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MICHAELA GRÜNIG<br />
<strong>Blankenese</strong> – <strong>Zwei</strong> <strong>Familien</strong>
Weitere Titel der Autorin:<br />
Palais Heiligendamm – Ein neuer Anfang<br />
Palais Heiligendamm – Stürmische Zeiten<br />
Palais Heiligendamm – Tage der Entscheidung<br />
<strong>Blankenese</strong> – <strong>Zwei</strong> <strong>Familien</strong>: Licht und Schatten
MICHAELA GRÜNIG<br />
BLANKENESE<br />
ZWEI FAMILIEN<br />
SCHWERE ENTSCHEIDUNGEN<br />
Roman
Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige<br />
Buchproduktion. Wir verwenden Papiere aus nachhaltiger<br />
Forstwirtschaft und verzichten darauf, Bücher einzeln in<br />
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Originalausgabe<br />
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Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin<br />
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille<br />
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Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-7857-2861-1<br />
2 4 5 3 1<br />
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Für meine geliebte Mutter, Hella <strong>Grünig</strong>
Personenverzeichnis<br />
Familie Casparius<br />
Werner Casparius, 1862–1919, ehemaliger Patriarch der Familie<br />
und Chef der Reederei<br />
Veit Casparius, *1870, sein unverheirateter Bruder, nach der<br />
Arisierung pro forma Besitzer der Reederei<br />
Esther Casparius, 1872–1899, Werners verstorbene jüdische<br />
Ehefrau, die das Geld in die Familie brachte<br />
Viktoria Casparius, *1876, Werners evangelische zweite<br />
Ehefrau<br />
John Casparius, *1892, Sohn <strong>von</strong> Werner und Esther, Erbe des<br />
<strong>Familien</strong>unternehmens<br />
Leni Casparius, geb. Hansen, *1897, Ehefrau <strong>von</strong> John<br />
Sonja Casparius, *1924, Tochter <strong>von</strong> Leni und John<br />
Max Casparius, *1924, Zwillingsbruder <strong>von</strong> Sonja<br />
Felicitas Casparius, *1899, Tochter <strong>von</strong> Werner und Esther<br />
Kurt Jacobson, *1925, Sohn <strong>von</strong> Felicitas und Elias Jacobson,<br />
*1894<br />
Charlotte Jacobson, *1926, Schwester <strong>von</strong> Kurt<br />
Michael Jacobson, *1937, kleiner Bruder <strong>von</strong> Kurt und<br />
Charlotte<br />
Otto Casparius, *1910, Sohn <strong>von</strong> Werner und Viktoria,<br />
Kinderarzt
Familie Hansen<br />
Gustav Hansen, 1870–1910, verstorbener Kapitän<br />
Irma Hansen, *1873, Gustavs Witwe<br />
Albert Hansen, *1892, Irmas Sohn, Fischhändler, ehemals Lotse<br />
Nelly Hansen, *1893, Alberts Frau, zwei Kinder (Fritz und Peter)<br />
Gesine Georg, geb. Matusiak, *1894, ehemalige Verlobte <strong>von</strong><br />
Irmas Sohn Hendrik (1893–1918), verheiratet mit dem<br />
NSDAP-Ortsgruppenleiter <strong>von</strong> Othmarschen<br />
Fanni Matusiak, *1919, uneheliche Tochter <strong>von</strong> Gesine und<br />
Hendrik, Kinderkrankenschwester<br />
Heinz Hansen, *1910, Irmas jüngster Sohn, Angehöriger der SA<br />
Adelheid Hansen, *1912, Heinz’ Frau<br />
Andere wichtige Personen<br />
Friedrich Koenig, *1910, ein U-Boot-Kommandant<br />
Emil Koenig, *1885, ehemaliger Vorstand der Hapag-Reederei<br />
und Vater <strong>von</strong> Friedrich<br />
Ilse Koenig, *1887, Mutter <strong>von</strong> Friedrich<br />
Jacques Junod, *1923, ein französischer Zwangsarbeiter<br />
Felix Mansfeld, *1888, ehemaliger Kriegsfreund <strong>von</strong> John<br />
Casparius und dessen jetziger Erzfeind, Besitzer der<br />
Wehrmann-Bank nach deren Arisierung<br />
Max Wehrmann, *1867, deutscher Bankier und Patenonkel <strong>von</strong><br />
John<br />
Eric Wehrmann, *1900, Neffe <strong>von</strong> Max Wehrmann und hoher<br />
amerikanischer Offizier
Roger Lafferty, *1895, ein englischer Lord<br />
Dr. Olaf Berenzen, ein mit Otto befreundeter Kinderarzt und<br />
Nazi<br />
Alan Russel, ein Toter<br />
Tom Davies, Pilot der Royal Air Force<br />
Paul Jones, Pilot der Royal Air Force<br />
Lucy Boyle, eine junge Barfrau<br />
Nora Heidenreich, eine kleine Patientin
Kapitel 1<br />
Altona, Februar 1939<br />
Auf dem letzten Stück des Weges musste Fanni sich sputen. Sie<br />
war spät dran. Ihr Dienst im Kinderhospital begann um Punkt<br />
sieben Uhr, und schon bei der geringsten Verspätung erntete<br />
man einen Tadel <strong>von</strong> Oberschwester Karin. »Die deutsche Frau<br />
ist pünktlich«, sagte diese dann mit vorwurfsvollem Blick und<br />
brummte einem zur Strafe einige unvergütete Nachtdienste auf.<br />
Die Oberschwester führte ihre Untergebenen mit harter Hand.<br />
Aber wenn einer der Ärzte die Zeit vergaß oder gar einen Termin<br />
versäumte, verzogen sich ihre dünnen Lippen zu einem nachsichtigen<br />
Lächeln. Sobald man einen Doktortitel trug, konnte<br />
man in ihren Augen keine Fehler mehr machen. Nur der Führer<br />
selbst stand für sie noch über diesen Halbgöttern in Weiß.<br />
Fanni, <strong>von</strong> der körperlichen Anstrengung außer Atem, sog<br />
hastig die kalte Februarluft ein. Im Grunde war es gar nicht<br />
ihre Schuld, dass sie beim Frühstück so viel Zeit vertrödelt hatte.<br />
Seit ihre Großmutter Irma die Leitung des Ausflugslokals Elbrauschen<br />
an ihre Enkelsöhne Fritz und Peter abgegeben hatte,<br />
fehlte es ihr an Ansprache. Notgedrungen verbrachte sie nun<br />
den größten Teil des Tages allein in ihrer Tweehus-Hälfte im<br />
<strong>Blankenese</strong>r Treppenviertel. Ein Zustand, der für die vormals<br />
so umtriebige Mittsechzigerin wohl nur schwer zu ertragen<br />
war. Aber jedes Mal, wenn Fanni vorschlug, dass sie doch ihrer<br />
Tochter einen Besuch abstatten könne, die in einer herrschaftlichen<br />
Villa in der Elbchaussee wohnte, schüttelte ihre Großmutter<br />
den Kopf. »Leni hat schon genug Sorgen. Da muss ich<br />
ihr nicht auch noch die Zeit stehlen.« Das stimmte zwar, änderte<br />
aber nichts da ran, dass sie tagsüber nun niemanden für ein<br />
11
Schwätzchen hatte. War es da ein Wunder, dass sie beim gemeinsamen<br />
Frühstück jedes Mal vom Hölzchen aufs Stöckchen<br />
kam? Wo rüber hatte sie sich heute Morgen wieder aufgeregt?<br />
Fanni musste zugeben, dass sie dem Redefluss nur mit halbem<br />
Ohr gelauscht und mit wachsender Beklemmung auf den immer<br />
weiter vorrückenden Zeiger der Uhr geschielt hatte. Aber<br />
während sie jetzt weiter Richtung Bleickenallee eilte und aufpasste,<br />
beim Überqueren der Straße nicht <strong>von</strong> der Linie 7 angefahren<br />
zu werden, fiel es ihr wieder ein: Ihre Großmutter hatte<br />
sich über einen Erlass der Reichsmusikkammer echauffiert, den<br />
sie in der Zeitung erspäht hatte. »Stell dir vor! Jetzt schreiben<br />
die Nazis einem sogar schon vor, wie man ihre Lieder aufzuführen<br />
hat. Das Horst-Wessel-Lied soll als ›revolutionäres Kampflied‹<br />
schnell gespielt werden, das Deutschlandlied als ›Weihelied‹<br />
ganz langsam. Hat man da noch Töne? Gibt es irgendeinen<br />
Bereich, in den diese Kerle nicht ihre Nasen stecken?« Voller<br />
Entrüstung hatte sie den Kopf geschüttelt, bis sich eine schlohweiße<br />
Strähne aus ihrem Dutt löste.<br />
Endlich erblickte Fanni das dreistöckige rote Backsteingebäude<br />
mit den vielen weißen Fenstern, in dem sie ihre Ausbildung<br />
zur Kinderkrankenschwester absolviert hatte. Trotz der<br />
gebotenen Eile huschte sie mit einem Lächeln durch die Pforte<br />
des Personaleingangs. Sie liebte ihre Großmutter abgöttisch und<br />
das nicht nur, weil die ihr trotz widriger Umstände zu einer behüteten<br />
Kindheit verholfen hatte. Die alte Dame sprach in ihrer<br />
resoluten Art auch Dinge aus, die man sich selbst nicht zu sagen<br />
traute. Sogar vor ihrem jüngsten Sohn Heinz, einem fanatischen<br />
Nazi, kuschte sie nicht, jedenfalls nicht in der Abgeschiedenheit<br />
ihrer vier Wände. Nur in der Öffentlichkeit war sie vorsichtig.<br />
Das Denunziantentum hatte sich in der letzten Zeit arg ausgebreitet,<br />
und ein falsch verstandener Witz in der Schlachterei<br />
oder beim Anstehen vor der Bäckerei konnte unabsehbare Folgen<br />
haben. Wahrscheinlich war das auch der Grund, wa rum sie<br />
inzwischen kaum noch das Haus verließ und ihre Enkel zum<br />
Einkaufen schickte.<br />
12
Kurz vor sieben Uhr erreichte Fanni das Umkleidezimmer.<br />
Hastig zog sie sich die weiße Schürze über das hellblaue, wadenlange<br />
Kleid. Während sie sich die Haube auf dem Kopf feststeckte,<br />
fiel ihr Blick auf die Schlagzeile der Norddeutschen Nachrichten,<br />
die eine Kollegin auf der Fensterbank hatte liegen lassen:<br />
Hitler kündigt im Kriegsfall die Vernichtung der jüdischen Rasse in<br />
Europa an. Unwillkürlich lief Fanni ein Schauer über den Rücken.<br />
Es war verrückt, wie man sich an den kleinen Sorgen des<br />
Alltags festklammerte, um die großen Katastrophen auszublenden.<br />
Doch die fett gedruckte Überschrift rief ihr die schweren<br />
Wochen und Monate, die hinter ihnen lagen, nachdrücklich ins<br />
Gedächtnis. Wie mochte es wohl gerade Tante Lenis Sohn Max<br />
gehen, der gemeinsam mit seiner Cousine Charlotte und deren<br />
Zwillingsbruder Kurt vor den Nazis nach England geflüchtet<br />
war? Wie lebten die drei in der Fremde? Ob sie wenigstens dort<br />
in Sicherheit waren?<br />
In diesem Moment streckte Schwester Beate den Kopf zur<br />
Tür he rein. »Moin, Fanni. Mensch, beeil dich! Der Drache ist<br />
bereits im Anmarsch.« Hastig machte sie sich auf den Weg<br />
ins Schwesternzimmer, wo Oberschwester Karin jeden Morgen<br />
eine Besprechung abhielt. Während ihre Vorgesetzte wortreich<br />
den zu hohen Verbrauch <strong>von</strong> Zellstofftüchern und Verbandsmaterial<br />
beklagte, schweiften Fannis Gedanken zu der<br />
Schlagzeile in den Nordeutschen Nachrichten ab. Würde es tatsächlich<br />
wieder Krieg geben? Was würde dies für ihre Familie<br />
bedeuten, die politisch schon jetzt zutiefst gespalten war? Auf<br />
der Seite der Nazis standen ihr Onkel Heinz, der im Konzentrationslager<br />
Fuhlsbüttel arbeitete, seine Frau Adelheid, die gerade<br />
ihr erstes Kind erwartete, und leider auch ihre eigene Mutter,<br />
die vor einiger Zeit einen grauenhaften Ortsgruppenleiter<br />
geheiratet hatte und sich seitdem wie die Königin <strong>von</strong> Othmarschen<br />
gebärdete. Ihre Großmutter, die <strong>Familien</strong> <strong>von</strong> Onkel Albert<br />
und Tante Leni, deren halbjüdischer Ehemann John vor der<br />
Gestapo in den Untergrund hatte fliehen müssen, waren dagegen<br />
erklärte Gegner des Regimes. Das alles bot schon genügend<br />
13
Anlass zur Sorge, aber wie sollte es enden, wenn sich die Situation<br />
weiter zuspitzte?<br />
»Das war’s«, beschloss die Oberschwester ihre Gardinenpredigt.<br />
»Ab an die Arbeit!«<br />
Jetzt war keine Zeit mehr für private Gedanken. Fanni<br />
drängte sich mit den anderen Schwestern Richtung Ausgang,<br />
um so schnell wie möglich zu ihren kleinen Patienten zu kommen.<br />
Seit Januar arbeitete sie auf der Infektionsstation, wo Kinder<br />
lagen, die an Mumps, Masern und anderen Infektionskrankheiten<br />
litten und deren Symptome so stark waren, dass sie nicht<br />
zu Hause gepflegt werden konnten. Besonders um den kleinen<br />
Thomas, der gestern mit Verdacht auf Kinderlähmung eingeliefert<br />
worden war, machte sie sich Sorgen.<br />
Während die Lernschwestern den älteren Patienten das<br />
Frühstückstablett vor die Nase stellten und den jüngeren beim<br />
Essen halfen, bereitete sich Fanni auf die Visite mit dem leitenden<br />
Oberarzt Dr. Mook vor. Mit gerunzelter Stirn musterte<br />
sie die Krankenblätter, in die die Nachtschwestern die Ergebnisse<br />
der letzten Fiebermessung und andere Kommentare zum<br />
Krankheitsverlauf eingetragen hatten. Glücklicherweise schien<br />
es den meisten Kindern ein wenig besser zu gehen. Besonders<br />
für die kleine Ilse, die einen hochkomplizierten Scharlachverlauf<br />
nur knapp überlebt hatte, freute sie das. Aber ausgerechnet<br />
Thomas ging es schlechter. Er fieberte stark und klagte über<br />
Schmerzen in beiden Beinen. Natürlich war der Rachenabstrich<br />
positiv aus dem Labor zurückgekommen. Mit einem leisen<br />
Seufzen trug Fanni das Ergebnis ein. Sie hatte Dr. Mook<br />
erst da ran erinnern müssen, den Abstrich anzuordnen. Der<br />
Oberarzt hatte diesen Angriff auf seine Autorität mit einem<br />
unwilligen Nicken quittiert. Er war ein schwieriger Chef, der<br />
einerseits über ein übersteigertes Selbstwertgefühl verfügte, andererseits<br />
aber nur über sehr begrenzte medizinische Fähigkeiten.<br />
Seine leitende Stellung verdankte er wohl eher seiner<br />
strammen politischen Gesinnung als seiner fachlichen Kompetenz.<br />
14
»Moin, Schwester Fanni«, grüßte eine männliche Stimme<br />
hinter ihr.<br />
Errötend fuhr sie he rum. »Oh … moin, Otto … ähm … ich<br />
meine, Doktor Casparius.« Der blonde Kinderarzt war der<br />
Halbbruder <strong>von</strong> Tante Lenis Ehemann und seit Kindertagen<br />
ihr erklärter Schwarm. Doch leider schien er in ihr immer noch<br />
das kleine Mädchen zu sehen, das er einst beim Pütschern auf<br />
der Elbe <strong>von</strong> einer Eisscholle gerettet hatte. Jedenfalls verhielt er<br />
sich ihr gegenüber gleichbleibend freundlich – leider in der Art<br />
eines gutmütigen älteren Bruders. Trotzdem hatte sie sich auch<br />
seinetwegen für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester<br />
entschieden. Er hatte so leidenschaftlich <strong>von</strong> seiner Arbeit im<br />
Krankenhaus berichtet, dass sie den kleinen Patienten ebenfalls<br />
hatte helfen wollen. Dass sie Otto Casparius dabei fast täglich<br />
auf den langen Krankenhauskorridoren begegnete, war ein zusätzlicher<br />
Bonus.<br />
Über sein blasses Gesicht huschte ein verärgerter Ausdruck.<br />
»Es tut mir leid, Fanni, dass Doktor Mook im Krankenhaus auf<br />
solchen Förmlichkeiten besteht.«<br />
Erleichtert, dass sein Unmut nicht ihr galt, winkte sie ab. »Ach,<br />
das ist nicht schlimm. Und bestimmt wäre es auch Oberschwester<br />
Karin nicht recht, wenn wir uns bei der Arbeit duzen würden.<br />
Aber … was machst du überhaupt hier? Bist du diese Woche<br />
nicht auf der Neugeborenenstation?« Die letzte Frage war rhetorisch.<br />
Natürlich kannte sie seinen Dienstplan in- und auswendig.<br />
»Eigentlich … ja«, erwiderte Otto gedehnt. Seine hellblauen<br />
Augen blitzten kurz auf. »Aber da Doktor Mook die Hitlerjugend<br />
Altona heute als Bannarzt auf einen Ausflug begleitet,<br />
werde ich ihn ein weiteres Mal bei der Visite vertreten.«<br />
Fanni atmete auf. »Gott sei Dank.«<br />
Otto blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Wieso?«<br />
»Ach, wir haben einen Jungen mit Kinderlähmung, und<br />
Doktor Mook nimmt den Fall nicht richtig ernst. Da …«<br />
Ungeduldig nahm ihr Otto das Holzbrett mit dem Krankenblatt<br />
aus der Hand. »Ist er das?«<br />
15
Sie nickte.<br />
»Also, dann schauen wir uns …« Er suchte nach dem Namen.<br />
»… den kleinen Thomas gleich als Erstes an. Solche Patienten<br />
müssen unbedingt warmgehalten werden. Außerdem braucht<br />
er ein Mittel gegen die Schmerzen. Zusätzlich sollten wir noch<br />
seine Atmung kontrollieren … wenn das Zwerchfell ebenfalls<br />
<strong>von</strong> Lähmungserscheinungen betroffen ist, müssen wir ihn sofort<br />
an einen Respirator anschließen.«<br />
Fanni nickte erneut, und gemeinsam machten sie sich auf<br />
den Weg.<br />
Der restliche Vormittag verging wie im Flug. Nachdem die<br />
Visite beendet war, wurden die <strong>von</strong> Otto angeordneten Medikamente<br />
ausgeteilt sowie weitere Maßnahmen und Untersuchungen<br />
durchgeführt. Bei einem älteren Mädchen musste<br />
die Lunge durchleuchtet werden, ein anderes bekam wegen<br />
Verdauungsprob lemen einen Einlauf. Alle Patienten mussten<br />
gewaschen und in neue Laken gebettet werden. Eine Heidenarbeit,<br />
besonders weil einige Eltern sich nicht an die ausgewiesenen<br />
Besuchszeiten hielten und umgehend über den Zustand<br />
ihres Kindes informiert werden wollten. Trotzdem klappte<br />
das Zusammenspiel mit den anderen Schwestern wie am<br />
Schnürchen … bis am späten Vormittag ein entsetzter Schrei<br />
ertönte.<br />
»Was ist denn da los?«, fragte Schwester Beate.<br />
»Ich weiß nicht … es scheint aus dem Schwesternzimmer gekommen<br />
zu sein. Wahrscheinlich sollten wir …« Fanni sprach<br />
den Satz nicht zu Ende, sondern schloss sich ihrer Kollegin an,<br />
die bereits losgelaufen war.<br />
Als sie näher kamen, sah sie, dass sich bereits die meisten<br />
Schwestern der nahegelegenen Neugeborenen- und der Chirurgischen<br />
Station im Korridor versammelt hatten.<br />
»Wir müssen umgehend die Gestapo rufen!«, hörte man<br />
Oberschwester Karin keifen. »Sonst machen wir uns alle zu<br />
Komplizen dieser widerwärtigen Verbrecher.«<br />
Fanni und ihre Kolleginnen drängten sich neugierig ins<br />
16
Schwesternzimmer. Mitten im Raum stand ihre Vorgesetzte<br />
und hielt ein Stück Papier wie eine Jagdtrophäe in die Luft.<br />
»Wer <strong>von</strong> euch war das?«, fauchte sie. »Wer verteilt unter meiner<br />
Aufsicht solch ekelhafte Flugblätter?«<br />
In diesem Moment betrat Otto den Raum. »Was ist hier los,<br />
Oberschwester?«, fragte er mit ruhiger Stimme.<br />
»Es gibt einen schändlichen Verräter unter uns … einen<br />
Schmierfinken, der vor nichts Halt macht und den Führer und<br />
seine Mannen in den Dreck zieht.«<br />
»Darf ich bitte einmal sehen?« Otto streckte die Hand aus,<br />
und die Oberschwester reichte ihm widerwillig den Zettel.<br />
Schweigend las er. Als er aufblickte, meinte Fanni auf seinen<br />
Lippen ein flüchtiges Lächeln zu sehen. Doch er klang ernst, als<br />
er sagte: »Also, ich kann beim besten Willen keine Herabwürdigung<br />
unseres Führers in diesen Worten erkennen.«<br />
»Nicht?« Oberschwester Karin nahm ihm ungefragt den<br />
Zettel aus der Hand. »Dann halten Sie dies für eine angemessene<br />
Botschaft?« Sie atmete wutschnaubend ein und deklamierte:<br />
»Komm, Herr Hitler, sei unser Gast und gib uns, was du<br />
uns versprochen hast, aber nicht nur Kartoffeln und Hering, sondern<br />
dasselbe wie Goebbels und Göring.«<br />
Ein aufgeregtes Raunen erhob sich.<br />
»Da haben Sie es! Ich sage Ihnen, Doktor Casparius, wir<br />
müssen die Gestapo alarmieren, damit dieser aufrührerische<br />
Schmierfink dingfest gemacht wird.« Die Wangen der Oberschwester<br />
hatten die Farbe <strong>von</strong> überreifen Tomaten angenommen.<br />
»Und zwar sofort!«<br />
Otto schüttelte den Kopf. »Meinen Sie wirklich, dass ein<br />
dummer Spruch über Kartoffeln und Heringe einen solchen<br />
Einsatz rechtfertigt? Also, ich denke, die Gestapo hat Wichtigeres<br />
zu tun.«<br />
»Man bezichtigt den Führer, seine Versprechen nicht einzuhalten!«<br />
»Meines Erachtens stellen diese Zeilen keine politische Losung<br />
dar, sondern bestenfalls einen schlechten Scherz.«<br />
17
»Einen Scherz?«, wiederholte die Oberschwester empört.<br />
»Ich kann nichts Lustiges da ran entdecken.«<br />
Fanni dachte fieberhaft nach. Irgendwie musste sie Otto zur<br />
Seite springen.<br />
»Rufen Sie jetzt die Gestapo, Doktor Casparius, oder soll ich<br />
das übernehmen?«<br />
»Aber …«, rief Fanni mit klopfendem Herzen. »… der Verfasser<br />
will den Führer sogar einladen. Er schreibt ja ›sei unser<br />
Gast‹ … das kann doch nichts Böses bedeuten.« Weder die<br />
Oberschwester noch Otto beachteten sie.<br />
»Niemand wird die Gestapo rufen!«, sagte Otto in diesem<br />
Moment mit Nachdruck. »Ich vertrete Doktor Mook<br />
und bin der Meinung, dass sich die Krankenhausleitung lächerlich<br />
macht, wenn sie wegen eines solchen Unfugs Alarm<br />
schlägt.«<br />
Sekundenlang herrschte eine angespannte Stille, dann erwiderte<br />
Oberschwester Karin spitz: »Wie Sie meinen, Doktor<br />
Casparius. Doch ich werde Doktor Mook über Ihre Entscheidung<br />
in Kenntnis setzen müssen.«<br />
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich wäre Ihnen<br />
dankbar, wenn wir uns jetzt wieder der Heilung und Pflege unserer<br />
Patienten widmen könnten.« Otto drehte sich um und verließ<br />
das Schwesternzimmer. Die anderen taten es ihm gleich.<br />
Sogar Oberschwester Karin rauschte wütend aus dem Raum,<br />
nur Fanni verweilte noch einen Moment. Otto hatte ihren Einwurf<br />
einfach ignoriert. Dabei hatte sie ihn lediglich unterstützen<br />
wollen. Ihre Großmutter hatte recht: Sie musste sich endlich<br />
ihre fehlgeleiteten Gefühle für ihn abschminken. Trotzdem<br />
hoffte sie inständig, dass Oberschwester Karin ihre Drohung<br />
nicht wahrmachte. Mit Dr. Mook war in Bezug auf die Partei<br />
und den Führer nicht zu spaßen.<br />
***<br />
18
Sonja seufzte leise. Noch vor einem Jahr hätte ihr ein Besuch<br />
bei der Werft Blohm & Voss mit ihren Freundinnen vom Bund<br />
Deutscher Mädel sicherlich Spaß gemacht. Gemeinsam hätten<br />
sie über die anerkennenden Pfiffe der Werftarbeiter gekichert<br />
und da rüber getuschelt, wer <strong>von</strong> ihnen dem berühmten<br />
Hans Albers am ähnlichsten sah. Anschließend hätten sie die<br />
Kräne und Werkstätten auf dem weitläufigen Gelände bestaunt<br />
und atemlos der Rede des Führers gelauscht, die dieser anlässlich<br />
des feierlichen Stapellaufs des größten deutschen Schlachtschiffs,<br />
der fast zweihundertfünfzig Meter langen Bismarck, hielt.<br />
Doch jetzt war alles anders. Jetzt musste sie sich zwingen, über<br />
die Scherze ihrer Freundinnen zu lachen. Wobei sie sich keineswegs<br />
sicher war, ob sie überhaupt noch echte Freundinnen waren.<br />
Manchmal hatte sie das Gefühl, dass zumindest Irmgard<br />
und Lotte, deren Väter bei der SS waren, sie schräg <strong>von</strong> der Seite<br />
ansahen. Oder bildete sie sich das nur ein? Doch die Angst, die<br />
sie seit Vaters Flucht verspürte, war leider sehr real.<br />
Der Führer, der in einiger Entfernung auf einem mit Girlanden<br />
aus Tannenzweigen geschmückten Podest neben dem<br />
Schiff stand, wirkte trotz seiner Uniform so klein und unscheinbar.<br />
Kaum zu glauben, dass ausgerechnet dieser Mann einen solchen<br />
Eindruck auf alle Anwesenden machte. Irmgard, die seit<br />
jeher für den Führer schwärmte und ihm schon unzählige Briefe<br />
mit gepressten Blumen geschickt hatte, war bei seinem Anblick<br />
sogar kurzzeitig in Ohnmacht gefallen. Sonja selbst beäugte ihn<br />
mit ungläubiger Neugierde. Konnte das ganze Unglück, das ihrer<br />
Familie widerfahren war, tatsächlich auf diesen Mann zurückgeführt<br />
werden, der, zwischen stilleren Passagen, genauso<br />
he rumbrüllte wie die Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt?<br />
Was fanden die Leute an ihm? Oder war die Erhabenheit<br />
des Führers in Wirklichkeit nur ein Trugbild, dem wie in ihrem<br />
Lieblingsmärchen Des Kaisers neue Kleider alle Bürger gleichzeitig<br />
aufsaßen? Doch wo blieb das Kind, das mit ausgestrecktem<br />
Finger auf ihn zeigte und die Wahrheit hi nausposaunte?<br />
Ihre amerikanische Großmutter Esther war gestorben, als ihr<br />
19
Vater noch ein kleiner Junge gewesen war. Sie hatte sie nie kennengelernt.<br />
Trotzdem machte ihr Blutanteil – zumindest in den<br />
Augen der Nazis – ihren Vater zum Halbjuden und ihren Zwillingsbruder<br />
Max und sie zu Vierteljuden. Natürlich war es eine<br />
schreiende Ungerechtigkeit, dass sie, nur weil sie die blonden<br />
Haare und blauen Augen ihrer Mutter geerbt hatte, zu den beliebten<br />
Mädchen ihrer Schule zählte. Insgeheim hatte sie wegen<br />
dieser Willkür, obwohl sie nichts dafürkonnte, ein schlechtes<br />
Gewissen, denn Max, der mit Vaters braunen Augen und dunklen<br />
Haaren geboren worden war, erging es leider völlig anders.<br />
Ihm war das Leben bei jeder Gelegenheit schwer gemacht und<br />
der Eintritt in die Hitlerjugend gleich ganz verwehrt worden.<br />
Ihr Bruder hatte in der Schule und auf den Hamburger Straßen<br />
so viele Demütigungen ertragen müssen, dass er sich letzten<br />
Herbst entschlossen hatte, gemeinsam mit ihrer Cousine Charlotte<br />
und ihrem Cousin Kurt nach England auszuwandern. Und<br />
das alles nur, weil der Führer und seine Anhänger die Juden zum<br />
Sündenbock für alles machten, was im Deutschen Reich schieflief.<br />
Wegen der Ereignisse der letzten Wochen und Monate war<br />
Sonjas schlechtes Gewissen einem nagenden Schuldgefühl gewichen.<br />
Wa rum durfte ausgerechnet sie hier unbehelligt in der<br />
Menge stehen, während Kurts und Charlottes Vater Elias seit<br />
der Reichspogromnacht verschollen, ihr Bruder ausgewandert<br />
und ihr Vater vor der Verhaftung durch die Gestapo geflohen<br />
war? Das ergab doch alles keinen Sinn. Dennoch bestand ihre<br />
Mutter da rauf, dass sie ihr Leben so »normal« wie möglich weiterlebte.<br />
Als könnte es in ihrer Familie überhaupt noch so etwas<br />
wie Normalität geben. Bei jedem Telefonklingeln schreckten<br />
Tante Felicitas, ihre Mutter und sie selbst wie <strong>von</strong> der Tarantel<br />
gestochen hoch. Aber es war niemals ihr Bruder, ihr Vater oder<br />
Onkel Elias am anderen Ende der Leitung.<br />
Max schrieb wenigstens <strong>von</strong> Zeit zu Zeit Briefe, und <strong>von</strong><br />
ihrem Vater hatten sie eine Postkarte aus Osnabrück erhalten.<br />
»Alles gut. In Liebe, John«, hatte er eilig da rauf gekritzelt. Aber<br />
20
<strong>von</strong> Onkel Elias hatte seit der schrecklichen Nacht seiner Verschleppung<br />
niemand mehr etwas gehört oder gesehen. Manchmal<br />
konnte Sonja vor Sorge um die geliebten Menschen kaum<br />
schlafen.<br />
Sie zuckte zusammen. Irmgard hatte ihre Hand ergriffen.<br />
»Ist er nicht großartig?«, flüsterte die Freundin und drückte ihre<br />
Finger. »Und diese Rede. Einfach kolossal!«<br />
Sonja nickte mit einem hoffentlich überzeugenden Lächeln<br />
und lauschte demonstrativ Hitlers Worten, die sie vorher ausgeblendet<br />
hatte.<br />
»Der Nationalsozialismus aber hat in seiner Bewegung und<br />
in der deutschen Volksgemeinschaft die geistigen, weltanschaulichen<br />
und organisatorischen Elemente geschaffen, die geeignet<br />
sind, die Reichsfeinde <strong>von</strong> jetzt ab und für alle Zukunft zu vernichten«,<br />
brüllte der Führer gerade.<br />
Was sollte das nun schon wieder bedeuten? Welche Reichsfeinde<br />
meinte er? Sprach er etwa <strong>von</strong> den Juden? Plötzlich<br />
wünschte Sonja, dass sie der Rede <strong>von</strong> Anfang an zugehört hätte.<br />
Doch selbst jetzt hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. In ihrem<br />
Kopf spukten so viele Fragen he rum. Wo blieb zum Beispiel<br />
ihr Großonkel Veit? Um ihrem Vater die Flucht zu ermöglichen,<br />
hatte er die Gestapo mit einem Trick an der Nase<br />
he rumgeführt. Trotzdem hatte ihre Familie damit gerechnet,<br />
dass Veit als Mitglied der NSDAP nicht dafür belangt werden<br />
würde. Doch nun saß er schon seit Wochen im Hamburger Gestapo-Hauptquartier<br />
und durfte weder einen befreundeten Anwalt<br />
noch ihre Mutter sprechen. Wie wurde er dort behandelt?<br />
Bekam er genug zu essen? Würde man ihm den Prozess machen?<br />
Auch ihre Mutter, sonst eher eine Frohnatur, war seit Vaters<br />
Flucht so schrecklich still und in sich gekehrt. Sonja scheute<br />
sich, sie unter diesen Umständen auf die familieneigene Reederei<br />
anzusprechen. Dabei konnte Herr Claasen, der Prokurist, der<br />
ihren Großonkel zurzeit vertrat, bestimmt nicht alle wichtigen<br />
<strong>Entscheidungen</strong> treffen, die dort täglich anstanden. Und da es<br />
leider nicht so aussah, als würden ihr Vater und Großonkel Veit<br />
21
ald wiederkommen, hätte eigentlich ihre Mutter die Zügel in<br />
die Hand nehmen müssen. Oder wer sonst sollte das Unternehmen<br />
leiten?<br />
Irmgard drückte erneut ihre Finger. Diesmal fast schmerzhaft<br />
fest. Wahrscheinlich neigte sich die Rede des Führers dem<br />
Ende zu.<br />
»Mögen sich die deutschen Soldaten und Offiziere, die<br />
die Ehre besitzen, dieses Schiff einst zu führen, jederzeit seines<br />
Namensträgers würdig erweisen! Möge der Geist des eisernen<br />
Kanzlers auf sie übergehen, möge er sie begleiten bei all ihren<br />
Handlungen auf den glückhaften Fahrten im Frieden, möge<br />
er aber, wenn es je notwendig sein sollte, ihnen mahnend voranleuchten<br />
in den Stunden schwerster Pflichterfüllung! Mit<br />
diesem heißen Wunsch begrüßt das deutsche Volk sein neues<br />
Schlachtschiff Bismarck!«, brüllte Hitler.<br />
Selbst aus der Entfernung konnte Sonja die feuchte Aussprache<br />
des Führers erahnen. Er schien die Worte geradezu aus<br />
seinem Innersten hervorzupressen. Trotzdem klatschten die<br />
Menschen um sie he rum frenetisch Beifall. Irmgards Augen<br />
leuchteten voller Stolz. »Hast du gesehen, wie stark und männlich<br />
der Führer ist? Ich liebe ihn!«<br />
Während ihre BDM-Freundinnen Irmgard umringten und<br />
ihr wortreich beipflichteten, verspürte Sonja ein hohles Gefühl<br />
im Bauch. Sie hatte zwar niemals in diesem Ausmaß für<br />
den Führer geschwärmt, aber der Gedanke an ein neues, starkes<br />
Deutschland mit einer sportlichen, unabhängigen Jugend hatte<br />
auch sie früher einmal mit Hoffnung erfüllt. Wie überschwänglich<br />
hatten die anderen Mädchen auf Wanderungen, bei Vorträgen<br />
und in Zeltlagern <strong>von</strong> dieser neu anbrechenden, goldenen<br />
Zukunft gesprochen. Doch seit in ihrem Leben die vorherrschende<br />
Farbe ein tristes Dunkelgrau war, wäre sie am liebsten<br />
gar nicht mehr zu den Veranstaltungen des BDM gegangen,<br />
aber aus Erfahrung wusste sie, dass so etwas unangenehme<br />
Konsequenzen haben konnte. Magda, die Tochter ihres Religionslehrers,<br />
war nach einer kritischen Bemerkung über die Poli-<br />
22
tik der Nazis zuerst des BDM verwiesen worden und dann <strong>von</strong><br />
der Schule geflogen. Da war es doch besser, Scham, Ärger und<br />
Kritik einfach runterzuschlucken. Weitere Dramen würden weder<br />
ihre Mutter noch sie selbst verkraften.<br />
In diesem Moment bemerkte sie, dass zwei Herren in Mantel<br />
und Hut auf Irmgard zusteuerten und sie etwas fragten. Irmgard<br />
zeigte in ihre Richtung, und die beiden Männer nahmen –<br />
genau in dem Moment, als das neue Schlachtschiff zu Wasser<br />
gelassen wurde – Kurs auf sie. Was zum Teufel wollten sie <strong>von</strong><br />
ihr? Gehörten nun auch blonde und blauäugige Vierteljuden<br />
zum unerwünschten Teil des deutschen Volkes? Ginge es ihr<br />
nun auch an den Kragen?<br />
»Bist du Sonja Casparius?«, erkundigte sich der größere der<br />
beiden Männer. Obwohl er lächelte, trat Sonja unwillkürlich einen<br />
Schritt zurück. Er hatte keine besonders freundliche Ausstrahlung.<br />
»Ja, das bin ich«, erwiderte sie.<br />
»Die Tochter <strong>von</strong> Leni und John Casparius?«<br />
Sonja nickte.<br />
»Und wie alt bist du jetzt?«<br />
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, die Antwort<br />
zu verweigern. Aber dann erinnerte sie sich, dass es sich nicht<br />
gehörte, ungehorsam gegenüber Erwachsenen zu sein. »Fast<br />
fünfzehn«, entgegnete sie. »Und wer sind Sie?«<br />
»Mein Name ist Felix Mansfeld«, antwortete er <strong>von</strong> oben herab,<br />
als wäre es eine Bildungslücke, ihn nicht zu kennen. »Ich bin<br />
der Bankier der Casparius-Reederei, und ich möchte, dass du<br />
deiner Mutter etwas <strong>von</strong> mir ausrichtest.«<br />
Sonja erschrak. Mansfeld – diesen Namen hatte sie bereits<br />
gehört. Handelte es sich nicht um einen ehemaligen Freund ihres<br />
Vaters, der sich inzwischen zu seinem Widersacher gewandelt<br />
hatte? Was konnte dieser Kerl <strong>von</strong> ihrer Mutter wollen?<br />
Sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen,<br />
doch das amüsierte Glitzern in seinen Augen verriet ihr, dass<br />
ihre Bemühungen umsonst waren. »Und was soll ich ihr sagen?«<br />
23
»Ich werde sie nächste Woche mit …«, er zeigte auf den<br />
grauhaarigen Mann an seiner Seite, »… Herrn Koenig besuchen,<br />
um über die weitere Arisierung der Reederei Casparius zu<br />
sprechen.«<br />
Sonja brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen.<br />
Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Zögernd erwiderte sie:<br />
»Aber unsere Reederei ist doch längst arisiert. Mein Großonkel<br />
Veit Casparius ist Arier und hält alle Anteile.«<br />
Beide Männer verzogen den Mund zu einem hämischen Lächeln.<br />
»Dein Onkel ein Arier? Nun, da kann man wohl geteilter<br />
Meinung sein … bei dieser Sippschaft«, sagte Mansfeld.<br />
Immer noch grinsend, drehten sie sich um und entfernten<br />
sich ohne ein Wort des Abschieds.<br />
Mit klopfendem Herzen sah Sonja ihnen nach. Dann<br />
schaute sie sich besorgt um. Hatten ihre Freundinnen etwas <strong>von</strong><br />
der Unterhaltung mitbekommen?<br />
***<br />
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne stand hoch am<br />
Himmel und tauchte die Elbe in goldenes Licht. Einige am Steg<br />
vertaute Jollen tanzten auf dem Wasser. In den Bäumen am Ufer<br />
zwitscherten Vögel. Die leichte Brise, die Kurt entgegenwehte,<br />
duftete nach Flieder. Doch er nahm sich nicht die Zeit, das paradiesische<br />
Bild in sich aufzunehmen. Stattdessen rannte er den<br />
Strandweg entlang, als ginge es um sein Leben, und bog schließlich<br />
rechts ab zu der steilen Strandtreppe, die zu Fannis Haus<br />
führte. Der schmale Weg schlängelte sich an reetgedeckten Fischerkaten<br />
und weißen Häuschen mit hübsch angelegten Gärten<br />
vorbei, doch auch an diese Postkartenmotive vergeudete er<br />
keinen Blick. Er wollte … er musste Fanni sehen. So schnell wie<br />
möglich. Obwohl er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte,<br />
nahm er bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal. Er konnte<br />
bereits die Umrisse des Tweehus ausmachen, in dem seine ge-<br />
24
liebte Freundin wohnte. Ob sie schon vom Krankenhaus zurück<br />
war? Er hatte ihr so viel zu erzählen und …<br />
»Kurt! Wach auf! Es ist Zeit!«, flüsterte eine heisere Stimme.<br />
»Nein, Mama … ich …« Kurt fuhr <strong>von</strong> seinem Bett hoch.<br />
Verwirrt blinzelte er die junge, blonde Frau an, die ihn geweckt<br />
hatte. Dann fiel ihm wieder ein, wo er war. »Ich komme gleich«,<br />
flüsterte er. Die Betreuerin nickte und ging auf Zehenspitzen<br />
zurück zur Tür.<br />
Er atmete tief ein und aus. Natürlich war das nicht die zärtliche<br />
Stimme seiner Mutter gewesen. Schließlich befand er<br />
sich nicht in Hamburg, sondern in England, auch wenn ihm<br />
sein Traum ungeheuer realistisch vorgekommen war. Irgendwie<br />
hatte er noch immer das Gefühl, dass er nur die Hand ausstrecken<br />
müsste, um Fannis Gartentor zu öffnen. Mit einem unterdrückten<br />
Seufzen betrachtete er die drei langen Reihen mit<br />
Betten im Halbdunkel des Schlafsaals. In jedem dieser Betten<br />
lag ein Junge, der genau wie er seine Eltern, seine Freunde und<br />
die alte Heimat vermisste. Manche der Kinder waren sogar erst<br />
vier oder fünf Jahre alt. Für sie war es schwer zu verstehen, warum<br />
ihre Eltern sie aus ihrer angestammten Umgebung weggeschickt<br />
hatten. Sie waren noch zu klein, um zu begreifen, dass<br />
sie in Sicherheit gebracht worden waren, weil in Deutschland<br />
Synagogen brannten und jüdische Menschen auf offener Straße<br />
verprügelt, in Konzentrationslager gesteckt oder verhaftet wurden.<br />
Oder – wie sein Vater – spurlos verschwanden.<br />
Ihn fröstelte. Leise stand er auf, zog seinen Koffer unter dem<br />
Bett hervor und kleidete sich an. Über sein Unterhemd zog er<br />
ein Hemd und zwei Pullover – so viele Lagen wie möglich –,<br />
denn die Räume hier in Dovercourt waren nicht geheizt. Der<br />
an den Schlafsaal grenzende Waschraum bestand aus zehn offenen<br />
Duschkabinen und mehreren Becken mit ausschließlich<br />
kaltem Wasser. Bibbernd verrichtete er eine Katzenwäsche. Anschließend<br />
ging er die Treppe hi nun ter und betrat die Küche,<br />
die durch eine Durchreiche mit dem Speisesaal verbunden war.<br />
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das gefrorene Wasser in<br />
25
den aufgereihten Keramikkrügen. Hoffentlich taute es bis zum<br />
Frühstück auf. Ob er die Gefäße näher an den Ofen schieben<br />
sollte, die einzige Wärmequelle im Raum?<br />
»Kurt, kannst du bitte anfangen, die Sandwiches zuzubereiten?«,<br />
rief ihm dieselbe Betreuerin zu, die ihn auch geweckt<br />
hatte. Sie hieß Sophie und war Engländerin, sprach aber akzentfreies<br />
Deutsch, weil sie zwei Jahre lang in Deutschland als Kinderfräulein<br />
gearbeitet hatte. Nur manchmal flossen einige englische<br />
Wörter in ihre Sätze mit ein. Selbstverständlich war auch<br />
sie Jüdin, so wie die meisten hier. Trotzdem wurde der Schabbat<br />
nicht wie zu Hause begangen. Kurt wusste nicht, wa rum, und<br />
scheute sich, danach zu fragen.<br />
»Natürlich«, antwortete er und begann, die zu einem Turm<br />
geschichteten, labberigen Brotscheiben dünn mit Margarine<br />
und Marmelade zu bestreichen. Jede fertige Scheibe wurde quer<br />
durchgeschnitten, anschließend wurden die beiden Hälften zusammengeklappt,<br />
damit auch die kleineren Kinder sie ohne zu<br />
kleckern essen konnten.<br />
Er hatte sich freiwillig bereit erklärt, eine Stunde früher aufzustehen,<br />
um bei der Essensvorbereitung und -ausgabe zu helfen.<br />
Einerseits gehörte er mit seinen fast vierzehn Jahren zu den<br />
älteren Jungen und fühlte sich deshalb dazu verpflichtet. Andererseits<br />
gab es für die Unterstützung manchmal eine Extraportion<br />
Essen, die er dringend benötigte. In den letzten Wochen<br />
war er derart in die Höhe geschossen, dass alle seine Hosen<br />
Hochwasser hatten und die Ärmel seiner Pullover auf der Mitte<br />
des Unterarms endeten. Dieses schnelle Wachstum hatte die<br />
lästige Begleiterscheinung, dass ihn ständig Hunger plagte. Und<br />
da es außer den drei kargen Kantinen-Mahlzeiten nichts zu beißen<br />
gab, war er für ein übrig gebliebenes Sandwich und die eine<br />
oder andere zusätzliche Kartoffel auf seinem Teller sehr dankbar.<br />
Wenn Fanni ihn hätte sehen können, hätte sie gestaunt. Bestimmt<br />
überragte er sie jetzt um einen Kopf, dabei war sie sechs<br />
Jahre älter als er. Unwillkürlich musste er an seinen Traum denken.<br />
Fanni! Er träumte fast jede Nacht <strong>von</strong> ihr. Von ihrem hüb-<br />
26
schen, <strong>von</strong> honigblonden Haaren umrahmten Gesicht, der sanften<br />
Stimme und ihrem lieben Wesen. Manchmal fühlte er sich<br />
schuldig, weil er sie so viel mehr vermisste als seine Mutter und<br />
seine Geschwister. Aber vielleicht lag das auch an dieser anderen<br />
Art <strong>von</strong> Gefühl, das er für sie hegte, seit er sie das erste Mal<br />
gesehen hatte. Seit jenem Tag im Haus seines Onkels liebte er<br />
sie. Mit jeder Faser seines Herzens.<br />
Natürlich war seine Begeisterung für die Nichte seiner angeheirateten<br />
Tante <strong>von</strong> allen Erwachsenen … und zunächst leider<br />
auch <strong>von</strong> Fanni selbst belächelt worden. Der Altersunterschied<br />
kam ihnen einfach zu groß vor. Er war damals noch ein kleiner<br />
Junge gewesen und sie schon fast ein junges Fräulein. Aber<br />
all das hatte ihn nicht beirrt. Er wusste tief in seinem Inneren,<br />
dass er Fanni eines Tages heiraten würde. Und tatsächlich waren<br />
sie in den letzten Jahren gute Freunde geworden. Er hatte<br />
sie besucht und sie ihn. Doch seit seinem Umzug nach England<br />
musste er auf diese für ihn so wichtigen Glücksmomente<br />
verzichten. Dennoch hielt er eisern an seiner Überzeugung fest.<br />
Fanni und er gehörten zusammen. Wenn er erst einmal dreiundzwanzig<br />
Jahre alt wäre und sie neunundzwanzig, würde niemand<br />
mehr an diesen lächerlichen sechs Jahren Anstoß nehmen.<br />
Der einzige Vorteil ihrer erzwungenen Trennung war, dass er<br />
momentan krächzte wie ein Rabe. Der Stimmbruch hatte ihn<br />
mitten in einer Englischstunde erwischt, und sein plötzliches<br />
hohes Fiepen hatte die anderen Kinder in prustendes Lachen<br />
ausbrechen lassen. Seit kurzem machte er sich noch aus einem<br />
anderen Grund Sorgen. Sein Cousin Max, der erst vor drei Wochen<br />
aus einem anderen Heim hierher nach Dovercourt verlegt<br />
worden war, hatte ihm aus einem Brief seiner Zwillingsschwester<br />
Sonja vorgelesen, in dem sie schrieb, Fanni sei in ihren gemeinsamen<br />
Stiefonkel, den viel älteren Kinderarzt Otto Casparius,<br />
verliebt. Kurt hatte schon früher so etwas vermutet, aber<br />
seinen Verdacht laut ausgesprochen zu hören tat weh. Manchmal<br />
wünschte er seinen Konkurrenten deshalb dahin, wo der<br />
Pfeffer wuchs, aber dann schämte er sich für seine Missgunst.<br />
27
Schließlich heilte Otto kranke Kinder. Und wie sollten sich<br />
diese beiden ineinander verlieben können, wenn Fanni doch für<br />
ihn bestimmt war!<br />
»Kurt? Bitte beeil dich. Du musst noch den Porridge in die<br />
Schälchen füllen.«<br />
Dankbar für die Unterbrechung seiner dunklen Gedanken,<br />
beeilte er sich mit den restlichen Brotscheiben. Porridge war<br />
zwar in seinen Augen widerlich – bis er serviert wurde, hatte<br />
sich eine Haut da rauf gebildet, und die schleimige Masse darun<br />
ter war grau und kalt –, aber es gab tatsächlich Kinder, die<br />
sich täglich da rauf freuten. Und Freude war etwas, das hier eher<br />
selten vorkam.<br />
Ursprünglich war das in der Nähe <strong>von</strong> Harwich gelegene<br />
Heim als reines Sommerferienlager geplant gewesen. Erst seit<br />
es die Kindertransporte nach England gab, wurden die für rund<br />
tausend Bewohner ausgelegten Gebäude auch im Herbst, Winter<br />
und Frühling betrieben. Leider unter schwierigen Bedingungen:<br />
Die Häuser waren in Leichtbauweise errichtet worden, die<br />
keinen Schutz boten vor eisigen Temperaturen. Im Januar hatte<br />
es sogar geschneit, und die bittere Kälte war durch alle Ritzen<br />
gedrungen und hatte viele Kinder krank werden lassen. In dieser<br />
Zeit hatte sogar der eigentlich obligatorische Englischunterricht<br />
ausfallen müssen, da sämtliche Betreuerinnen und Lehrerinnen<br />
als Krankenschwestern eingesprungen waren.<br />
Die ersten Kinder trafen im Speisesaal ein und setzten sich<br />
an einen der langen Tische. Wie immer zerriss ihm der Anblick<br />
der Kleineren das Herz, und er war froh, dass sein jüngerer Bruder<br />
Michael bei seiner Mutter in Hamburg geblieben war. Bestimmt<br />
war er dort besser aufgehoben als hier, denn auch wenn<br />
die Nazis seinen Vater verschleppt hatten, würden sie einem<br />
<strong>Zwei</strong>jährigen wohl kaum etwas antun. Und die Kleinsten wirkten<br />
so verloren ohne ihre Eltern. Er selbst war seinem Onkel<br />
John und seiner Mutter dankbar, dass sie ihn vorgewarnt hatten:<br />
Der Aufenthalt in England würde kein Zuckerschlecken sein,<br />
sondern lediglich Sicherheit bedeuten. Doch vielen der ande-<br />
28
en Kinder hatte man offenbar den Himmel auf Erden versprochen,<br />
um sie zu überreden, die Reise nach England anzutreten.<br />
Dabei war das Leben im Heim alles andere als einfach, wenn<br />
man ein liebevolles Elternhaus gewohnt war. Es waren schlicht<br />
zu wenige Betreuer, um jedem einzelnen Kind gerecht werden<br />
zu können. Und so blieben viele Bedürfnisse und Wünsche der<br />
Kleinen auf der Strecke. Traurig nahm Kurt sich ein Butterbrot<br />
und eine Tasse Tee und setzte sich neben einen Vierjährigen mit<br />
dunklen Locken, der sich mit großen Augen im Speisesaal umschaute.<br />
»Bist du gerade erst angekommen?«, fragte er ihn.<br />
Der Lockenkopf nickte.<br />
»Weißt du, es wird besser, wenn man sich erst einmal an alles<br />
gewöhnt hat. Willst du mal kosten?« Lächelnd hielt er ihm sein<br />
Butterbrot hin und ließ ihn abbeißen.<br />
Während Kurt weiter mit dem Jungen plauderte und versuchte,<br />
sich möglichst fröhlich zu geben, fiel ihm ein, dass heute<br />
Nachmittag ein weiterer »Viehmarkt« abgehalten werden würde.<br />
Bestimmt hatte der Kleine gute Chancen, <strong>von</strong> einer englischen<br />
Pflegefamilie mit nach Hause genommen zu werden. Die Hübschesten<br />
und vermeintlich Pflegeleichtesten wurden immer als<br />
Erstes he rausgepickt. Er selbst hasste diese Veranstaltungen, bei<br />
denen auch regelmäßig bereits vermittelte, ziemlich verstört<br />
wirkende Mädchen und Jungen »zurückgegeben« wurden, weil<br />
angeblich die Chemie nicht gestimmt hatte. Doch man konnte<br />
offenbar auch Glück haben, so wie seine Schwester Charlotte,<br />
die direkt nach ihrer Ankunft in einer Familie untergekommen<br />
war. Wenn er ihren Briefen Glauben schenken konnte, behandelten<br />
ihre Londoner Pflegeeltern sie wie eine eigene Tochter.<br />
»Morgen, Kurt«, wurde er <strong>von</strong> seinem soeben im Speisesaal<br />
eingetroffenen Cousin Max begrüßt. Da er ein Jahr älter war als<br />
Kurt, wohnte er mit anderen Halbwüchsigen in einem separaten<br />
Häuschen in einiger Entfernung vom Hauptgebäude.<br />
»Auweia«, sagte Kurt, als er Max’ rechtes Auge sah, das geschwollen<br />
war und violett schillerte. »Was ist dir denn passiert?«<br />
29
»Einer <strong>von</strong> den Wiener Jungs«, knurrte sein Cousin, griff<br />
nach einem Schälchen Porridge und setzte sich neben ihn.<br />
»Aber mein Kontrahent sieht auch nicht besser aus.«<br />
Kopfschüttelnd biss Kurt <strong>von</strong> seinem Butterbrot ab. Es war<br />
verrückt, dass einige der aus Wien geflüchteten jüdischen Jungen<br />
es sich in den Kopf gesetzt hatten, die angeblich arroganten<br />
Deutschen verprügeln zu müssen. Dabei saßen sie doch alle im<br />
selben Boot.<br />
Nach dem Mittagessen mussten alle Kinder im Speisesaal bleiben.<br />
Dann wurden die Türen geöffnet, und ungefähr dreißig Personen<br />
strömten in den Raum und sahen sich neugierig um. Kurt<br />
verbarg sich wie gewohnt hinter einem Pfeiler. Er wollte niemandem<br />
ins Auge fallen, da er nicht die Absicht hatte, sich fremden<br />
Leuten auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Aus seinem Versteck<br />
beobachtete er das Geschehen. Man konnte die Erwachsenen<br />
grob in zwei Kategorien einteilen: junge oder ältere Paare,<br />
die nach einem niedlichen Kleinkind suchten, und Einzelpersonen<br />
mittleren Alters, die mit taxierend zusammengekniffenen<br />
Augen nach kostenlosen Arbeitskräften Ausschau hielten.<br />
Die meisten wurden schnell fündig und marschierten mit<br />
dem Kind ihrer Wahl zum Tisch des Heimleiters, um den Papierkram<br />
zu erledigen. Man brauchte in dieser Hinsicht nicht<br />
viel zu tun, lediglich eine Adresse musste angegeben und eine<br />
Erklärung unterschrieben werden, in der man versicherte, sein<br />
Mündel gut zu behandeln. Dann konnten die Leute ihr neues<br />
<strong>Familien</strong>mitglied gleich mit nach Hause nehmen.<br />
Voller Abscheu beobachtete Kurt, wie eine rotgesichtige,<br />
korpulente Dame mit Dutt sich das hübscheste Mädchen des<br />
Heims schnappte. Lily war erst vierzehn, mit ihren großen,<br />
dunklen Augen und den blonden Haaren aber trotzdem schon<br />
der heimliche Schwarm vieler Jungen. Mit gesenktem Blick<br />
ging sie hinter der rabiat wirkenden Dame her. Sich der Auswahl<br />
zu widersetzen, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen.<br />
Innerlich schüttelte Kurt den Kopf. Bestimmt war Lily <strong>von</strong> ih-<br />
30
en Eltern wie eine Prinzessin behandelt worden, und nun war<br />
ihr weiteres Schicksal völlig ungewiss. Würde sie hinter einem<br />
Tresen stehen, Bier ausschenken und mit ihrem Puppengesicht<br />
Kundschaft für das Pub der Frau anlocken müssen? Oder tat er<br />
der zukünftigen Pflegemutter unrecht?<br />
»Was schaust du denn so böse drein?«, fragte sein Cousin, der<br />
in diesem Moment zu ihm trat.<br />
Kurt versuchte zu lächeln. »Ach, nichts, Max. Ich hoffe nur,<br />
dass all diese Pflegeeltern ehrliche Leute sind.«<br />
Max grinste. »Na, dann kannst du auch mir die Daumen drücken.«<br />
Überrascht starrte er ihn an. »Du machst Witze.«<br />
»Nein, der Herr dort drüben will mir ein neues Zuhause in<br />
London geben.«<br />
Kurt musterte den schlanken, vielleicht fünfzigjährigen<br />
Mann. Er trug einen Anzug und wirkte »kultiviert«, wie seine<br />
Mutter gesagt hätte, aber das konnte auch Fassade sein. »Max …<br />
um Gottes willen … bist du sicher?«<br />
Sein Cousin nickte grimmig. »Mir reicht’s. Die Kälte, der<br />
schreckliche Fraß, die prügelnden Wiener … eigentlich kann es<br />
doch nur besser werden. Es tut mir nur leid, dich allein zurückzulassen.«<br />
Er winkte ab. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu<br />
machen, aber …« Er zeigte auf das blaugeschlagene Auge seines<br />
Cousins. »Wa rum will dieser Herr ausgerechnet dich? Mit dem<br />
Veilchen siehst du doch geradezu gefährlich aus.«<br />
Max zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht … vielleicht<br />
hat er Mitleid mit mir?«<br />
»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, bat er.<br />
»Nein. Aber ich werde dir schreiben, und wenn es ganz<br />
schlimm wird, nehme ich Reißaus und komme zurück.«<br />
Kurt nickte beklommen. Er würde seinen Cousin vermissen,<br />
aber er wollte ihm nicht unnötig das Herz schwermachen. »Ich<br />
wünsche dir alles Gute.«<br />
»Ich dir auch … bis bald.« Max wandte sich um und ging.<br />
31
Kapitel 2<br />
<strong>Blankenese</strong>, März 1939<br />
An einem dienstfreien Samstag schaute sich Fanni mit ihren<br />
Kolleginnen Beate und Ursula die Matineevorstellung des<br />
Films Hotel Sacher in den <strong>Blankenese</strong>r Lichtspielen an. Eigentlich<br />
hatte sie keine Lust gehabt, aber ihre Großmutter hielt sie<br />
schon seit Wochen dazu an, etwas zu unternehmen. »Weißt du,<br />
mein Kind, es gibt auch noch ein Leben neben der Arbeit. Du<br />
kannst nicht jedes Wochenende mit einer alten Frau zu Hause<br />
sitzen, über die Kinder auf deiner Station grübeln und <strong>von</strong> deinem<br />
Arzt träumen. Man ist nur einmal jung. Geh aus und amüsier<br />
dich. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.«<br />
Weil Fanni nicht unmittelbar nach dem knapp zweistündigen<br />
Film ins Tweehus zurückkehren wollte, wo sie zweifellos weitere<br />
Ratschläge erwarteten, stimmte sie zu, als ihre Freundinnen ein<br />
Mittagessen im Elbrauschen vorschlugen. Nachdem sie sich in<br />
dem urigen Ambiente – der Gastraum war <strong>von</strong> ihrer Großmutter<br />
liebevoll mit Bildern <strong>von</strong> Seemannsknoten und anderen maritimen<br />
Gegenständen eingerichtet worden – niedergelassen und<br />
bei ihrem Cousin Peter das Tagesgericht und je ein Glas Limonade<br />
bestellt hatten, tauschten sie sich über den Film aus.<br />
»Der Schauspieler, der den Leutnant gespielt hat, dieser Wolf<br />
Albach-Retty, ist schon ein schicker Mann«, seufzte Beate sehnsüchtig.<br />
»Lass das besser nicht seine Ehefrau hören«, erwiderte Ursula,<br />
die regelmäßig die Klatschspalten der Zeitungen las. »Mein Fall<br />
ist er sowieso nicht. Ich mag lieber richtige Kerle, nicht solche<br />
Schönlinge.« Sie warf Fanni einen prüfenden Blick zu. »Wa rum<br />
bist du so schweigsam?«<br />
32
Natürlich hatte sie an Otto gedacht, den Mann ihrer Träume.<br />
Doch das konnte sie den beiden nicht auf die Nase binden.<br />
Freundinnen hin oder her … ein solches Geständnis hätte die<br />
Gerüchteküche im Krankenhaus garantiert zum Überkochen<br />
gebracht. »Hm«, versuchte sie, Zeit zu schinden. »Der Film hat<br />
mich irgendwie mitgenommen.«<br />
»Bist du wirklich so eine Mimose? Das war doch nur Kintopp«,<br />
meinte Ursula, die in der Neugeborenenstation arbeitete.<br />
Fanni zuckte mit den Schultern. Hoffentlich wechselten ihre<br />
Kolleginnen bald das Thema.<br />
»Habt ihr schon die Neuigkeiten <strong>von</strong> Doktor Casparius gehört?«,<br />
fragte Beate in diesem Moment.<br />
Fanni, die gerade an ihrer Limonade genippt hatte, verschluckte<br />
sich. »Ähm … nein. Was ist mit ihm?«<br />
»Es heißt, er versteht sich nicht mehr mit Doktor Mook und<br />
der Oberschwester und will eine eigene Praxis gründen.«<br />
»Er will das Kinderhospital verlassen?« Fanni konnte nicht<br />
verhindern, dass ihre Stimme bei diesen Worten zitterte.<br />
Doch da Peter gerade Grünkohl mit Pinkelwurst servierte,<br />
blieb ihre Frage zunächst unbeantwortet.<br />
Erst nachdem sie eine Gabel Grünkohl gekostet hatte, sagte<br />
Ursula: »Reisende soll man nicht aufhalten.«<br />
Beate nickte. »Ich bin mir sicher, dass er eine der Schwestern<br />
als Sprechstundenhilfe mitnimmt.«<br />
»Bestimmt Schwester Gisela«, prophezeite Ursula mit vollem<br />
Mund.<br />
»Wieso?« Fanni senkte den Blick auf ihren unangerührten<br />
Teller, damit die Kollegin nicht den verletzten Ausdruck in ihren<br />
Augen sah.<br />
»Er hält große Stücke auf sie«, erklärte Ursula.<br />
Und Beate fügte hinzu: »Außerdem ist Gisela genauso ein<br />
kalter Fisch wie er.«<br />
»Kalter Fisch?«, fragte Fanni tonlos und stocherte mit der<br />
Gabel im Grünkohl he rum. Ihr Magen war wie zugeschnürt.<br />
33
»Na ja, die halbe Belegschaft macht ihm schöne Augen, und<br />
er kümmert sich nur um seine Patienten.«<br />
In Fannis Kopf drehte sich alles. War sie so verliebt in Otto,<br />
dass sie ihre Konkurrenz gar nicht bemerkt hatte?<br />
»Ich glaube, er wird sich für Gisela entscheiden, weil sie bei<br />
jeder Gelegenheit erwähnt, dass sie keine Kinder will. Da kann<br />
er sich sicher sein, dass er sich nicht alle naselang eine neue Praxishilfe<br />
suchen muss.«<br />
Zum Schein säbelte Fanni an ihrer Wurst he rum. »Und das<br />
steht alles schon fest?«<br />
»Fest steht es erst, wenn er seine Kündigung eingereicht hat«,<br />
erwiderte Beate. »Aber genug <strong>von</strong> Doktor Casparius … was<br />
habt ihr so für Zukunftspläne?«<br />
»Also, ich will unbedingt das Mutterkreuz ergattern«, antwortete<br />
Ursula kauend. »Deshalb muss ich mir irgendwann einen<br />
Mann suchen, der mich heiratet und mindestens viermal<br />
schwängert.«<br />
Fanni schaute sie mit großen Augen an. War das ihr Ernst?<br />
Auch Beate schien sich zu wundern. »Wa rum hast du dann<br />
die Ausbildung gemacht? Mit vier Blagen kannst du jedenfalls<br />
nicht mehr arbeiten.«<br />
»Mit den Erfahrungen als Säuglingsschwester kann ich mich<br />
später gut um meine eigene Brut kümmern.« Ursula blickte<br />
überrascht in die Runde. »Wollt ihr denn keine Kinder?«<br />
Beate senkte die Stimme. »Nicht so, wie es der Führer verlangt«,<br />
erklärte sie und sah sich vorsichtig um. Mit gedämpfter<br />
Stimme fügte sie hinzu: »Ein Kind an der Hand, eins auf dem<br />
Arm, eins im Kinderwagen und eins unter dem Herzen. Entschuldigung,<br />
aber das ist mir zu viel. Ich bin doch keine Brutmaschine!«<br />
Ursula hob eine Augenbraue. »Lass das nicht meinen Vater<br />
hören. Der hält dir umgehend einen Vortrag, dass es die oberste<br />
Pflicht der deutschen Frau ist, die arische Rasse zu erhalten. Der<br />
Führer zählt auf uns.« Sie schaufelte sich eine weitere Fuhre<br />
Grünkohl in den Mund. »Und du, Fanni?«<br />
34
»Ach … da rüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht«,<br />
antwortete sie wahrheitsgemäß. Obwohl ihr beim Gedanken<br />
an Ottos Pläne das Herz schwer wurde, klang ihre<br />
Stimme aufgekratzter als sonst. Lag das an dem Schock, dass sich<br />
ihre Freundin Ursula als stramme Nazibraut entpuppt hatte?<br />
<strong>Zwei</strong> schlaflose Nächte und einen grauenhaften Sonntag später<br />
eilte Fanni erneut zum Dienst. Sie hatte unentwegt über Otto<br />
nachgegrübelt, der es noch nicht einmal für nötig erachtete, sie in<br />
seine Pläne einzuweihen. Gleichzeitig machte sie sich Vorwürfe,<br />
dass ihr privates Glück überhaupt einen so großen Raum in ihren<br />
Gedanken einnahm. Gab es nichts Wichtigeres? Der kleine Thomas<br />
würde wegen seiner Kinderlähmung ein steifes Bein behalten.<br />
Letzte Woche war ein anderer kleiner Junge an einer Blutvergiftung<br />
gestorben. Das waren doch wirkliche Katastrophen!<br />
Ihr gebrochenes Herz würde dagegen wieder heilen. Und war es<br />
nicht besser, wenn Otto endgültig aus ihrem Alltag verschwand?<br />
Sagte der Volksmund nicht: Aus den Augen, aus dem Sinn?<br />
Mit neugefundener innerer Stärke streifte sie die Schwesterntracht<br />
über und machte sich auf zur morgendlichen Besprechung.<br />
Doch sie war noch keine zwei Meter durch den Flur<br />
gegangen, als die Oberschwester ihr zurief: »Schwester Fanni!<br />
Bitte sofort in den Operationssaal. Doktor Casparius braucht<br />
Unterstützung bei einem Luftröhrenschnitt.«<br />
Mit klopfendem Herzen rannte sie los. Bestimmt handelte<br />
es sich um einen akuten Diphtheriefall. Während sie in den<br />
Korridor abbog, der zum OP führte, rief sie sich alle Einzelheiten<br />
über die hochansteckende Infektion mit dem Diphtheriebazillus<br />
ins Gedächtnis. Man nannte diese Krankheit auch »Würgeengel<br />
der Kinder«, weil ihr Hals dabei so stark anschwellen<br />
konnte, dass sie zu ersticken drohten. In diesem Stadium waren<br />
die Symptome – grauweißer Belag auf den Mandeln und süßlicher<br />
Mundgeruch – so ausgeprägt, dass man auch ohne weitere<br />
Untersuchungen eine Diagnose stellen konnte.<br />
Als sie den Vorraum betrat, der nur durch eine Glasscheibe<br />
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vom OP getrennt war, sah sie, wie Otto, Schwester Beate und<br />
Schwester Gisela bereits den Hals des Kindes desinfizierten, lokal<br />
betäubten und den Oberkörper mit sterilen Tüchern abdeckten.<br />
Deswegen brauchte Otto also weitere Unterstützung …<br />
normalerweise wurde der Luftröhrenschnitt in Vollnarkose<br />
durchgeführt, aber dafür reichte die Zeit wohl nicht mehr. Unter<br />
diesen erschwerten Bedingungen musste eine Schwester die<br />
Instrumente für die Operation anreichen, während zwei weitere<br />
den Kopf und die Beine des Kindes fixierten, damit das Skalpell<br />
nicht versehentlich abrutschte.<br />
Als sie sich die Hände desinfiziert hatte und gerade einen<br />
sterilen Kittel und einen Haarschutz überzog, sah Otto plötzlich<br />
auf. »Los, Schwester Fanni! Bitte kommen Sie, oder wir verlieren<br />
die Kleine!«<br />
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Gemäß den Krankenhausvorschriften<br />
hätte sie eigentlich noch eine sterile Maske vor<br />
Mund und Nase tragen müssen … aber wenn sie sowieso nur die<br />
Beine des Kindes festhielt, ging es wahrscheinlich auch ohne. So<br />
schnell sie konnte, eilte sie durch die Tür in den OP.<br />
Doch sie hatte sich geirrt. Schwester Gisela stand am Instrumententisch,<br />
und ihre Freundin Beate hielt die Beine des Mädchens.<br />
Da Otto bereits das Skalpell gezückt hatte, eilte Fanni<br />
zum Kopf des Kindes und nahm sich fest vor, keinesfalls in die<br />
Wunde zu atmen.<br />
Kaum hatte sie mit beiden Händen den Schädel des schwach<br />
röchelnden Kindes fixiert, als Otto das Skalpell ansetzte und<br />
die Luftröhre mit einem waagerechten Schnitt im oberen Drittel<br />
des grotesk angeschwollenen Halses öffnete. Er wollte gerade<br />
die <strong>von</strong> Schwester Gisela angereichte Metallkanüle in die<br />
Öffnung schieben, als das Mädchen nach einem spitzen Befreiungsschrei<br />
– zum ersten Mal strömte wieder ausreichend Luft<br />
in ihre kleine Lunge – einen Schwall bakteriell verseuchten Sekrets<br />
mitten in Fannis Gesicht hustete.<br />
Fanni erstarrte, hielt den Kopf der Kleinen jedoch weiterhin<br />
eisern fest.<br />
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Auch Otto, der kurz aufsah, blieb die Ruhe in Person. »Nicht<br />
schlucken und möglichst flach atmen«, sagte er knapp, bevor er<br />
sich wieder seiner Patientin widmete.<br />
Erst als die eingeführte Kanüle, die die weitere Luftversorgung<br />
des Kindes gewährleisten würde, mit Nähten gesichert war, sagte<br />
er zu Schwester Gisela: »Bitte veranlassen Sie alles Weitere.«<br />
Dann packte er Fanni am Arm und zog sie in den Vorraum.<br />
Dort zog er seine Chirurgenhandschuhe aus, füllte medizinischen<br />
Alkohol in ein Glas und reichte es ihr. »Bitte gurgel damit<br />
… aber schluck es ja nicht runter.«<br />
Sie befolgte seine Anweisungen, und auf einmal kam ihr<br />
in den Sinn, welche Folgen dieser Zwischenfall für sie haben<br />
würde: Während der Inkubationszeit konnte sie unmöglich Patienten<br />
betreuen oder bei ihrer Großmutter wohnen … wenn sie<br />
irgendjemanden mit Diphtherie ansteckte, würde sie sich das<br />
nie verzeihen.<br />
»Wa rum zum Teufel hattest du keine Maske an?«, fragte<br />
Otto, als sie den Alkohol nach minutenlangem Gurgeln ins<br />
Waschbecken spuckte.<br />
Sie senkte den Blick. »Es ging um Leben und Tod, und da<br />
dachte ich, wenn ich sowieso nur die Füße des Kindes …«, stammelte<br />
sie leise.<br />
Otto atmete scharf aus. Fanni rechnete mit einer Gardinenpredigt,<br />
doch dann sagte er: »Die Ruhe, mit der du auf die<br />
mögliche Verseuchung reagiert hast, hat mich sehr beeindruckt.<br />
Leider musst du jetzt für sechs Tage ein Zimmer auf der Isolierstation<br />
beziehen. Aber danach würde ich gern etwas Wichtiges<br />
mit dir besprechen, ja?«<br />
»Gern.« Sie fühlte, wie sich ihre Wangen wegen des unerwarteten<br />
Lobes röteten. Und wo rüber wollte er mit ihr sprechen?<br />
Sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen.<br />
»Am besten veranlasse ich, dass dir deine Großmutter einen<br />
Koffer packt und vorbeibringen lässt, einverstanden?«<br />
Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, sonst macht sie sich<br />
am Ende noch Sorgen. Es wäre besser, wenn du Leni anrufst.<br />
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Sie kann meiner Großmutter die Situation schonend beibringen.«<br />
Ottos Mundwinkel zuckten. »Du meinst, bei mir bekommt<br />
sie gleich einen Herzinfarkt?«<br />
Ihre Wangen brannten wie Feuer. »Nein, aber …«<br />
Er lächelte. »Schon gut. Ich verstehe. Bitte zieh dir jetzt einen<br />
Mundschutz an und begib dich umgehend auf die Isolierstation.<br />
Ich kümmere mich um alles Weitere.«<br />
Die nächsten sechs Tage zogen sich endlos hin. Während sie darauf<br />
wartete, dass sich Halsschmerzen und Schluckbeschwerden<br />
als erste Symptome einer Diphtherieinfektion einstellten,<br />
fuhren ihre Gedanken Karussell. Was wollte Otto nur mit<br />
ihr besprechen? Die Möglichkeiten reichten <strong>von</strong> der lapidaren<br />
Information über seine baldige Kündigung bis zu einem Heiratsantrag.<br />
Letzteres war natürlich eine Illusion, sonst hätte<br />
Otto sie in der Zeit auf der Isolierstation sicher besucht. Lediglich<br />
ihre Großmutter und Leni kamen vorbei, um nach ihr zu<br />
sehen und sich durch das Glasfenster in der Tür per Handzeichen<br />
mit ihr zu verständigen.<br />
Erst am sechsten Tag erschien Otto und erklärte sie nach<br />
dem Fiebermessen für kerngesund. »Hast du gleich jetzt Zeit<br />
für ein kurzes Gespräch?«, fragte er im Anschluss.<br />
»Natürlich«, gab sie einsilbig zur Antwort und ärgerte sich sogleich<br />
über sich selbst. Sie musste endlich aufhören, sich in seiner<br />
Gegenwart in ein schüchternes Mauerblümchen zu verwandeln.<br />
Er lehnte sich gegen die Wand und musterte sie aufmerksam.<br />
»Ich weiß nicht, ob es sich schon bis zu dir he rumgesprochen<br />
hat, aber es ist wohl ein offenes Geheimnis, dass ich das Kinderhospital<br />
nächsten Monat verlasse, um eine eigene Praxis aufzumachen.<br />
Inzwischen habe ich geeignete Räume in <strong>Blankenese</strong><br />
gefunden und wollte dich in diesem Zusammenhang fragen, ob<br />
du dir vorstellen könntest, für mich zu arbeiten?«<br />
»Aber … was ist mit Schwester Gisela?«, platzte sie he raus.<br />
Otto hob fragend eine Augenbraue. »Was sollte mit ihr sein?«<br />
38
»Es geht das Gerücht um, dass du sie zur Sprechstundenhilfe<br />
auserkoren hast.« Himmel, sie klang wie ein eifersüchtiges Kind!<br />
»Nun, das stimmt nicht.« Er runzelte die Stirn. »Aber wie es<br />
scheint, willst du mir einen Korb geben?«<br />
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich möchte erst da rüber<br />
nachdenken. Kann ich dir meine Entscheidung morgen mitteilen?«<br />
»Natürlich.« Er drückte sich mit einem Fuß <strong>von</strong> der Wand<br />
ab. »Ich muss wieder an die Arbeit. Dann bis morgen.«<br />
»Das ist doch eine Schnapsidee«, meinte ihre Großmutter, als<br />
sie ihr <strong>von</strong> Ottos Angebot berichtete. »Wie kannst du für jemanden<br />
arbeiten, in den du heimlich verliebt bist? Da schneidest<br />
du dir doch ins eigene Fleisch.«<br />
Fanni biss sich auf die Lippe. »Aber es geht doch auch darum,<br />
was ich in der täglichen Zusammenarbeit mit ihm lernen<br />
kann … er ist so ein wunderbarer Arzt. Wenn du wüsstest, mit<br />
wie viel Mitgefühl, Hingabe und Fachwissen er seine kleinen<br />
Patienten behandelt.«<br />
Ihre Großmutter lächelte bitter. »Es ist ein typischer Fall <strong>von</strong><br />
›Rate mir gut, aber rate mir nicht ab‹, stimmt’s? Nur sag später<br />
nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte. Dieser Mann zeigt keinerlei<br />
romantisches Interesse an dir – und du willst ihn am liebsten<br />
morgen heiraten. So etwas kann nicht gut gehen.«<br />
Nach einer durchgrübelten Nacht musste Fanni ihr recht geben.<br />
Obwohl es ihr das Herz brach, durfte sie nicht auf das Angebot<br />
eingehen. Sie würde zu sehr unter dem engen, aber unpersönlichen<br />
Arbeitsverhältnis leiden.<br />
Doch als sie nach einem hastigen Frühstück die Klöntür des<br />
Tweehus aufdrückte, blieb ihr fast das Herz stehen: Vor dem<br />
Gartentor stand Otto.<br />
»Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, du bist mir<br />
nicht böse. Aber ich dachte, bevor du dich entscheidest, solltest<br />
du noch die Praxisräume begutachten. Was meinst du? Anschließend<br />
fahre ich dich rechtzeitig ins Kinderhospital.«<br />
39
Mit einem beklommenen Gefühl nickte sie. Das würde die<br />
Absage nicht leichter machen.<br />
In der Karstenstraße parkte er seinen Wagen vor einer zweigeschossigen,<br />
recht schnörkellosen Backsteinvilla, die <strong>von</strong> einem<br />
Garten umgeben war. »Hier ist es.«<br />
Gemeinsam stiegen sie aus und gingen zum Eingang. Fannis<br />
Herz klopfte, als Otto den Schlüssel zückte und sie als Erste<br />
eintreten ließ.<br />
»Natürlich müssen noch einige Umbauten vorgenommen<br />
werden«, erklärte er, als sie im Korridor standen. »Aber ich<br />
dachte, dass wir ungefähr hier den Empfangstresen aufstellen,<br />
dort das Wartezimmer einrichten und …« Er ging ein paar<br />
Schritte weiter und zeigte auf die angrenzenden Räume. »Hier<br />
wäre dann das Sprech- und dort das Behandlungszimmer. Was<br />
meinst du?«<br />
Sie schluckte und betrachtete die hohen Decken und weiß<br />
gestrichenen Wände. Wenn Otto erst einmal alles hergerichtet<br />
hätte, wäre es ein Traum, in diesem kleinen Paradies zu schalten<br />
und zu walten. Ohne Oberschwester Karin und in seiner ständigen<br />
Gegenwart. Um nicht nur wie ein stummer Fisch alles anzuglotzen,<br />
sagte sie: »Und wer wohnt in der ersten Etage?« Sie<br />
deutete auf die Treppe hinter dem Behandlungszimmer.<br />
»Na … ich«, antwortete Otto.<br />
»Du hast das ganze Haus gekauft?«<br />
»Natürlich. Von meiner Stadtwohnung wäre es zu weit bis<br />
hierher, und in Johns Villa mag ich auch nicht mehr einziehen.<br />
Leni hat schon genug um die Ohren.« Er sah ihr ins Gesicht.<br />
»Also … was meinst du? Wirst du für mich arbeiten?«<br />
Sie öffnete den Mund, um die höfliche Ablehnung auszusprechen,<br />
die sie sich gestern Nacht zurechtgelegt hatte. Doch<br />
dann hörte sie sich sagen: »Mit dem allergrößten Vergnügen.«<br />
***<br />
40
Es war früh und das Haus noch still. Sonja lag wach in ihrem<br />
Bett und wackelte bekümmert mit den Zehen. Sie hatte keine<br />
Lust aufzustehen. Als ihr Vater und ihr Bruder noch bei ihnen<br />
gelebt hatten, war der Sonntag immer heilig gewesen. Nach einem<br />
ausgiebigen Frühstück hatten sie Ausflüge unternommen,<br />
waren auf der Elbe segeln gegangen oder hatten Freunde und<br />
Verwandte besucht. Doch jetzt war der Sonntag der Tag, an dem<br />
man noch nicht einmal in die Schule gehen konnte, um den<br />
endlosen Stunden bis zum Abend zu entkommen. Stattdessen<br />
musste sie die Zeit in gemeinschaftlicher Trauer mit ihrer Mutter<br />
und Tante Felicitas verbringen.<br />
Seit dem Besuch der Herren Mansfeld und Koenig war alles<br />
nur noch schlimmer geworden. Die beiden Männer hatten ihrer<br />
Mutter ein Ultimatum gestellt: Entweder sie überschrieb Koenig<br />
freiwillig und unentgeltlich die Aktienmehrheit an der Reederei,<br />
oder sie würden den Gauleiter, einen guten Freund <strong>von</strong><br />
Herrn Mansfeld, zur endgültigen Enteignung der jüdisch versippten<br />
Familie Casparius drängen. Ihre Mutter war Mansfeld<br />
und Koenig kühl und gefasst entgegengetreten und hatte gesagt,<br />
dass sie sich zunächst mit ihrem Anwalt beraten wolle, weil die<br />
Anteile schließlich Großonkel Veit und nicht ihr gehörten, doch<br />
nach dem Besuch hatte sie nur ratlos gemurmelt: »Was soll ich<br />
denn jetzt tun?«<br />
»Kannst du dich nicht mit Papa beraten?«, schlug Sonja vor.<br />
Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu. »Du weißt genauso<br />
gut wie ich, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie<br />
ich ihn erreichen kann.«<br />
»Aber was machen wir, wenn Großonkel Veit – genau wie<br />
Onkel Elias – nicht wiederkommt?«<br />
»Dann müssten wir ihn wahrscheinlich für tot erklären lassen«,<br />
flüsterte ihre Mutter, damit Tante Felicitas sie nicht hören<br />
konnte, die im Zimmer nebenan saß und gegen jede Wahrscheinlichkeit<br />
immer noch hoffte, dass ihr Mann eines Tages<br />
zurückkehren würde.<br />
»Und wer erbt dann die Aktien der Reederei?«<br />
41
Über das Gesicht ihrer Mutter zog ein Schatten. »Vermutlich<br />
sein nächster Blutsverwandter … Papa.«<br />
Sonja schluckte. »Und wenn Papa nicht wiederkommt?«<br />
Ihre Mutter fasste sie an den Schultern, damit sie ihr direkt<br />
ins Gesicht sah. »Da ran, mein Fräulein … da ran darfst du nicht<br />
einmal denken. Hörst du? Papa kommt wieder! Und Max auch!<br />
Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«<br />
Tief in ihrem Inneren schalt Sonja ihre Mutter töricht. So<br />
wie die Dinge standen, konnte alles Mögliche geschehen, und<br />
war es unter diesen Umständen nicht besser, auch über einen<br />
tragischen Ausgang nachzudenken? Aber sie wollte ihrer Mutter<br />
nicht wehtun und nickte deshalb bloß.<br />
Kurzfristig schien sich die Vogel-Strauß-Politik ihrer Mutter<br />
sogar auszuzahlen. Obwohl ihr Anwalt bestätigt hatte, dass der<br />
Gauleiter die Reederei per Anordnung enteignen könnte, weshalb<br />
er ihr empfahl, auf die Forderung einzugehen, weigerte sie<br />
sich, die beiden Herren zu kontaktieren. Und zumindest bis<br />
heute hatten sie sie ebenfalls in Ruhe gelassen. Trotzdem zerrte<br />
die Ungewissheit an ihrer aller Nerven. »Selbst wenn sie jetzt<br />
nur die Aktienmehrheit fordern … wer sollte sie da ran hindern,<br />
uns das Unternehmen eines Tages doch noch ganz wegzunehmen?«,<br />
fragte ihre Mutter. »Wenn die Einnahmen aus der Reederei<br />
wegfallen, könnte es mir unter Umständen sogar schwerfallen,<br />
die Villa zu halten. Die Kosten für den Unterhalt und das<br />
Personal sind enorm.«<br />
Inzwischen verbrachte ihre Mutter oft ganze Tage in der<br />
Reederei, um dem Prokuristen über die Schulter zu schauen.<br />
Ende Februar hatte Tante Felicitas die Nachricht erhalten, dass<br />
sie all ihren Schmuck und andere Gegenstände aus Gold, Platin<br />
und Silber abgeben musste. Offiziell gegen eine Entschädigung,<br />
aber die war so mager ausgefallen, dass es einem Diebstahl durch<br />
die deutschen Behörden gleichkam. Trotzdem hatte sie – bis<br />
auf ihren Ehering, den sie heimlich im Garten der Villa vergra-<br />
42
en hatte – alles abgeliefert und war nicht auf den Vorschlag ihrer<br />
Mutter eingegangen, die den ganzen Schmuck als ihren hatte<br />
ausgeben wollen. »Die Nazis führen leider Buch, Leni«, hatte sie<br />
gesagt. »Wenn ich nichts oder nicht genügend abgebe, kommen<br />
sie hierher und suchen danach. Schließlich wissen Sie, dass ich<br />
die Wit…« Ihre Lippen zuckten nervös, als sie sich korrigierte.<br />
»… die Ehefrau eines vormals reichen Tabakfabrikanten bin.«<br />
»Und der Ehering?«<br />
Tante Felicitas presste die Hand vor den Mund. »Der kann<br />
verloren gegangen sein.«<br />
Kurz da rauf war der Erlass des Reichsverkehrsministers bekannt<br />
geworden, der Juden die Benutzung <strong>von</strong> Schlaf- und Speisewagen<br />
auf deutschen Eisenbahnstrecken verbot. »Sie schränken<br />
unsere Rechte immer mehr ein … bis wir irgendwann auf<br />
derselben Stufe wie Tiere stehen und man alles mit uns machen<br />
kann«, stellte Felicitas traurig fest.<br />
Seitdem beteiligte sich ihre Tante kaum noch an der ohnehin<br />
gedämpften Unterhaltung. Sie wurde immer stiller. Meist<br />
saß sie mit ihrem einzig verbliebenen Sohn auf dem Schoß im<br />
Wohnzimmer und wartete auf hoffnungsvolle Neuigkeiten.<br />
Michael war ein lieber kleiner Kerl, und Sonja versuchte,<br />
jeden Tag nach der Schule mit ihm zu spielen, um ein wenig<br />
Freude in sein Leben zu bringen. Am liebsten ritt der fast <strong>Zwei</strong>jährige<br />
auf ihren Knien und ließ sich Hoppe, hoppe Reiter vorsingen.<br />
Manchmal malten sie aber auch Bilder oder schlichen sich<br />
heimlich in die Küche, um ein paar Leckerbissen zu stibitzen.<br />
Beim Verzehr der Köstlichkeiten legte der blonde Michael eine<br />
Strategie an den Tag, die Sonja zum Lachen brachte: Egal, ob es<br />
sich um eine Scheibe Brot, ein Stück Kuchen oder Kekse handelte<br />
… stets knibbelte er erst fein säuberlich den Rand ab, bevor<br />
er mit wenigen gierigen Happen den Rest verzehrte.<br />
Nachdem Sonja den endlosen Sonntag hauptsächlich mit dem<br />
kleinen Michael und ihren Schulbüchern verbracht hatte, war es<br />
irgendwann doch noch Abend geworden. Sie saßen beim Essen,<br />
43
das ihnen <strong>von</strong> der inzwischen dienstältesten Hausangestellten<br />
Frieda serviert wurde, als ihre Mutter fragte: »Bedrückt dich etwas,<br />
Frieda? Du siehst so traurig aus.«<br />
Ihre lieb gemeinten Worte trieben der Bediensteten, die gerade<br />
mit der Kartoffelschüssel reihum ging, Tränen in die Augen.<br />
»Ich … Frau Casparius … es tut mir so leid …«, stieß sie<br />
schluchzend hervor.<br />
»Um Gottes willen, Frieda!«, rief Tante Felicitas ängstlich.<br />
»Haben Sie etwas über meinen Mann erfahren? So sprechen Sie<br />
doch!«<br />
Frieda schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus<br />
dem Gesicht. »Nein, es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt<br />
habe. Eigentlich ist es eine frohe Nachricht.«<br />
»Ja, und?«, hakte ihre Mutter nach.<br />
»Samuel ist zurück in seiner alten Heimat und hat dort Arbeit<br />
gefunden. Er schreibt, dass ich zu ihm kommen soll, damit<br />
wir heiraten können.«<br />
Sonja konnte sich noch gut an den früheren Mitarbeiter ihres<br />
Vaters aus Afrika erinnern, der eine Zeitlang bei ihnen im<br />
Haus untergekommen war und sich dabei offenbar in Frieda<br />
verliebt hatte. Nun wollten die zwei heiraten. Wie romantisch!<br />
»Aber das ist doch wunderbar«, erklärte ihre Mutter. »Was<br />
gibt es da zu weinen? Oder willst du nicht aus Deutschland<br />
fort?«<br />
Frieda stiegen erneut Tränen in die Augen. »Aber wie kann<br />
ich Sie und Ihre Familie in diesen schweren Zeiten allein lassen?«<br />
Ihre Mutter lächelte. »Es ehrt dich, dass du deswegen hierbleiben<br />
willst. Aber an uns darfst du jetzt nicht denken. Selbstverständlich<br />
fährst du zu Samuel und heiratest ihn. Ich freue<br />
mich sehr für dich und wünsche euch alles Glück der Erde. Das<br />
tun wir alle, nicht wahr, Sonja?«<br />
Sonja nickte. »Du wirst mir fehlen, Frieda. Richte Samuel<br />
schöne Grüße <strong>von</strong> mir aus.«<br />
44
»Das mache ich.« Frieda schniefte und stellte die Schüssel,<br />
die ihren Tränenausbruch unbeschadet überstanden hatte, auf<br />
der Anrichte ab.<br />
Am nächsten Morgen konnte Sonja kaum erwarten, dass der<br />
Schulunterricht anfing. Endlich ging es um etwas anderes als<br />
um Angst, Trauer und den drohenden Verlust der Reederei. Und<br />
wenn auch in der ersten Stunde nur das Konjugieren <strong>von</strong> langweiligen<br />
lateinischen Verben anstand, alles war besser, als in das<br />
verzweifelte Gesicht ihrer Tante blicken zu müssen. Mit einem<br />
Gefühl der Erleichterung ließ sie sich neben ihrer Banknachbarin<br />
Irmgard nieder, die ihr sofort <strong>von</strong> ihrem neuesten Brief<br />
an den Führer berichtete. »Mein Vater hat einen Kollegen, der<br />
sogar schon mal mit dem Führer gesprochen hat, und er will<br />
meinen Brief samt dem Gedicht, das ich für Hitler geschrieben<br />
habe, in der Reichskanzlei abgeben. Na, was sagst du jetzt? Ist<br />
das nicht wunderbar?«<br />
»Hmm.« Sonja versuchte, eine interessierte Miene zu ziehen.<br />
Irgendwie saß sie zwischen allen Stühlen. Sie fühlte sich nicht<br />
mehr wohl zu Hause, aber hier – neben einer glühenden Hitler-<br />
Verehrerin – war sie als Vierteljüdin auch fehl am Platz.<br />
Später, in der Deutschstunde, sprach der Lehrer über die<br />
neuesten bahnbrechenden Leistungen des deutschen Volkes.<br />
Seit viele moderne und bekannte Autoren nicht mehr gelesen<br />
werden durften, standen oft germanische Heldensagen auf dem<br />
Lehrplan. Doch Sonja fand Dr. Schusters heutige Ausführungen<br />
über die »nationalsozialistischen Musterbetriebe« und was<br />
dieser Ehrentitel für die Gewerbebetreibenden bedeutete, viel<br />
spannender als das Nibelungenlied.<br />
»Die Deutsche Arbeitsfront hat diese Auszeichnung ins Leben<br />
gerufen, und sie wird einmal im Jahr am ersten Mai <strong>von</strong> unserem<br />
Führer höchstpersönlich verliehen.«<br />
Neben ihr seufzte Irmgard verzückt, und zwar so laut, dass<br />
sie sich beide einen Blick des Lehrers einfingen.<br />
»Die prämierten Betriebe führen für ein Jahr die ›goldene<br />
45
Fahne‹ der Deutschen Arbeitsfront und sind in dieser Zeit ein<br />
leuchtendes Vorbild für alle anderen Unternehmen.«<br />
Waltraut, die Klassenbeste, meldete sich. »Und nach welchen<br />
Gesichtspunkten wird die Auszeichnung verliehen?«<br />
»Gut, dass du fragst«, erwiderte Dr. Schuster lächelnd. »Zur<br />
Beurteilung werden Kriterien wie die Schönheit der Arbeitsstätte,<br />
die Berufserziehung – also, wie gut die Angestellten vor<br />
Ort ausgebildet werden –, die Arbeitsvergütung, die möglichst<br />
gerecht sein sollte, die soziale und gesundheitliche Fürsorge im<br />
Betrieb und natürlich die Förderung <strong>von</strong> ›Kraft durch Freude‹<br />
he rangezogen.«<br />
Über das »Kraft durch Freude«-Konzept hatte Dr. Schuster<br />
schon häufiger gesprochen. Es ging dabei da rum, durch Sport<br />
und andere Freizeitvergnügen jeden einzelnen Arbeiter, die<br />
Volksgesundheit insgesamt und damit letztlich die Volkswirtschaft<br />
zu stärken. Doch während der Deutschlehrer weitere Fragen<br />
ihrer Mitschülerinnen beantwortete, schweiften Sonjas Gedanken<br />
ab. Sollte die hochmoderne Casparius-Reederei nicht in<br />
all den aufgezählten Punkten sehr gut abschneiden? Und würde<br />
ihnen diese Auszeichnung, sofern sie sie erringen konnten, nicht<br />
etwas Aufschub bei der Frage der weiteren Arisierung bringen?<br />
Ein Unternehmen, das unter der besonderen Beobachtung der<br />
Deutschen Arbeitsfront stand, konnte doch nicht einfach <strong>von</strong><br />
Herrn Mansfeld und seinem Freund hinterrücks gestohlen werden.<br />
Oder doch? Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter über<br />
diesen möglichen Ausweg sprechen.<br />
Nach der letzten Schulstunde – Mathematik bei Herrn Brockmann<br />
– konnte sie nicht schnell genug nach Hause kommen.<br />
Kaum hatte sie sich <strong>von</strong> ihren Schulkameradinnen verabschiedet,<br />
eilte sie los. Sie hatte bereits ein gutes Stück Richtung Elbchaussee<br />
zurückgelegt, als sie mitten auf dem Mühlenberger<br />
Weg wie angewurzelt stehen blieb. Dieser Mann dort … sah der<br />
nicht genauso aus wie ihr Großonkel Veit? Er trug den gleichen<br />
langen, blauen Mantel, hatte den gleichen schweren Körper-<br />
46
au, den gleichen grauen Haarkranz. Aber … das konnte doch<br />
nicht sein. Großonkel Veit saß immer noch im Gefängnis. Niemand<br />
hatte ihr gesagt, dass er heute entlassen wurde. Sie musste<br />
sich irren. War der Mann nicht auch eine Spur schlanker als ihr<br />
Großonkel? Die Haare länger?<br />
In diesem Moment drehte sich die beleibte Gestalt zu ihr<br />
um, und sie erkannte, dass es sich tatsächlich um ihren geliebten<br />
Großonkel handelte. Er war frei! Was für wundervolle Neuigkeiten.<br />
Mit klopfendem Herzen rannte sie auf ihn zu. »Großonkel!<br />
Großonkel!«<br />
Als sie kurz vor ihm stehen blieb, um ihn lachend zu umarmen,<br />
bemerkte sie das fast erschreckte Befremden in seinen<br />
Augen. Abrupt hielt sie inne und ließ die bereits ausgestreckten<br />
Arme wieder sinken. Erkannte er sie nicht? Hatte sie sich in diesen<br />
wenigen Monaten so sehr verändert, dass er …<br />
Mit merkwürdig rauer Stimme sagte er: »Entschuldigen Sie,<br />
junges Fräulein, aber könnten Sie mir bitte den Weg zur Villa<br />
Casparius zeigen? Ich glaube, ich habe mich verlaufen …«<br />
Sonja erstarrte. Sie waren keine dreihundert Meter <strong>von</strong> dem<br />
Haus entfernt, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, und<br />
er wusste den Weg nicht mehr? Plötzlich verspürte sie ein merkwürdig<br />
hohles Gefühl in der Magengrube. Was hatten diese<br />
schrecklichen Menschen ihm angetan?<br />
***<br />
Erleichtert schob Kurt den Brief seines Cousins zurück in das<br />
Kuvert. Max schien es bei seinem neuen Pflegevater, der sich als<br />
waschechter Lord entpuppt hatte, nicht schlecht angetroffen zu<br />
haben. Auch wenn Lord Lafferty den Hauptsitz seiner Ahnen,<br />
irgendwo in Yorkshire gelegen, vor einigen Jahren aus finanziellen<br />
Gründen hatte verkaufen müssen, war Lafferty House im<br />
Londoner Stadtteil Mayfair eine echte Verbesserung zu Dovercourt.<br />
Max bekam sogar Taschengeld und endlich ausreichend<br />
47
zu essen. Kurt freute sich für ihn, wobei er selbst seine Freiheit<br />
nicht gegen eine gute Mahlzeit und ein warmes Bett hätte eintauschen<br />
wollen.<br />
Er sah sich im karg eingerichteten Aufenthaltszimmer des<br />
kleinen Cottage um. Er hatte seinen Platz im Haupthaus gegen<br />
den seines Cousins getauscht. Die anderen Jungen, die hier<br />
wohnten, waren zwar alle etwas älter als er, aber weil er schon so<br />
groß war, fiel es nicht weiter auf. Gerade kam Leonhard zur Tür<br />
he rein, einer der Wiener Jungen. Er sah aufgebracht aus.<br />
»Was ist passiert?«, fragte Kurt.<br />
»Hast du’s noch nicht gehört? Wir müssen umziehen. Dovercourt<br />
soll nach Ostern geschlossen werden.«<br />
»Wie bitte? Aber das ist ja schon in drei Wochen. Wo sollen<br />
wir denn hin?«<br />
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich in den Zoo.« Wütend<br />
nahm Leonhard eine Zeitschrift vom Tisch und pfefferte sie auf<br />
den Boden.<br />
Kurt hütete sich, ihm weitere Fragen zu stellen. Anscheinend<br />
wusste Leonhard sowieso nichts Genaueres, und er wollte nicht<br />
riskieren, dass sich dessen schlechte Laune zu einem Anfall steigerte.<br />
In solchen Momenten ging man ihm tunlichst aus dem<br />
Weg, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen. Und es war ja<br />
nicht so, dass Kurt ihn nicht verstand. Die ständige Angst um<br />
die in Deutschland oder Österreich zurückgelassene Familie<br />
war schon schrecklich. Ein Umzug, bei dem sich auch die Postadresse<br />
änderte, machte alles noch schlimmer. Aber es nützte<br />
auch nichts, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Er würde<br />
sich ins Haupthaus schleichen und versuchen, <strong>von</strong> einem der<br />
Betreuer mehr über diesen erneuten Umzug zu erfahren.<br />
Aus alter Gewohnheit ging er in die Küche, wo er hoffte, auf<br />
Sophie zu treffen, die er am besten kannte. Stattdessen wurde<br />
er Zeuge eines Streitgesprächs zwischen Rachel, einer jungen<br />
Betreuerin aus München, und dem rothaarigen Koch Sebastian,<br />
der aus der Nähe <strong>von</strong> Dovercourt stammte. Als Kurt den schar-<br />
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fen Ton der Unterhaltung bemerkte, blieb er an der Tür stehen.<br />
Die beiden schienen ihn nicht zu bemerken.<br />
»Wie kannst du das nur sagen?«, rief Sebastian gerade ärgerlich.<br />
»Ich will jedenfalls nicht eingezogen werden.«<br />
»Ich will auch nicht, dass du eingezogen wirst«, erklärte Rachel<br />
mit Nachdruck. »Trotzdem halte ich die Einführung der<br />
allgemeinen Wehrpflicht in England für richtig … jetzt, wo dieser<br />
widerliche Hitler entgegen seinen Versprechungen doch in<br />
Prag einmarschiert ist. Viel zu lange hat sich euer Prime Minister<br />
geweigert, Hitler Einhalt zu gebieten.«<br />
»Aber Rachel …«, entgegnete Sebastian, »… mein Vater<br />
ist 1917 im Krieg gefallen. Genau wie Hunderttausende anderer<br />
englischer Soldaten. Von den Versehrten ganz zu schweigen.<br />
Da finde ich es nur richtig, dass Chamberlain kein Kriegstreiber<br />
ist und versucht, am Frieden festzuhalten. Die Politik sollte mit<br />
Worten kämpfen, nicht mit dem Blut seiner Bürger.«<br />
Kurt nickte, doch die beiden hatten ihn offenbar immer noch<br />
nicht gesehen.<br />
Rachel schüttelte den Kopf. »Dann hast du nicht verstanden,<br />
dass Diktatoren sich nicht durch diplomatische Zugeständnisse<br />
aufhalten lassen. Es wird so oder so zum Krieg kommen … weil<br />
Hitler das will.«<br />
Kurts Nackenhaare stellten sich auf. Hitler wollte nicht nur<br />
die Juden aus Deutschland vertreiben, sondern auch noch einen<br />
neuen Krieg anzetteln?<br />
Auch Sebastians sonst eher rosiges Gesicht war plötzlich<br />
blass. »Woher weißt du das?«<br />
»Mein Vater war, bevor ihn die neuen Machthaber rausgeschmissen<br />
haben, Geschichtsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
in München. Er hat den Aufstieg Hitlers aus<br />
nächster Nähe verfolgt.«<br />
»Und wie kommt er da rauf, dass Hitler Krieg will?«, erkundigte<br />
sich Sebastian.<br />
Rachel holte tief Luft. »Der Führer hat bereits Mitte der<br />
zwanziger Jahre in seinem Buch Mein Kampf geschrieben, dass er<br />
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den Osten Europas ›germanisieren‹ will und dass er Krieg als legitimes<br />
Mittel ansieht, um seine Ziele zu erreichen. Aber offenbar<br />
hat ihn niemand ernst genommen. Und jetzt ist es zu spät.«<br />
Kurt starrte sie fassungslos an. Den Osten Europas? Aber<br />
das würde ja bedeuten, dass Hitler sich gleich mit mehreren<br />
Ländern anlegen wollte.<br />
»Papier ist geduldig«, sagte Sebastian in diesem Moment.<br />
»Vielleicht hat er seine Meinung inzwischen geändert.«<br />
»Wie denn, wenn jede seiner Handlungen ein weiterer Vorstoß<br />
in diese Richtung ist?« Rachel zählte ihre Argumente an<br />
den Fingern der linken Hand auf. »Zuerst ordnet Hitler, entgegen<br />
den Vereinbarungen des Versailler Vertrags, eine massive<br />
Aufrüstung Deutschlands und die Einführung der Wehrpflicht<br />
an, dann lässt er ein Jahr später Soldaten ins entmilitarisierte<br />
Rheinland einmarschieren, und als weder England noch Frankreich<br />
etwas dagegen unternehmen …« Rachel legte eine kurze<br />
Pause ein. »… vollzieht er den ›Anschluss‹ Österreichs.« Sie<br />
blickte Sebastian he rausfordernd an. »Verstehst du, Hitler fühlt<br />
sich dadurch, dass seine Provokationen folgenlos bleiben, ermutigt,<br />
immer dreister vorzugehen. Und so zettelt er als Nächstes<br />
die Sudetenkrise an, indem er sich über die angeblich entwürdigende<br />
Behandlung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei<br />
beklagt und dieser ›beistehen‹ will. Du weißt selbst,<br />
was dann passiert ist: Im September bekommt der Führer im<br />
Rahmen des Münchner Abkommens das Sudetenland zugesprochen,<br />
das eigentlich zur Tschechoslowakei gehört, und obwohl<br />
er sich im Gegenzug verpflichtet, den Frieden zu wahren,<br />
marschiert er keine sechs Monate später in Prag ein.« Sie stieß<br />
hörbar die Luft aus. »Man kann nicht mit einem Diktator verhandeln.<br />
Das ist die Moral aus der Geschichte. Doch jetzt hat<br />
man ihn bereits so lange gewähren lassen, dass er nicht ruhen<br />
wird, bis er sich den ganzen Osten einverleibt hat. Und das bedeutet<br />
Krieg.«<br />
Kurts Herz klopfte wild. Rachels Worte klangen leidenschaftlich,<br />
aber auch schrecklich logisch.<br />
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Sebastians Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab. »Aber<br />
Chamberlain hat doch gesagt, solange der Krieg nicht begonnen<br />
hat, besteht Hoffnung, dass er verhindert werden kann.«<br />
Rachel schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät. Die Weichen<br />
sind bereits gestellt. Du wirst sehen, wir rasen unaufhaltsam auf<br />
den nächsten Krieg zu. Niemand kann Hitler jetzt noch aufhalten.<br />
Deshalb ist die Einführung der Wehrpflicht in England<br />
absolut notwendig. Sonst weht hier demnächst nicht mehr der<br />
Union Jack, sondern die Hakenkreuzfahne.«<br />
Kurt wurde flau im Magen. Wenn all das stimmte, dann war<br />
es egal, wohin sie zogen, wenn sie Dovercourt verlassen mussten.<br />
Hitler würde sie auch in England verfolgen. Er musste unbedingt<br />
Max und Charlotte einen Brief schreiben. Wenn es tatsächlich<br />
Krieg geben sollte, wollte er nicht <strong>von</strong> seinem Cousin<br />
und seiner Schwester getrennt sein. Dann musste auch er irgendwie<br />
in London unterkommen. Er blinzelte eine Träne weg.<br />
Und auch Fanni und seiner Mutter würde er schreiben. Wer<br />
wusste schon, wie lange unter diesen Umständen der Postverkehr<br />
aufrechterhalten werden konnte.<br />
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