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Leseprobe »Tödlicher Podcast«

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CLEO KONRAD<br />

Tödlicher Pod cast


Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige Buchproduktion.<br />

Wir verwenden Papiere aus nachhaltiger Forstwirtschaft und<br />

verzichten darauf, Bücher einzeln in Folie zu verpacken. Wir stellen<br />

unsere Bücher in Deutschland und Europa (EU) her und arbeiten<br />

mit den Druckereien kontinuierlich an einer positiven Ökobilanz.<br />

Originalausgabe<br />

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer.<br />

Copyright 2024 by Bastei Lübbe AG,<br />

Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln<br />

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und<br />

Data-Mining bleiben vorbehalten.<br />

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn<br />

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter der Verwendung von<br />

Motiven von © shutterstock: printstocker | Maksim Kabakou<br />

Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen<br />

Gesetzt aus der Bembo<br />

Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-7857-0045-7<br />

2 4 5 3 1<br />

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de<br />

Bitte beachten Sie auch: lesejury.de


#130 Malu M.<br />

** Ihr hört den Pod cast Verbrechen Berlin. Haltet die<br />

Augen offen. Denn das Grauen lauert überall. **<br />

»Hallo, Berlin. Dies ist ein schlimmer Morgen.<br />

Ihr habt so viele Hinweise geschickt, so viele von<br />

euch haben sich an der Suche beteiligt.<br />

Trotzdem ist jetzt das Schlimmste eingetroffen, das,<br />

was manche von euch schon befürchtet hatten.<br />

Sie ist tot. Was für ein Schock! Ihr wisst, ich habe sie<br />

persönlich gekannt.<br />

Sie war eine dieser Frauen, die immer taff sind, sich<br />

niemals schonen. Aber hinter ihrer Stärke verbarg sie etwas.<br />

Ein Geheimnis, eine Verletzlichkeit, die ich erst kennenlernte,<br />

als es fast schon zu spät war.<br />

Außerdem war sie Mutter. So wie ich.<br />

Unglaublich viel Schmerz hinterlässt sie, es fällt mir<br />

schwer, darüber zu sprechen.<br />

Ich weiß, ihr seid genauso erschüttert.<br />

Und gleich werdet ihr, meine Stadt, genauso wütend<br />

sein wie ich!<br />

Die Polizei weigert sich, unsere Theorien aufzugreifen.<br />

Sie haben mir sogar gedroht, ich solle ihnen keine<br />

weiteren Steine in den Weg legen. Ja, ihr hört richtig.<br />

5


Euch ist es zu verdanken, dass sie gefunden wurde,<br />

und jetzt sollen wir uns Augen und Ohren zuhalten. Während<br />

ihr Mörder draußen frei herumläuft!<br />

Das kann ich nicht zulassen. Und ich weiß, ihr könnt<br />

es auch nicht.<br />

Der, der sie umgebracht hat, muss für seine Tat büßen!<br />

Wir sind Berlin. Wir halten zusammen. Und gemeinsam<br />

werden wir ihn aufspüren!«<br />

6


Nina<br />

Wir alle haben Geheimnisse. Die meisten davon sind peinlich<br />

oder traurig. Wir halten sie so gut versteckt, wie es geht. Sie sind<br />

Erinnerungen, die wir verdrängen, Tagebücher, die wir in Safes<br />

sperren, Briefe, die wir in Schachteln packen und in den staubigen,<br />

hintersten Winkeln unseres Zuhauses vergraben. Wir wissen,<br />

wer wir sind, aber die anderen sollen es auf keinen Fall herausfinden.<br />

Mich allerdings lassen die Menschen ohne Zögern herein.<br />

Die meisten schauen mir nicht einmal in die Augen, wenn sie<br />

mir die Tür öffnen. Sie erteilen mir Anweisungen und brechen<br />

dann in aller Eile zu ihren Terminen auf. Ich bleibe allein in ihren<br />

Häusern zurück – ausgerüstet mit Staubsauger und Wischmopp,<br />

um in aller Ruhe ihre dunklen, schmutzigen Ecken zu erkunden.<br />

Manchmal macht es mir zu schaffen, dass meine Kunden nicht<br />

über mich nachdenken. Ich meine, ich bin auch ein Mensch,<br />

egal, welcher Arbeit ich nachgehe. Und Putzen ist nicht gerade<br />

meine Berufung. Ich bin darin nur deshalb so gut, weil der Job<br />

der letzte in einer langen Reihe noch schlechterer Jobs ist.<br />

Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Aber ich<br />

gebe mir Mühe, das Beste daraus zu machen. Während ich fremdes<br />

Parkett poliere oder Kronleuchter abstaube, denke ich oft<br />

nach. Am liebsten über meine Kunden. Es gibt nichts Spannenderes<br />

für mich als Menschen. Ihre Marotten, ihre Geschichten,<br />

aber vor allem ihre Geheimnisse. Ihre Häuser verraten mir eine<br />

Menge davon.<br />

7


Damit meine ich nicht so etwas Alltägliches wie Essensreste,<br />

die im Kühlschrank schimmeln, oder miefende Socken unter<br />

dem Sofa. Ich rede von den Merkwürdigkeiten, denen etwas<br />

Zwielichtiges anhaftet. Von Dingen, die es vorziehen, im Verborgenen<br />

zu bleiben.<br />

Die Nacktfotos der Ex-Frau zum Beispiel, die ich unter seiner<br />

Matratze aufstöbere und wieder zurückstecke. Das wöchentliche<br />

Kontingent zerknüllter Liebesbriefe, das ich stillschweigend<br />

zur Altpapiertonne trage. Und den Klang von Schnapsflaschen in<br />

abgeschlossenen Schubladen, die verräterisch klirren, wenn ich<br />

beim Staubsaugen gegen den Schreibtisch stoße.<br />

Ich mag meine Kunden – nicht trotz ihrer Schwächen, sondern<br />

genau deswegen. Weil wir alle fehlbar sind, auf die eine oder<br />

andere Weise.<br />

Wenn ich ihnen helfen kann, tu ich das, ohne zu zögern.<br />

Doch manche ihrer Häuser wecken Geisterstimmen. Wie Erinnerungen,<br />

nur düsterer. Warum ist die Tür zum Keller plötzlich<br />

verschlossen? Warum steht das Bild der Tochter nicht mehr<br />

an seinem Platz? Wenn ich Rotweinflecken aus dem Teppich<br />

schrubbe, fürchte ich manchmal, sie wären Blut.<br />

Das Grauen lauert überall, sagt Malu M. aus gutem Grund.<br />

Wir müssen die Augen offen halten.<br />

Ihre Stimme klingt weich in meinen Kopfhörern, aber es<br />

schwingt immer etwas Raues darunter. Ein dunkler, schleppender<br />

Ton, der uns, die ihr zuhören, etwas verspricht: dass Malu M.<br />

uns in wahre Abgründe entführen wird. Und dieses Versprechen<br />

hält sie in jeder Folge ihres Pod casts.<br />

So spannend berichtet sie über Gewalttaten aus meiner Stadt,<br />

dass mir beim Bügeln und Staubsaugen Schauer über den Rücken<br />

laufen. Ihre Geschichten wecken so viele Gefühle in mir,<br />

dass ich beim Hören oft zu atmen vergesse – von Angst über<br />

Trauer bis hin zu Wut. Und trotzdem tue ich sie mir jedes Mal<br />

wieder an.<br />

8


Ja, ich bekenne mich schuldig. Ich bin genauso süchtig nach<br />

ihrem True-Crime-Pod cast »Verbrechen Berlin« wie die halbe<br />

Stadt.<br />

Malu ist so berühmt, wie ich unsichtbar bin. Und mein Leben<br />

ist auch nicht gerade der Stoff für einen Pod cast. Nur die<br />

läppische Geschichte von einem gebrannten Kind, das das Leben<br />

so plötzlich in Erwachsenenklamotten gesteckt hat, dass es<br />

versäumt hat hineinzuwachsen. Jetzt passen sie meiner Tochter<br />

besser als mir.<br />

Und doch war es ausgerechnet Malus Stimme, die etwas in<br />

mir geweckt hat. Hoffnung, eine Herausforderung. Eine Chance,<br />

mit einer Geschichte abzuschließen.<br />

Hätte ich allerdings gewusst, dass für Malu M. das Grauen,<br />

von dem sie in ihren Pod casts spricht, so überaus real ist, hätte ich<br />

mich nie bei ihr um den Job beworben.<br />

Jetzt ist es zu spät. Wir alle haben unsere Geheimnisse. Die<br />

meisten sind uns nur peinlich. Doch manche entpuppen sich als<br />

tödlich.<br />

9


Jenni<br />

Es kam ihr vor, als ob zwischen ihr und der Dachschräge Spinnweben<br />

wüchsen, so lange lag sie schon reglos da. Manchmal<br />

krabbelten die Spinnen über ihren Bauch und ihre Brust, obwohl<br />

sie die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen hatte. Dann<br />

zuckte sie zusammen und hielt den Atem an, bis sie ihn wieder<br />

leise und schnell ausstieß. Hier gab es keine Spinnen. Sie wusste<br />

das sicher, denn sie wienerte diese kleine Kammer fast jeden Tag,<br />

und wenn sie dabei ein Krabbeltier fand, trug sie es zum Fenster<br />

und entließ es in die Freiheit.<br />

Ab morgen würde sie hier nie wieder sauber machen. Sie<br />

würde frei sein. Aber nur, wenn ihr Plan funktionierte. Angespannt<br />

hielt sie die Augen weit offen und lauschte. Benni<br />

schnaufte im Bett auf der anderen Seite der Kammer, unten<br />

knarzten die Holzbohlen. Vor dem Fenster pfiff der Wind in harten<br />

Böen. Der Ahornbaum warf sich hin und her, Schattenäste<br />

huschten über die Holzverkleidung über ihr.<br />

Frühlingsstürme, hatte ihre Mutter immer dazu gesagt. Der<br />

mächtige Flügelschlag von neu erwachendem Leben. Und dann<br />

lachte sie, strich Jenni über den Kopf und erzählte ihr von ihrer<br />

Geburt. So wild hat der Wind geheult in der Nacht, als du geboren<br />

wurdest, meine Kleine. Und so still warst du.<br />

Still war Jenni noch immer, seit sechzehn Jahren. In diesem<br />

Haus war es ratsam, den Mund zu halten. Seine Aufmerksamkeit<br />

nicht zu wecken, besonders nicht seine Wut.<br />

Vorgestern hatte sie Geburtstag gehabt. Es war anfangs der<br />

10


perfekte Tag gewesen, mit blendender Morgensonne, die sie die<br />

Augen zukneifen ließ, und einem klaren Himmel wie ein aufgespannter<br />

Baldachin. Wenn sie aus dem Dachfenster schaute,<br />

konnte sie hinter dem Bahndamm und den Weizenfeldern den<br />

Horizont sehen. An manchen Tagen, wenn der Zug so laut vorbeirauschte,<br />

dass das ganze Haus vibrierte, riss sie das Fenster auf<br />

und schrie gegen das Brausen an, schrie, bis das Betongewicht<br />

auf ihrer Brust leichter wurde. Doch an diesem Geburtstag hatte<br />

sie nur die Weite tief in sich hineingesogen und genossen, wie<br />

die Sonne ihr Gesicht wärmte. Sie hatte sich wieder umgedreht<br />

und auf dem Nachtkästchen ihren Lieblingsnagellack entdeckt,<br />

L’Oréal Rosé, mit einer schiefen Papierschleife, auf die Ales gute<br />

gekritzelt war. Bestimmt hatte Benni den Nagellack geklaut.<br />

Trotzdem ließ das Geschenk ihr Herz hüpfen. Sie frühstückten<br />

zu zweit, und er malte ihr kichernd die Nägel an.<br />

Als sie danach ihr Fahrrad durch die Einfahrt geschoben<br />

hatte, am Lastwagen mit den platten Reifen vorbei, war alles still<br />

geblieben, und auf dem Weg zur Schule blühten die wilden Tulpen.<br />

Für ein paar Stunden hatte sie das Gefühl, dass doch alles<br />

aushaltbar war, irgendwie.<br />

Aber als sie am Nachmittag zurückkam, war Benni nicht<br />

zu sehen gewesen. Schwere Regenwolken hingen über dem<br />

Haus, und er werkelte an seinem LKW herum. Er begrüßte sie<br />

mit einer Ohrfeige, weil sie vergessen hatte, auf dem Heimweg<br />

die Einkäufe zu erledigen, und überhaupt, wo steckte der<br />

verdammte Bengel, der sollte doch den Wagenheber festhalten.<br />

Noch eine Ohrfeige landete in ihrem Gesicht, diesmal für ihren<br />

Bruder. Kein Wort sagte er zu ihrem Geburtstag. Und ihre<br />

Mutter war nicht da, um sie zu umarmen und ihr die Geschichte<br />

von den Frühlingsstürmen ins Ohr zu flüstern. Schon seit sieben<br />

Jahren nicht mehr.<br />

Als sie in ihre Dachkammer stieg, polterte bei jedem Schritt<br />

wieder schwer der Betonklumpen in ihrer Brust. Am liebsten<br />

11


hätte sie das Fenster geöffnet und hinausgeschrien. Doch weil<br />

kein Zug fuhr, der ihre Schreie überdeckt hätte, rollte sie sich im<br />

Bett zusammen und bohrte die Finger in die vergilbte Zudecke.<br />

Lauschte, ob er ihr hinterherkam. Es gab schlimmere Dinge als<br />

Ohrfeigen, Monster, die hinter seinem Grinsen lauerten, wenn<br />

Benni nicht da war. Eine Finsternis, die sie verschluckte, würde<br />

sie jemals darüber nachdenken.<br />

Im Haus blieb es still, auf dem Dach allerdings begann es zu<br />

prasseln. Bald tropfte der Regen mit einem satten Platschen in<br />

den Eimer unter der Schräge.<br />

Von einem Tag auf den anderen war ihre Mutter verschwunden,<br />

ohne ein Wort. Weil Worte ihren Verrat nicht entschuldigen<br />

konnten. Ein Nachbar hatte sie gesehen, wie sie am Bahnhof in<br />

die Regionalbahn stieg, eine elegante Reisende mit Hut, Mantel<br />

und schwerem Koffer, wie in einem Film. Benni war noch wochenlang<br />

bei jedem Rattern aus dem Haus gerannt und hatte zum<br />

Bahndamm hochgestarrt, weil er hoffte, sie würde vorbeifahren.<br />

Als brausten die Züge und ihre Passagiere in einem endlosen Kreis<br />

um ihr Haus, als würde niemals jemand aussteigen oder verloren<br />

gehen. Seither war keiner von ihnen mehr Zug gefahren.<br />

Nach Mutters Verschwinden war alles viel schlimmer geworden.<br />

Jenni wehrte sich nie, hielt es aus, goss ihr Herz in Beton,<br />

damit es nicht zersprang, auch für Benni.<br />

Ihre Mutter war mutig gewesen, wunderhübsch und gemein.<br />

Aber Jenni nicht. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu<br />

trösten, dass sie es nur noch zwei Jahre aushalten musste. An ihrem<br />

achtzehnten Geburtstag wäre sie frei. Wenn sie gehen wollte,<br />

durfte er sie nicht mehr aufhalten.<br />

Allerdings dauerten zwei Jahre ganz schön lange. Sie ballte<br />

die Fäuste und zählte die Tropfen, die in den Eimer platschten.<br />

Dreißig, hundert, zweihundert. Und plötzlich spürte sie, dass sie<br />

das nicht mehr aushalten konnte. Nicht siebenhundertdreißig<br />

Tage mit diesem Betonklumpen in der Brust. Sie fuhr aus dem<br />

12


Bett hoch, schnappte sich ihren Wanderrucksack und stopfte ihre<br />

Lieblingsjeans und zwei Pullis hinein.<br />

War das schon Mut? Oder nur Verzweiflung?<br />

Am nächsten Tag schwänzte sie die erste Schulstunde und radelte<br />

zum Bahnhof, um die Zugverbindungen nachzuschauen.<br />

Um sich anzuspornen, kaufte sie auch gleich ein Ticket. Für<br />

heute Nacht, dreiundzwanzig Uhr dreißig. Der letzte Regionalexpress<br />

in die Stadt. Am Nachmittag räumte sie ein letztes Mal<br />

auf und packte den Rucksack sorgfältiger, mit Regenjacke, Unterwäsche<br />

und Zahnpasta.<br />

Jetzt lag sie hier, angespannt wie ein Tier auf der Flucht. In<br />

eineinhalb Stunden würde der Zug gehen. Sie musste ihn erwischen!<br />

Einen weiteren Fluchtversuch würde sie sich nicht trauen.<br />

Sie hatte jetzt schon so viel Angst. Ihr Plan war Murks, irgendwas<br />

würde bestimmt schiefgehen.<br />

Sie lauschte. Das alte Haus war so hellhörig, dass sie jede einzelne<br />

Holzbohle im Wohnzimmer knarren hörte. Er wanderte<br />

dort unten murmelnd durch seine Schwaden von Zigarettenrauch.<br />

Früher war er tags und nachts Touren gefahren mit seinem<br />

Lastwagen – für die Kinder eine Atempause. Doch erst ging angeblich<br />

der Wagen kaputt, dann kam raus, dass sie ihm bei der<br />

Spedition gekündigt hatten. Betriebsschließung.<br />

Jenni hörte sie im Sportverein über ihn reden. Er hatte einen<br />

guten Ruf in der Kleinstadt. Der Fußballtrainer, der lustige Kegelkumpel,<br />

der Vetter vom Bürgermeister. Und auch noch alleinerziehender<br />

Vater.<br />

Niemanden interessierte es, wie unerträglich es für sie und<br />

Benni zu Hause geworden war. Wenn er nur endlich Ruhe gäbe!<br />

Auf der anderen Seite der Kammer stieß ihr Bruder ein Wimmern<br />

aus, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie hielt den Atem<br />

an, war ganz still.<br />

Benni. Er hatte den gleichen leichten Schlaf wie die Rehkitze,<br />

die sie im Sommer auf den Weizenfeldern hinter den Glei-<br />

13


sen aufstöberten. Die erst hochschreckten und dann erstarrten,<br />

den Kopf zwischen den Vorderbeinen ausgestreckt. Als ob sie<br />

hofften, unsichtbar zu sein.<br />

Wenn Benni aufwachte, dann auch immer mit aufgerissenen<br />

Augen und einem Japsen, als wäre er noch fünf und nicht zwölf.<br />

Er sah sogar aus wie ein Rehkitz, mit den braunen Augen und<br />

dem dunkelblonden Wuschelhaar, der schmalen, hochgeschossenen<br />

Gestalt. Er hielt zwar nicht mehr nach Mutter Ausschau, aber<br />

jeden Abend streute er Futter an der Hecke vor dem Bahndamm<br />

aus, für die Eichhörnchen, Rotkehlchen und Meisen. Und wenn<br />

sie in der Dämmerung beide im Bett lagen, das Dachfenster gekippt,<br />

erkannte er die einzelnen Zugtypen am Rattern und die<br />

Vögel am Gesang.<br />

Heute Nacht durfte er auf gar keinen Fall aufwachen.<br />

Ihn zurückzulassen war das Allerschlimmste am ganzen Plan.<br />

Aber wenn sie ihn mitnähme, würde die Polizei sie erwischen,<br />

so wie damals. Zwei Beamte hatten sie im Streifenwagen nach<br />

Hause gefahren und danach im Vorgarten ein Bierchen mit ihrem<br />

Vater getrunken.<br />

Seinen Bälgern würde er nach so einer Aktion die Leviten lesen,<br />

hatte der eine gesagt und ihrem Vater zugeprostet. Mit einem<br />

Augenzwinkern. Am nächsten Morgen hatten die Blutergüsse<br />

auf Jennis ganzem Rücken gebrannt, während sie auf dem Stuhl<br />

im Büro der Schulpädagogin saß und sich noch eine Strafpredigt<br />

anhörte.<br />

Deshalb musste sie allein verschwinden, so wie Mutter. Aber<br />

immerhin hatte sie Benni einen Brief mit Abschiedsworten in<br />

der Schultasche versteckt. Außerdem würde er drei Snickers in<br />

seiner Trainingsjacke finden und noch mal drei in der Scheune,<br />

bei den mit Kies gefüllten Wasserflaschen, die er als Gewichte<br />

benutzte. Männer fürchten sich auch, nur anders. Das hatte Mutter<br />

ihr einmal erklärt, während sie ihre Augenbraue mit einer<br />

Tiefkühlpackung Erbsen kühlte. Wenn sie sich bedroht fühlen,<br />

14


müssen sie noch einen draufgeben. Zeig ihnen also nie, dass du<br />

stark bist.<br />

Jenni hatte sich nie stark gefühlt, und trotzdem hatte ihr Vater<br />

immer noch einen draufgegeben. Benni war ein Junge, außer<br />

Prügel hatte er nichts zu befürchten. Er würde weiter heimlich<br />

trainieren, weil er es ihr versprochen hatte. Das war das Einzige,<br />

was sie für ihn tun konnte: Er sollte stark werden, so wie Russell<br />

Crowe im Actionfilm Gladiator, den sie letztes Jahr zusammen im<br />

Kino gesehen hatten.<br />

Irgendwann würde sich Benni wie der Gladiator nichts mehr<br />

gefallen lassen, sondern zurückschlagen. Dann würde er der<br />

Stärkste in einem Männerhaushalt sein. Die Vorstellung tröstete<br />

sie und ließ sie gleichzeitig schaudern.<br />

Erst jetzt bemerkte sie, dass es unten ruhiger geworden war.<br />

Kein Herumwandern mehr. Nur einmal quietschte noch die Tür<br />

zu seinem Schlafzimmer, dann war es still.<br />

Ihr Herz machte einen einzelnen, harten Schlag, der ihr bis<br />

zu den Ohren klang.<br />

Sie schob die Bettdecke zur Seite und rollte sich von der Matratze,<br />

tastete mit den Füßen vorsichtig nach dem Boden. Die<br />

Turnschuhe trug sie seit Stunden, darin klebten ihre Zehen heiß<br />

und verschwitzt. Sie zog den Rucksack unter dem Bett hervor<br />

und drückte die Tür zum Treppenhaus auf.<br />

Zu Benni schaute sie nicht. Manchmal reichte ein Blick, um<br />

ihn zu wecken.<br />

Zitternd holte sie Luft. Draußen schob sie die Tür hinter sich<br />

zu, setzte den Rucksack auf und zurrte die Träger ganz fest. Die<br />

Treppe war die größte Hürde. Es war stockdunkel, und die abgetretenen<br />

Stufen knarzten noch lauter als die Bohlen im Wohnzimmer.<br />

Doch Jenni hatte Übung darin, sich lautlos zu bewegen. Die<br />

erste Stufe. Quälend langsam schob sie den Fuß vor. Auf der<br />

zweiten und dritten Stufe balancierte sie ganz außen, dort, wo<br />

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das Holz an der Wand verschraubt war. Ihre Schultern krampften<br />

unter dem Gewicht des Rucksacks. Die vierte Stufe ächzte. Mit<br />

hastigen Sprüngen setzte sie über die nächsten drei hinweg.<br />

Jäh stieß das Holz unter ihren Füßen ein Knurren aus. Als<br />

warne das Haus sie, noch weiter zu gehen.<br />

Sie schob sich die Faust in den Mund. Blut rauschte in ihren<br />

Ohren. Noch konnte sie den ganzen verrückten Plan abblasen.<br />

Andererseits war da das Ticket in ihrer Tasche. Der Zug würde<br />

nicht auf sie warten.<br />

Zögerlich setzte sie weiter einen Fuß vor den anderen. Endlich<br />

traten ihre Turnschuhe auf Fliesen. Im Durchgang zum Flur<br />

mischte sich ein diffuses Schimmern ins Dunkel, genug, um<br />

Schemen zu erahnen.<br />

Kein Mucks jetzt! Die Tür zu seinem Schlafzimmer befand<br />

sich gleich vor ihr. Ein schwarzer Spalt zwischen Wand und Tür,<br />

dahinter lauerte mehr Finsternis, als sie ertragen konnte. Mit abgewandtem<br />

Gesicht tastete Jenni sich in den Flur. Dort blickte<br />

sie hoch zum Zwielicht, das durch das schmale Fenster über der<br />

Haustür auf sie herab schien wie ein Versprechen. Sie machte einen<br />

großen Schritt – und stolperte über Bennis Stiefel.<br />

Die hatte sie doch aufgeräumt! Sie taumelte nach vorn, versuchte,<br />

ihren Sturz abzufangen. War Benni noch mal draußen gewesen,<br />

um die Tiere zu füttern?<br />

Ihre Schulter prallte gegen das Schuhregal. Sofort gerieten die<br />

Bretter ins Wanken. Schuhe und andere Gegenstände rutschten<br />

ihr entgegen. Oh nein! Sie versuchte noch, die Porzellanschale<br />

zu fangen, in der sie die Schlüssel von allen aufbewahrten – und<br />

verfehlte sie. Mit einem hellen Klirren zerschellte das Porzellan<br />

auf den Fliesen.<br />

Ein Licht ging an. Noch während sie zur Haustür hechtete,<br />

wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.<br />

»Was schleichst du hier herum?« Er packte sie und warf sie zu<br />

Boden.<br />

16


Scherben bohrten sich in ihre Handflächen. Ihr Rucksack<br />

klatschte gegen die Fliesen. Tabakatem schlug ihr ins Gesicht, der<br />

Dampf von Wodka, seine Hand ohrfeigte sie links und rechts.<br />

»Wolltest du abhauen? Zu einem Kerl?«<br />

Ihre Tränen verwischten sein Gesicht zu einem grauen Schemen.<br />

Fast mühelos wuchtete er sie in die Höhe. So stark war er.<br />

Warum hatte sie nur geglaubt, dass sie vor ihm fliehen könnte?<br />

»Du kannst was erleben!«<br />

Keuchend und schwankend trug er sie durch den Flur. Nicht<br />

ins Schlafzimmer, sondern zur Küche. Sie hatte die Augen zusammengekniffen.<br />

Gleich würde er auch hier das Licht anmachen,<br />

die grelle Neonröhre, die er über den Herd montiert hatte,<br />

und sich über sie beugen.<br />

Stattdessen zögerte er. Vielleicht war er müde und betrunken.<br />

Vielleicht schaute er nach oben zur Zimmerdecke, dachte daran,<br />

dass Benni zu Hause war. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen.<br />

Alles, was sie sagen konnte, würde falsch sein, das wusste sie.<br />

Er riss die Tür zur Vorratskammer auf und schubste sie hinein.<br />

Noch während sie fiel, trat sein Fuß in ihren Bauch. Der<br />

Schmerz raubte ihr jede Luft. Stöhnend sackte sie zusammen,<br />

würgte, schluchzte, während er die Tür zuwarf und den Schlüssel<br />

herumdrehte.<br />

»Miststück!« Ein letztes Donnern gegen die Tür, dann wurde<br />

es still.<br />

Hier in dem fensterlosen Raum roch es nach Schimmel<br />

und Mäusekacke. Obwohl sie auch hier putzte, jeden zweiten<br />

Tag. Der Geruch ließ sie noch mehr würgen. Sie beugte sich<br />

vor, hielt sich dabei das Haar aus dem Gesicht. Doch irgendwann<br />

kam nichts mehr aus ihr heraus außer trockenem Schluchzen. Ihr<br />

Hals brannte genauso wie ihre Handflächen, der Magen war ein<br />

einziger dumpfer Schmerz. Noch mehr schmerzte sie, wie ungerecht<br />

alles gelaufen war.<br />

Sie war verloren. Morgen würde er sie grün und blau schla-<br />

17


gen, und wenn er sie damit nicht umbrachte, würde er sie niemals<br />

mehr aus dem Haus lassen.<br />

Wie als Bestätigung schwoll draußen ein Brausen an, als<br />

drückte eine Windböe gegen das Haus. Eine unerträgliche Minute<br />

lang vibrierte die Wand hinter ihr, dann verebbte das Geräusch<br />

wieder. Der Zug war ohne sie gefahren.<br />

In der stillen Leere, die er zurückließ, machte ihr Schmerz etwas<br />

anderem Platz. Sie ballte die Fäuste. Die ganze Zeit hatte sie<br />

an ihrem Plan gezweifelt und an sich selbst. Dabei war es nicht<br />

ihre Schuld gewesen, dass sie es nicht geschafft hatte.<br />

Bennis Stiefel waren schuld. Obwohl sie ihn so oft gebeten<br />

hatte, sie ins Fach zu stellen. Aber er hatte sich darauf verlassen,<br />

dass sie hinter ihm herräumte. Weil das ihre Aufgabe war in diesem<br />

Haus. Aus dem sie niemals entkommen würde, wenn es nach<br />

ihrem Vater ginge, nie.<br />

Sie malte sich aus, ihn ins Gesicht zu schlagen, genauso,<br />

wie er sie geschlagen hatte. Ihre Zähne knirschten, als sie die<br />

Fäuste reckte und der Finsternis einen Kinnhaken gab. Noch<br />

einmal schlug sie zu. Sie spürte die Wut in sich wachsen. Reine<br />

schwarze Wut. Es war ein gutes Gefühl. So lange boxte sie in<br />

die Luft, bis ein Geräusch sie hochschrecken ließ. Jemand war<br />

in der Küche.<br />

Sie kam auf die Beine, die Fäuste weiter wachsam erhoben.<br />

Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür schob sich langsam,<br />

vorsichtig auf. Ihr Bruder. Sie ließ die Hände sinken. Auf Benni<br />

konnte sie nicht wütend sein.<br />

»Verschwinde«, flüsterte sie. »Sonst erwischt er dich.«<br />

Im dünnen Schein einer Taschenlampe wirkte sein Gesicht<br />

spitz und bleich, die Augen aufgerissen. Er hob etwas hoch und<br />

streckte es ihr hin. Ihren Rucksack.<br />

»Du musst weg«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstand.<br />

»Jetzt.«<br />

Sie regte sich nicht.<br />

18


»Nun geh schon!« Sein Flüstern war hell, drängend. Er meinte<br />

es ernst.<br />

Immer noch pulste das schwarze Gefühl in ihr, ließ sie mit<br />

den Zähnen knirschen. Die Wut gab ihrem Bruder recht. Brüsk<br />

nahm sie den Rucksack.<br />

Sie hatte hier nichts mehr verloren. Aber wo sollte sie hin?<br />

Der Zug war fort, die Gleise still.<br />

Auf der anderen Seite des Hauses allerdings, nur ein paar<br />

Hundert Meter entfernt, verlief das dicke graue Band der Hauptstraße.<br />

Und zwei Kilometer weiter befand sich eine Tankstelle,<br />

kurz vor der Auffahrt zur Autobahn. Dort stoppten die Lastwagenfahrer<br />

die ganze Nacht über, tankten, pinkelten, fuhren weiter.<br />

Solche wie er, und andere. Ab und zu nahmen sie Anhalterinnen<br />

mit.<br />

Nur Schlampen trampen, verkündete er immer.<br />

Ihre Mutter hatte einmal gesagt: Autostoppen ist wie Russisch<br />

Roulette. Es kann erst mal gut gehen – aber irgendwann<br />

erwischt dich der Falsche.<br />

Dabei hatte sie nicht Jenni angesehen, sondern ihren Vater.<br />

War Trampen gefährlicher, als hierzubleiben? Nein.<br />

Jenni straffte die Schultern. Sie schwang den Rucksack auf<br />

ihren Rücken und sah ihren Bruder an. Sein Blick huschte hin<br />

und her wie der eines Vögelchens. Vielleicht wollte er doch nicht,<br />

dass sie ging. Aber sie hatte sich entschieden.<br />

»Ich hole dich auch hier raus.« Ihr Flüstern war heiser, ihre<br />

Zunge fühlte sich an wie im Gaumen festgeklebt. »Versprochen.<br />

Spätestens, wenn ich achtzehn bin.«<br />

Er nickte zögerlich, als ob er ihr nicht glaubte, dann machte<br />

er einen Schritt zurück und schniefte. Sie streckte die Hand nach<br />

ihm aus und ließ sie wieder sinken.<br />

»Ich versprech es dir«, flüsterte sie noch einmal und schob<br />

sich an ihm vorbei Richtung Flur.<br />

Kurz wurde ihr schwindelig, als sie den schiefen Spalt seiner<br />

19


Schlafzimmertür gähnen sah, die Finsternis dahinter. Dann stahl<br />

sie sich daran vorbei und öffnete die Haustür. Der Lastwagen in<br />

der Einfahrt war ein schwarzer Koloss, doch dahinter wogten die<br />

Bäume vor dem Nachthimmel.<br />

Sie holte tief Luft. Der Wind warf ihr Regentropfen entgegen,<br />

eine kalte und feuchte Umarmung. Ohne sich noch einmal<br />

umzusehen, trat sie hinaus und verschwand im Dunkel.<br />

20


#124 Malu M. – Verbrechen Berlin:<br />

Der Brandenburger Anhaltermörder, Teil 2<br />

** Ihr hört den Pod cast Verbrechen Berlin. Haltet die<br />

Augen offen. Denn das Grauen lauert überall. **<br />

»Als die LKW-Fahrerin Anna G. an diesem Herbstabend<br />

die vier Treppenstufen zum Shop am Rastplatz Bernau hinunterstieg,<br />

ahnte sie nicht, welch schrecklicher Anblick<br />

sie dort erwartete. Das Erste, was sie hinter den Mülltonnen<br />

sah, war ein blutüberströmter Mädchenarm …«<br />

21


Nina<br />

»Buh!«, brüllt mir jemand so plötzlich ins Ohr, dass ich mit einem<br />

Schrei in die Höhe fahre.<br />

Hinter Malus Stimme und dem Hämmern meines Pulses<br />

höre ich sie lachen. Ich drehe mich um. Jo, dieses freche Gör,<br />

lacht mich über die Sofalehne hinweg einfach aus.<br />

»Irgendwann bringst du mich damit ins Grab«, japse ich und<br />

schiebe den Kopfhörer in den Nacken. Dann klicke ich aufs<br />

Handydisplay und stoppe den Pod cast.<br />

Auf dem Fensterbrett hebt Carlo den Kopf und starrt zu uns<br />

herüber. Sonst warnt mich der Kater immer, wenn meine Tochter<br />

sich anschleicht, um mich zu erschrecken. Der kleine Verräter<br />

gähnt unbeeindruckt, rollt seine rosa Zunge aus und beginnt,<br />

sein schwarzes Fell zu putzen.<br />

»Ach was«, sagt Jo mitleidslos. »Selbst schuld, wenn du im<br />

Dunkeln sitzt und dir diese gruseligen True-Crime-Fälle anhörst.<br />

Warum bist du überhaupt schon zu Hause?«<br />

Ich könnte erzählen, dass Frau von Arlberg den Putztermin<br />

abgesagt hat, weil sie mit einem ihrer Hunde zum Tierarzt<br />

musste. Aber ich keuche immer noch. Die Podcast-Folge ist<br />

wirklich gruselig, und Jo hat mich erschreckt. Ich will aber nicht,<br />

dass sie das merkt.<br />

Natürlich merkt sie es trotzdem und schnaubt. »Mom, du zitterst<br />

ja. Diese Malu M. macht dich völlig kirre.«<br />

»Du machst mich kirre«, stelle ich richtig und lasse mich zurück<br />

aufs Sofa sinken.<br />

22


Doch sie lässt sich nicht beirren. Mit Schwung setzt sie über<br />

die Lehne und landet neben mir. »Camila hat sich gestern am<br />

Bahnsteig am Geländer festgehalten«, sagte sie. »Genau wie du.«<br />

»Aus gutem Grund.« Ein weiterer Schauer durchrieselt mich,<br />

als ich an die Pod cast-Folge von letztem Monat zurückdenke.<br />

»Der Ringbahn-Schubser wurde nie gefasst. Der ist immer noch<br />

da draußen.«<br />

»Na und?« Sie starrt mich an. Selbst im Zwielicht leuchten<br />

ihr hellblonder Bob, ihr roter Pulli und ihre unglaublich langen<br />

Beine, die in gelben Leggings wippen – und die Empörung ihrer<br />

ganzen siebzehn Lebensjahre. »Der letzte Mord ist acht Jahre<br />

her. Seitdem sind jede Woche Millionen Leute S-Bahn gefahren,<br />

ohne dass was passiert ist. Aber kaum wärmt Malu M. diese alten<br />

Fälle auf, drehen alle wieder durch. So wie damals.«<br />

»Du kannst dich erinnern?«, frage ich überrascht.<br />

»Klar.« Sie zuckt mit den Schultern. »Tante Elli und du, ihr<br />

habt ständig über den Schubser geredet. Du hattest Angst, aber<br />

Elli hat gesagt, ihr solltet jetzt erst recht Bahn fahren. Weil ihr ihn<br />

dann vielleicht auf frischer Tat ertappt.«<br />

»Das klingt ganz nach ihr«, murmele ich. Ein Stich fährt<br />

durch mein Herz. Manche Erinnerungen werden nicht stumpfer,<br />

sondern härter, der stechende Schmerz einer Klinge, die der<br />

Zahn der Zeit eher geschärft hat, statt sie zu brechen.<br />

Wie der Verlust meiner Schwester. Ihr Lachen, ihre Sprüche,<br />

jeden Abend auf diesem Sofa. Ihr ungebrochenes Interesse für<br />

alles Böse, das auf Berlins Straßen passierte, das zur Besessenheit<br />

wurde, als sie diese Wohnung kaum mehr verlassen konnte.<br />

»Ich versteh nicht, warum du dir diesen Mist auch heute noch<br />

reinziehst«, sagt Jo. »Hör lieber mal etwas Sinnvolles.«<br />

Ich atme tief durch, schiebe meine Erinnerungen beiseite.<br />

»Meinst du den Pod cast, den ihr beim Schulprojekt gemacht<br />

habt? Die besten Zahlenrätsel?«<br />

»Mythen der Mathematik«, sagt sie ungnädig. »Ganz genau.«<br />

23


Ich muss grinsen. Weil Jo so ist, wie sie ist. Sie überhört jede<br />

Ironie und bevorzugt die Klarheit der Naturwissenschaften. Zahlen,<br />

Fakten. Ordnung im Chaos.<br />

Jetzt knipst sie die Leselampe an, um mit gerunzelter Stirn die<br />

Chips vom Sofa zu pulen, die mir vorhin beim gebannten Lauschen<br />

aus der Schüssel gefallen sind.<br />

»Lass das«, protestiere ich. »Ich mach das gleich.«<br />

»Von wegen! Carlo frisst sie und bekommt wieder Durchfall.«<br />

»Hast ja recht.« Ich werfe einen reuevollen Blick zum Kater<br />

hinüber. »Ich glaube, wir brauchen dringend eine Putzfrau.«<br />

Jo stöhnt. »Nicht lustig, Mom.«<br />

Doch als ich die Arme nach ihr ausstrecke, gibt sie nach und<br />

schmiegt sich an mich. Ich vergrabe die Nase in ihrem Haar und<br />

suche unter alldem Teenagerunmut nach einem Rest Babyduft.<br />

Als ich ihn finde, sauge ich ihn tief in mich ein.<br />

»Nicht so fest«, knurrt sie und hebt die Hand, um die Chips,<br />

die sie eingesammelt hat, nicht zu verlieren.<br />

Mein Kind. Sie ist nun schon fast die Hälfte meines Lebens bei<br />

mir – und das Beste, das ich jemals zustande bekommen werde.<br />

Das klingt bitterer, als ich es meine. Meine Aufgabe ist es, uns<br />

beide zu versorgen. Diese zerbrechliche Hülle zu erhalten, zu der<br />

unser Alltag nach Ellis Tod vor sechs Jahren geworden ist. Unsere<br />

Wohnung, die ein Zimmer zu viel hat, unsere Miete, die für<br />

mein Einkommen eigentlich zu hoch ist. Jos Wohlergehen, das<br />

nun allein auf meinen Schultern lastet.<br />

Das alles wiegt schwer genug. Ich kann zufrieden sein, dass<br />

ich es Monat für Monat schaffe.<br />

Mein Handy piepst, und ich weiß, dass ich mich gerade selbst<br />

belogen habe. Mein Herz hämmert schon wieder fast so heftig<br />

wie vorhin, während ich mich aufrichte und einen Blick aufs<br />

Display werfe.<br />

Nur eine Spammail. Schade.<br />

Mein Herz schlägt weiter, doch jetzt in einem harten und<br />

24


ernüchterten Ton. Seit gestern geht das schon so – seit ich die<br />

Bewerbung abgeschickt habe. Ich habe mich aus der Deckung<br />

gewagt und fühle mich seither so entblößt, als hätte ich ein<br />

Nacktfoto von mir verschickt. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass ich eine Antwort bekomme, verschwindend gering.<br />

Vielleicht wäre es sogar besser, keine Antwort zu bekommen.<br />

Ich bin nicht gut darin, Chancen zu nutzen.<br />

Jo hat dagegen sofort genutzt, dass ich abgelenkt bin, um aus<br />

meiner Umarmung zu entwischen und sich ihr eigenes Handy<br />

zu schnappen.<br />

Ich stecke mein Handy ein, empfange die Krümel aus Jos<br />

Hand und mache mich auf in Richtung Küche. Dort ist es eng,<br />

vollgestellt, gemütlich. Ich klappe den Mülleimer auf und werfe<br />

die Chipskrümel hinein.<br />

»Soll ich dir den Auflauf aufwärmen?«, rufe ich. »Salat ist auch<br />

noch im Kühlschrank.«<br />

»Wir haben nach dem Training gegessen«, ruft Jo zurück.<br />

»Camila kommt auch gleich. Sie sucht noch einen Platz für ihr<br />

Fahrrad, damit es nicht wieder geklaut wird.«<br />

»Alles klar!« Ich unterdrücke meine Enttäuschung. Sosehr ich<br />

Jos Freundin mag, ich hätte meine Tochter ab und zu gerne auch<br />

mal für mich allein.<br />

Carlo ist mir gefolgt, springt auf einen Stuhl und maunzt mich<br />

auffordernd an. Hinter ihm am Fenster hat die Nacht Einzug gehalten.<br />

Und zwar mit voller dunkelgrauer Pracht, weil die Straßenlaterne<br />

vor unserem Haus seit Monaten kaputt ist. Wedding eben.<br />

Ich sollte die Rollläden unserer Erdgeschosswohnung herunterlassen,<br />

damit die Passanten nicht zu uns hereinschauen können.<br />

Stattdessen ziehe ich das Handy heraus und blicke erneut auf das<br />

Display. Das Pausenzeichen des Pod casts blinkt wie eine Mahnung.<br />

Als es klingelt, springt Carlo lautlos in den Flur. Verspätet<br />

folge ich ihm.<br />

Die Wohnungstür steht schon offen. Camilas schwarze Lo-<br />

25


cken mischen sich unter Jos blonden, glatten Bob. Darunter tragen<br />

die beiden Mädchen die identischen roten Kapuzenpullis<br />

mit dem Schriftzug FC Victoria.<br />

Carlo scharwenzelt um ihre Beine herum. Er liebt Camila –<br />

so wie wir alle. Aber Jo liebt Camila am meisten. Die beiden<br />

Mädchen sind seit einem Jahr unzertrennlich. Sie sind im gleichen<br />

Abi-Jahrgang und in der gleichen Fußballmannschaft, und<br />

inzwischen wohnt Camila quasi bei uns.<br />

»Nina!« Sie löst sich von Jo und stürmt auf mich zu, als wolle<br />

sie mich umwerfen. Stattdessen umarmt sie mich. »Wie geht’s<br />

dir?«<br />

Ihr Anblick hebt meine Stimmung. Sie ist ein Wirbelwind<br />

und einen Kopf kleiner als Jo und ich, mit Augenbrauen wie Balken<br />

und einem lauten, rauen Lachen. Während Jo als Stürmerin<br />

ihre langen Torschüsse voller präziser Finesse spielt, ist Camila als<br />

Verteidigerin bei jeder Rangelei gefürchtet.<br />

»Hast du die Folge auch schon gehört?« Sie strahlt mich an.<br />

»Wegen ihr hat es mich gerade fast vom Rad gelegt. Das arme<br />

Mädchen. Und als Malu M. gesagt hat, was der Typ mit ihren …«<br />

»Stopp, stopp!« Panisch schiebe ich sie von mir weg. »Nicht<br />

spoilern.«<br />

»Ups.« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund, dann lacht<br />

sie auf. »Sorry. Ich sag dir, du wirst dich gruseln. Nur der Schluss<br />

ist lahm. Wer der Mörder ist, sagt Malu erst übermorgen. In Teil<br />

drei.«<br />

»Wenn du es wissen willst, google es doch«, sagt Jo.<br />

Camila und ich wechseln einen mitleidigen Blick. Jo wird es<br />

niemals verstehen.<br />

»Wir müssen jetzt lernen.« Meine Tochter nimmt Camila am<br />

Arm und versucht, sie in Richtung ihres Zimmers zu schieben.<br />

»Die letzte Matheklausur vorm Abi, weißt du noch? Die ist auch<br />

übermorgen.«<br />

»Danke fürs Erinnern«, stöhnt Camila. »Mach’s gut, Nina,<br />

26


und drück mir die Daumen, dass ich das alles überlebe mit dieser<br />

Lernmaschine.« Sie stupst der ungerührten Jo in die Seite. »Vor<br />

dem Abi keine Party mehr. Sie ist eisenhart.«<br />

»Das schaffst du schon.« Ich zwinkere ihr zu. »In ein paar Wochen<br />

seid ihr frei.«<br />

Und bald darauf fort. Dieser Gedanke gehört allein mir, ich<br />

spreche ihn nicht aus.<br />

»Ja.« Camila strahlt. »Erst mal Abifahrt und dann feiern, den<br />

ganzen Sommer. Vielleicht jobbe ich auch ein paar Wochen, mal<br />

sehen.«<br />

»Ich kann dir ein paar Aufträge besorgen«, biete ich an.<br />

Jo verengt die Augen, in ihre Augen tritt beinahe so etwas wie<br />

Feindseligkeit.<br />

»Putzen als Ferienjob klingt gut«, sagt Camila dagegen fröhlich.<br />

»Ich hab aber null Ahnung davon. Zeigst du mir deine<br />

Tricks? Oder ich schau Anke mal unauffällig über die Schulter.«<br />

Ich nicke. Anke ist die Putzfrau von Camilas Familie. Camilas<br />

Vater ist Brasilianer und hat einen Doktortitel in Informatik, genauso<br />

wie seine Frau. Die beiden betreiben eine Software-Firma<br />

in ihrer schicken Loftwohnung in Kreuzberg und bieten ihrer<br />

Tochter Dinge, die ich meiner niemals bieten kann.<br />

Jo schiebt Camila in ihr Zimmer.<br />

»Viel Erfolg beim Lernen, ihr beiden«, sage ich leise. Dann<br />

straffe ich die Schultern. »Tut nichts, was ich nicht auch tun<br />

würde.«<br />

»Kann ich nicht versprechen.« Camila lacht. Sie packt Jo an<br />

der Kapuze und zieht sie zu sich herunter, um ihr einen Kuss zu<br />

geben.<br />

»Wir müssen wirklich lernen«, sagt meine Tochter, aber sie<br />

grinst jetzt wieder. »Sobald du mir erklärt hast, was …«<br />

Ruckartig schließt Camila die Tür.<br />

Ich warte noch einen Atemzug und lausche, doch was auch<br />

immer Jo hat sagen wollen, jetzt schweigt sie. Auch Schulhefte<br />

27


höre ich keine rascheln, nur einmal das Knarzen von Jos Bettkante.<br />

Offenbar haben sie es doch nicht so eilig mit dem Lernen.<br />

Ich wende mich ab. So gern ich in anderen Häusern den Geheimnissen<br />

meiner Kundschaft nachspüre, so wenig angebracht<br />

ist es hier.<br />

Im Wohnzimmer lasse ich endlich die Rollläden herunter,<br />

knipse die Leselampe aus und setze mich im Halbdunkel wieder<br />

aufs Sofa. Carlo springt mit einem Maunzen auf meinen Schoß<br />

und sucht erfolglos nach den Chips. Ich strecke die Hand nach<br />

ihm aus.<br />

»Wir zwei halten die Stellung, oder?«, sage ich leise und kraule<br />

ihn unterm Kinn. Zu Hause. Während die Mädchen flügge werden.<br />

Abifahrt, Studium, hinaus in die weite Welt.<br />

Ein Leben ohne Jo kann ich mir nicht vorstellen. Nicht,<br />

nachdem ich Elli schon verloren habe. Die beiden waren immer<br />

die unverrückbaren Fixpunkte, um die ich kreiste.<br />

Dafür habe ich meine Jobs ständig gewechselt. Ich habe gekellnert,<br />

Pizza ausgeliefert, mich in Buchhaltung versucht, alles,<br />

um uns über Wasser zu halten.<br />

Mein Psychologiestudium war nach Jos Geburt zum Scheitern<br />

verurteilt gewesen. Die Behaviorismus-Theorie nach Watson<br />

auswendig lernen, wenn das Baby zahnt und der Vermieter<br />

das Gas abgestellt hat, weil das Mietgeld für Lehrbücher und die<br />

Gesundheit meiner Schwester aufgebraucht wurde – das hätten<br />

auch Stärkere als ich nicht geschafft. Als Jo elf Monate alt war,<br />

zogen Elli und ich zusammen in diese Erdgeschosswohnung, und<br />

wenn meine Schwester es zuließ, umsorgte ich sie, so, wie ich Jo<br />

umsorgte.<br />

Seit vier Jahren putze ich jetzt. Finanziell und geistig ist es<br />

nicht besonders profitabel, und körperlich ist es anstrengend,<br />

aber gute Putzfrauen sind begehrt, sodass ich mir meine Kundschaft<br />

mehr oder weniger aussuchen kann. Manchmal habe ich<br />

28


ein schlechtes Gewissen, weil ich mir diese Freiheit gönne, aber<br />

ich entscheide mich immer nur für Leute, die etwas in mir ansprechen.<br />

Sei es ein Geheimnis, das ich bei ihnen spüre, eine Marotte,<br />

die ich ergründen will, oder einfach, dass ich das Gefühl<br />

habe, ihnen helfen zu können. Außerdem hatte ich immer schon<br />

ein Herz für Exzentriker.<br />

Bei Frau von Arlberg muss ich zum Beispiel immer drei gereizte<br />

Schäferhunde aus ihrem Bett wuchten, bevor ich es neu<br />

beziehe. Inzwischen habe ich die Tiere mithilfe meiner Salamibrote<br />

so weit, dass sie selbst aussteigen. Manchmal verstecke ich<br />

die Brote auch und lasse die Hunde danach suchen, um sie beim<br />

Putzen aus dem Weg zu haben.<br />

Elli hätte diese Anekdote geliebt. Wahrscheinlich hätte sie mir<br />

vorgeschlagen, sie zu Spürhunden auszubilden und an die Polizei<br />

zu vermieten.<br />

Wenn ich hingegen versuche, meiner Tochter von meinem<br />

Job zu erzählen, beendet Jo das Gespräch so schnell, dass ich gar<br />

nicht zu Wort komme. Deshalb weiß sie auch nichts von meiner<br />

Bewerbung.<br />

So eine Putzfrau bräuchte ich auch, hatte Malu M. lachend in<br />

ihrem letzten Pod cast gesagt, in dem es um einen Antiquitätensammler<br />

ging, dessen Reinigungshilfe in seiner vollgestopften<br />

Wohnung über eine Leiche gestolpert war. Bei mir zu Hause<br />

müsste jemand dringend mal für Ordnung sorgen. Bevor die Nachbarn<br />

noch glauben, ich hätte auch irgendwelche Leichen gebunkert.<br />

Bei Malus Worten war ich aufgeschreckt.<br />

Ich könnte diese Putzfrau sein, hatte es mich durchzuckt.<br />

Und nicht nur das. Es wäre die Chance, etwas zu korrigieren in<br />

meinem Leben. Um danach endlich etwas Neues zu beginnen.<br />

Denn irgendeine Veränderung brauche ich, so schlecht, wie ich<br />

schlafe, so ruhelos, wie ich mich fühle, jetzt, da Jo kurz davorsteht,<br />

mich auch noch zu verlassen.<br />

Aber Malu M. hat sich nicht gemeldet. Diese Idee war wohl<br />

29


doch eher ein Griff ins Klo gewesen. Und damit kenne ich mich<br />

schon von Berufs wegen aus.<br />

Ich setze die Kopfhörer auf und versinke erneut in Malus<br />

neuester Episode. Düster und blutig geht es weiter, kein Wunder,<br />

dass Camila beim Fahrradfahren abgelenkt war. Geschichten um<br />

ermordete Teenagermädchen verursachen auch mir eine besondere<br />

Gänsehaut. Zum Glück ist Jo zu vernünftig, um jemals per<br />

Anhalter zu fahren.<br />

Nachdem die Sendung zu Ende ist, lese ich auf Malus Instagram-Site<br />

die Kommentare der anderen Hörerinnen und Hörer<br />

unter ihrem Hashtag #dasgrauenlauertüberall.<br />

@TrueCrimeAddict17: Du hast dich wieder selbst übertroffen,<br />

Malu :-)<br />

@FoodieLeo: Malu for Kanzlerin


Ganz oben im Chatverlauf steht meine Ansprache, auf die ich<br />

nur zwei Minuten stolz war, ehe ich sie am liebsten wieder löschen<br />

wollte:<br />

Hallo, Malu M.<br />

Sie haben recht, gründliche und diskrete Putzfrauen sind selten.<br />

Zum Glück haben Sie eine unter Ihren Hörerinnen.<br />

Anbei schicke ich Ihnen meine Unterlagen, außerdem den Link<br />

zu meiner Website, auf der Sie zahlreiche Referenzen finden.<br />

Melden Sie sich, wenn Sie Interesse haben. Eigentlich nehme ich<br />

keine neuen Kundinnen mehr auf, aber für Sie würde ich eine<br />

Ausnahme machen. Obwohl ich für das Entsorgen von Leichen<br />

aus Ihrer Wohnung eine Gefahrenzulage veranschlagen würde. ;-)<br />

Viele Grüße, Nina Blume<br />

Unter meinem Text hüpfen drei kleine hellgrüne Punkte auf<br />

und ab. Malu schreibt gerade an mich!<br />

Nägelkauend starre ich die Punkte an, als könnten sie mir<br />

verraten, was sie eintippt. Als ihre Nachricht erscheint, stoße ich<br />

einen Schrei aus, der Carlo von meinem Schoß jagt.<br />

Liebe Frau Blume, vielen Dank für Ihre Bewerbung.<br />

Ihre Referenzen sind bemerkenswert. Ich kann mir eine<br />

Zusammenarbeit vorstellen.<br />

»Sie will mich einstellen«, rufe ich. »Hast du das gehört?«<br />

Carlo maunzt und beäugt mich argwöhnisch unter dem<br />

Couchtisch hervor.<br />

Immer noch hüpfen die drei Punkte. Und schon erscheint<br />

ihre nächste Nachricht.<br />

Frau Blume, ich sehe, Sie sind gerade online. Können Sie das<br />

bestätigen?<br />

31


Hallo, Frau M., tippe ich. Ja, ich bin gerade online. Ich freue<br />

mich sehr über Ihr Interesse!<br />

Ihre Antwort folgt prompt:<br />

Das ist schön. Sind Sie zu Hause und haben ein paar<br />

Minuten Zeit? Sie können sich sicher vorstellen, dass ich<br />

Vorsichtsmaßnahmen treffen muss. Mir schreiben viele Leute,<br />

und die Online-Welt birgt tiefe Abgründe.<br />

Tiefe Abgründe? Ich runzele die Stirn. Ich hätte es nicht so drastisch<br />

formuliert, aber ich bin auch nicht berühmt.<br />

Ja, ich bin zu Hause, schreibe ich. Was kann ich tun?<br />

Nehmen Sie bitte ein kurzes Video von sich auf, antwortet sie<br />

so schnell, als hätte sie den Text schon vorbereitet. Nur<br />

ein paar Worte über sich, an einer Stelle in Ihrer Wohnung, die<br />

zeigt, wer Sie sind. Das soll noch kein Bewerbungsgespräch sein,<br />

sondern mir nur beweisen, dass Sie eine echte Person sind, und<br />

die, für die Sie sich ausgeben. Schicken Sie es ohne Zeitverzug<br />

ab. So weiß ich, dass es kein Fake ist.<br />

»Ach du meine Güte.« Leicht überfordert lasse ich meinen Blick<br />

durchs Wohnzimmer schweifen, die bunte Mustertapete und die<br />

leidenden Zimmerpflanzen, die Fotogalerie über dem Fernseher.<br />

Jo als Baby, Jo mit Zahnlückengrinsen, ein Selfie von Elli. Sie<br />

zieht eine Schnute, ihre Augen blitzen. Im Hintergrund ist die<br />

bunte Lehne ihres Rollstuhls zu sehen, die Jo damals mit Stickern<br />

vollgeklebt hatte.<br />

Das aktuellste Foto an der Wand wurde ein Jahr später aufgenommen:<br />

Jo und ich am Strand, nur noch zu zweit. Sie mit vom<br />

Salzwasser kringeligen Haaren, ich mit einer Sonnenbrille, die<br />

32


meine Augenringe versteckte. Das war unser erster und einziger<br />

Fernurlaub, zehn Tage Mallorca. Ich hatte gehofft, die Auszeit<br />

würde uns von unserer Traurigkeit ablenken.<br />

Okay, tippe ich und frage mich, warum Malu M. und ich nicht<br />

einfach telefonieren können. Bevor ich mich filme, klicke ich<br />

noch einmal auf ihr Bild. Es ist in düsterem Schwarz-Weiß gehalten<br />

und zeigt das halb abgewandte Profil einer Frau. Der überwiegende<br />

Teil ihres Gesichts liegt im Schatten verborgen. Deutlich<br />

zu erkennen sind nur ihre langen Haare, glatt und blond wie<br />

meine.<br />

Sie könnte ich sein. Oder jede andere blonde Frau.<br />

Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Woher weiß ich,<br />

dass Malu M. überhaupt echt ist? Ich kann ihr genauso wenig<br />

trauen wie sie mir.<br />

Doch dann schüttle ich den Gedanken ab. Sie muss argwöhnisch<br />

sein, sie ist berühmt. Ich dagegen bin nur eine Putzfrau, ich<br />

habe nichts zu befürchten.<br />

Ich bürste mir einmal kurz über die Haare und streiche die<br />

letzten Chipsbrösel von meinem Shirt. In meinem Job bin ich<br />

niemals schick angezogen, und ich soll doch authentisch wirken.<br />

Ellis Bild nehme ich ab, dann stelle ich mich vor die Fotowand.<br />

Kurz entschlossen spreche ich ein paar Sätze in die Kamera,<br />

lächele so kompetent, wie ich kann, und zeige dann noch auf das<br />

Urlaubsbild von mir und Jo.<br />

Als ich die Aufnahme stoppe, ist Malus Kreis immer noch<br />

grün. Sie ist online und wartet, und mein Gefühl sagt mir, dass<br />

mit jeder Minute, die ich mir Zeit lasse, meine Glaubwürdigkeit<br />

für sie schwindet. Ohne mir das Video noch mal anzuschauen,<br />

schicke ich es ab.<br />

Fünf Minuten später vereinbaren wir einen Termin für die<br />

Probearbeit.<br />

33


Jenni<br />

Sie hastete über das Kopfsteinpflaster. Kälte kroch durch ihre zu<br />

dünne Jacke, unter der sie zwei Pullis trug. Vom Bahnhof hörte<br />

sie das Rattern der Züge, die Straße glänzte nass in der Abenddämmerung.<br />

Die Häuserfassaden rund um den Platz wirkten im Nebel<br />

verwischt wie verwässerte Aquarellbilder. Das erinnerte sie an<br />

den Kunstunterricht. Schule. Zuhause. Die Vorstellung davon<br />

schien ihr inzwischen genauso verschwommen.<br />

Fünf Monate war es her, dass sie ausgerissen war. Ständig<br />

wollte sie aufgeben. Aber dann fiel ihr ein, was sie erwarten<br />

würde, wenn sie heimkehrte. Deshalb machte sie weiter. Abhängen,<br />

Geld beschaffen, essen, verstecken, schlafen. Noch fünfhundertsechzig<br />

Tage, eine Ewigkeit. Die Zeit auf der Straße war zäh<br />

wie Kaugummi. Ohne Schule waren Uhrzeiten oder Wochentage<br />

völlig egal, auch der Ort war egal.<br />

Berlin, Leipzig, Dresden, jetzt seit ein paar Wochen wieder<br />

Berlin. Am Anfang war sie zweimal ausgeraubt worden, seither<br />

vertraute sie niemandem mehr. Sie hielt sich fern von den öffentlichen<br />

Sleep-Ins, den Jugendcliquen und neugierigen Sozialarbeiterinnen,<br />

war ein Satellit, der die Welt umkreiste, auf Abstand.<br />

Nur der Betonklumpen in ihrer Brust zog sie manchmal nach unten,<br />

als wolle er, dass sie dort kollidierten, er wog schwerer denn je.<br />

Auch Satelliten brauchen etwas zu essen.<br />

Sie eilte an Taxis vorbei in den Bahnhof. Ohne aufzuschauen,<br />

passierte sie eine Gruppe von Skate-Punks, ein Mädchen und<br />

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ein paar Jungs. Seit einiger Zeit saßen sie hier jeden Abend mit<br />

ihren Hunden und Pappbechern. Das Mädchen hatte lila Haare<br />

und rief Jenni irgendwas nach. Auch das Bellen der Hunde folgte<br />

ihr in den gekachelten Tunnel unter den Gleisen.<br />

Sie musste sich durch einen Strom von Passanten schlagen,<br />

Mäntel, Koffer und Regenschirme, als paddele sie flussaufwärts.<br />

Dann sah sie die Frau und verlangsamte ihr Tempo.<br />

Sie stand neben der Rolltreppe zu einem der Ferngleise.<br />

Knittrige Gesichtszüge, Kamelhaarmantel, teurer Rollkoffer.<br />

Während sie in ihrer Handtasche wühlte, rutschte ihr die Brille<br />

über die Nase.<br />

Jenni räusperte sich. »Entschuldigung!«<br />

Die Frau schaute hoch, ihr Gesichtsausdruck abweisend.<br />

»Bitte, können Sie mir helfen?«, murmelte Jenni. »Meine Tasche<br />

ist mir gestohlen worden. In der U-Bahn.«<br />

Sie sprach so leise, dass die Ältere sich instinktiv vorbeugte.<br />

Anfangs war Jenni selbst überrascht gewesen, wie leicht es ihr fiel.<br />

Sie musste sich einfach vorstellen, dass ihre Geschichten echt waren,<br />

dann fühlten sie sich gar nicht wie Lügen an. »Ich muss mir<br />

ein Zugticket kaufen.« Sie schluchzte. »Ich brauche sieben Euro,<br />

damit ich nach Hause fahren kann. Zu meinen Eltern. Bitte.«<br />

Noch einen Schritt vor. Die Frau sollte nicht die abgetragenen<br />

Schuhe bemerken, die verschlissenen Jackenärmel. Sie sollte<br />

in Jennis große flehende Augen schauen und die Verzweiflung<br />

darin lesen.<br />

»Ach du meine Güte«, sagte die Frau. »Willst du deine Eltern<br />

anrufen?« Schon kramte sie ein Motorola-Klapphandy hervor,<br />

das neueste Modell.<br />

Jenni schniefte. »Danke, aber der Zug nach Neustadt geht<br />

schon in fünf Minuten. Wenn ich ihn erreiche, dann bin ich<br />

rechtzeitig zu Hause. Ich hab so gut aufgepasst«, jammerte sie.<br />

»Und trotzdem war meine Tasche weg. Mein Pa wird mich<br />

schimpfen.«<br />

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»Du kannst doch nichts dafür.« Die Frau tätschelte ihr den<br />

Arm. »Das sind die Obdachlosen. Sie stehlen wie die Elstern,<br />

nimm dich das nächste Mal vor denen in Acht.«<br />

»Mach ich.« Jenni weinte. Hinter dem Rücken presste sie die<br />

Fingernägel in ihre Handflächen, Beton in ihrer Brust.<br />

»Schsch.« Die Frau drückte ihr einen Zwanziger in die Hand.<br />

»Schon gut. Spute dich! Erwische deinen Zug.«<br />

Und Jenni rannte davon, rannte, bis ihr Puls pumpte und der<br />

Druck in ihrem Inneren leichter wurde. Zwanzig Euro! So viel<br />

Glück hatte sie selten.<br />

Im Bahnhofsgebäude kaufte sie sich für eins fünfzig ein Käsebrötchen<br />

und setzte sich auf eine Bank. Neben ihr standen zwei<br />

Frauen auf, Reisetaschen, abschätzige Blicke, ein fast voller Kaffeebecher<br />

blieb zurück. Jenni wischte mit dem Ärmel säuberlich<br />

über den Rand des Bechers und trank ihn leer. Dann legte sie ein<br />

zerfleddertes Buch neben sich und packte das Brötchen aus.<br />

»Haste mal ’ne Mark?« Das Skatemädchen vom Eingang. Sie<br />

hatte ihr Board unter den Arm geklemmt, eine Basecap auf dem<br />

lila Haar und starrte Jenni unverhohlen an.<br />

Jenni wandte sich ab. »Nein.«<br />

»Wie schade.« Das Mädchen wischte Jennis Buch von der<br />

Bank, sodass es auf den Boden klatschte, und setzte sich neben<br />

sie. »Aber wenigstens so ’nen neumodischen Euro hast du doch<br />

für mich?«<br />

»Geh weg.«<br />

Die Skaterin ließ als Antwort eine Kaugummiblase platzen<br />

und streckte die langen Beine aus. Oben zerfetzte Jeans, unten<br />

dreckige Chucks, mit denen sie ihr Board auf den Bahnhofsfliesen<br />

auf und ab rattern ließ. Ihre Augen hatten eine undefinierbare<br />

schlammdunkle Farbe. Vielleicht war sie hübsch, unter der<br />

rauen Haut, dem spöttischen Grinsen.<br />

»Ich hab dich beobachtet«, sagte sie. »Die Fahrkartennummer.<br />

Die Frau hat dir einen Schein zugesteckt.«<br />

36


Bestürzung stieg in Jenni hoch wie Übelkeit. Bevor sie aufspringen<br />

konnte, packte das Mädchen sie am Arm.<br />

»Nicht so schnell. Ich will nur quatschen.«<br />

»Ich aber nicht.« Jenni warf einen Blick um sich. Passanten<br />

trieben vorbei. Noch schaute niemand in ihre Richtung. Sie<br />

durfte nicht auffallen. Auffallen bedeutete Sicherheitsdienst, Polizei,<br />

Jugendamt.<br />

»Lass mich, bitte«, schluchzte sie leise. »Das Geld ist für meinen<br />

kleinen Bruder, er braucht seine Medizin. Ich warte hier nur,<br />

bis die Apotheke das Mittel angemischt hat.«<br />

Das Skateboard auf dem Boden hielt inne. »Oh je, was hat er<br />

denn?«<br />

»Eine ganz schlimme Bronchitis.« Jenni schluckte vor Sorge.<br />

»Letzte Nacht hat er vor Husten kaum Luft gekriegt. Aber der<br />

Arzt behandelt ihn nicht mehr. Wir haben keine Krankenversicherung.<br />

Bitte, nimm mir nicht das Geld weg. Wie soll ich in der<br />

Apotheke sonst bezahlen?«<br />

»Die Medizin für deinen kleinen Bruder, oh Mann.« Das<br />

Mädchen lachte auf, und da war so etwas wie Bewunderung in<br />

ihrem Blick. »Du bist verdammt gut. Wie kriegst du das hin, auf<br />

Knopfdruck zu heulen?«<br />

Von wegen auf Knopfdruck. Jenni presste schluchzend die<br />

Handballen auf die Augen.<br />

»He, keine Panik«, lenkte die Fremde ein. »Das ist dein<br />

Geld. Ich nehm es dir nicht weg. Aber vielleicht teilst du deine<br />

Schrippe mit mir.«<br />

Welche Wahl hatte Jenni? Reglos schaute sie zu, wie das Mädchen<br />

einen genießerischen Bissen nahm. Und schüttelte den<br />

Kopf, als sie ihr das Brötchen wieder hinstreckte. Die Skaterin<br />

zuckte mit den Schultern und schob sich den Rest in den Mund.<br />

»Du«, sagte sie kauend. »Du bist eine von uns. Auch wenn du so<br />

tust, als wärst du’s nicht. Weißt du, wie dich alle nennen?«<br />

»Wer?«, fragte Jenni alarmiert.<br />

37


»Na, wir. Meine Sippe eben. Punks, Skater, Tramps.« Sie sah<br />

Jennis Blick, und ihr Lächeln wurde breiter. »Komm mal runter.<br />

Du hast doch nicht geglaubt, dass du unsichtbar bist. Das ist unser<br />

Revier. Seit ein paar Wochen hängst du hier ab. Lonely Girl. Das<br />

ist dein Straßenname. Obwohl Lonely Reading Girl besser passen<br />

würde.« Sie warf einen abschätzigen Blick auf das Buchcover<br />

mit den goldenen Herzen, das vor ihnen auf dem Boden lag.<br />

»Solche Schmonzetten liest du? Ich besorg dir mal ’nen echten<br />

Krimi. Ich bin übrigens Strippe.«<br />

Sie streckte Jenni die Hand hin, wartete zwei Sekunden und<br />

zog sie dann schulterzuckend wieder weg. »Strippe von der<br />

Sippe, hahaha. Weil ich ’ne Quasselstrippe bin. Im Gegensatz zu<br />

dir, ganz offensichtlich. Du pennst nicht auf der Straße, oder? In<br />

der Schlafstelle drüben in der Reinhardstraße hab ich dich auch<br />

noch nicht gesehen. Ich wette, du hast einen Unterschlupf.«<br />

Jenni presste die Lippen zusammen.<br />

Strippe seufzte. »Und ich wette, du willst ihn mir nicht verraten.<br />

Auch gut.« Sie studierte Jennis Gesicht, als suche sie etwas.<br />

Runzelte die Stirn.<br />

»Was ist?«, stieß Jenni hervor.<br />

»Nichts«, knurrte Strippe. »Du erinnerst mich nur an wen.<br />

Deshalb wollte ich nett sein. Für den Fall, dass du ’n offenes<br />

Ohr brauchst. Die anderen Kids sind gar nicht so ätzend, wie du<br />

glaubst.«<br />

Sie ließ mit dem Fuß das Board hochflippen, fing es aus der<br />

Luft und stand auf. »Wir sehen uns, Lonely.« Dann grinste sie.<br />

»Keine Sorge. Ich finde dich wieder.«<br />

Offenes Ohr? Sie wiederfinden? Für Jenni klang das wie<br />

Drohungen. Sobald Strippe außer Sicht war, griff sie in ihre Jackentasche,<br />

ihre Finger umschlossen das restliche Geld und den<br />

Schlüssel. Dann hob sie das Buch auf, strich die geknickten Seiten<br />

glatt und ging. Lonely Reading Girl.<br />

Draußen war es Nacht geworden, das nasse Berliner Stra-<br />

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ßenaquarell anthrazit und schwarz, getupft von den hellen Kegeln<br />

der Autoscheinwerfer.<br />

Wachsam schaute Jenni sich um. Niemand schien ihr zu folgen,<br />

als sie die Straßen entlangeilte, einen Bogen um ein streitendes<br />

Paar schlug, über ein ausgeweidetes Fahrrad stieg, bei dem<br />

nur das Schloss noch intakt war. Einmal hörte sie in der Nähe ein<br />

Skateboard rattern. Ein Hund pieselte an einen Mülleimer, in der<br />

Scheibe einer verriegelten Kneipe spiegelten sich Straßenlichter<br />

und Jennis bleiches Gesicht. Du bist eine von uns. Wir haben dir<br />

einen Namen gegeben.<br />

Ein letzter Blick über die Schulter, dann kletterte sie über<br />

einen Zaun. Ein leerer Hof, dahinter ein lang gestrecktes Bauwerk.<br />

Aus den Fenstern grinsten gebastelte Papierdrachen und<br />

Kürbisse, irgendwie gruselig. Hinter dem Gebäude Kletterstangen<br />

und Betonbänke, im Dunkel ruhend wie Kindersärge. Als<br />

ein Schatten über den Hof humpelte, duckte sie sich. Der Hausmeister.<br />

Sie hatte Angst vor ihm. Grauer Bart, stechender Blick,<br />

seine massige Gestalt allzu oft gefährlich nah an ihrem Versteck,<br />

als ahne er mit irgendeinem sechsten Sinn ihre Anwesenheit.<br />

Endlich war er weg. Acht Treppenstufen führten Jenni zu einer<br />

Tür im Souterrain. Sie sperrte auf. Ihr Taschenlampenlicht<br />

geisterte über Regale, Werkzeuge, Kisten. Schon umfing sie der<br />

Geruch nach Vinyl und Holzwolle, dazu der Mief aus Schweiß<br />

und Prüfungsangst, herabgesickert durch die dicken Mauern der<br />

Klassenzimmer. Ein vertrauter Geruch, ein Ort, der seit Langem<br />

für sie einem Zuhause am nächsten kam. Aus Verstecken holte sie<br />

ihre Habseligkeiten zusammen. Der Rucksack mit Wechselkleidung,<br />

ihr Schlafsack. Die Tüte, in der sie Portemonnaie und Personalausweis<br />

aufbewahrte. Sie schob das restliche Geld zu dem,<br />

das sie zu sparen versuchte und doch ständig ausgeben musste,<br />

dann wickelte sie sich in den Schlafsack.<br />

Bis September hatte sie meistens in Parks geschlafen. Dann<br />

war es kälter geworden und hatte zu regnen begonnen, ein un-<br />

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ablässiger platschender Guss, der tags und nachts auf sie herabströmte,<br />

als wolle er sie mitsamt dem Laub von den Straßen<br />

spülen. Ihre Schuhe waren nicht mehr trocken geworden. Erst<br />

bekam sie Fieber, dann bellte sie nachts so vor Husten, dass ihr<br />

die Hunde in der Nachbarschaft antworteten. Freitagnachmittag<br />

vor drei Wochen hatte sie vor der Schule auf den Stufen gekauert.<br />

Zitternd vor Nässe und Schüttelfrost, die Welt ein schwankender<br />

Ozean, bis eine Stimme ihn teilte.<br />

»Bist du nicht die Melanie aus der 9c?«<br />

Es war einfach gewesen zu nicken. Hauptsache, sie durfte sitzen<br />

bleiben. Zu der Stimme kam eine Hand auf ihrer Stirn, kühl<br />

und weich.<br />

»Oh mein Gott, du hast ja Fieber.«<br />

Jenni fand sich im leeren Lehrerzimmer wieder, eine Tasse<br />

Tee in den Händen, ihre Schultern in eine Decke gehüllt. Das<br />

Mitgefühl der Lehrerin wärmte sie, eine Paracetamol half gegen<br />

das Zittern. Sie suchte nach einer Geschichte, die sie erzählen<br />

konnte, doch aus ihrem Hals kam nichts als ein Krächzen.<br />

»Warte hier, Melanie. Ich rufe vom Sekretariat aus deine Eltern<br />

an.«<br />

Jenni konnte nicht warten. Sie ergriff die Handtasche der<br />

Frau und floh, einen dämmrigen Treppenschacht hinunter bis zu<br />

einer Sicherheitstür. Sie taumelte. Die Klinke rutschte ihr aus den<br />

Fingern. Durch das Gebäude hallten schon Rufe, als sie mit letzter<br />

Kraft die Tür aufbekam. Hinter ihr klappte sie zu, die Rufe<br />

verstummten. Schwarze Stille umfing sie. Ausruhen, nur kurz.<br />

Später hatte sie den Lichtschalter und ein verrostetes Waschbecken<br />

gefunden. In der Tasche der Lehrerin waren weitere<br />

Schmerztabletten, Kekse, ein Portemonnaie mit dreißig Euro –<br />

und der Generalschlüssel zur Schule.<br />

Er funktionierte am Samstag und auch am Sonntag, als Jenni<br />

sich aus dem Hinterausgang ans Sonnenlicht wagte. Niemand<br />

kam, um die Schlösser auszutauschen.<br />

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Am Montagmorgen mischte sie sich unter die Schulkinder,<br />

um das Gebäude zu verlassen, und kehrte erst abends wieder zurück.<br />

Stets in Habachtstellung wegen dem Hausmeister. So hielt<br />

sie es seitdem. Sie musste ihr Versteck bewahren, so lange wie<br />

möglich.<br />

Ich finde dich, hatte die Skaterin gesagt. Die Erinnerung jagte<br />

ihr eine Gänsehaut über den Rücken.<br />

Am nächsten Tag suchte sie sich eine Bank am U-Bahn-Steig. Es<br />

war nicht die beste Wahl. Wind heulte, im Minutentakt spuckten<br />

gelbe Waggons Pendler aus, die ihr auf die Füße traten. Sie zog<br />

die Knie an und schlug ihr Buch auf.<br />

Doch auch hier fand Strippe sie. Sie ließ sich neben ihr auf<br />

die Bank plumpsen, ihr lila Haar war heute zu zwei Zöpfen geflochten.<br />

Die wippten auf ihren Schultern auf und ab, über einem<br />

grünen Armeerucksack.<br />

»Auch einen?« Sie streckte Jenni eine Packung Minzdrops hin.<br />

»Lass mich in Ruhe.«<br />

»Sind sie zu scharf, bist du zu schwach.« Strippe grinste, ihre<br />

Zähne zerknackten das Bonbon.<br />

Jenni versenkte das Gesicht in ihrem Buch. Eine Hand mit<br />

abgekauten Nägeln griff über ihre Schulter, Minzgeruch wehte<br />

sie an.<br />

»Mich ignorieren funktioniert nicht, Lonely Girl.« Strippe<br />

musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Zeig mal, was du<br />

da liest.«<br />

Sie riss Jenni das Buch aus den Händen. Und würgte theatralisch.<br />

»Das zerrissene Herz der Königin, Teil 2. Ist ja grässlich.<br />

Hast du das aus der Bib geklaut?«<br />

Sie deutete auf den Aufkleber auf dem Buchrücken. Neuerscheinung<br />

2002.<br />

»Geliehen«, log Jenni. Strippe schnaubte und warf das Buch in<br />

den Mülleimer.<br />

41


»He! Ich muss das zurückgeben!«<br />

»Vergiss die Schmonzette. Ich hab was Besseres.« Strippe<br />

wühlte in ihrem riesigen Rucksack, streckte ihr dann ein Buch<br />

hin. »Die Leibeigene. Da geht’s um Colleen Stan. Aus Kalifornien.<br />

Die wurde dreiundzwanzig Jahre von einem Ehepaar als<br />

Sklavin gehalten. Sie musste in ’nem Sarg schlafen! Das ist echt<br />

passiert.« Sie grinste breit. »Hab das Buch für dich geklaut, im<br />

Bahnhofsshop. Die hätten mich fast erwischt.«<br />

Für einen Moment war Jenni sprachlos, bestürzt und gleichzeitig<br />

irgendwie entzückt, dass Strippe das für sie getan hatte.<br />

Aber vielleicht log sie auch. »Nein danke.«<br />

»Jetzt nimm schon.«<br />

»Ich lese keine Krimis.«<br />

»Schon klar.« Strippe warf das Buch auf Jennis Schoß. »Dein<br />

Leben ist ’ne Katastrophe, warum sollst du dann auch noch was<br />

über andere Katastrophen lesen. Aber ich verrate dir was. Je<br />

schlimmer die Geschichte ist, die du dir reinziehst, desto schöner<br />

kommt dir dein Leben nachher vor.«<br />

»Das funktioniert doch nicht.«<br />

»Nein«, gab Strippe zu. »Aber mit den Schmonzetten funktioniert<br />

es auch nicht. Du liest über Prinzessinnen und ihre große<br />

Liebe, aber du selber lebst auf der Straße.« Sie verdrehte die Augen.<br />

»Das ist echt das Deprimierendste, was ich seit Langem gehört<br />

habe.«<br />

Jenni musste ein Lachen unterdrücken. »So schlimm ist es<br />

auch wieder nicht.«<br />

»Ach ja?« Strippe nahm das Buch aus dem Mülleimer, schlug<br />

es auf und deklamierte: »Oh Liebste. Es ist gefährlich, jemanden<br />

so sehr zu brauchen, wie ich dich. Ich fürchte, ich bin unrettbar<br />

verloren.«<br />

Jenni musste loslachen, sie konnte nicht anders.<br />

Strippe grinste zufrieden. Da war etwas in ihrem Blick. Jetzt,<br />

da Jenni ihr lang genug in die Augen schaute, sah sie ein Funkeln,<br />

42


ein Vibrieren. Als wäre Strippe viel lebendiger als alle anderen<br />

um sie herum.<br />

»He!«, schrie sie plötzlich. »Pavel, du Kackstiefel! Du schuldest<br />

mir noch ’ne halbe Schachtel Kippen!«<br />

Ein hagerer Typ, der gerade aus der U-Bahn stieg, drehte sich<br />

um und flüchtete durch die Menge der anderen Fahrgäste. »Fuck<br />

you!« Strippe zeigte seinem Rücken den Mittelfinger. Die meisten<br />

Passanten schlugen jetzt einen Bogen um ihre Bank. Und irgendwie<br />

machte Jenni das gar nichts aus. Sie konnte nicht anders,<br />

als Strippe anzuschauen.<br />

Die Skaterin warf sich noch einen Minzdrop ein. »Wie lange<br />

schiebst du schon Platte, Lonely?«<br />

Jenni zögerte.<br />

»Na komm, sag schon. Zwei Monate?«<br />

»Fünf.«<br />

»Echt?« Strippe pfiff durch die Zähne. »Du bist doch noch ein<br />

Kind.«<br />

»Bin ich nicht. Wie lange bist du auf der Straße?«<br />

»Vier Jahre. Aber mit Unterbrechungen.« Strippe hibbelte<br />

mit den Knien auf und ab. »Ganz ehrlich, der Winter ist am härtesten.<br />

Da leert sich die Straße. Die meisten rennen zu ihren Eltern<br />

zurück oder gehen ins Heim. Wenn du vorhast zu überleben,<br />

brauchst du nicht nur einen Unterschlupf. Du brauchst ’ne<br />

Sippe.«<br />

Mit einem Brausen fuhr die nächste U-Bahn ein und nahm<br />

Jenni die Chance auf eine Antwort.<br />

Der Fahrtwind ließ Strippes Zöpfe tanzen. Ein bisschen sah<br />

sie dadurch aus wie Pippi Langstrumpf. Wie alt sie wohl war?<br />

Neunzehn, schätzte Jenni, aber es war schwer zu sagen.<br />

»He, Lonely, was denkst du?« Strippe schaute Jenni an, während<br />

die aussteigenden Fahrgäste um sie herumströmten. Da war<br />

etwas in ihrem Blick, das Jenni kaum kannte. Echte Anteilnahme.<br />

Ein verrücktes Gefühl stieg in ihr auf. Das Gefühl, dass sie die-<br />

43


sem ungewöhnlichen Mädchen vertrauen konnte. Dass sie etwas<br />

hatte, das Jenni retten konnte. Und wenn auch nur vor dem Alleinsein.<br />

»Wenn du willst, kann ich dir ein paar Leute vorstellen.«<br />

Strippe stand auf. »Ich werd im Winter allerdings nicht hier sein.<br />

Ich mach ’nen Abflug. Ist alles schon geplant. Nach Bilbao.« Sie<br />

sprach das Wort beinahe ehrfürchtig aus. »Da wartet die perfekte<br />

Welle auf mich. Ich warte nur noch auf meine Mitfahrgelegenheit.«<br />

Also war sie bald weg. Jenni zog ernüchtert den Kopf ein, ihre<br />

jähe Hoffnung verflog.<br />

»Ich brauch Bares.« Strippe sah sich um. »Hier am Bahnsteig<br />

kann man nicht schnorren.«<br />

»Doch, beim Fahrkartenautomaten. Da geben sie mir manchmal<br />

ihr Wechselgeld.«<br />

»Weil du ein süßes Küken bist.«<br />

»Weil ich nett bin.«<br />

Strippe lachte auf. »Nett ist die kleine Schwester von scheiße.<br />

Wenn du nett bist, nutzen dich die Leute nur aus.«<br />

»Aber du überlebst.« Jenni dachte an ihren Vater.<br />

»In meiner Welt nicht.« Strippe stülpte sich ihre Basecap über<br />

die Zöpfe. »Scheint, du musst noch viel lernen, Küken. Komm,<br />

ich geb dir ein Bier aus.«<br />

»Ich mag kein Bier.«<br />

»Schnaps?« Strippe zog die Augenbrauen hoch. »Vergiss es.<br />

Du bist doch noch ein Kind!«<br />

»Bin ich nicht.« Jenni musste lachen und fragte dann zögernd:<br />

»Milchkaffee?«<br />

»Soll ich der Prinzessin dazu Gebäck reichen?«, schnaubte<br />

Strippe. »Also gut. Dann nehmt meinen Arm und kommt mit<br />

mir, eure Lonelyheit.«<br />

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