unwegsame Fest land<br />

hüben und drü ben, sondern das von dicht besiedelten Küsten<br />

umschlosse ne Meer als den Mit tel punkt des alten Hellas betrachten.<br />

Es war in jener Zeit nicht viel mühevoller, die Küsten<br />

Spa niens, Siziliens, Thra kiens oder Ägyp tens <strong>zu</strong> er rei chen,<br />

als über die Ge birgs pfade des steinigen Epeiros oder auch nur<br />

über den mäch tigen Rie gel des Tai getos in der Pelo ponnes <strong>zu</strong><br />

gelangen. Die un vor stellbare Zahl von über tau send Pflanzstädten<br />

oder Ko lo nien haben die Griechen an fer nen Küsten<br />

errichtet. Mi let al lein hat et wa achtzig davon gegründet. Nicht<br />

nur auf ägä i schen und illyrischen Inseln sie delten sie bereits im<br />

achten Jahr hun dert, sondern auch in Sar di nien, Korsika, an der<br />

west wärts gewand ten Küs te Italiens, ringsum im Pon tos und<br />

auf der Halbinsel Krim. Gegen das In nere des klein asia tischen<br />

Fest lan des jedoch scheu ten sie sich vor <strong>zu</strong> dringen, nicht nur aus<br />

Furcht vor der ge waltigen Kriegs macht der Me der und bald<br />

da nach auch der Perser. Das Meer, nicht das Land, war ih re<br />

geebnete Straße.<br />

18


Die Sprüche des Thales<br />

Wir, die wir heute gewöhnt sind, bei den Griechen fast nur<br />

mehr auf die so genannte klassische Zeit des 5. und 4. vorchristlichen<br />

Jahrhunderts <strong>zu</strong> blicken, müssen uns vor Augen füh ren,<br />

dass be reits seit dem Jahre 776, also mit den ersten olympischen<br />

Spielen die grie chische Zeitrech nung begann, und deutlicher<br />

noch seit dem we nig später an<strong>zu</strong>set zenden Auf treten von<br />

Homer und Hesiod die alte Hellas in den Rang einer Hochkultur<br />

aufstieg. Das Spiel, der Wettstreit und die mythische<br />

Dichtung gingen wie in allen Kul turen den Wissenschaften<br />

voraus. Sie leg ten den Grund für die ersten Schritte der Forscher<br />

und Entdecker. Und die weck ten die Fragen der Denker<br />

und Zweifler.<br />

Der erste der Männer, von denen hier <strong>zu</strong> handeln sein wird,<br />

Thales, der Sohn des He xa myes, leb te in Milet um die Wende<br />

des sieb ten <strong>zu</strong>m sechsten Jahr hundert vor unserer Zeitrechnung,<br />

der zwei te, Anaxi mandros, war nur wenige Jahre<br />

jün ger, der dritte, Ana ximenes, der sich als des zwei ten Schü ler<br />

be kannte , folgte ein Menschen alter darauf. In der blühenden,<br />

weltoffe nen Stadt war der Saat der neu en Gedan ken der Boden<br />

bereitet. Tha les, geboren um 624, viel leicht von ka rischen,<br />

viel leicht von phöni ki schen Vor fah ren stam mend, wurde noch<br />

zwei einhalb Jahrhun der te später von Aristo teles – und nicht<br />

nur von ihm – als der „Ahn herr der Phi lo so phie“ be zeich net.<br />

Sein Ruhm unter den Griechen, der nicht <strong>zu</strong> letzt auf seinen<br />

wis sen schaft li chen Er kennt nis sen und tech nischen Leistungen<br />

beruhte, hat lan ge Zeit den Blick auf seinen uns heute bedeuten<br />

der er scheinenden Lands mann und Kol legen Anaximandros<br />

ver stellt. Und dies nicht <strong>zu</strong>letzt aus dem Grun de, weil sei ne<br />

Gestalt, um im eingangs gewählten Bilde <strong>zu</strong> blei ben, noch halb<br />

im Nebel be fangen steht und als einer der so ge nannten sieben<br />

Weisen aus dem Bereich des Sa gen haften noch nicht ganz sich<br />

gelöst hat. Mit den historisch belegten Zeug nis sen seines Erscheinens<br />

je doch be ginnt sich <strong>zu</strong> lichten, was vorher in mythischem<br />

Zwie licht lag.<br />

Thales soll der Überlieferung nach un ter ande rem Län der<br />

wie Phö nikien und Ägypten be reist ha ben. Um 600 v. Chr. et-<br />

19


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

wa wurde im Delta des Nil von Griechen die Pflanz stadt Nikopolis<br />

ge gründet. Diese hat er vermutlich be sucht und wird dort<br />

– und weiter nil aufwärts – geo met rische und mathema tische<br />

<strong>Studien</strong> betrie ben ha ben, durch die es ihm mög lich wur de, die<br />

Hö he der Pyramiden <strong>zu</strong> berechnen. Wahr schein lich ge schah<br />

dies, in dem er de ren Schatten maß, diesen mit der Länge eines<br />

Stabes und dessen Schatten ver glich und so die unbekannte<br />

Größe aus drei be kannten er schloss.<br />

Andere meinen, er habe den Schat ten beim Stand der Sonne<br />

in ei nem Winkel von 45 Grad gemes sen. Auch soll er – nützlicher<br />

vielleicht für seine Lands leute – die Ent fernung eines<br />

Schiffes auf der See da durch fest gestellt haben, dass er zwei<br />

Punk te an der Küste be stimmte, die mit dem ent fern ten Schiff<br />

ein gleichschenkliges Dreieck bil deten. Ihm verdanken wir die<br />

Erkenntnis – oder deren Überlieferung –, dass in einem Dreieck<br />

die Sum me der Win kel stets 180 Grad be trägt und dass in einem<br />

recht winkligen Dreieck die Sum me der Quadrate über den Katheten<br />

dem Quadrat der Hypo tenuse ent spricht. Für uns sind<br />

diese Sätze des Thales sehr bedeutsam geworden. Seine Zeitgenossen<br />

aber wer den mög licher weise mehr gestaunt haben über<br />

die voraus schau enden Wahrsagungen ih res Ge lehrten. Der ist<br />

ver mutlich auch mit den weit östlich beheimateten Chaldäern,<br />

den Lehr meis tern der Astro no mie, in Be rüh rung gekom men.<br />

Von deren Berechnungen be lehrt soll er für das Jahr 585 eine<br />

Son nenfins ternis vorherge sagt haben. Diese sei mit ten in einer<br />

Schlacht zwi schen Lydern und Medern tat säch lich ein getroffen<br />

und habe sol ches Ent setzen bewirkt, dass die strei tenden Hee re<br />

sich trennten.<br />

Von Thales eigener Hand haben wir kein überliefertes Wort.<br />

Auch Platon und Aristoteles haben in ihren ansehnlichen Bibliotheken<br />

keine Schriften von Thales besessen. Es mag gut sein,<br />

dass er Geschriebenes nicht hinterlassen hat. Uns sind jedoch<br />

eine Fülle doxographischer Nachrichten über ihn erhalten aus<br />

nicht immer lauteren Quellen. Es handelt sich bei diesen, wie<br />

schon erwähnt, um Überlieferungen durch spätere Autoren,<br />

die sich jedoch im Falle des Thales aufs Hörensagen verlassen<br />

20


Die Sprüche des Thales<br />

mussten und oft nur mehr anekdotischen Charakter haben.<br />

Von solchen Anekdoten wissen wir, dass sie oft unterschiedlichen<br />

Personen <strong>zu</strong>geschrieben werden und sich meist um die<br />

Namen der bekanntesten sammeln.<br />

Ei ne davon will von einer Wun dertat des Thales wissen. Er<br />

habe, so heißt es, den Fluss Ha lys im Osten Klein asiens umgeleitet,<br />

um dem Kö nig Kroisos auf seinem Feld <strong>zu</strong>g ge gen die Perser<br />

den Übergang <strong>zu</strong> er mög lichen. Diese Nachricht wird uns<br />

ver ständ licher, wenn wir anneh men, dass die Umleitung darin<br />

be stand, dass auf seine Anwei sung hin der Flusslauf geteilt und<br />

so die Was sertiefe der Abzweigun gen so weit gemin dert wurde,<br />

dass Heer und Tross durch seichte Fur ten passieren konnten. Es<br />

handelte sich im üb rigen bei diesem Kriegs <strong>zu</strong>g um jenen, der<br />

dem über mütigen Lyder den Untergang brach te. Diesen hat te<br />

ihm das Ora kel von Di dyma voraus gesagt mit dem be rühmten<br />

Spruch, er werde, wenn er den Fluss über schreite, ein großes<br />

Reich zer stören; dass es sein eigenes sein wür de, war ihm nicht<br />

in den Sinn ge kommen. Das Geschehnis hatte jedoch schlimme<br />

Bedeutung nicht nur für ihn, sondern auch für die an deren<br />

Kolonien der asiatischen Küste. Und hät te Thales diese geahnt,<br />

wer weiß, ob er den Kroisos am Über schreiten des Halys nicht<br />

eher ge hindert hätte.<br />

Mit einer anderen Behauptung hat er nicht ebenso ins<br />

Schwarze getroffen. Dass nämlich die alljährlich <strong>zu</strong>r Sommersonnenwende<br />

eintreffende Überschwemmung des Nil durch<br />

die nördlichen Winde verursacht würde, die seine Fluten <strong>zu</strong>rückstauten<br />

und hinderten ins Meer ab<strong>zu</strong>fließen, das haben ihm<br />

wohl damals schon die Ägypter nicht geglaubt, die allein dem<br />

Pharao die Macht <strong>zu</strong>schrieben, solche Wunder <strong>zu</strong> wirken.<br />

Eine weitere bekannte Erzäh lung berichtet, dass Thales, als<br />

er aus dem Haus trat, um den nächt li chen Ster nen himmel <strong>zu</strong><br />

betrach ten, in einen Abgrund, wie Diogenes Laertius schreibt,<br />

oder, wie Platon be hauptet, in einen Brun nen fiel, worüber<br />

seine thrakische Magd in Geläch ter aus brach. Die ses Gelächter<br />

der Frau aus dem Vol ke über den welt frem den Gelehrten<br />

ist bis in unsere Zeit hin ein <strong>zu</strong> hören geblie ben und hat<br />

21


<strong>Studien</strong> <strong>zu</strong> <strong>Philosophie</strong> und Geschichte<br />

man chem klugen Mann – einer der klügs ten war wohl Hans<br />

Blumen berg, der dieser Anek dote ein ei genes Buch gewid met<br />

hat – Anlass ge boten <strong>zu</strong> kri ti scher Be trach tung eigenen Denkens<br />

und For schens.<br />

Es sind auch etwa zwei Dutzend wohlmeinender Sprüche<br />

überliefert, die von Späteren dem Tha les als ei nem der legendären<br />

sieben Weisen <strong>zu</strong>geteilt wurden und die meist mo ra lisie<br />

ren den Cha rakter haben. Drei davon seien stellvertretend<br />

zitiert. Unverbürgt sind sie alle. Der erste lau tet: „Sei nicht<br />

untätig, auch nicht, wenn du reich bist.“ Den hat der König<br />

Kroisos be folgt. Der zwei te lautet: „Trau nicht einem je den.“<br />

Den hat er nicht befolgt. Der dritte aber hätte ihn vor dem<br />

Untergang bewahren können, doch er wurde erst den nachfol<br />

genden Ge nera tio nen der Griechen <strong>zu</strong>m Leit satz wie ein<br />

ande rer. Er lautet: „Hal te Maß!“ An den meisten Sprüchen der<br />

Wei sen lässt sich, wie <strong>zu</strong> er warten, nicht viel kri tisie ren. Manche<br />

hät te wohl auch die tra kische Magd aus sprechen kön nen,<br />

nur hätte sie dann keiner auf gezeichnet. Derlei Einsichten sind<br />

so zahl reich und so viel fach nutz bar wie die Binsen. Über die<br />

Gedan kenwelt ei nes Weisen ge ben sie we nig neue Erkennt nis.<br />

Uns soll vielmehr die Frage bewegen, was diesen Mann<br />

Thales im Ge dächtnis der Grie chen her vorhob als einen, der<br />

es gewagt hatte, die überlieferten Mythen und Sa gen bei seite<br />

<strong>zu</strong> schie ben, um durch eige nes Denken die Rätsel der Welt <strong>zu</strong><br />

erschlie ßen. Und so blicken wir <strong>zu</strong> erst nach dem, was Aristoteles<br />

noch von ihm wuss te, wenn er im ersten Buch seiner<br />

Meta phy sik auf die ältesten Theorien vom Ent ste hen und<br />

Vergehen der Din ge <strong>zu</strong> spre chen kommt. Wir lesen darin: „Es<br />

muss eine gewisse Substanz vor handen sein, entweder die einzige<br />

oder meh rere, aus de nen alles übrige entsteht, während<br />

sie selbst er hal ten bleibt. Über die Anzahl und die Art ei nes<br />

solchen Urgrundes ha ben freilich nicht alle dieselbe Mei nung,<br />

Tha les aber, der Begrün der ei ner solchen Art von Philo sophie,<br />

erklärt als den Ur grund das Was ser – daher glaubt er auch, dass<br />

die Erde auf dem Was ser ruhe.“<br />

22


Die Sprüche des Thales<br />

Wa rum unser Mann von den da mals – und noch lan ge danach<br />

– all ge mein festgesetzten vier Ele men ten aus ge rechnet<br />

das Was ser als das ur sprüng li che bestimmte, da rüber lassen<br />

sich viele Ver mu tungen an stellen, etwa die, dass dem Bewohner<br />

ei ner Hafenstadt nichts näher lag als das Meer; dass<br />

er auf dem asiatischen Fest land Ver steinerungen von Seetie ren<br />

fand; dass er sah, wie das Was ser sich einer seits in Eis, andererseits<br />

in Dampf ver wandeln konnte; oder endlich, dass er<br />

den Be richten der See fah rer glaubte, nach denen der Ring des<br />

Okeanos allen Grund und Boden um schloss. Aris toteles selbst<br />

vermu tete, Thales habe das Wasser <strong>zu</strong>m Ur stoff ge wählt, weil<br />

al le Tiere und Pflanzen aus dem Feuch ten ent stünden und von<br />

Feuchtem sich nähr ten. Dies aller dings böte nur eine Er klärung<br />

für das Ent stehen des Le bens, wie sie später Ana xyimand ros<br />

aussprechen soll te, und für alle an de ren Dinge nur dann,<br />

wenn man auch ihnen ver borgenes Leben <strong>zu</strong> schreiben wollte.<br />

Die ser Be stim mung der Herkunft des Lebens aus der Materie<br />

jedoch ver danken die mi le sischen Denker die Bezeichnung<br />

„Hylo zoi ker“, die ihnen Aristo teles gab, für den hyle der Stoff<br />

bedeu tete, der die Welt der Erscheinungen bildet. Tha les selbst<br />

gab keine nä he re Deutung, oder wenn er sie gab, so hat sie<br />

kei ner wei ter gereicht. Uns muss es genügen, dass hier erstmals<br />

einer es wagte, die Er schaffung der Welt nicht dem Wirken der<br />

Götter, Ti ta nen oder Demiurgen <strong>zu</strong> <strong>zu</strong> schrei ben, viel mehr aus<br />

Anschau ung, Er fah rung und ei ge nem Den ken einen Schluss<br />

<strong>zu</strong> zie hen, der sich kei ner tra dierten Au to rität unter warf.<br />

Wenn Thales nach einem do xographischen Frag ment einen<br />

Spruch getan haben soll, dem <strong>zu</strong>fol ge alles rings um „voll von<br />

Dämonen“ sei, so hat er wo mög lich auf diese Weise ver sucht,<br />

die Be we gung des Wassers, der Luft und der Vulkane und <strong>zu</strong>gleich<br />

auch die Be seelung des Lebendigen sei nen Zeit genossen<br />

verständlich <strong>zu</strong> machen. Um dies <strong>zu</strong> demonstrieren, habe er,<br />

so heißt es, auf die Kraft eines Magnetsteins verwiesen oder<br />

habe Woll fasern durch zer riebenen Bern stein (auf Griechisch<br />

elektron) bewegt. Wir erklä ren dies heute durch Mag netismus<br />

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