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ELISABETH<br />
BRONFEN<br />
HÄNDLER<br />
DER GEHEIM-<br />
NISSE<br />
Roman<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
7 PROLOG<br />
DIE FOTOGRAFIE<br />
13 KRYPTOMANIEN<br />
33 DER ANRUF<br />
65 ENTER GHOST<br />
91 DIE BEICHTE<br />
123 DER NYPD DETECTIVE<br />
158 DIE ERMITTLUNG<br />
194 DIE BEWEISLAST<br />
222 DIE FBI-AKTE<br />
257 DER EINSPRUCH<br />
287 EPILOG<br />
DER FALLSCHIRM
PROLOG<br />
DIE FOTOGRAFIE<br />
Wahrscheinlich war es ein Nachmittag im Frühling, denkt<br />
Eva, als sie das Foto betrachtet. Die Szene ist in Sonnenlicht<br />
getaucht und dennoch muss es kühl gewesen sein. In<br />
dem Blumenkasten, der an der Wand unter dem Fenster<br />
steht, sind noch keine Kräuter gepflanzt. Sie versucht, sich<br />
den Tag in Erinnerung zu rufen. Der Porträtmaler Konstantin<br />
Hummler, ein guter Freund ihrer Eltern, war bei ihnen<br />
zu Besuch und ließ sich mit ihr und ihren Geschwistern auf<br />
der Terrasse hinter dem Haus fotografieren. Ob er sich<br />
die Bildkomposition im Vorhinein ausgedacht hatte? Der<br />
Holzstuhl, auf dem er sich niedergelassen hat, das eine Bein<br />
über das andere geschlagen, steht genau in der linken Ecke,<br />
direkt unter einem der Fenster des Wohnzimmers. Ein Vorhang<br />
vor dem einen, die Topfpflanze auf der Fensterbank<br />
des anderen versperren die Sicht ins Innere. Die Außenwand,<br />
an der die Witterung ihre Spuren hinterlassen hat,<br />
wirkt auf Eva wie die Kulisse für eine Innigkeit, die auf dieser<br />
Bühne vorgeführt wird.<br />
Sie selbst steht auf der rechten Seite des alten Mannes,<br />
ihre Schwester Lena auf der linken. Er hat seine Arme um<br />
die Mädchen gelegt, eine willkommene Stütze für Eva, die<br />
nur auf einem Fuß steht, das linke Bein ist angewinkelt, die<br />
Fußspitze wippt leicht nach hinten. Ihre jüngere Schwester<br />
schmiegt sich an den Oberkörper des Mannes, doch<br />
ihren Kopf hat sie nicht auf seine Schulter gelegt, sondern<br />
7
hält ihn gerade. Ihr Bruder Max steht etwas abseits. Mit der<br />
rechten Hand hält er sich an der Lehne des Holzstuhls fest.<br />
Sein sicherer Griff erlaubt ihm, sich leicht von dem Maler<br />
wegzuneigen, während seine Füße in der fünften Position<br />
des Balletts gekreuzt sind. Die elegante Kleidung des alten<br />
Mannes lässt Eva darauf schließen, dass die Aufnahme an<br />
einem Sonntag gemacht worden sein muss. Eine dezent<br />
gemusterte Seidenkrawatte schmückt das helle Hemd des<br />
Porträtmalers. In der Brusttasche seines Tweedjacketts steckt<br />
ein gefaltetes Taschentuch. Seine großen, handgefertigten<br />
Lederschuhe bilden einen Kontrast zu den abgetragenen<br />
Halbschuhen der Kinder. Abgesehen davon haben aber auch<br />
sie und ihre Geschwister sich für das Foto zurechtgemacht.<br />
Ihr Bruder trägt eine Strickjacke mit großen hellen Knöpfen.<br />
Sein weißes, glatt gebügeltes Hemd ist bis zum Kragen<br />
zugeknöpft. Sie selbst hat ein zu ihrem gepunkteten<br />
Kleid und dem Jackett passendes Stirnband angezogen,<br />
das die langen dunklen Haare nach hinten hält. Die hellen<br />
Wollstrümpfe passen zu der Spitzenborte an ihrem Kragen<br />
und ihrer Rocktasche. Über dem linken Ohr der jüngeren<br />
Schwester schmückt eine Schleife die Zopffrisur. Dass einer<br />
ihrer Kniestrümpfe nach unten gerutscht ist, scheint sie<br />
nicht bemerkt zu haben. Ein kleiner visueller Makel in dem<br />
ansonsten perfekten Tableau, und doch wirkt diese Unachtsamkeit<br />
passend. Eine versonnene Stimmung herrscht über<br />
der Szene.<br />
Keine der vier Personen auf dem Bild blickt direkt in die<br />
Kamera. Vielmehr schauen die beiden Mädchen verträumt<br />
vor sich hin. Ihr jüngeres Ich lächelt Eva verschmitzt zu, als<br />
wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen, den sie für sich<br />
8
ehalten will. Zwar hat der Maler sein Gesicht leicht nach<br />
unten zu ihrer Schwester gesenkt, doch seine Augen sind<br />
geschlossen. Eva fragt sich, ob er sich bereits vorzustellen<br />
versuchte, wie er dieses Gruppenbild auf seiner Leinwand<br />
darstellen könnte. Ihr Bruder blickt von oben auf den alten<br />
Mann herab, mit zugekniffenen Augen, als würde er diesen<br />
genau betrachten. Eva fällt auch die minime Distanz zwischen<br />
ihm und den Schwestern auf. In der Lücke, die sich<br />
zwischen seinem Körper und ihnen ergibt, erscheint der<br />
Schatten seines Arms auf der Wand hinter ihm, wodurch<br />
sich seine Gestalt im Bild geisterhaft verdoppelt.<br />
Beim Betrachten der Fotografie wird ihr klar, wie gestellt<br />
die Szene ist. Es scheint, als hätten alle eine Pose eingenommen.<br />
Sie kann sich nicht daran erinnern, wer an diesem<br />
Nachmittag hinter der Kamera stand. Wahrscheinlich war<br />
es ihr Vater. Wenn Besuch kam, hatte er immer seinen Fotoapparat<br />
zur Hand. War er es, der die Anordnung der Personen<br />
vorgegeben hat? Hat er durch den Sucher der Kamera<br />
gesehen, dass die Bildkomposition dadurch eine Spannung<br />
gewinnen würde? Eva kann sich vorstellen, wie ihr Vater<br />
ihr und Lena die Anweisung gab, näher an den Maler heranzurücken,<br />
und Max aufforderte, sich etwas zu entfernen.<br />
Eines ist jedenfalls sicher: Ihr Vater wollte für die Aufnahme<br />
etwas Distanz von seinem Freund und seinen Kindern.<br />
Er kann sich nicht mit den anderen auf der Terrasse befunden<br />
haben, die durch mehrere Stufen von dem Rasen abgesetzt<br />
war, der sich hinter dem Haus ausbreitet. Die Perspektive,<br />
aus der das Foto aufgenommen wurde, lässt Eva<br />
vermuten, dass er dort unten gestanden haben muss, als er<br />
auf den Auslöser drückte. Die Inszenierung des Vertrauens,<br />
9
die er einfängt, findet auf einer leicht erhöhten Bühne statt.<br />
Er ist der Spielleiter, der die Fäden in der Hand hält. Diese<br />
unsichtbare Präsenz spürt Eva im Bild. Wenn sie den eingefrorenen<br />
Augenblick heute betrachtet, wird die Vergangenheit<br />
wieder lebendig. Noch einmal meint sie die Geborgenheit<br />
der Umarmung zu spüren und die Ruhe, die der alte<br />
Mann ausstrahlt. Doch sie weiß nicht, ob die Vertrautheit<br />
dieser Szene tatsächlich in ihrer Erinnerung gespeichert ist<br />
oder ob es nicht eher das Foto ist, das diese überhaupt erst<br />
erzeugt.<br />
Erst viel später, als der Porträtmaler schon längst verstorben<br />
war, wurde Eva bewusst, wie ungewöhnlich seine Besuche<br />
bei ihnen zu Hause gewesen sein müssen. Seit Ende der<br />
Dreißigerjahre war Konstantin Hummler ein bedeutender<br />
Professor an der Berliner Kunstakademie gewesen. Hitler,<br />
den er mehrfach porträtierte, hielt ihn sogar für einen der<br />
wichtigsten Kunstmaler des Dritten Reichs. Zu der Zeit war<br />
Evas Vater, der Sohn osteuropäischer Juden, die irgendwann<br />
um 1910 nach Brooklyn ausgewandert waren, in London<br />
stationiert. Getroffen haben sich die beiden erst nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg, als ihr Vater als Offzier bei der amerikanischen<br />
Militärregierung in Bayern tätig war. In München<br />
konnte er den Krieg gegen die Nazis fortführen, als es nach<br />
Kriegsende darum ging, zu entscheiden, wer vor der Spruchkammer<br />
für seine Aktivitäten im Dritten Reich angeklagt<br />
werden sollte und wer ohne Bedenken entnazifiziert werden<br />
durfte.<br />
Auch Konstantin Hummler war nach Kriegsende in seine<br />
Heimat in die bayerische Hauptstadt zurückgekehrt. Mit<br />
dem Wegzug aus Berlin wollte er sich von dem politischen<br />
10
System distanzieren, er musste jetzt einsehen, wie grausam<br />
und unrechtmäßig es war. In München unterrichtete er nicht<br />
mehr. Er nahm keine öffentlichen Ämter mehr an, saß in keiner<br />
Jury. Er malte nur noch Porträts in privatem Auftrag.<br />
Das Foto hat Eva von Hummlers Ehefrau Katja, die ihn<br />
um viele Jahre überlebt hat. Beim Aufräumen ist es ihr wieder<br />
in die Hände gefallen. Als die ältere Dame es Eva überreichte,<br />
versicherte sie ihr, ihr Mann habe sich nirgends so<br />
wohl gefühlt wie bei der Familie seines jüdischen Freundes.<br />
Es kam Eva damals vor, als hätte Katja ihr mit dieser Gabe<br />
etwas beweisen wollen. Seither hat sie sich immer wieder<br />
gefragt, ob es einen bestimmten Grund gab, war um der Porträtmaler<br />
sich an diesem Sonntagnachmittag mit ihr und<br />
ihren Geschwistern fotografieren ließ. Hatte er sich diese<br />
Aufnahme gewünscht? Oder war es ihr Vater gewesen, der<br />
ihm etwas schenken wollte? Ein Zeichen der Anerkennung<br />
ihrer Verbundenheit?<br />
Evas Vater war in den Fünfzigerjahren mit seiner deutschen<br />
Ehefrau an den Ort zurückgezogen, wo er einst als<br />
Besatzungsoffzier gedient hatte. Konsti, wie ihn alle nannten,<br />
und seine Frau Katja waren regelmäßige Gäste in dem<br />
Haus in der Münchner Vorstadt, in dem Eva aufgewachsen<br />
ist. Dass die beiden sich dort so wohl gefühlt haben,<br />
hat Eva später immer wieder gewundert. War es ihnen zum<br />
Zufluchtsort geworden, an dem sie sich nicht rechtfertigen<br />
mussten? Ihr Zuhause schien auf jeden Fall eine neutrale<br />
Zone zu sein. Ihr Vater hielt sich nicht an die religiösen Bräuche<br />
seiner Eltern. Über den Krieg, über Kollaboration und<br />
Komplizenschaft wurde nicht gesprochen. Auch nicht über<br />
Antisemitismus.<br />
11
Lange hat sie danach gesucht, was sie an dieser Foto grafie<br />
anzieht. Ihre Freundin Samantha war es, die sie auf ein<br />
Detail aufmerksam gemacht hat: Es sind die über großen<br />
Hände des alten Mannes, die verstörend wirken. So wuchtig,<br />
als wären sie ein Fremdkörper im Bild, der sich verselbständigt<br />
hat. Behutsam umgreifen sie die schmalen Arme<br />
der beiden Mädchen, doch Eva meint darin auch etwas Vereinnahmendes<br />
zu erkennen. Jetzt fällt ihr auch etwas anderes<br />
auf: Die beiden Mädchen haben die Hände sachte nach<br />
innen gerollt, als wollten sie sie zu Fäusten ballen. Sie berühren<br />
damit das Jackett des Malers, halten sich aber nicht an<br />
ihm fest. Eine zufällige, belanglose Geste? Ein intuitiver<br />
Selbstschutz?<br />
Das Foto will Eva nicht loslassen, zu sehr fesselt sie das<br />
Besondere dieser Zusammenkunft. Erst nach dem Krieg<br />
war das Gruppenbild des alten Porträtmalers mit den Kindern<br />
seines jüdischen Freundes möglich. Dreißig Jahre früher<br />
hätte er die Familie vielleicht angezeigt. Oder hätte er<br />
sich selbst in Gefahr begeben, um sie zu verstecken oder<br />
ihnen bei der Flucht zu helfen?<br />
Damals kann sie das alles nicht gewusst oder erahnt<br />
haben. Als zehnjähriges Kind macht man sich keine Notizen<br />
von dem, was um einen herum passiert. Eva wird auch<br />
nie wissen, wie Konsti diesen Nachmittag erlebt hat. Für<br />
sie aber birgt dieses Foto eine ganz eigene Bedeutung: Es<br />
ist das Familienbild mit einem deutschen Großvater, den<br />
sie nie hatte.<br />
12
KRYPTOMANIEN<br />
1.<br />
«Etwas ist mir noch nicht so ganz klar», sagt Sam, während<br />
sie auf die Bücher deutet, die sie zuvor ans andere Ende des<br />
Tischs geschoben haben, um Platz fürs Mittagessen zu schaffen.<br />
«Wie wollen wir das böse Spiel, das Maria mit Malvolio<br />
in Was ihr wollt spielt, mit der ausgeklügelten Strategie des<br />
Decius Brutus in Julius Caesar verknüpfen? In der Komödie<br />
fällt der Haushofmeister Malvolio auf den Trick mit dem<br />
Liebesbrief herein, weil er getäuscht werden will. Die kryptische<br />
Botschaft bezieht er sofort auf sich, weil er schon<br />
lange die Fantasie hegt, die Gräfin Olivia sei insgeheim in<br />
ihn verliebt. Die ganze Intrige der Hofdame Maria funktioniert<br />
aber nicht nur darum so gut, weil sie die Handschrift<br />
ihrer Herrin perfekt nachahmen kann, sondern weil in dem<br />
Brief die Liebesbekundung als Rätsel daherkommt. Malvolio<br />
reizt auch die Idee, dass seine Herrin es genießt, ihm<br />
ihre geheime Liebe auf chiffrierte Weise mitzuteilen.»<br />
Eva gefällt das Gedankenspiel ihrer Freundin. «Dass der<br />
Brief verschlüsselt ist, macht den eigentlichen Reiz des<br />
Liebes beweises aus», pflichtet sie ihr bei.<br />
«Genau. Malvolio redet sich ein, dass Olivia ihn liebt, weil<br />
sie ihm diese Liebe in einem Rätsel eingesteht, das er sofort<br />
versteht. Das leuchtet mir alles vollkommen ein. Nur – Geheimnisse<br />
in einer Liebesgeschichte sind doch etwas ganz<br />
anderes als eine politische Verschwörung.»<br />
13
Es war Sams Idee, sich in das Ferienhaus ihrer Mutter<br />
am Schliersee zurückzuziehen. Es schien ihr der perfekte<br />
Ort, um ungestört zu arbeiten. So lange schon haben die<br />
beiden sich vorgenommen, ihr ShakespeareProjekt voranzutreiben.<br />
Die einzelnen Stücke wollen sie wie Teile eines<br />
einzigen großen Textapparates behandeln, jedes eine kleine<br />
Maschine in sich, die zugleich auf alle anderen eine Wirkung<br />
ausübt. Eva machte den Vorschlag, sich auf Geheimnisse<br />
und Verschwörungen zu fokussieren, auf Figuren, die etwas<br />
versteckt halten oder sich tarnen. In den letzten Mona ten<br />
haben sich die beiden Freundinnen bereits mehrmals getroffen,<br />
um zu besprechen, auf welche Stücke sie sich konzentrieren<br />
wollten, obwohl ihnen noch immer nicht ganz<br />
klar war, was sich daraus ergeben würde. Die eigentliche<br />
Planung hat noch nicht stattgefunden, weil immer wieder<br />
etwas dazwischengekommen ist. Es war nicht allein die<br />
Lehrtätigkeit der fünfunddreißigjährigen Theaterwissenschaftlerin,<br />
die sie sehr in Beschlag nahm. Eva ließ sich<br />
auch leicht ablenken. Zwar stöhnte sie immer über die vielen<br />
Sitzungen an der Universität, doch Sam wusste, dass<br />
diese ihr insgeheim Spass machten, weil sie sich dabei unentbehrlich<br />
vorkam. Deshalb nahm sie auch immer neue<br />
Aufgaben an.<br />
Sam hat sich schon oft gefragt, ob ihre Freundin mit<br />
dieser Geschäftigkeit etwas ausblenden wolle. Eva kam ihr<br />
manchmal wie ein Kreisel vor, der auf keinen Fall aufhören<br />
darf, sich um seine Spitze zu drehen. Allerdings muss<br />
sich Sam eingestehen, dass auch sie selbst nicht schuldlos<br />
an dem Aufschub ihres gemeinsamen Projekts ist. Als freischaffende<br />
Fotohistorikerin kann sie es sich kaum leisten,<br />
14
gute Angebote abzulehnen. Weil die Planung einer Ausstellung<br />
zusammen mit einem anderen Fotografen in den letzten<br />
Monaten viel Zeit in Anspruch genommen hat, war sie<br />
sogar froh, dass die Frage nach dem ShakespeareProjekt<br />
nicht aufkam.<br />
Jetzt sitzen die beiden endlich gemeinsam auf der kleinen<br />
Terrasse hinter dem Haus. Eva ist auf dem Markt gewesen,<br />
hat Unmengen Spinat mitgebracht und diesen zum<br />
Mittagessen zubereitet. Die Teller sind noch nicht abgeräumt.<br />
Reste vom Käse und der aufgeschnittenen Wurst,<br />
die sie dazu gegessen haben, liegen noch auf dem schmalen<br />
langen Holzbrett.<br />
Eva pickt an den Brotkrümeln, die auf der Tischdecke<br />
verstreut sind, und hört Sam aufmerksam zu. Es gefällt ihr,<br />
wie sie mit ihrer haspelnden Stimme ihre Gedanken vorantreibt,<br />
als wären sie ein Ball auf einer Spielfläche. Wie<br />
eine Wortakrobatin kommt ihr die Freundin mit den kurz<br />
geschnittenen rotblonden Haaren vor. Gewandt vollzieht<br />
sie ihre Ideenschlaufen und läuft dabei nie Gefahr, den Ball<br />
zu verlieren. Eva selbst hat den Hang, sich vor lauter Begeisterung<br />
in den Seilen ihrer Gedanken zu verheddern. Doch<br />
mit Sam kann sie allen spontanen Einfällen freien Lauf lassen.<br />
Auf die Freundin, die sie seit ihrer Schulzeit kennt, ist<br />
Verlass. Sie wird sie jedes Mal wieder aus diesen Seilen befreien.<br />
Jetzt aber will sie den Ball an sich reißen. Auf Sams<br />
Einwand muss sie antworten.<br />
«Die Liebe ist durchaus eine Art Verschwörung», verteidigt<br />
sie sich. «Politische Verschwörungen sind zwar gegen<br />
eine ganz bestimmte Person oder eine konkrete staatliche<br />
Ordnung gerichtet, aber wichtig daran ist doch, dass die<br />
15
jenigen, die die Intrige durchführen, gemeinsam im Geheimen<br />
planen. Und wenn man verliebt ist, meint man doch<br />
auch, man sei mit der geliebten Person heimlich verbunden.<br />
Man glaubt felsenfest an dieses geheime Bündnis.» Kurz<br />
hält sie in ihrer Rede inne, um sich zu vergewissern, dass<br />
Sam ihr nicht widersprechen will, und fährt, weil kein Anzeichen<br />
dafür kommt, fort. «Es geht aber noch weiter. Hat<br />
man sich erst einmal auf diese Fantasie eingelassen, gibt es<br />
nur noch diese Zweisamkeit. Alles andere verschwindet im<br />
Hintergrund. Deshalb ist die Liebe auch immer eine Spur<br />
gewalttätig. Das Ziel ist es, die geliebte Person irgendwie<br />
zu überwältigen. Man will sie in den Strudel der eigenen<br />
Leidenschaft mit hineinziehen.» Eva blickt die Freundin<br />
mit ihren klaren blauen Augen herausfordernd an. «Ich würde<br />
es so auf den Punkt bringen: Geheimhaltung in der Politik<br />
arbeitet mit Verschwörungen, Geheimhaltung in der<br />
Liebe arbeitet mit Verschweigen.»<br />
Während Eva weiterspricht, lehnt Sam sich auf dem<br />
Stuhl zurück. Sie ertappt sich dabei, vor allem auf die Bewegungen<br />
der Hände ihrer Freundin zu achten. Mit ihren<br />
Fingern zeichnet diese unsichtbare Figuren in die Luft –<br />
kleine Quadrate, das Schrauben an einem Zylinder, ein emphatisch<br />
gesetzter Punkt oder schnell aufeinanderfolgende<br />
Striche. Sam fühlt sich daran erinnert, was Eva ihr von<br />
dem rhetorischen Geschick ihres Vaters erzählt hat. Dieser<br />
soll von sich behauptet haben, sein Erfolg als Rechtsanwalt<br />
habe im Wesentlichen damit zu tun gehabt, dass es ihm immer<br />
leichtgefallen sei, aus dem Beweismaterial eine plausible<br />
Geschichte zusammenzubasteln. Geschworene könne<br />
man dann überzeugen, wenn die eigene Rekonstruktion<br />
16
der Ereignisse glaubwürdiger sei als die der Staatsanwaltschaft.<br />
Dabei sei aber gar nicht das juristische Argument<br />
ausschlaggebend, sondern die emotionale Wirkung des Plädoyers.<br />
Stolz gab Eva zu, dass sie diese Kunstfertigkeit von<br />
ihrem Vater gelernt habe. Nur sind an diesem Nachmittag<br />
die Geschworenen, die sie mit ihrem begeisterten Vortrag<br />
überzeugen will, unsichtbare Gestalten.<br />
«Was mich bei Shakespeare interessiert, ist die Lust am<br />
Geheimnis», führt Eva, die auf das Ende ihres Plädoyers<br />
zusteuert, nun aus. «Die Figuren, die den Akt der Geheimhaltung<br />
an sich begehren. Ich bezeichne das als ‹Kryptomanie›:<br />
ein zwanghafter Trieb zur Geheimhaltung. Indem<br />
die Figuren ihren Mitmenschen Information vorenthalten,<br />
werden sie – zumindest in ihren Augen – besonders wichtig.»<br />
«Das ist auch ein Akt der Selbsttäuschung», wirft Sam<br />
ein, «denn ob es ein Geheimnis gibt oder nicht, spielt gar<br />
keine Rolle.»<br />
Eva lächelt zustimmend. «Eine Kryptomanin wittert<br />
stän dig Geheimnisse in ihrem Umfeld. Sie glaubt, ihre Mitmenschen<br />
würden ihr etwas vorenthalten oder hinter ihrem<br />
Rücken etwas aushecken. Sie steht im Zentrum der Verschwörung.<br />
Alles, was sie erlebt, ist bedeutsam und geheimnisvoll.<br />
Sie allein ist feinfühlig genug, Geheimnisse aufzuspüren,<br />
wo andere nichts vermuten.»<br />
Sam merkt, wie weit sie von ihrem eigentlichen Thema<br />
abzuschweifen drohen. Die Leidenschaft, mit der Eva sich<br />
in dieses Projekt einbringt, hat für sie auch einen Hauch von<br />
Selbstbespiegelung. Ihr wäre es wohler, sachlich zu bleiben<br />
und das Gespräch zu Shakespeare zurückzuführen. Doch<br />
17
sie bleibt ihrem Namen treu: Samantha – diejenige, die<br />
zuhört. Geduldig lässt sie Eva ihre gedanklichen Pirouetten<br />
drehen. «Wenn wir bei unserem Projekt von der Kryptomanie<br />
ausgehen, dann müssen wir uns fragen, was den<br />
Figu ren eigentlich bleibt, wenn alles, was nur im Geheimen<br />
genossen werden konnte, aufgeklärt worden ist. Bei Shakespeare<br />
ist die Auflösung im fünften Akt nie wirklich befriedigend.<br />
Überhaupt ist es doch oft so, dass man ein Geheimnis<br />
wie einen verborgenen Schatz behandelt. Man will ihn<br />
um keinen Preis offenlegen.»<br />
Sam versucht, nicht auf Evas Einfall einzugehen, sondern<br />
knüpft daran an, was die Freundin über Shakespeare<br />
gesagt hat. «Wir dürfen bei all diesen Spekulationen den<br />
historischen Hintergrund nicht vergessen. Schließlich ist<br />
Königin Elizabeth für das ausgeklügelte Spionagenetzwerk<br />
berühmt, das sie an ihrem Hof betrieben hat. Du hast<br />
mir doch erzählt, sie habe nicht nur ihre politischen Gegner,<br />
sondern auch ihre Höflinge ständig überwachen lassen.<br />
Heute würden wir das eine Kultur der Paranoia nennen.<br />
Alle standen unter Verdacht. Wenn wir bei unserem Projekt<br />
den Fokus auf die Geheimpolizei am Hof Elizabeths legen,<br />
würde uns das zu den politischen Verschwörungen zurückbringen.»<br />
«Und zu den Geistern, die in diesen Stücken herum spuken»,<br />
ergänzt Eva. «Das sind doch auch Geheimagenten,<br />
die aus der Unterwelt mit verschlüsselten Botschaften zurückkehren.<br />
Genau wie wir von dem heimgesucht werden,<br />
was wir verdrängen. Und was uns heimsucht, versuchen<br />
wir wiederum geheim zu halten.»<br />
Sam spürt eine gewisse Ungeduld in sich aufkommen.<br />
18
Sosehr sie die fantasievollen Ausführungen ihrer Freundin<br />
schätzt, es irritiert sie auch, wenn sie zu sehr vom Weg<br />
abführen. Sie laufen Gefahr, nicht weiterzukommen. Sie<br />
wird pragmatisch bleiben müssen. «Wenn wir das nicht wie<br />
persönliche Angelegenheiten behandeln, könnten wir den<br />
Bezug zur Gegenwart deutlicher herausarbeiten», wirft sie<br />
ein. «In den letzten Wochen wurde in den Medien das fünfzigjährige<br />
Jubiläum der Kapitulation des Nationalsozialismus<br />
thematisiert. Dabei bleibt vieles aus dieser Zeit noch<br />
immer unausgesprochen. Man weiß es zwar und will es<br />
trotzdem nicht benennen. Man behält es lieber für sich. Ist<br />
das nicht auch eine Form der Kryptomanie?»<br />
Eva hat nicht richtig zugehört und ist mit ihren Gedanken<br />
noch immer bei den Geistern der Vergangenheit. «Vielleicht<br />
halten wir grundsätzlich an Geheimnissen fest, weil<br />
sie für uns aus irgendeinem Grund wichtig sind. Deshalb beharre<br />
ich auf dem Vergleich mit einem verborgenen Schatz.<br />
Wir wissen, wir könnten ihn bergen. Aber nur als Versprechen<br />
behält dieser Schatz seinen Wert.»<br />
Seit sie begonnen haben, den Geheimnissen und Verschwörungen<br />
bei Shakespeare nachzugehen, hat Sam immer<br />
wieder darüber nachgedacht, warum die Idee der Heimsuchung<br />
für ihre Freundin so wichtig ist. Als Eva mit dem<br />
Vorschlag für dieses Projekt zu ihr kam, sagte sie, es hänge<br />
auch mit einem persönlichen Anliegen zusammen. Ihr sei<br />
es schon immer vorgekommen, als gäbe es auch in ihrer<br />
Familie ein Geheimnis. Da seien Unstimmigkeiten in der<br />
Familiengeschichte, die sie sich nicht erklären könne.<br />
Sam kannte Shakespeare hauptsächlich von den Verfilmungen.<br />
Evas Vorschlag reizte sie, weil er sie zwingen wür<br />
19