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Leseprobe Blankenese - Zwei Familien: Schwere Entscheidungen (Band 2) von Michaela Grünig

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MICHAELA GRÜNIG<br />

<strong>Blankenese</strong> – <strong>Zwei</strong> <strong>Familien</strong>


Weitere Titel der Autorin:<br />

Palais Heiligendamm – Ein neuer Anfang<br />

Palais Heiligendamm – Stürmische Zeiten<br />

Palais Heiligendamm – Tage der Entscheidung<br />

<strong>Blankenese</strong> – <strong>Zwei</strong> <strong>Familien</strong>: Licht und Schatten


MICHAELA GRÜNIG<br />

BLANKENESE<br />

ZWEI FAMILIEN<br />

SCHWERE ENTSCHEIDUNGEN<br />

Roman


Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige<br />

Buchproduktion. Wir verwenden Papiere aus nachhaltiger<br />

Forstwirtschaft und verzichten darauf, Bücher einzeln in<br />

Folie zu verpacken. Wir stellen unsere Bücher in Deutschland<br />

und Europa (EU) her und arbeiten mit den Druckereien<br />

kontinuierlich an einer positiven Ökobilanz.<br />

Originalausgabe<br />

Copyright © 2024 by<br />

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln<br />

Vervielfältigungen dieses Werkes für das<br />

Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.<br />

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin<br />

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille<br />

Einband-/Umschlagmotiv: © Richard Jenkins Photography;<br />

© Miguel Sobreira/Trevillion Images; © shutterstock: Alvov |<br />

Canetti | Forrest9 | Okyela | poomooq<br />

Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen<br />

Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro<br />

Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-7857-2861-1<br />

2 4 5 3 1<br />

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de<br />

Bitte beachten Sie auch: lesejury.de


Für meine geliebte Mutter, Hella <strong>Grünig</strong>


Personenverzeichnis<br />

Familie Casparius<br />

Werner Casparius, 1862–1919, ehemaliger Patriarch der Familie<br />

und Chef der Reederei<br />

Veit Casparius, *1870, sein unverheirateter Bruder, nach der<br />

Arisierung pro forma Besitzer der Reederei<br />

Esther Casparius, 1872–1899, Werners verstorbene jüdische<br />

Ehefrau, die das Geld in die Familie brachte<br />

Viktoria Casparius, *1876, Werners evangelische zweite<br />

Ehefrau<br />

John Casparius, *1892, Sohn <strong>von</strong> Werner und Esther, Erbe des<br />

<strong>Familien</strong>unternehmens<br />

Leni Casparius, geb. Hansen, *1897, Ehefrau <strong>von</strong> John<br />

Sonja Casparius, *1924, Tochter <strong>von</strong> Leni und John<br />

Max Casparius, *1924, Zwillingsbruder <strong>von</strong> Sonja<br />

Felicitas Casparius, *1899, Tochter <strong>von</strong> Werner und Esther<br />

Kurt Jacobson, *1925, Sohn <strong>von</strong> Felicitas und Elias Jacobson,<br />

*1894<br />

Charlotte Jacobson, *1926, Schwester <strong>von</strong> Kurt<br />

Michael Jacobson, *1937, kleiner Bruder <strong>von</strong> Kurt und<br />

Charlotte<br />

Otto Casparius, *1910, Sohn <strong>von</strong> Werner und Viktoria,<br />

Kinderarzt


Familie Hansen<br />

Gustav Hansen, 1870–1910, verstorbener Kapitän<br />

Irma Hansen, *1873, Gustavs Witwe<br />

Albert Hansen, *1892, Irmas Sohn, Fischhändler, ehemals Lotse<br />

Nelly Hansen, *1893, Alberts Frau, zwei Kinder (Fritz und Peter)<br />

Gesine Georg, geb. Matusiak, *1894, ehemalige Verlobte <strong>von</strong><br />

Irmas Sohn Hendrik (1893–1918), verheiratet mit dem<br />

NSDAP-Ortsgruppenleiter <strong>von</strong> Othmarschen<br />

Fanni Matusiak, *1919, uneheliche Tochter <strong>von</strong> Gesine und<br />

Hendrik, Kinderkrankenschwester<br />

Heinz Hansen, *1910, Irmas jüngster Sohn, Angehöriger der SA<br />

Adelheid Hansen, *1912, Heinz’ Frau<br />

Andere wichtige Personen<br />

Friedrich Koenig, *1910, ein U-Boot-Kommandant<br />

Emil Koenig, *1885, ehemaliger Vorstand der Hapag-Reederei<br />

und Vater <strong>von</strong> Friedrich<br />

Ilse Koenig, *1887, Mutter <strong>von</strong> Friedrich<br />

Jacques Junod, *1923, ein französischer Zwangsarbeiter<br />

Felix Mansfeld, *1888, ehemaliger Kriegsfreund <strong>von</strong> John<br />

Casparius und dessen jetziger Erzfeind, Besitzer der<br />

Wehrmann-Bank nach deren Arisierung<br />

Max Wehrmann, *1867, deutscher Bankier und Patenonkel <strong>von</strong><br />

John<br />

Eric Wehrmann, *1900, Neffe <strong>von</strong> Max Wehrmann und hoher<br />

amerikanischer Offizier


Roger Lafferty, *1895, ein englischer Lord<br />

Dr. Olaf Berenzen, ein mit Otto befreundeter Kinderarzt und<br />

Nazi<br />

Alan Russel, ein Toter<br />

Tom Davies, Pilot der Royal Air Force<br />

Paul Jones, Pilot der Royal Air Force<br />

Lucy Boyle, eine junge Barfrau<br />

Nora Heidenreich, eine kleine Patientin


Kapitel 1<br />

Altona, Februar 1939<br />

Auf dem letzten Stück des Weges musste Fanni sich sputen. Sie<br />

war spät dran. Ihr Dienst im Kinderhospital begann um Punkt<br />

sieben Uhr, und schon bei der geringsten Verspätung erntete<br />

man einen Tadel <strong>von</strong> Oberschwester Karin. »Die deutsche Frau<br />

ist pünktlich«, sagte diese dann mit vorwurfsvollem Blick und<br />

brummte einem zur Strafe einige unvergütete Nachtdienste auf.<br />

Die Oberschwester führte ihre Untergebenen mit harter Hand.<br />

Aber wenn einer der Ärzte die Zeit vergaß oder gar einen Termin<br />

versäumte, verzogen sich ihre dünnen Lippen zu einem nachsichtigen<br />

Lächeln. Sobald man einen Doktortitel trug, konnte<br />

man in ihren Augen keine Fehler mehr machen. Nur der Führer<br />

selbst stand für sie noch über diesen Halbgöttern in Weiß.<br />

Fanni, <strong>von</strong> der körperlichen Anstrengung außer Atem, sog<br />

hastig die kalte Februarluft ein. Im Grunde war es gar nicht<br />

ihre Schuld, dass sie beim Frühstück so viel Zeit vertrödelt hatte.<br />

Seit ihre Großmutter Irma die Leitung des Ausflugslokals Elbrauschen<br />

an ihre Enkelsöhne Fritz und Peter abgegeben hatte,<br />

fehlte es ihr an Ansprache. Notgedrungen verbrachte sie nun<br />

den größten Teil des Tages allein in ihrer Tweehus-Hälfte im<br />

<strong>Blankenese</strong>r Treppenviertel. Ein Zustand, der für die vormals<br />

so umtriebige Mittsechzigerin wohl nur schwer zu ertragen<br />

war. Aber jedes Mal, wenn Fanni vorschlug, dass sie doch ihrer<br />

Tochter einen Besuch abstatten könne, die in einer herrschaftlichen<br />

Villa in der Elbchaussee wohnte, schüttelte ihre Großmutter<br />

den Kopf. »Leni hat schon genug Sorgen. Da muss ich<br />

ihr nicht auch noch die Zeit stehlen.« Das stimmte zwar, änderte<br />

aber nichts da ran, dass sie tagsüber nun niemanden für ein<br />

11


Schwätzchen hatte. War es da ein Wunder, dass sie beim gemeinsamen<br />

Frühstück jedes Mal vom Hölzchen aufs Stöckchen<br />

kam? Wo rüber hatte sie sich heute Morgen wieder aufgeregt?<br />

Fanni musste zugeben, dass sie dem Redefluss nur mit halbem<br />

Ohr gelauscht und mit wachsender Beklemmung auf den immer<br />

weiter vorrückenden Zeiger der Uhr geschielt hatte. Aber<br />

während sie jetzt weiter Richtung Bleickenallee eilte und aufpasste,<br />

beim Überqueren der Straße nicht <strong>von</strong> der Linie 7 angefahren<br />

zu werden, fiel es ihr wieder ein: Ihre Großmutter hatte<br />

sich über einen Erlass der Reichsmusikkammer echauffiert, den<br />

sie in der Zeitung erspäht hatte. »Stell dir vor! Jetzt schreiben<br />

die Nazis einem sogar schon vor, wie man ihre Lieder aufzuführen<br />

hat. Das Horst-Wessel-Lied soll als ›revolutionäres Kampflied‹<br />

schnell gespielt werden, das Deutschlandlied als ›Weihelied‹<br />

ganz langsam. Hat man da noch Töne? Gibt es irgendeinen<br />

Bereich, in den diese Kerle nicht ihre Nasen stecken?« Voller<br />

Entrüstung hatte sie den Kopf geschüttelt, bis sich eine schlohweiße<br />

Strähne aus ihrem Dutt löste.<br />

Endlich erblickte Fanni das dreistöckige rote Backsteingebäude<br />

mit den vielen weißen Fenstern, in dem sie ihre Ausbildung<br />

zur Kinderkrankenschwester absolviert hatte. Trotz der<br />

gebotenen Eile huschte sie mit einem Lächeln durch die Pforte<br />

des Personaleingangs. Sie liebte ihre Großmutter abgöttisch und<br />

das nicht nur, weil die ihr trotz widriger Umstände zu einer behüteten<br />

Kindheit verholfen hatte. Die alte Dame sprach in ihrer<br />

resoluten Art auch Dinge aus, die man sich selbst nicht zu sagen<br />

traute. Sogar vor ihrem jüngsten Sohn Heinz, einem fanatischen<br />

Nazi, kuschte sie nicht, jedenfalls nicht in der Abgeschiedenheit<br />

ihrer vier Wände. Nur in der Öffentlichkeit war sie vorsichtig.<br />

Das Denunziantentum hatte sich in der letzten Zeit arg ausgebreitet,<br />

und ein falsch verstandener Witz in der Schlachterei<br />

oder beim Anstehen vor der Bäckerei konnte unabsehbare Folgen<br />

haben. Wahrscheinlich war das auch der Grund, wa rum sie<br />

inzwischen kaum noch das Haus verließ und ihre Enkel zum<br />

Einkaufen schickte.<br />

12


Kurz vor sieben Uhr erreichte Fanni das Umkleidezimmer.<br />

Hastig zog sie sich die weiße Schürze über das hellblaue, wadenlange<br />

Kleid. Während sie sich die Haube auf dem Kopf feststeckte,<br />

fiel ihr Blick auf die Schlagzeile der Norddeutschen Nachrichten,<br />

die eine Kollegin auf der Fensterbank hatte liegen lassen:<br />

Hitler kündigt im Kriegsfall die Vernichtung der jüdischen Rasse in<br />

Europa an. Unwillkürlich lief Fanni ein Schauer über den Rücken.<br />

Es war verrückt, wie man sich an den kleinen Sorgen des<br />

Alltags festklammerte, um die großen Katastrophen auszublenden.<br />

Doch die fett gedruckte Überschrift rief ihr die schweren<br />

Wochen und Monate, die hinter ihnen lagen, nachdrücklich ins<br />

Gedächtnis. Wie mochte es wohl gerade Tante Lenis Sohn Max<br />

gehen, der gemeinsam mit seiner Cousine Charlotte und deren<br />

Zwillingsbruder Kurt vor den Nazis nach England geflüchtet<br />

war? Wie lebten die drei in der Fremde? Ob sie wenigstens dort<br />

in Sicherheit waren?<br />

In diesem Moment streckte Schwester Beate den Kopf zur<br />

Tür he rein. »Moin, Fanni. Mensch, beeil dich! Der Drache ist<br />

bereits im Anmarsch.« Hastig machte sie sich auf den Weg<br />

ins Schwesternzimmer, wo Oberschwester Karin jeden Morgen<br />

eine Besprechung abhielt. Während ihre Vorgesetzte wortreich<br />

den zu hohen Verbrauch <strong>von</strong> Zellstofftüchern und Verbandsmaterial<br />

beklagte, schweiften Fannis Gedanken zu der<br />

Schlagzeile in den Nordeutschen Nachrichten ab. Würde es tatsächlich<br />

wieder Krieg geben? Was würde dies für ihre Familie<br />

bedeuten, die politisch schon jetzt zutiefst gespalten war? Auf<br />

der Seite der Nazis standen ihr Onkel Heinz, der im Konzentrationslager<br />

Fuhlsbüttel arbeitete, seine Frau Adelheid, die gerade<br />

ihr erstes Kind erwartete, und leider auch ihre eigene Mutter,<br />

die vor einiger Zeit einen grauenhaften Ortsgruppenleiter<br />

geheiratet hatte und sich seitdem wie die Königin <strong>von</strong> Othmarschen<br />

gebärdete. Ihre Großmutter, die <strong>Familien</strong> <strong>von</strong> Onkel Albert<br />

und Tante Leni, deren halbjüdischer Ehemann John vor der<br />

Gestapo in den Untergrund hatte fliehen müssen, waren dagegen<br />

erklärte Gegner des Regimes. Das alles bot schon genügend<br />

13


Anlass zur Sorge, aber wie sollte es enden, wenn sich die Situation<br />

weiter zuspitzte?<br />

»Das war’s«, beschloss die Oberschwester ihre Gardinenpredigt.<br />

»Ab an die Arbeit!«<br />

Jetzt war keine Zeit mehr für private Gedanken. Fanni<br />

drängte sich mit den anderen Schwestern Richtung Ausgang,<br />

um so schnell wie möglich zu ihren kleinen Patienten zu kommen.<br />

Seit Januar arbeitete sie auf der Infektionsstation, wo Kinder<br />

lagen, die an Mumps, Masern und anderen Infektionskrankheiten<br />

litten und deren Symptome so stark waren, dass sie nicht<br />

zu Hause gepflegt werden konnten. Besonders um den kleinen<br />

Thomas, der gestern mit Verdacht auf Kinderlähmung eingeliefert<br />

worden war, machte sie sich Sorgen.<br />

Während die Lernschwestern den älteren Patienten das<br />

Frühstückstablett vor die Nase stellten und den jüngeren beim<br />

Essen halfen, bereitete sich Fanni auf die Visite mit dem leitenden<br />

Oberarzt Dr. Mook vor. Mit gerunzelter Stirn musterte<br />

sie die Krankenblätter, in die die Nachtschwestern die Ergebnisse<br />

der letzten Fiebermessung und andere Kommentare zum<br />

Krankheitsverlauf eingetragen hatten. Glücklicherweise schien<br />

es den meisten Kindern ein wenig besser zu gehen. Besonders<br />

für die kleine Ilse, die einen hochkomplizierten Scharlachverlauf<br />

nur knapp überlebt hatte, freute sie das. Aber ausgerechnet<br />

Thomas ging es schlechter. Er fieberte stark und klagte über<br />

Schmerzen in beiden Beinen. Natürlich war der Rachenabstrich<br />

positiv aus dem Labor zurückgekommen. Mit einem leisen<br />

Seufzen trug Fanni das Ergebnis ein. Sie hatte Dr. Mook<br />

erst da ran erinnern müssen, den Abstrich anzuordnen. Der<br />

Oberarzt hatte diesen Angriff auf seine Autorität mit einem<br />

unwilligen Nicken quittiert. Er war ein schwieriger Chef, der<br />

einerseits über ein übersteigertes Selbstwertgefühl verfügte, andererseits<br />

aber nur über sehr begrenzte medizinische Fähigkeiten.<br />

Seine leitende Stellung verdankte er wohl eher seiner<br />

strammen politischen Gesinnung als seiner fachlichen Kompetenz.<br />

14


»Moin, Schwester Fanni«, grüßte eine männliche Stimme<br />

hinter ihr.<br />

Errötend fuhr sie he rum. »Oh … moin, Otto … ähm … ich<br />

meine, Doktor Casparius.« Der blonde Kinderarzt war der<br />

Halbbruder <strong>von</strong> Tante Lenis Ehemann und seit Kindertagen<br />

ihr erklärter Schwarm. Doch leider schien er in ihr immer noch<br />

das kleine Mädchen zu sehen, das er einst beim Pütschern auf<br />

der Elbe <strong>von</strong> einer Eisscholle gerettet hatte. Jedenfalls verhielt er<br />

sich ihr gegenüber gleichbleibend freundlich – leider in der Art<br />

eines gutmütigen älteren Bruders. Trotzdem hatte sie sich auch<br />

seinetwegen für die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester<br />

entschieden. Er hatte so leidenschaftlich <strong>von</strong> seiner Arbeit im<br />

Krankenhaus berichtet, dass sie den kleinen Patienten ebenfalls<br />

hatte helfen wollen. Dass sie Otto Casparius dabei fast täglich<br />

auf den langen Krankenhauskorridoren begegnete, war ein zusätzlicher<br />

Bonus.<br />

Über sein blasses Gesicht huschte ein verärgerter Ausdruck.<br />

»Es tut mir leid, Fanni, dass Doktor Mook im Krankenhaus auf<br />

solchen Förmlichkeiten besteht.«<br />

Erleichtert, dass sein Unmut nicht ihr galt, winkte sie ab. »Ach,<br />

das ist nicht schlimm. Und bestimmt wäre es auch Oberschwester<br />

Karin nicht recht, wenn wir uns bei der Arbeit duzen würden.<br />

Aber … was machst du überhaupt hier? Bist du diese Woche<br />

nicht auf der Neugeborenenstation?« Die letzte Frage war rhetorisch.<br />

Natürlich kannte sie seinen Dienstplan in- und auswendig.<br />

»Eigentlich … ja«, erwiderte Otto gedehnt. Seine hellblauen<br />

Augen blitzten kurz auf. »Aber da Doktor Mook die Hitlerjugend<br />

Altona heute als Bannarzt auf einen Ausflug begleitet,<br />

werde ich ihn ein weiteres Mal bei der Visite vertreten.«<br />

Fanni atmete auf. »Gott sei Dank.«<br />

Otto blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Wieso?«<br />

»Ach, wir haben einen Jungen mit Kinderlähmung, und<br />

Doktor Mook nimmt den Fall nicht richtig ernst. Da …«<br />

Ungeduldig nahm ihr Otto das Holzbrett mit dem Krankenblatt<br />

aus der Hand. »Ist er das?«<br />

15


Sie nickte.<br />

»Also, dann schauen wir uns …« Er suchte nach dem Namen.<br />

»… den kleinen Thomas gleich als Erstes an. Solche Patienten<br />

müssen unbedingt warmgehalten werden. Außerdem braucht<br />

er ein Mittel gegen die Schmerzen. Zusätzlich sollten wir noch<br />

seine Atmung kontrollieren … wenn das Zwerchfell ebenfalls<br />

<strong>von</strong> Lähmungserscheinungen betroffen ist, müssen wir ihn sofort<br />

an einen Respirator anschließen.«<br />

Fanni nickte erneut, und gemeinsam machten sie sich auf<br />

den Weg.<br />

Der restliche Vormittag verging wie im Flug. Nachdem die<br />

Visite beendet war, wurden die <strong>von</strong> Otto angeordneten Medikamente<br />

ausgeteilt sowie weitere Maßnahmen und Untersuchungen<br />

durchgeführt. Bei einem älteren Mädchen musste<br />

die Lunge durchleuchtet werden, ein anderes bekam wegen<br />

Verdauungsprob lemen einen Einlauf. Alle Patienten mussten<br />

gewaschen und in neue Laken gebettet werden. Eine Heidenarbeit,<br />

besonders weil einige Eltern sich nicht an die ausgewiesenen<br />

Besuchszeiten hielten und umgehend über den Zustand<br />

ihres Kindes informiert werden wollten. Trotzdem klappte<br />

das Zusammenspiel mit den anderen Schwestern wie am<br />

Schnürchen … bis am späten Vormittag ein entsetzter Schrei<br />

ertönte.<br />

»Was ist denn da los?«, fragte Schwester Beate.<br />

»Ich weiß nicht … es scheint aus dem Schwesternzimmer gekommen<br />

zu sein. Wahrscheinlich sollten wir …« Fanni sprach<br />

den Satz nicht zu Ende, sondern schloss sich ihrer Kollegin an,<br />

die bereits losgelaufen war.<br />

Als sie näher kamen, sah sie, dass sich bereits die meisten<br />

Schwestern der nahegelegenen Neugeborenen- und der Chirurgischen<br />

Station im Korridor versammelt hatten.<br />

»Wir müssen umgehend die Gestapo rufen!«, hörte man<br />

Oberschwester Karin keifen. »Sonst machen wir uns alle zu<br />

Komplizen dieser widerwärtigen Verbrecher.«<br />

Fanni und ihre Kolleginnen drängten sich neugierig ins<br />

16


Schwesternzimmer. Mitten im Raum stand ihre Vorgesetzte<br />

und hielt ein Stück Papier wie eine Jagdtrophäe in die Luft.<br />

»Wer <strong>von</strong> euch war das?«, fauchte sie. »Wer verteilt unter meiner<br />

Aufsicht solch ekelhafte Flugblätter?«<br />

In diesem Moment betrat Otto den Raum. »Was ist hier los,<br />

Oberschwester?«, fragte er mit ruhiger Stimme.<br />

»Es gibt einen schändlichen Verräter unter uns … einen<br />

Schmierfinken, der vor nichts Halt macht und den Führer und<br />

seine Mannen in den Dreck zieht.«<br />

»Darf ich bitte einmal sehen?« Otto streckte die Hand aus,<br />

und die Oberschwester reichte ihm widerwillig den Zettel.<br />

Schweigend las er. Als er aufblickte, meinte Fanni auf seinen<br />

Lippen ein flüchtiges Lächeln zu sehen. Doch er klang ernst, als<br />

er sagte: »Also, ich kann beim besten Willen keine Herabwürdigung<br />

unseres Führers in diesen Worten erkennen.«<br />

»Nicht?« Oberschwester Karin nahm ihm ungefragt den<br />

Zettel aus der Hand. »Dann halten Sie dies für eine angemessene<br />

Botschaft?« Sie atmete wutschnaubend ein und deklamierte:<br />

»Komm, Herr Hitler, sei unser Gast und gib uns, was du<br />

uns versprochen hast, aber nicht nur Kartoffeln und Hering, sondern<br />

dasselbe wie Goebbels und Göring.«<br />

Ein aufgeregtes Raunen erhob sich.<br />

»Da haben Sie es! Ich sage Ihnen, Doktor Casparius, wir<br />

müssen die Gestapo alarmieren, damit dieser aufrührerische<br />

Schmierfink dingfest gemacht wird.« Die Wangen der Oberschwester<br />

hatten die Farbe <strong>von</strong> überreifen Tomaten angenommen.<br />

»Und zwar sofort!«<br />

Otto schüttelte den Kopf. »Meinen Sie wirklich, dass ein<br />

dummer Spruch über Kartoffeln und Heringe einen solchen<br />

Einsatz rechtfertigt? Also, ich denke, die Gestapo hat Wichtigeres<br />

zu tun.«<br />

»Man bezichtigt den Führer, seine Versprechen nicht einzuhalten!«<br />

»Meines Erachtens stellen diese Zeilen keine politische Losung<br />

dar, sondern bestenfalls einen schlechten Scherz.«<br />

17


»Einen Scherz?«, wiederholte die Oberschwester empört.<br />

»Ich kann nichts Lustiges da ran entdecken.«<br />

Fanni dachte fieberhaft nach. Irgendwie musste sie Otto zur<br />

Seite springen.<br />

»Rufen Sie jetzt die Gestapo, Doktor Casparius, oder soll ich<br />

das übernehmen?«<br />

»Aber …«, rief Fanni mit klopfendem Herzen. »… der Verfasser<br />

will den Führer sogar einladen. Er schreibt ja ›sei unser<br />

Gast‹ … das kann doch nichts Böses bedeuten.« Weder die<br />

Oberschwester noch Otto beachteten sie.<br />

»Niemand wird die Gestapo rufen!«, sagte Otto in diesem<br />

Moment mit Nachdruck. »Ich vertrete Doktor Mook<br />

und bin der Meinung, dass sich die Krankenhausleitung lächerlich<br />

macht, wenn sie wegen eines solchen Unfugs Alarm<br />

schlägt.«<br />

Sekundenlang herrschte eine angespannte Stille, dann erwiderte<br />

Oberschwester Karin spitz: »Wie Sie meinen, Doktor<br />

Casparius. Doch ich werde Doktor Mook über Ihre Entscheidung<br />

in Kenntnis setzen müssen.«<br />

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich wäre Ihnen<br />

dankbar, wenn wir uns jetzt wieder der Heilung und Pflege unserer<br />

Patienten widmen könnten.« Otto drehte sich um und verließ<br />

das Schwesternzimmer. Die anderen taten es ihm gleich.<br />

Sogar Oberschwester Karin rauschte wütend aus dem Raum,<br />

nur Fanni verweilte noch einen Moment. Otto hatte ihren Einwurf<br />

einfach ignoriert. Dabei hatte sie ihn lediglich unterstützen<br />

wollen. Ihre Großmutter hatte recht: Sie musste sich endlich<br />

ihre fehlgeleiteten Gefühle für ihn abschminken. Trotzdem<br />

hoffte sie inständig, dass Oberschwester Karin ihre Drohung<br />

nicht wahrmachte. Mit Dr. Mook war in Bezug auf die Partei<br />

und den Führer nicht zu spaßen.<br />

***<br />

18


Sonja seufzte leise. Noch vor einem Jahr hätte ihr ein Besuch<br />

bei der Werft Blohm & Voss mit ihren Freundinnen vom Bund<br />

Deutscher Mädel sicherlich Spaß gemacht. Gemeinsam hätten<br />

sie über die anerkennenden Pfiffe der Werftarbeiter gekichert<br />

und da rüber getuschelt, wer <strong>von</strong> ihnen dem berühmten<br />

Hans Albers am ähnlichsten sah. Anschließend hätten sie die<br />

Kräne und Werkstätten auf dem weitläufigen Gelände bestaunt<br />

und atemlos der Rede des Führers gelauscht, die dieser anlässlich<br />

des feierlichen Stapellaufs des größten deutschen Schlachtschiffs,<br />

der fast zweihundertfünfzig Meter langen Bismarck, hielt.<br />

Doch jetzt war alles anders. Jetzt musste sie sich zwingen, über<br />

die Scherze ihrer Freundinnen zu lachen. Wobei sie sich keineswegs<br />

sicher war, ob sie überhaupt noch echte Freundinnen waren.<br />

Manchmal hatte sie das Gefühl, dass zumindest Irmgard<br />

und Lotte, deren Väter bei der SS waren, sie schräg <strong>von</strong> der Seite<br />

ansahen. Oder bildete sie sich das nur ein? Doch die Angst, die<br />

sie seit Vaters Flucht verspürte, war leider sehr real.<br />

Der Führer, der in einiger Entfernung auf einem mit Girlanden<br />

aus Tannenzweigen geschmückten Podest neben dem<br />

Schiff stand, wirkte trotz seiner Uniform so klein und unscheinbar.<br />

Kaum zu glauben, dass ausgerechnet dieser Mann einen solchen<br />

Eindruck auf alle Anwesenden machte. Irmgard, die seit<br />

jeher für den Führer schwärmte und ihm schon unzählige Briefe<br />

mit gepressten Blumen geschickt hatte, war bei seinem Anblick<br />

sogar kurzzeitig in Ohnmacht gefallen. Sonja selbst beäugte ihn<br />

mit ungläubiger Neugierde. Konnte das ganze Unglück, das ihrer<br />

Familie widerfahren war, tatsächlich auf diesen Mann zurückgeführt<br />

werden, der, zwischen stilleren Passagen, genauso<br />

he rumbrüllte wie die Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt?<br />

Was fanden die Leute an ihm? Oder war die Erhabenheit<br />

des Führers in Wirklichkeit nur ein Trugbild, dem wie in ihrem<br />

Lieblingsmärchen Des Kaisers neue Kleider alle Bürger gleichzeitig<br />

aufsaßen? Doch wo blieb das Kind, das mit ausgestrecktem<br />

Finger auf ihn zeigte und die Wahrheit hi nausposaunte?<br />

Ihre amerikanische Großmutter Esther war gestorben, als ihr<br />

19


Vater noch ein kleiner Junge gewesen war. Sie hatte sie nie kennengelernt.<br />

Trotzdem machte ihr Blutanteil – zumindest in den<br />

Augen der Nazis – ihren Vater zum Halbjuden und ihren Zwillingsbruder<br />

Max und sie zu Vierteljuden. Natürlich war es eine<br />

schreiende Ungerechtigkeit, dass sie, nur weil sie die blonden<br />

Haare und blauen Augen ihrer Mutter geerbt hatte, zu den beliebten<br />

Mädchen ihrer Schule zählte. Insgeheim hatte sie wegen<br />

dieser Willkür, obwohl sie nichts dafürkonnte, ein schlechtes<br />

Gewissen, denn Max, der mit Vaters braunen Augen und dunklen<br />

Haaren geboren worden war, erging es leider völlig anders.<br />

Ihm war das Leben bei jeder Gelegenheit schwer gemacht und<br />

der Eintritt in die Hitlerjugend gleich ganz verwehrt worden.<br />

Ihr Bruder hatte in der Schule und auf den Hamburger Straßen<br />

so viele Demütigungen ertragen müssen, dass er sich letzten<br />

Herbst entschlossen hatte, gemeinsam mit ihrer Cousine Charlotte<br />

und ihrem Cousin Kurt nach England auszuwandern. Und<br />

das alles nur, weil der Führer und seine Anhänger die Juden zum<br />

Sündenbock für alles machten, was im Deutschen Reich schieflief.<br />

Wegen der Ereignisse der letzten Wochen und Monate war<br />

Sonjas schlechtes Gewissen einem nagenden Schuldgefühl gewichen.<br />

Wa rum durfte ausgerechnet sie hier unbehelligt in der<br />

Menge stehen, während Kurts und Charlottes Vater Elias seit<br />

der Reichspogromnacht verschollen, ihr Bruder ausgewandert<br />

und ihr Vater vor der Verhaftung durch die Gestapo geflohen<br />

war? Das ergab doch alles keinen Sinn. Dennoch bestand ihre<br />

Mutter da rauf, dass sie ihr Leben so »normal« wie möglich weiterlebte.<br />

Als könnte es in ihrer Familie überhaupt noch so etwas<br />

wie Normalität geben. Bei jedem Telefonklingeln schreckten<br />

Tante Felicitas, ihre Mutter und sie selbst wie <strong>von</strong> der Tarantel<br />

gestochen hoch. Aber es war niemals ihr Bruder, ihr Vater oder<br />

Onkel Elias am anderen Ende der Leitung.<br />

Max schrieb wenigstens <strong>von</strong> Zeit zu Zeit Briefe, und <strong>von</strong><br />

ihrem Vater hatten sie eine Postkarte aus Osnabrück erhalten.<br />

»Alles gut. In Liebe, John«, hatte er eilig da rauf gekritzelt. Aber<br />

20


<strong>von</strong> Onkel Elias hatte seit der schrecklichen Nacht seiner Verschleppung<br />

niemand mehr etwas gehört oder gesehen. Manchmal<br />

konnte Sonja vor Sorge um die geliebten Menschen kaum<br />

schlafen.<br />

Sie zuckte zusammen. Irmgard hatte ihre Hand ergriffen.<br />

»Ist er nicht großartig?«, flüsterte die Freundin und drückte ihre<br />

Finger. »Und diese Rede. Einfach kolossal!«<br />

Sonja nickte mit einem hoffentlich überzeugenden Lächeln<br />

und lauschte demonstrativ Hitlers Worten, die sie vorher ausgeblendet<br />

hatte.<br />

»Der Nationalsozialismus aber hat in seiner Bewegung und<br />

in der deutschen Volksgemeinschaft die geistigen, weltanschaulichen<br />

und organisatorischen Elemente geschaffen, die geeignet<br />

sind, die Reichsfeinde <strong>von</strong> jetzt ab und für alle Zukunft zu vernichten«,<br />

brüllte der Führer gerade.<br />

Was sollte das nun schon wieder bedeuten? Welche Reichsfeinde<br />

meinte er? Sprach er etwa <strong>von</strong> den Juden? Plötzlich<br />

wünschte Sonja, dass sie der Rede <strong>von</strong> Anfang an zugehört hätte.<br />

Doch selbst jetzt hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. In ihrem<br />

Kopf spukten so viele Fragen he rum. Wo blieb zum Beispiel<br />

ihr Großonkel Veit? Um ihrem Vater die Flucht zu ermöglichen,<br />

hatte er die Gestapo mit einem Trick an der Nase<br />

he rumgeführt. Trotzdem hatte ihre Familie damit gerechnet,<br />

dass Veit als Mitglied der NSDAP nicht dafür belangt werden<br />

würde. Doch nun saß er schon seit Wochen im Hamburger Gestapo-Hauptquartier<br />

und durfte weder einen befreundeten Anwalt<br />

noch ihre Mutter sprechen. Wie wurde er dort behandelt?<br />

Bekam er genug zu essen? Würde man ihm den Prozess machen?<br />

Auch ihre Mutter, sonst eher eine Frohnatur, war seit Vaters<br />

Flucht so schrecklich still und in sich gekehrt. Sonja scheute<br />

sich, sie unter diesen Umständen auf die familieneigene Reederei<br />

anzusprechen. Dabei konnte Herr Claasen, der Prokurist, der<br />

ihren Großonkel zurzeit vertrat, bestimmt nicht alle wichtigen<br />

<strong>Entscheidungen</strong> treffen, die dort täglich anstanden. Und da es<br />

leider nicht so aussah, als würden ihr Vater und Großonkel Veit<br />

21


ald wiederkommen, hätte eigentlich ihre Mutter die Zügel in<br />

die Hand nehmen müssen. Oder wer sonst sollte das Unternehmen<br />

leiten?<br />

Irmgard drückte erneut ihre Finger. Diesmal fast schmerzhaft<br />

fest. Wahrscheinlich neigte sich die Rede des Führers dem<br />

Ende zu.<br />

»Mögen sich die deutschen Soldaten und Offiziere, die<br />

die Ehre besitzen, dieses Schiff einst zu führen, jederzeit seines<br />

Namensträgers würdig erweisen! Möge der Geist des eisernen<br />

Kanzlers auf sie übergehen, möge er sie begleiten bei all ihren<br />

Handlungen auf den glückhaften Fahrten im Frieden, möge<br />

er aber, wenn es je notwendig sein sollte, ihnen mahnend voranleuchten<br />

in den Stunden schwerster Pflichterfüllung! Mit<br />

diesem heißen Wunsch begrüßt das deutsche Volk sein neues<br />

Schlachtschiff Bismarck!«, brüllte Hitler.<br />

Selbst aus der Entfernung konnte Sonja die feuchte Aussprache<br />

des Führers erahnen. Er schien die Worte geradezu aus<br />

seinem Innersten hervorzupressen. Trotzdem klatschten die<br />

Menschen um sie he rum frenetisch Beifall. Irmgards Augen<br />

leuchteten voller Stolz. »Hast du gesehen, wie stark und männlich<br />

der Führer ist? Ich liebe ihn!«<br />

Während ihre BDM-Freundinnen Irmgard umringten und<br />

ihr wortreich beipflichteten, verspürte Sonja ein hohles Gefühl<br />

im Bauch. Sie hatte zwar niemals in diesem Ausmaß für<br />

den Führer geschwärmt, aber der Gedanke an ein neues, starkes<br />

Deutschland mit einer sportlichen, unabhängigen Jugend hatte<br />

auch sie früher einmal mit Hoffnung erfüllt. Wie überschwänglich<br />

hatten die anderen Mädchen auf Wanderungen, bei Vorträgen<br />

und in Zeltlagern <strong>von</strong> dieser neu anbrechenden, goldenen<br />

Zukunft gesprochen. Doch seit in ihrem Leben die vorherrschende<br />

Farbe ein tristes Dunkelgrau war, wäre sie am liebsten<br />

gar nicht mehr zu den Veranstaltungen des BDM gegangen,<br />

aber aus Erfahrung wusste sie, dass so etwas unangenehme<br />

Konsequenzen haben konnte. Magda, die Tochter ihres Religionslehrers,<br />

war nach einer kritischen Bemerkung über die Poli-<br />

22


tik der Nazis zuerst des BDM verwiesen worden und dann <strong>von</strong><br />

der Schule geflogen. Da war es doch besser, Scham, Ärger und<br />

Kritik einfach runterzuschlucken. Weitere Dramen würden weder<br />

ihre Mutter noch sie selbst verkraften.<br />

In diesem Moment bemerkte sie, dass zwei Herren in Mantel<br />

und Hut auf Irmgard zusteuerten und sie etwas fragten. Irmgard<br />

zeigte in ihre Richtung, und die beiden Männer nahmen –<br />

genau in dem Moment, als das neue Schlachtschiff zu Wasser<br />

gelassen wurde – Kurs auf sie. Was zum Teufel wollten sie <strong>von</strong><br />

ihr? Gehörten nun auch blonde und blauäugige Vierteljuden<br />

zum unerwünschten Teil des deutschen Volkes? Ginge es ihr<br />

nun auch an den Kragen?<br />

»Bist du Sonja Casparius?«, erkundigte sich der größere der<br />

beiden Männer. Obwohl er lächelte, trat Sonja unwillkürlich einen<br />

Schritt zurück. Er hatte keine besonders freundliche Ausstrahlung.<br />

»Ja, das bin ich«, erwiderte sie.<br />

»Die Tochter <strong>von</strong> Leni und John Casparius?«<br />

Sonja nickte.<br />

»Und wie alt bist du jetzt?«<br />

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, die Antwort<br />

zu verweigern. Aber dann erinnerte sie sich, dass es sich nicht<br />

gehörte, ungehorsam gegenüber Erwachsenen zu sein. »Fast<br />

fünfzehn«, entgegnete sie. »Und wer sind Sie?«<br />

»Mein Name ist Felix Mansfeld«, antwortete er <strong>von</strong> oben herab,<br />

als wäre es eine Bildungslücke, ihn nicht zu kennen. »Ich bin<br />

der Bankier der Casparius-Reederei, und ich möchte, dass du<br />

deiner Mutter etwas <strong>von</strong> mir ausrichtest.«<br />

Sonja erschrak. Mansfeld – diesen Namen hatte sie bereits<br />

gehört. Handelte es sich nicht um einen ehemaligen Freund ihres<br />

Vaters, der sich inzwischen zu seinem Widersacher gewandelt<br />

hatte? Was konnte dieser Kerl <strong>von</strong> ihrer Mutter wollen?<br />

Sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen,<br />

doch das amüsierte Glitzern in seinen Augen verriet ihr, dass<br />

ihre Bemühungen umsonst waren. »Und was soll ich ihr sagen?«<br />

23


»Ich werde sie nächste Woche mit …«, er zeigte auf den<br />

grauhaarigen Mann an seiner Seite, »… Herrn Koenig besuchen,<br />

um über die weitere Arisierung der Reederei Casparius zu<br />

sprechen.«<br />

Sonja brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen.<br />

Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Zögernd erwiderte sie:<br />

»Aber unsere Reederei ist doch längst arisiert. Mein Großonkel<br />

Veit Casparius ist Arier und hält alle Anteile.«<br />

Beide Männer verzogen den Mund zu einem hämischen Lächeln.<br />

»Dein Onkel ein Arier? Nun, da kann man wohl geteilter<br />

Meinung sein … bei dieser Sippschaft«, sagte Mansfeld.<br />

Immer noch grinsend, drehten sie sich um und entfernten<br />

sich ohne ein Wort des Abschieds.<br />

Mit klopfendem Herzen sah Sonja ihnen nach. Dann<br />

schaute sie sich besorgt um. Hatten ihre Freundinnen etwas <strong>von</strong><br />

der Unterhaltung mitbekommen?<br />

***<br />

Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne stand hoch am<br />

Himmel und tauchte die Elbe in goldenes Licht. Einige am Steg<br />

vertaute Jollen tanzten auf dem Wasser. In den Bäumen am Ufer<br />

zwitscherten Vögel. Die leichte Brise, die Kurt entgegenwehte,<br />

duftete nach Flieder. Doch er nahm sich nicht die Zeit, das paradiesische<br />

Bild in sich aufzunehmen. Stattdessen rannte er den<br />

Strandweg entlang, als ginge es um sein Leben, und bog schließlich<br />

rechts ab zu der steilen Strandtreppe, die zu Fannis Haus<br />

führte. Der schmale Weg schlängelte sich an reetgedeckten Fischerkaten<br />

und weißen Häuschen mit hübsch angelegten Gärten<br />

vorbei, doch auch an diese Postkartenmotive vergeudete er<br />

keinen Blick. Er wollte … er musste Fanni sehen. So schnell wie<br />

möglich. Obwohl er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte,<br />

nahm er bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal. Er konnte<br />

bereits die Umrisse des Tweehus ausmachen, in dem seine ge-<br />

24


liebte Freundin wohnte. Ob sie schon vom Krankenhaus zurück<br />

war? Er hatte ihr so viel zu erzählen und …<br />

»Kurt! Wach auf! Es ist Zeit!«, flüsterte eine heisere Stimme.<br />

»Nein, Mama … ich …« Kurt fuhr <strong>von</strong> seinem Bett hoch.<br />

Verwirrt blinzelte er die junge, blonde Frau an, die ihn geweckt<br />

hatte. Dann fiel ihm wieder ein, wo er war. »Ich komme gleich«,<br />

flüsterte er. Die Betreuerin nickte und ging auf Zehenspitzen<br />

zurück zur Tür.<br />

Er atmete tief ein und aus. Natürlich war das nicht die zärtliche<br />

Stimme seiner Mutter gewesen. Schließlich befand er<br />

sich nicht in Hamburg, sondern in England, auch wenn ihm<br />

sein Traum ungeheuer realistisch vorgekommen war. Irgendwie<br />

hatte er noch immer das Gefühl, dass er nur die Hand ausstrecken<br />

müsste, um Fannis Gartentor zu öffnen. Mit einem unterdrückten<br />

Seufzen betrachtete er die drei langen Reihen mit<br />

Betten im Halbdunkel des Schlafsaals. In jedem dieser Betten<br />

lag ein Junge, der genau wie er seine Eltern, seine Freunde und<br />

die alte Heimat vermisste. Manche der Kinder waren sogar erst<br />

vier oder fünf Jahre alt. Für sie war es schwer zu verstehen, warum<br />

ihre Eltern sie aus ihrer angestammten Umgebung weggeschickt<br />

hatten. Sie waren noch zu klein, um zu begreifen, dass<br />

sie in Sicherheit gebracht worden waren, weil in Deutschland<br />

Synagogen brannten und jüdische Menschen auf offener Straße<br />

verprügelt, in Konzentrationslager gesteckt oder verhaftet wurden.<br />

Oder – wie sein Vater – spurlos verschwanden.<br />

Ihn fröstelte. Leise stand er auf, zog seinen Koffer unter dem<br />

Bett hervor und kleidete sich an. Über sein Unterhemd zog er<br />

ein Hemd und zwei Pullover – so viele Lagen wie möglich –,<br />

denn die Räume hier in Dovercourt waren nicht geheizt. Der<br />

an den Schlafsaal grenzende Waschraum bestand aus zehn offenen<br />

Duschkabinen und mehreren Becken mit ausschließlich<br />

kaltem Wasser. Bibbernd verrichtete er eine Katzenwäsche. Anschließend<br />

ging er die Treppe hi nun ter und betrat die Küche,<br />

die durch eine Durchreiche mit dem Speisesaal verbunden war.<br />

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das gefrorene Wasser in<br />

25


den aufgereihten Keramikkrügen. Hoffentlich taute es bis zum<br />

Frühstück auf. Ob er die Gefäße näher an den Ofen schieben<br />

sollte, die einzige Wärmequelle im Raum?<br />

»Kurt, kannst du bitte anfangen, die Sandwiches zuzubereiten?«,<br />

rief ihm dieselbe Betreuerin zu, die ihn auch geweckt<br />

hatte. Sie hieß Sophie und war Engländerin, sprach aber akzentfreies<br />

Deutsch, weil sie zwei Jahre lang in Deutschland als Kinderfräulein<br />

gearbeitet hatte. Nur manchmal flossen einige englische<br />

Wörter in ihre Sätze mit ein. Selbstverständlich war auch<br />

sie Jüdin, so wie die meisten hier. Trotzdem wurde der Schabbat<br />

nicht wie zu Hause begangen. Kurt wusste nicht, wa rum, und<br />

scheute sich, danach zu fragen.<br />

»Natürlich«, antwortete er und begann, die zu einem Turm<br />

geschichteten, labberigen Brotscheiben dünn mit Margarine<br />

und Marmelade zu bestreichen. Jede fertige Scheibe wurde quer<br />

durchgeschnitten, anschließend wurden die beiden Hälften zusammengeklappt,<br />

damit auch die kleineren Kinder sie ohne zu<br />

kleckern essen konnten.<br />

Er hatte sich freiwillig bereit erklärt, eine Stunde früher aufzustehen,<br />

um bei der Essensvorbereitung und -ausgabe zu helfen.<br />

Einerseits gehörte er mit seinen fast vierzehn Jahren zu den<br />

älteren Jungen und fühlte sich deshalb dazu verpflichtet. Andererseits<br />

gab es für die Unterstützung manchmal eine Extraportion<br />

Essen, die er dringend benötigte. In den letzten Wochen<br />

war er derart in die Höhe geschossen, dass alle seine Hosen<br />

Hochwasser hatten und die Ärmel seiner Pullover auf der Mitte<br />

des Unterarms endeten. Dieses schnelle Wachstum hatte die<br />

lästige Begleiterscheinung, dass ihn ständig Hunger plagte. Und<br />

da es außer den drei kargen Kantinen-Mahlzeiten nichts zu beißen<br />

gab, war er für ein übrig gebliebenes Sandwich und die eine<br />

oder andere zusätzliche Kartoffel auf seinem Teller sehr dankbar.<br />

Wenn Fanni ihn hätte sehen können, hätte sie gestaunt. Bestimmt<br />

überragte er sie jetzt um einen Kopf, dabei war sie sechs<br />

Jahre älter als er. Unwillkürlich musste er an seinen Traum denken.<br />

Fanni! Er träumte fast jede Nacht <strong>von</strong> ihr. Von ihrem hüb-<br />

26


schen, <strong>von</strong> honigblonden Haaren umrahmten Gesicht, der sanften<br />

Stimme und ihrem lieben Wesen. Manchmal fühlte er sich<br />

schuldig, weil er sie so viel mehr vermisste als seine Mutter und<br />

seine Geschwister. Aber vielleicht lag das auch an dieser anderen<br />

Art <strong>von</strong> Gefühl, das er für sie hegte, seit er sie das erste Mal<br />

gesehen hatte. Seit jenem Tag im Haus seines Onkels liebte er<br />

sie. Mit jeder Faser seines Herzens.<br />

Natürlich war seine Begeisterung für die Nichte seiner angeheirateten<br />

Tante <strong>von</strong> allen Erwachsenen … und zunächst leider<br />

auch <strong>von</strong> Fanni selbst belächelt worden. Der Altersunterschied<br />

kam ihnen einfach zu groß vor. Er war damals noch ein kleiner<br />

Junge gewesen und sie schon fast ein junges Fräulein. Aber<br />

all das hatte ihn nicht beirrt. Er wusste tief in seinem Inneren,<br />

dass er Fanni eines Tages heiraten würde. Und tatsächlich waren<br />

sie in den letzten Jahren gute Freunde geworden. Er hatte<br />

sie besucht und sie ihn. Doch seit seinem Umzug nach England<br />

musste er auf diese für ihn so wichtigen Glücksmomente<br />

verzichten. Dennoch hielt er eisern an seiner Überzeugung fest.<br />

Fanni und er gehörten zusammen. Wenn er erst einmal dreiundzwanzig<br />

Jahre alt wäre und sie neunundzwanzig, würde niemand<br />

mehr an diesen lächerlichen sechs Jahren Anstoß nehmen.<br />

Der einzige Vorteil ihrer erzwungenen Trennung war, dass er<br />

momentan krächzte wie ein Rabe. Der Stimmbruch hatte ihn<br />

mitten in einer Englischstunde erwischt, und sein plötzliches<br />

hohes Fiepen hatte die anderen Kinder in prustendes Lachen<br />

ausbrechen lassen. Seit kurzem machte er sich noch aus einem<br />

anderen Grund Sorgen. Sein Cousin Max, der erst vor drei Wochen<br />

aus einem anderen Heim hierher nach Dovercourt verlegt<br />

worden war, hatte ihm aus einem Brief seiner Zwillingsschwester<br />

Sonja vorgelesen, in dem sie schrieb, Fanni sei in ihren gemeinsamen<br />

Stiefonkel, den viel älteren Kinderarzt Otto Casparius,<br />

verliebt. Kurt hatte schon früher so etwas vermutet, aber<br />

seinen Verdacht laut ausgesprochen zu hören tat weh. Manchmal<br />

wünschte er seinen Konkurrenten deshalb dahin, wo der<br />

Pfeffer wuchs, aber dann schämte er sich für seine Missgunst.<br />

27


Schließlich heilte Otto kranke Kinder. Und wie sollten sich<br />

diese beiden ineinander verlieben können, wenn Fanni doch für<br />

ihn bestimmt war!<br />

»Kurt? Bitte beeil dich. Du musst noch den Porridge in die<br />

Schälchen füllen.«<br />

Dankbar für die Unterbrechung seiner dunklen Gedanken,<br />

beeilte er sich mit den restlichen Brotscheiben. Porridge war<br />

zwar in seinen Augen widerlich – bis er serviert wurde, hatte<br />

sich eine Haut da rauf gebildet, und die schleimige Masse darun<br />

ter war grau und kalt –, aber es gab tatsächlich Kinder, die<br />

sich täglich da rauf freuten. Und Freude war etwas, das hier eher<br />

selten vorkam.<br />

Ursprünglich war das in der Nähe <strong>von</strong> Harwich gelegene<br />

Heim als reines Sommerferienlager geplant gewesen. Erst seit<br />

es die Kindertransporte nach England gab, wurden die für rund<br />

tausend Bewohner ausgelegten Gebäude auch im Herbst, Winter<br />

und Frühling betrieben. Leider unter schwierigen Bedingungen:<br />

Die Häuser waren in Leichtbauweise errichtet worden, die<br />

keinen Schutz boten vor eisigen Temperaturen. Im Januar hatte<br />

es sogar geschneit, und die bittere Kälte war durch alle Ritzen<br />

gedrungen und hatte viele Kinder krank werden lassen. In dieser<br />

Zeit hatte sogar der eigentlich obligatorische Englischunterricht<br />

ausfallen müssen, da sämtliche Betreuerinnen und Lehrerinnen<br />

als Krankenschwestern eingesprungen waren.<br />

Die ersten Kinder trafen im Speisesaal ein und setzten sich<br />

an einen der langen Tische. Wie immer zerriss ihm der Anblick<br />

der Kleineren das Herz, und er war froh, dass sein jüngerer Bruder<br />

Michael bei seiner Mutter in Hamburg geblieben war. Bestimmt<br />

war er dort besser aufgehoben als hier, denn auch wenn<br />

die Nazis seinen Vater verschleppt hatten, würden sie einem<br />

<strong>Zwei</strong>jährigen wohl kaum etwas antun. Und die Kleinsten wirkten<br />

so verloren ohne ihre Eltern. Er selbst war seinem Onkel<br />

John und seiner Mutter dankbar, dass sie ihn vorgewarnt hatten:<br />

Der Aufenthalt in England würde kein Zuckerschlecken sein,<br />

sondern lediglich Sicherheit bedeuten. Doch vielen der ande-<br />

28


en Kinder hatte man offenbar den Himmel auf Erden versprochen,<br />

um sie zu überreden, die Reise nach England anzutreten.<br />

Dabei war das Leben im Heim alles andere als einfach, wenn<br />

man ein liebevolles Elternhaus gewohnt war. Es waren schlicht<br />

zu wenige Betreuer, um jedem einzelnen Kind gerecht werden<br />

zu können. Und so blieben viele Bedürfnisse und Wünsche der<br />

Kleinen auf der Strecke. Traurig nahm Kurt sich ein Butterbrot<br />

und eine Tasse Tee und setzte sich neben einen Vierjährigen mit<br />

dunklen Locken, der sich mit großen Augen im Speisesaal umschaute.<br />

»Bist du gerade erst angekommen?«, fragte er ihn.<br />

Der Lockenkopf nickte.<br />

»Weißt du, es wird besser, wenn man sich erst einmal an alles<br />

gewöhnt hat. Willst du mal kosten?« Lächelnd hielt er ihm sein<br />

Butterbrot hin und ließ ihn abbeißen.<br />

Während Kurt weiter mit dem Jungen plauderte und versuchte,<br />

sich möglichst fröhlich zu geben, fiel ihm ein, dass heute<br />

Nachmittag ein weiterer »Viehmarkt« abgehalten werden würde.<br />

Bestimmt hatte der Kleine gute Chancen, <strong>von</strong> einer englischen<br />

Pflegefamilie mit nach Hause genommen zu werden. Die Hübschesten<br />

und vermeintlich Pflegeleichtesten wurden immer als<br />

Erstes he rausgepickt. Er selbst hasste diese Veranstaltungen, bei<br />

denen auch regelmäßig bereits vermittelte, ziemlich verstört<br />

wirkende Mädchen und Jungen »zurückgegeben« wurden, weil<br />

angeblich die Chemie nicht gestimmt hatte. Doch man konnte<br />

offenbar auch Glück haben, so wie seine Schwester Charlotte,<br />

die direkt nach ihrer Ankunft in einer Familie untergekommen<br />

war. Wenn er ihren Briefen Glauben schenken konnte, behandelten<br />

ihre Londoner Pflegeeltern sie wie eine eigene Tochter.<br />

»Morgen, Kurt«, wurde er <strong>von</strong> seinem soeben im Speisesaal<br />

eingetroffenen Cousin Max begrüßt. Da er ein Jahr älter war als<br />

Kurt, wohnte er mit anderen Halbwüchsigen in einem separaten<br />

Häuschen in einiger Entfernung vom Hauptgebäude.<br />

»Auweia«, sagte Kurt, als er Max’ rechtes Auge sah, das geschwollen<br />

war und violett schillerte. »Was ist dir denn passiert?«<br />

29


»Einer <strong>von</strong> den Wiener Jungs«, knurrte sein Cousin, griff<br />

nach einem Schälchen Porridge und setzte sich neben ihn.<br />

»Aber mein Kontrahent sieht auch nicht besser aus.«<br />

Kopfschüttelnd biss Kurt <strong>von</strong> seinem Butterbrot ab. Es war<br />

verrückt, dass einige der aus Wien geflüchteten jüdischen Jungen<br />

es sich in den Kopf gesetzt hatten, die angeblich arroganten<br />

Deutschen verprügeln zu müssen. Dabei saßen sie doch alle im<br />

selben Boot.<br />

Nach dem Mittagessen mussten alle Kinder im Speisesaal bleiben.<br />

Dann wurden die Türen geöffnet, und ungefähr dreißig Personen<br />

strömten in den Raum und sahen sich neugierig um. Kurt<br />

verbarg sich wie gewohnt hinter einem Pfeiler. Er wollte niemandem<br />

ins Auge fallen, da er nicht die Absicht hatte, sich fremden<br />

Leuten auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Aus seinem Versteck<br />

beobachtete er das Geschehen. Man konnte die Erwachsenen<br />

grob in zwei Kategorien einteilen: junge oder ältere Paare,<br />

die nach einem niedlichen Kleinkind suchten, und Einzelpersonen<br />

mittleren Alters, die mit taxierend zusammengekniffenen<br />

Augen nach kostenlosen Arbeitskräften Ausschau hielten.<br />

Die meisten wurden schnell fündig und marschierten mit<br />

dem Kind ihrer Wahl zum Tisch des Heimleiters, um den Papierkram<br />

zu erledigen. Man brauchte in dieser Hinsicht nicht<br />

viel zu tun, lediglich eine Adresse musste angegeben und eine<br />

Erklärung unterschrieben werden, in der man versicherte, sein<br />

Mündel gut zu behandeln. Dann konnten die Leute ihr neues<br />

<strong>Familien</strong>mitglied gleich mit nach Hause nehmen.<br />

Voller Abscheu beobachtete Kurt, wie eine rotgesichtige,<br />

korpulente Dame mit Dutt sich das hübscheste Mädchen des<br />

Heims schnappte. Lily war erst vierzehn, mit ihren großen,<br />

dunklen Augen und den blonden Haaren aber trotzdem schon<br />

der heimliche Schwarm vieler Jungen. Mit gesenktem Blick<br />

ging sie hinter der rabiat wirkenden Dame her. Sich der Auswahl<br />

zu widersetzen, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen.<br />

Innerlich schüttelte Kurt den Kopf. Bestimmt war Lily <strong>von</strong> ih-<br />

30


en Eltern wie eine Prinzessin behandelt worden, und nun war<br />

ihr weiteres Schicksal völlig ungewiss. Würde sie hinter einem<br />

Tresen stehen, Bier ausschenken und mit ihrem Puppengesicht<br />

Kundschaft für das Pub der Frau anlocken müssen? Oder tat er<br />

der zukünftigen Pflegemutter unrecht?<br />

»Was schaust du denn so böse drein?«, fragte sein Cousin, der<br />

in diesem Moment zu ihm trat.<br />

Kurt versuchte zu lächeln. »Ach, nichts, Max. Ich hoffe nur,<br />

dass all diese Pflegeeltern ehrliche Leute sind.«<br />

Max grinste. »Na, dann kannst du auch mir die Daumen drücken.«<br />

Überrascht starrte er ihn an. »Du machst Witze.«<br />

»Nein, der Herr dort drüben will mir ein neues Zuhause in<br />

London geben.«<br />

Kurt musterte den schlanken, vielleicht fünfzigjährigen<br />

Mann. Er trug einen Anzug und wirkte »kultiviert«, wie seine<br />

Mutter gesagt hätte, aber das konnte auch Fassade sein. »Max …<br />

um Gottes willen … bist du sicher?«<br />

Sein Cousin nickte grimmig. »Mir reicht’s. Die Kälte, der<br />

schreckliche Fraß, die prügelnden Wiener … eigentlich kann es<br />

doch nur besser werden. Es tut mir nur leid, dich allein zurückzulassen.«<br />

Er winkte ab. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu<br />

machen, aber …« Er zeigte auf das blaugeschlagene Auge seines<br />

Cousins. »Wa rum will dieser Herr ausgerechnet dich? Mit dem<br />

Veilchen siehst du doch geradezu gefährlich aus.«<br />

Max zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht … vielleicht<br />

hat er Mitleid mit mir?«<br />

»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, bat er.<br />

»Nein. Aber ich werde dir schreiben, und wenn es ganz<br />

schlimm wird, nehme ich Reißaus und komme zurück.«<br />

Kurt nickte beklommen. Er würde seinen Cousin vermissen,<br />

aber er wollte ihm nicht unnötig das Herz schwermachen. »Ich<br />

wünsche dir alles Gute.«<br />

»Ich dir auch … bis bald.« Max wandte sich um und ging.<br />

31


Kapitel 2<br />

<strong>Blankenese</strong>, März 1939<br />

An einem dienstfreien Samstag schaute sich Fanni mit ihren<br />

Kolleginnen Beate und Ursula die Matineevorstellung des<br />

Films Hotel Sacher in den <strong>Blankenese</strong>r Lichtspielen an. Eigentlich<br />

hatte sie keine Lust gehabt, aber ihre Großmutter hielt sie<br />

schon seit Wochen dazu an, etwas zu unternehmen. »Weißt du,<br />

mein Kind, es gibt auch noch ein Leben neben der Arbeit. Du<br />

kannst nicht jedes Wochenende mit einer alten Frau zu Hause<br />

sitzen, über die Kinder auf deiner Station grübeln und <strong>von</strong> deinem<br />

Arzt träumen. Man ist nur einmal jung. Geh aus und amüsier<br />

dich. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.«<br />

Weil Fanni nicht unmittelbar nach dem knapp zweistündigen<br />

Film ins Tweehus zurückkehren wollte, wo sie zweifellos weitere<br />

Ratschläge erwarteten, stimmte sie zu, als ihre Freundinnen ein<br />

Mittagessen im Elbrauschen vorschlugen. Nachdem sie sich in<br />

dem urigen Ambiente – der Gastraum war <strong>von</strong> ihrer Großmutter<br />

liebevoll mit Bildern <strong>von</strong> Seemannsknoten und anderen maritimen<br />

Gegenständen eingerichtet worden – niedergelassen und<br />

bei ihrem Cousin Peter das Tagesgericht und je ein Glas Limonade<br />

bestellt hatten, tauschten sie sich über den Film aus.<br />

»Der Schauspieler, der den Leutnant gespielt hat, dieser Wolf<br />

Albach-Retty, ist schon ein schicker Mann«, seufzte Beate sehnsüchtig.<br />

»Lass das besser nicht seine Ehefrau hören«, erwiderte Ursula,<br />

die regelmäßig die Klatschspalten der Zeitungen las. »Mein Fall<br />

ist er sowieso nicht. Ich mag lieber richtige Kerle, nicht solche<br />

Schönlinge.« Sie warf Fanni einen prüfenden Blick zu. »Wa rum<br />

bist du so schweigsam?«<br />

32


Natürlich hatte sie an Otto gedacht, den Mann ihrer Träume.<br />

Doch das konnte sie den beiden nicht auf die Nase binden.<br />

Freundinnen hin oder her … ein solches Geständnis hätte die<br />

Gerüchteküche im Krankenhaus garantiert zum Überkochen<br />

gebracht. »Hm«, versuchte sie, Zeit zu schinden. »Der Film hat<br />

mich irgendwie mitgenommen.«<br />

»Bist du wirklich so eine Mimose? Das war doch nur Kintopp«,<br />

meinte Ursula, die in der Neugeborenenstation arbeitete.<br />

Fanni zuckte mit den Schultern. Hoffentlich wechselten ihre<br />

Kolleginnen bald das Thema.<br />

»Habt ihr schon die Neuigkeiten <strong>von</strong> Doktor Casparius gehört?«,<br />

fragte Beate in diesem Moment.<br />

Fanni, die gerade an ihrer Limonade genippt hatte, verschluckte<br />

sich. »Ähm … nein. Was ist mit ihm?«<br />

»Es heißt, er versteht sich nicht mehr mit Doktor Mook und<br />

der Oberschwester und will eine eigene Praxis gründen.«<br />

»Er will das Kinderhospital verlassen?« Fanni konnte nicht<br />

verhindern, dass ihre Stimme bei diesen Worten zitterte.<br />

Doch da Peter gerade Grünkohl mit Pinkelwurst servierte,<br />

blieb ihre Frage zunächst unbeantwortet.<br />

Erst nachdem sie eine Gabel Grünkohl gekostet hatte, sagte<br />

Ursula: »Reisende soll man nicht aufhalten.«<br />

Beate nickte. »Ich bin mir sicher, dass er eine der Schwestern<br />

als Sprechstundenhilfe mitnimmt.«<br />

»Bestimmt Schwester Gisela«, prophezeite Ursula mit vollem<br />

Mund.<br />

»Wieso?« Fanni senkte den Blick auf ihren unangerührten<br />

Teller, damit die Kollegin nicht den verletzten Ausdruck in ihren<br />

Augen sah.<br />

»Er hält große Stücke auf sie«, erklärte Ursula.<br />

Und Beate fügte hinzu: »Außerdem ist Gisela genauso ein<br />

kalter Fisch wie er.«<br />

»Kalter Fisch?«, fragte Fanni tonlos und stocherte mit der<br />

Gabel im Grünkohl he rum. Ihr Magen war wie zugeschnürt.<br />

33


»Na ja, die halbe Belegschaft macht ihm schöne Augen, und<br />

er kümmert sich nur um seine Patienten.«<br />

In Fannis Kopf drehte sich alles. War sie so verliebt in Otto,<br />

dass sie ihre Konkurrenz gar nicht bemerkt hatte?<br />

»Ich glaube, er wird sich für Gisela entscheiden, weil sie bei<br />

jeder Gelegenheit erwähnt, dass sie keine Kinder will. Da kann<br />

er sich sicher sein, dass er sich nicht alle naselang eine neue Praxishilfe<br />

suchen muss.«<br />

Zum Schein säbelte Fanni an ihrer Wurst he rum. »Und das<br />

steht alles schon fest?«<br />

»Fest steht es erst, wenn er seine Kündigung eingereicht hat«,<br />

erwiderte Beate. »Aber genug <strong>von</strong> Doktor Casparius … was<br />

habt ihr so für Zukunftspläne?«<br />

»Also, ich will unbedingt das Mutterkreuz ergattern«, antwortete<br />

Ursula kauend. »Deshalb muss ich mir irgendwann einen<br />

Mann suchen, der mich heiratet und mindestens viermal<br />

schwängert.«<br />

Fanni schaute sie mit großen Augen an. War das ihr Ernst?<br />

Auch Beate schien sich zu wundern. »Wa rum hast du dann<br />

die Ausbildung gemacht? Mit vier Blagen kannst du jedenfalls<br />

nicht mehr arbeiten.«<br />

»Mit den Erfahrungen als Säuglingsschwester kann ich mich<br />

später gut um meine eigene Brut kümmern.« Ursula blickte<br />

überrascht in die Runde. »Wollt ihr denn keine Kinder?«<br />

Beate senkte die Stimme. »Nicht so, wie es der Führer verlangt«,<br />

erklärte sie und sah sich vorsichtig um. Mit gedämpfter<br />

Stimme fügte sie hinzu: »Ein Kind an der Hand, eins auf dem<br />

Arm, eins im Kinderwagen und eins unter dem Herzen. Entschuldigung,<br />

aber das ist mir zu viel. Ich bin doch keine Brutmaschine!«<br />

Ursula hob eine Augenbraue. »Lass das nicht meinen Vater<br />

hören. Der hält dir umgehend einen Vortrag, dass es die oberste<br />

Pflicht der deutschen Frau ist, die arische Rasse zu erhalten. Der<br />

Führer zählt auf uns.« Sie schaufelte sich eine weitere Fuhre<br />

Grünkohl in den Mund. »Und du, Fanni?«<br />

34


»Ach … da rüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht«,<br />

antwortete sie wahrheitsgemäß. Obwohl ihr beim Gedanken<br />

an Ottos Pläne das Herz schwer wurde, klang ihre<br />

Stimme aufgekratzter als sonst. Lag das an dem Schock, dass sich<br />

ihre Freundin Ursula als stramme Nazibraut entpuppt hatte?<br />

<strong>Zwei</strong> schlaflose Nächte und einen grauenhaften Sonntag später<br />

eilte Fanni erneut zum Dienst. Sie hatte unentwegt über Otto<br />

nachgegrübelt, der es noch nicht einmal für nötig erachtete, sie in<br />

seine Pläne einzuweihen. Gleichzeitig machte sie sich Vorwürfe,<br />

dass ihr privates Glück überhaupt einen so großen Raum in ihren<br />

Gedanken einnahm. Gab es nichts Wichtigeres? Der kleine Thomas<br />

würde wegen seiner Kinderlähmung ein steifes Bein behalten.<br />

Letzte Woche war ein anderer kleiner Junge an einer Blutvergiftung<br />

gestorben. Das waren doch wirkliche Katastrophen!<br />

Ihr gebrochenes Herz würde dagegen wieder heilen. Und war es<br />

nicht besser, wenn Otto endgültig aus ihrem Alltag verschwand?<br />

Sagte der Volksmund nicht: Aus den Augen, aus dem Sinn?<br />

Mit neugefundener innerer Stärke streifte sie die Schwesterntracht<br />

über und machte sich auf zur morgendlichen Besprechung.<br />

Doch sie war noch keine zwei Meter durch den Flur<br />

gegangen, als die Oberschwester ihr zurief: »Schwester Fanni!<br />

Bitte sofort in den Operationssaal. Doktor Casparius braucht<br />

Unterstützung bei einem Luftröhrenschnitt.«<br />

Mit klopfendem Herzen rannte sie los. Bestimmt handelte<br />

es sich um einen akuten Diphtheriefall. Während sie in den<br />

Korridor abbog, der zum OP führte, rief sie sich alle Einzelheiten<br />

über die hochansteckende Infektion mit dem Diphtheriebazillus<br />

ins Gedächtnis. Man nannte diese Krankheit auch »Würgeengel<br />

der Kinder«, weil ihr Hals dabei so stark anschwellen<br />

konnte, dass sie zu ersticken drohten. In diesem Stadium waren<br />

die Symptome – grauweißer Belag auf den Mandeln und süßlicher<br />

Mundgeruch – so ausgeprägt, dass man auch ohne weitere<br />

Untersuchungen eine Diagnose stellen konnte.<br />

Als sie den Vorraum betrat, der nur durch eine Glasscheibe<br />

35


vom OP getrennt war, sah sie, wie Otto, Schwester Beate und<br />

Schwester Gisela bereits den Hals des Kindes desinfizierten, lokal<br />

betäubten und den Oberkörper mit sterilen Tüchern abdeckten.<br />

Deswegen brauchte Otto also weitere Unterstützung …<br />

normalerweise wurde der Luftröhrenschnitt in Vollnarkose<br />

durchgeführt, aber dafür reichte die Zeit wohl nicht mehr. Unter<br />

diesen erschwerten Bedingungen musste eine Schwester die<br />

Instrumente für die Operation anreichen, während zwei weitere<br />

den Kopf und die Beine des Kindes fixierten, damit das Skalpell<br />

nicht versehentlich abrutschte.<br />

Als sie sich die Hände desinfiziert hatte und gerade einen<br />

sterilen Kittel und einen Haarschutz überzog, sah Otto plötzlich<br />

auf. »Los, Schwester Fanni! Bitte kommen Sie, oder wir verlieren<br />

die Kleine!«<br />

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Gemäß den Krankenhausvorschriften<br />

hätte sie eigentlich noch eine sterile Maske vor<br />

Mund und Nase tragen müssen … aber wenn sie sowieso nur die<br />

Beine des Kindes festhielt, ging es wahrscheinlich auch ohne. So<br />

schnell sie konnte, eilte sie durch die Tür in den OP.<br />

Doch sie hatte sich geirrt. Schwester Gisela stand am Instrumententisch,<br />

und ihre Freundin Beate hielt die Beine des Mädchens.<br />

Da Otto bereits das Skalpell gezückt hatte, eilte Fanni<br />

zum Kopf des Kindes und nahm sich fest vor, keinesfalls in die<br />

Wunde zu atmen.<br />

Kaum hatte sie mit beiden Händen den Schädel des schwach<br />

röchelnden Kindes fixiert, als Otto das Skalpell ansetzte und<br />

die Luftröhre mit einem waagerechten Schnitt im oberen Drittel<br />

des grotesk angeschwollenen Halses öffnete. Er wollte gerade<br />

die <strong>von</strong> Schwester Gisela angereichte Metallkanüle in die<br />

Öffnung schieben, als das Mädchen nach einem spitzen Befreiungsschrei<br />

– zum ersten Mal strömte wieder ausreichend Luft<br />

in ihre kleine Lunge – einen Schwall bakteriell verseuchten Sekrets<br />

mitten in Fannis Gesicht hustete.<br />

Fanni erstarrte, hielt den Kopf der Kleinen jedoch weiterhin<br />

eisern fest.<br />

36


Auch Otto, der kurz aufsah, blieb die Ruhe in Person. »Nicht<br />

schlucken und möglichst flach atmen«, sagte er knapp, bevor er<br />

sich wieder seiner Patientin widmete.<br />

Erst als die eingeführte Kanüle, die die weitere Luftversorgung<br />

des Kindes gewährleisten würde, mit Nähten gesichert war, sagte<br />

er zu Schwester Gisela: »Bitte veranlassen Sie alles Weitere.«<br />

Dann packte er Fanni am Arm und zog sie in den Vorraum.<br />

Dort zog er seine Chirurgenhandschuhe aus, füllte medizinischen<br />

Alkohol in ein Glas und reichte es ihr. »Bitte gurgel damit<br />

… aber schluck es ja nicht runter.«<br />

Sie befolgte seine Anweisungen, und auf einmal kam ihr<br />

in den Sinn, welche Folgen dieser Zwischenfall für sie haben<br />

würde: Während der Inkubationszeit konnte sie unmöglich Patienten<br />

betreuen oder bei ihrer Großmutter wohnen … wenn sie<br />

irgendjemanden mit Diphtherie ansteckte, würde sie sich das<br />

nie verzeihen.<br />

»Wa rum zum Teufel hattest du keine Maske an?«, fragte<br />

Otto, als sie den Alkohol nach minutenlangem Gurgeln ins<br />

Waschbecken spuckte.<br />

Sie senkte den Blick. »Es ging um Leben und Tod, und da<br />

dachte ich, wenn ich sowieso nur die Füße des Kindes …«, stammelte<br />

sie leise.<br />

Otto atmete scharf aus. Fanni rechnete mit einer Gardinenpredigt,<br />

doch dann sagte er: »Die Ruhe, mit der du auf die<br />

mögliche Verseuchung reagiert hast, hat mich sehr beeindruckt.<br />

Leider musst du jetzt für sechs Tage ein Zimmer auf der Isolierstation<br />

beziehen. Aber danach würde ich gern etwas Wichtiges<br />

mit dir besprechen, ja?«<br />

»Gern.« Sie fühlte, wie sich ihre Wangen wegen des unerwarteten<br />

Lobes röteten. Und wo rüber wollte er mit ihr sprechen?<br />

Sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen.<br />

»Am besten veranlasse ich, dass dir deine Großmutter einen<br />

Koffer packt und vorbeibringen lässt, einverstanden?«<br />

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, sonst macht sie sich<br />

am Ende noch Sorgen. Es wäre besser, wenn du Leni anrufst.<br />

37


Sie kann meiner Großmutter die Situation schonend beibringen.«<br />

Ottos Mundwinkel zuckten. »Du meinst, bei mir bekommt<br />

sie gleich einen Herzinfarkt?«<br />

Ihre Wangen brannten wie Feuer. »Nein, aber …«<br />

Er lächelte. »Schon gut. Ich verstehe. Bitte zieh dir jetzt einen<br />

Mundschutz an und begib dich umgehend auf die Isolierstation.<br />

Ich kümmere mich um alles Weitere.«<br />

Die nächsten sechs Tage zogen sich endlos hin. Während sie darauf<br />

wartete, dass sich Halsschmerzen und Schluckbeschwerden<br />

als erste Symptome einer Diphtherieinfektion einstellten,<br />

fuhren ihre Gedanken Karussell. Was wollte Otto nur mit<br />

ihr besprechen? Die Möglichkeiten reichten <strong>von</strong> der lapidaren<br />

Information über seine baldige Kündigung bis zu einem Heiratsantrag.<br />

Letzteres war natürlich eine Illusion, sonst hätte<br />

Otto sie in der Zeit auf der Isolierstation sicher besucht. Lediglich<br />

ihre Großmutter und Leni kamen vorbei, um nach ihr zu<br />

sehen und sich durch das Glasfenster in der Tür per Handzeichen<br />

mit ihr zu verständigen.<br />

Erst am sechsten Tag erschien Otto und erklärte sie nach<br />

dem Fiebermessen für kerngesund. »Hast du gleich jetzt Zeit<br />

für ein kurzes Gespräch?«, fragte er im Anschluss.<br />

»Natürlich«, gab sie einsilbig zur Antwort und ärgerte sich sogleich<br />

über sich selbst. Sie musste endlich aufhören, sich in seiner<br />

Gegenwart in ein schüchternes Mauerblümchen zu verwandeln.<br />

Er lehnte sich gegen die Wand und musterte sie aufmerksam.<br />

»Ich weiß nicht, ob es sich schon bis zu dir he rumgesprochen<br />

hat, aber es ist wohl ein offenes Geheimnis, dass ich das Kinderhospital<br />

nächsten Monat verlasse, um eine eigene Praxis aufzumachen.<br />

Inzwischen habe ich geeignete Räume in <strong>Blankenese</strong><br />

gefunden und wollte dich in diesem Zusammenhang fragen, ob<br />

du dir vorstellen könntest, für mich zu arbeiten?«<br />

»Aber … was ist mit Schwester Gisela?«, platzte sie he raus.<br />

Otto hob fragend eine Augenbraue. »Was sollte mit ihr sein?«<br />

38


»Es geht das Gerücht um, dass du sie zur Sprechstundenhilfe<br />

auserkoren hast.« Himmel, sie klang wie ein eifersüchtiges Kind!<br />

»Nun, das stimmt nicht.« Er runzelte die Stirn. »Aber wie es<br />

scheint, willst du mir einen Korb geben?«<br />

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich möchte erst da rüber<br />

nachdenken. Kann ich dir meine Entscheidung morgen mitteilen?«<br />

»Natürlich.« Er drückte sich mit einem Fuß <strong>von</strong> der Wand<br />

ab. »Ich muss wieder an die Arbeit. Dann bis morgen.«<br />

»Das ist doch eine Schnapsidee«, meinte ihre Großmutter, als<br />

sie ihr <strong>von</strong> Ottos Angebot berichtete. »Wie kannst du für jemanden<br />

arbeiten, in den du heimlich verliebt bist? Da schneidest<br />

du dir doch ins eigene Fleisch.«<br />

Fanni biss sich auf die Lippe. »Aber es geht doch auch darum,<br />

was ich in der täglichen Zusammenarbeit mit ihm lernen<br />

kann … er ist so ein wunderbarer Arzt. Wenn du wüsstest, mit<br />

wie viel Mitgefühl, Hingabe und Fachwissen er seine kleinen<br />

Patienten behandelt.«<br />

Ihre Großmutter lächelte bitter. »Es ist ein typischer Fall <strong>von</strong><br />

›Rate mir gut, aber rate mir nicht ab‹, stimmt’s? Nur sag später<br />

nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte. Dieser Mann zeigt keinerlei<br />

romantisches Interesse an dir – und du willst ihn am liebsten<br />

morgen heiraten. So etwas kann nicht gut gehen.«<br />

Nach einer durchgrübelten Nacht musste Fanni ihr recht geben.<br />

Obwohl es ihr das Herz brach, durfte sie nicht auf das Angebot<br />

eingehen. Sie würde zu sehr unter dem engen, aber unpersönlichen<br />

Arbeitsverhältnis leiden.<br />

Doch als sie nach einem hastigen Frühstück die Klöntür des<br />

Tweehus aufdrückte, blieb ihr fast das Herz stehen: Vor dem<br />

Gartentor stand Otto.<br />

»Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, du bist mir<br />

nicht böse. Aber ich dachte, bevor du dich entscheidest, solltest<br />

du noch die Praxisräume begutachten. Was meinst du? Anschließend<br />

fahre ich dich rechtzeitig ins Kinderhospital.«<br />

39


Mit einem beklommenen Gefühl nickte sie. Das würde die<br />

Absage nicht leichter machen.<br />

In der Karstenstraße parkte er seinen Wagen vor einer zweigeschossigen,<br />

recht schnörkellosen Backsteinvilla, die <strong>von</strong> einem<br />

Garten umgeben war. »Hier ist es.«<br />

Gemeinsam stiegen sie aus und gingen zum Eingang. Fannis<br />

Herz klopfte, als Otto den Schlüssel zückte und sie als Erste<br />

eintreten ließ.<br />

»Natürlich müssen noch einige Umbauten vorgenommen<br />

werden«, erklärte er, als sie im Korridor standen. »Aber ich<br />

dachte, dass wir ungefähr hier den Empfangstresen aufstellen,<br />

dort das Wartezimmer einrichten und …« Er ging ein paar<br />

Schritte weiter und zeigte auf die angrenzenden Räume. »Hier<br />

wäre dann das Sprech- und dort das Behandlungszimmer. Was<br />

meinst du?«<br />

Sie schluckte und betrachtete die hohen Decken und weiß<br />

gestrichenen Wände. Wenn Otto erst einmal alles hergerichtet<br />

hätte, wäre es ein Traum, in diesem kleinen Paradies zu schalten<br />

und zu walten. Ohne Oberschwester Karin und in seiner ständigen<br />

Gegenwart. Um nicht nur wie ein stummer Fisch alles anzuglotzen,<br />

sagte sie: »Und wer wohnt in der ersten Etage?« Sie<br />

deutete auf die Treppe hinter dem Behandlungszimmer.<br />

»Na … ich«, antwortete Otto.<br />

»Du hast das ganze Haus gekauft?«<br />

»Natürlich. Von meiner Stadtwohnung wäre es zu weit bis<br />

hierher, und in Johns Villa mag ich auch nicht mehr einziehen.<br />

Leni hat schon genug um die Ohren.« Er sah ihr ins Gesicht.<br />

»Also … was meinst du? Wirst du für mich arbeiten?«<br />

Sie öffnete den Mund, um die höfliche Ablehnung auszusprechen,<br />

die sie sich gestern Nacht zurechtgelegt hatte. Doch<br />

dann hörte sie sich sagen: »Mit dem allergrößten Vergnügen.«<br />

***<br />

40


Es war früh und das Haus noch still. Sonja lag wach in ihrem<br />

Bett und wackelte bekümmert mit den Zehen. Sie hatte keine<br />

Lust aufzustehen. Als ihr Vater und ihr Bruder noch bei ihnen<br />

gelebt hatten, war der Sonntag immer heilig gewesen. Nach einem<br />

ausgiebigen Frühstück hatten sie Ausflüge unternommen,<br />

waren auf der Elbe segeln gegangen oder hatten Freunde und<br />

Verwandte besucht. Doch jetzt war der Sonntag der Tag, an dem<br />

man noch nicht einmal in die Schule gehen konnte, um den<br />

endlosen Stunden bis zum Abend zu entkommen. Stattdessen<br />

musste sie die Zeit in gemeinschaftlicher Trauer mit ihrer Mutter<br />

und Tante Felicitas verbringen.<br />

Seit dem Besuch der Herren Mansfeld und Koenig war alles<br />

nur noch schlimmer geworden. Die beiden Männer hatten ihrer<br />

Mutter ein Ultimatum gestellt: Entweder sie überschrieb Koenig<br />

freiwillig und unentgeltlich die Aktienmehrheit an der Reederei,<br />

oder sie würden den Gauleiter, einen guten Freund <strong>von</strong><br />

Herrn Mansfeld, zur endgültigen Enteignung der jüdisch versippten<br />

Familie Casparius drängen. Ihre Mutter war Mansfeld<br />

und Koenig kühl und gefasst entgegengetreten und hatte gesagt,<br />

dass sie sich zunächst mit ihrem Anwalt beraten wolle, weil die<br />

Anteile schließlich Großonkel Veit und nicht ihr gehörten, doch<br />

nach dem Besuch hatte sie nur ratlos gemurmelt: »Was soll ich<br />

denn jetzt tun?«<br />

»Kannst du dich nicht mit Papa beraten?«, schlug Sonja vor.<br />

Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu. »Du weißt genauso<br />

gut wie ich, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie<br />

ich ihn erreichen kann.«<br />

»Aber was machen wir, wenn Großonkel Veit – genau wie<br />

Onkel Elias – nicht wiederkommt?«<br />

»Dann müssten wir ihn wahrscheinlich für tot erklären lassen«,<br />

flüsterte ihre Mutter, damit Tante Felicitas sie nicht hören<br />

konnte, die im Zimmer nebenan saß und gegen jede Wahrscheinlichkeit<br />

immer noch hoffte, dass ihr Mann eines Tages<br />

zurückkehren würde.<br />

»Und wer erbt dann die Aktien der Reederei?«<br />

41


Über das Gesicht ihrer Mutter zog ein Schatten. »Vermutlich<br />

sein nächster Blutsverwandter … Papa.«<br />

Sonja schluckte. »Und wenn Papa nicht wiederkommt?«<br />

Ihre Mutter fasste sie an den Schultern, damit sie ihr direkt<br />

ins Gesicht sah. »Da ran, mein Fräulein … da ran darfst du nicht<br />

einmal denken. Hörst du? Papa kommt wieder! Und Max auch!<br />

Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«<br />

Tief in ihrem Inneren schalt Sonja ihre Mutter töricht. So<br />

wie die Dinge standen, konnte alles Mögliche geschehen, und<br />

war es unter diesen Umständen nicht besser, auch über einen<br />

tragischen Ausgang nachzudenken? Aber sie wollte ihrer Mutter<br />

nicht wehtun und nickte deshalb bloß.<br />

Kurzfristig schien sich die Vogel-Strauß-Politik ihrer Mutter<br />

sogar auszuzahlen. Obwohl ihr Anwalt bestätigt hatte, dass der<br />

Gauleiter die Reederei per Anordnung enteignen könnte, weshalb<br />

er ihr empfahl, auf die Forderung einzugehen, weigerte sie<br />

sich, die beiden Herren zu kontaktieren. Und zumindest bis<br />

heute hatten sie sie ebenfalls in Ruhe gelassen. Trotzdem zerrte<br />

die Ungewissheit an ihrer aller Nerven. »Selbst wenn sie jetzt<br />

nur die Aktienmehrheit fordern … wer sollte sie da ran hindern,<br />

uns das Unternehmen eines Tages doch noch ganz wegzunehmen?«,<br />

fragte ihre Mutter. »Wenn die Einnahmen aus der Reederei<br />

wegfallen, könnte es mir unter Umständen sogar schwerfallen,<br />

die Villa zu halten. Die Kosten für den Unterhalt und das<br />

Personal sind enorm.«<br />

Inzwischen verbrachte ihre Mutter oft ganze Tage in der<br />

Reederei, um dem Prokuristen über die Schulter zu schauen.<br />

Ende Februar hatte Tante Felicitas die Nachricht erhalten, dass<br />

sie all ihren Schmuck und andere Gegenstände aus Gold, Platin<br />

und Silber abgeben musste. Offiziell gegen eine Entschädigung,<br />

aber die war so mager ausgefallen, dass es einem Diebstahl durch<br />

die deutschen Behörden gleichkam. Trotzdem hatte sie – bis<br />

auf ihren Ehering, den sie heimlich im Garten der Villa vergra-<br />

42


en hatte – alles abgeliefert und war nicht auf den Vorschlag ihrer<br />

Mutter eingegangen, die den ganzen Schmuck als ihren hatte<br />

ausgeben wollen. »Die Nazis führen leider Buch, Leni«, hatte sie<br />

gesagt. »Wenn ich nichts oder nicht genügend abgebe, kommen<br />

sie hierher und suchen danach. Schließlich wissen Sie, dass ich<br />

die Wit…« Ihre Lippen zuckten nervös, als sie sich korrigierte.<br />

»… die Ehefrau eines vormals reichen Tabakfabrikanten bin.«<br />

»Und der Ehering?«<br />

Tante Felicitas presste die Hand vor den Mund. »Der kann<br />

verloren gegangen sein.«<br />

Kurz da rauf war der Erlass des Reichsverkehrsministers bekannt<br />

geworden, der Juden die Benutzung <strong>von</strong> Schlaf- und Speisewagen<br />

auf deutschen Eisenbahnstrecken verbot. »Sie schränken<br />

unsere Rechte immer mehr ein … bis wir irgendwann auf<br />

derselben Stufe wie Tiere stehen und man alles mit uns machen<br />

kann«, stellte Felicitas traurig fest.<br />

Seitdem beteiligte sich ihre Tante kaum noch an der ohnehin<br />

gedämpften Unterhaltung. Sie wurde immer stiller. Meist<br />

saß sie mit ihrem einzig verbliebenen Sohn auf dem Schoß im<br />

Wohnzimmer und wartete auf hoffnungsvolle Neuigkeiten.<br />

Michael war ein lieber kleiner Kerl, und Sonja versuchte,<br />

jeden Tag nach der Schule mit ihm zu spielen, um ein wenig<br />

Freude in sein Leben zu bringen. Am liebsten ritt der fast <strong>Zwei</strong>jährige<br />

auf ihren Knien und ließ sich Hoppe, hoppe Reiter vorsingen.<br />

Manchmal malten sie aber auch Bilder oder schlichen sich<br />

heimlich in die Küche, um ein paar Leckerbissen zu stibitzen.<br />

Beim Verzehr der Köstlichkeiten legte der blonde Michael eine<br />

Strategie an den Tag, die Sonja zum Lachen brachte: Egal, ob es<br />

sich um eine Scheibe Brot, ein Stück Kuchen oder Kekse handelte<br />

… stets knibbelte er erst fein säuberlich den Rand ab, bevor<br />

er mit wenigen gierigen Happen den Rest verzehrte.<br />

Nachdem Sonja den endlosen Sonntag hauptsächlich mit dem<br />

kleinen Michael und ihren Schulbüchern verbracht hatte, war es<br />

irgendwann doch noch Abend geworden. Sie saßen beim Essen,<br />

43


das ihnen <strong>von</strong> der inzwischen dienstältesten Hausangestellten<br />

Frieda serviert wurde, als ihre Mutter fragte: »Bedrückt dich etwas,<br />

Frieda? Du siehst so traurig aus.«<br />

Ihre lieb gemeinten Worte trieben der Bediensteten, die gerade<br />

mit der Kartoffelschüssel reihum ging, Tränen in die Augen.<br />

»Ich … Frau Casparius … es tut mir so leid …«, stieß sie<br />

schluchzend hervor.<br />

»Um Gottes willen, Frieda!«, rief Tante Felicitas ängstlich.<br />

»Haben Sie etwas über meinen Mann erfahren? So sprechen Sie<br />

doch!«<br />

Frieda schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus<br />

dem Gesicht. »Nein, es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt<br />

habe. Eigentlich ist es eine frohe Nachricht.«<br />

»Ja, und?«, hakte ihre Mutter nach.<br />

»Samuel ist zurück in seiner alten Heimat und hat dort Arbeit<br />

gefunden. Er schreibt, dass ich zu ihm kommen soll, damit<br />

wir heiraten können.«<br />

Sonja konnte sich noch gut an den früheren Mitarbeiter ihres<br />

Vaters aus Afrika erinnern, der eine Zeitlang bei ihnen im<br />

Haus untergekommen war und sich dabei offenbar in Frieda<br />

verliebt hatte. Nun wollten die zwei heiraten. Wie romantisch!<br />

»Aber das ist doch wunderbar«, erklärte ihre Mutter. »Was<br />

gibt es da zu weinen? Oder willst du nicht aus Deutschland<br />

fort?«<br />

Frieda stiegen erneut Tränen in die Augen. »Aber wie kann<br />

ich Sie und Ihre Familie in diesen schweren Zeiten allein lassen?«<br />

Ihre Mutter lächelte. »Es ehrt dich, dass du deswegen hierbleiben<br />

willst. Aber an uns darfst du jetzt nicht denken. Selbstverständlich<br />

fährst du zu Samuel und heiratest ihn. Ich freue<br />

mich sehr für dich und wünsche euch alles Glück der Erde. Das<br />

tun wir alle, nicht wahr, Sonja?«<br />

Sonja nickte. »Du wirst mir fehlen, Frieda. Richte Samuel<br />

schöne Grüße <strong>von</strong> mir aus.«<br />

44


»Das mache ich.« Frieda schniefte und stellte die Schüssel,<br />

die ihren Tränenausbruch unbeschadet überstanden hatte, auf<br />

der Anrichte ab.<br />

Am nächsten Morgen konnte Sonja kaum erwarten, dass der<br />

Schulunterricht anfing. Endlich ging es um etwas anderes als<br />

um Angst, Trauer und den drohenden Verlust der Reederei. Und<br />

wenn auch in der ersten Stunde nur das Konjugieren <strong>von</strong> langweiligen<br />

lateinischen Verben anstand, alles war besser, als in das<br />

verzweifelte Gesicht ihrer Tante blicken zu müssen. Mit einem<br />

Gefühl der Erleichterung ließ sie sich neben ihrer Banknachbarin<br />

Irmgard nieder, die ihr sofort <strong>von</strong> ihrem neuesten Brief<br />

an den Führer berichtete. »Mein Vater hat einen Kollegen, der<br />

sogar schon mal mit dem Führer gesprochen hat, und er will<br />

meinen Brief samt dem Gedicht, das ich für Hitler geschrieben<br />

habe, in der Reichskanzlei abgeben. Na, was sagst du jetzt? Ist<br />

das nicht wunderbar?«<br />

»Hmm.« Sonja versuchte, eine interessierte Miene zu ziehen.<br />

Irgendwie saß sie zwischen allen Stühlen. Sie fühlte sich nicht<br />

mehr wohl zu Hause, aber hier – neben einer glühenden Hitler-<br />

Verehrerin – war sie als Vierteljüdin auch fehl am Platz.<br />

Später, in der Deutschstunde, sprach der Lehrer über die<br />

neuesten bahnbrechenden Leistungen des deutschen Volkes.<br />

Seit viele moderne und bekannte Autoren nicht mehr gelesen<br />

werden durften, standen oft germanische Heldensagen auf dem<br />

Lehrplan. Doch Sonja fand Dr. Schusters heutige Ausführungen<br />

über die »nationalsozialistischen Musterbetriebe« und was<br />

dieser Ehrentitel für die Gewerbebetreibenden bedeutete, viel<br />

spannender als das Nibelungenlied.<br />

»Die Deutsche Arbeitsfront hat diese Auszeichnung ins Leben<br />

gerufen, und sie wird einmal im Jahr am ersten Mai <strong>von</strong> unserem<br />

Führer höchstpersönlich verliehen.«<br />

Neben ihr seufzte Irmgard verzückt, und zwar so laut, dass<br />

sie sich beide einen Blick des Lehrers einfingen.<br />

»Die prämierten Betriebe führen für ein Jahr die ›goldene<br />

45


Fahne‹ der Deutschen Arbeitsfront und sind in dieser Zeit ein<br />

leuchtendes Vorbild für alle anderen Unternehmen.«<br />

Waltraut, die Klassenbeste, meldete sich. »Und nach welchen<br />

Gesichtspunkten wird die Auszeichnung verliehen?«<br />

»Gut, dass du fragst«, erwiderte Dr. Schuster lächelnd. »Zur<br />

Beurteilung werden Kriterien wie die Schönheit der Arbeitsstätte,<br />

die Berufserziehung – also, wie gut die Angestellten vor<br />

Ort ausgebildet werden –, die Arbeitsvergütung, die möglichst<br />

gerecht sein sollte, die soziale und gesundheitliche Fürsorge im<br />

Betrieb und natürlich die Förderung <strong>von</strong> ›Kraft durch Freude‹<br />

he rangezogen.«<br />

Über das »Kraft durch Freude«-Konzept hatte Dr. Schuster<br />

schon häufiger gesprochen. Es ging dabei da rum, durch Sport<br />

und andere Freizeitvergnügen jeden einzelnen Arbeiter, die<br />

Volksgesundheit insgesamt und damit letztlich die Volkswirtschaft<br />

zu stärken. Doch während der Deutschlehrer weitere Fragen<br />

ihrer Mitschülerinnen beantwortete, schweiften Sonjas Gedanken<br />

ab. Sollte die hochmoderne Casparius-Reederei nicht in<br />

all den aufgezählten Punkten sehr gut abschneiden? Und würde<br />

ihnen diese Auszeichnung, sofern sie sie erringen konnten, nicht<br />

etwas Aufschub bei der Frage der weiteren Arisierung bringen?<br />

Ein Unternehmen, das unter der besonderen Beobachtung der<br />

Deutschen Arbeitsfront stand, konnte doch nicht einfach <strong>von</strong><br />

Herrn Mansfeld und seinem Freund hinterrücks gestohlen werden.<br />

Oder doch? Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter über<br />

diesen möglichen Ausweg sprechen.<br />

Nach der letzten Schulstunde – Mathematik bei Herrn Brockmann<br />

– konnte sie nicht schnell genug nach Hause kommen.<br />

Kaum hatte sie sich <strong>von</strong> ihren Schulkameradinnen verabschiedet,<br />

eilte sie los. Sie hatte bereits ein gutes Stück Richtung Elbchaussee<br />

zurückgelegt, als sie mitten auf dem Mühlenberger<br />

Weg wie angewurzelt stehen blieb. Dieser Mann dort … sah der<br />

nicht genauso aus wie ihr Großonkel Veit? Er trug den gleichen<br />

langen, blauen Mantel, hatte den gleichen schweren Körper-<br />

46


au, den gleichen grauen Haarkranz. Aber … das konnte doch<br />

nicht sein. Großonkel Veit saß immer noch im Gefängnis. Niemand<br />

hatte ihr gesagt, dass er heute entlassen wurde. Sie musste<br />

sich irren. War der Mann nicht auch eine Spur schlanker als ihr<br />

Großonkel? Die Haare länger?<br />

In diesem Moment drehte sich die beleibte Gestalt zu ihr<br />

um, und sie erkannte, dass es sich tatsächlich um ihren geliebten<br />

Großonkel handelte. Er war frei! Was für wundervolle Neuigkeiten.<br />

Mit klopfendem Herzen rannte sie auf ihn zu. »Großonkel!<br />

Großonkel!«<br />

Als sie kurz vor ihm stehen blieb, um ihn lachend zu umarmen,<br />

bemerkte sie das fast erschreckte Befremden in seinen<br />

Augen. Abrupt hielt sie inne und ließ die bereits ausgestreckten<br />

Arme wieder sinken. Erkannte er sie nicht? Hatte sie sich in diesen<br />

wenigen Monaten so sehr verändert, dass er …<br />

Mit merkwürdig rauer Stimme sagte er: »Entschuldigen Sie,<br />

junges Fräulein, aber könnten Sie mir bitte den Weg zur Villa<br />

Casparius zeigen? Ich glaube, ich habe mich verlaufen …«<br />

Sonja erstarrte. Sie waren keine dreihundert Meter <strong>von</strong> dem<br />

Haus entfernt, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, und<br />

er wusste den Weg nicht mehr? Plötzlich verspürte sie ein merkwürdig<br />

hohles Gefühl in der Magengrube. Was hatten diese<br />

schrecklichen Menschen ihm angetan?<br />

***<br />

Erleichtert schob Kurt den Brief seines Cousins zurück in das<br />

Kuvert. Max schien es bei seinem neuen Pflegevater, der sich als<br />

waschechter Lord entpuppt hatte, nicht schlecht angetroffen zu<br />

haben. Auch wenn Lord Lafferty den Hauptsitz seiner Ahnen,<br />

irgendwo in Yorkshire gelegen, vor einigen Jahren aus finanziellen<br />

Gründen hatte verkaufen müssen, war Lafferty House im<br />

Londoner Stadtteil Mayfair eine echte Verbesserung zu Dovercourt.<br />

Max bekam sogar Taschengeld und endlich ausreichend<br />

47


zu essen. Kurt freute sich für ihn, wobei er selbst seine Freiheit<br />

nicht gegen eine gute Mahlzeit und ein warmes Bett hätte eintauschen<br />

wollen.<br />

Er sah sich im karg eingerichteten Aufenthaltszimmer des<br />

kleinen Cottage um. Er hatte seinen Platz im Haupthaus gegen<br />

den seines Cousins getauscht. Die anderen Jungen, die hier<br />

wohnten, waren zwar alle etwas älter als er, aber weil er schon so<br />

groß war, fiel es nicht weiter auf. Gerade kam Leonhard zur Tür<br />

he rein, einer der Wiener Jungen. Er sah aufgebracht aus.<br />

»Was ist passiert?«, fragte Kurt.<br />

»Hast du’s noch nicht gehört? Wir müssen umziehen. Dovercourt<br />

soll nach Ostern geschlossen werden.«<br />

»Wie bitte? Aber das ist ja schon in drei Wochen. Wo sollen<br />

wir denn hin?«<br />

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich in den Zoo.« Wütend<br />

nahm Leonhard eine Zeitschrift vom Tisch und pfefferte sie auf<br />

den Boden.<br />

Kurt hütete sich, ihm weitere Fragen zu stellen. Anscheinend<br />

wusste Leonhard sowieso nichts Genaueres, und er wollte nicht<br />

riskieren, dass sich dessen schlechte Laune zu einem Anfall steigerte.<br />

In solchen Momenten ging man ihm tunlichst aus dem<br />

Weg, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen. Und es war ja<br />

nicht so, dass Kurt ihn nicht verstand. Die ständige Angst um<br />

die in Deutschland oder Österreich zurückgelassene Familie<br />

war schon schrecklich. Ein Umzug, bei dem sich auch die Postadresse<br />

änderte, machte alles noch schlimmer. Aber es nützte<br />

auch nichts, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Er würde<br />

sich ins Haupthaus schleichen und versuchen, <strong>von</strong> einem der<br />

Betreuer mehr über diesen erneuten Umzug zu erfahren.<br />

Aus alter Gewohnheit ging er in die Küche, wo er hoffte, auf<br />

Sophie zu treffen, die er am besten kannte. Stattdessen wurde<br />

er Zeuge eines Streitgesprächs zwischen Rachel, einer jungen<br />

Betreuerin aus München, und dem rothaarigen Koch Sebastian,<br />

der aus der Nähe <strong>von</strong> Dovercourt stammte. Als Kurt den schar-<br />

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fen Ton der Unterhaltung bemerkte, blieb er an der Tür stehen.<br />

Die beiden schienen ihn nicht zu bemerken.<br />

»Wie kannst du das nur sagen?«, rief Sebastian gerade ärgerlich.<br />

»Ich will jedenfalls nicht eingezogen werden.«<br />

»Ich will auch nicht, dass du eingezogen wirst«, erklärte Rachel<br />

mit Nachdruck. »Trotzdem halte ich die Einführung der<br />

allgemeinen Wehrpflicht in England für richtig … jetzt, wo dieser<br />

widerliche Hitler entgegen seinen Versprechungen doch in<br />

Prag einmarschiert ist. Viel zu lange hat sich euer Prime Minister<br />

geweigert, Hitler Einhalt zu gebieten.«<br />

»Aber Rachel …«, entgegnete Sebastian, »… mein Vater<br />

ist 1917 im Krieg gefallen. Genau wie Hunderttausende anderer<br />

englischer Soldaten. Von den Versehrten ganz zu schweigen.<br />

Da finde ich es nur richtig, dass Chamberlain kein Kriegstreiber<br />

ist und versucht, am Frieden festzuhalten. Die Politik sollte mit<br />

Worten kämpfen, nicht mit dem Blut seiner Bürger.«<br />

Kurt nickte, doch die beiden hatten ihn offenbar immer noch<br />

nicht gesehen.<br />

Rachel schüttelte den Kopf. »Dann hast du nicht verstanden,<br />

dass Diktatoren sich nicht durch diplomatische Zugeständnisse<br />

aufhalten lassen. Es wird so oder so zum Krieg kommen … weil<br />

Hitler das will.«<br />

Kurts Nackenhaare stellten sich auf. Hitler wollte nicht nur<br />

die Juden aus Deutschland vertreiben, sondern auch noch einen<br />

neuen Krieg anzetteln?<br />

Auch Sebastians sonst eher rosiges Gesicht war plötzlich<br />

blass. »Woher weißt du das?«<br />

»Mein Vater war, bevor ihn die neuen Machthaber rausgeschmissen<br />

haben, Geschichtsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

in München. Er hat den Aufstieg Hitlers aus<br />

nächster Nähe verfolgt.«<br />

»Und wie kommt er da rauf, dass Hitler Krieg will?«, erkundigte<br />

sich Sebastian.<br />

Rachel holte tief Luft. »Der Führer hat bereits Mitte der<br />

zwanziger Jahre in seinem Buch Mein Kampf geschrieben, dass er<br />

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den Osten Europas ›germanisieren‹ will und dass er Krieg als legitimes<br />

Mittel ansieht, um seine Ziele zu erreichen. Aber offenbar<br />

hat ihn niemand ernst genommen. Und jetzt ist es zu spät.«<br />

Kurt starrte sie fassungslos an. Den Osten Europas? Aber<br />

das würde ja bedeuten, dass Hitler sich gleich mit mehreren<br />

Ländern anlegen wollte.<br />

»Papier ist geduldig«, sagte Sebastian in diesem Moment.<br />

»Vielleicht hat er seine Meinung inzwischen geändert.«<br />

»Wie denn, wenn jede seiner Handlungen ein weiterer Vorstoß<br />

in diese Richtung ist?« Rachel zählte ihre Argumente an<br />

den Fingern der linken Hand auf. »Zuerst ordnet Hitler, entgegen<br />

den Vereinbarungen des Versailler Vertrags, eine massive<br />

Aufrüstung Deutschlands und die Einführung der Wehrpflicht<br />

an, dann lässt er ein Jahr später Soldaten ins entmilitarisierte<br />

Rheinland einmarschieren, und als weder England noch Frankreich<br />

etwas dagegen unternehmen …« Rachel legte eine kurze<br />

Pause ein. »… vollzieht er den ›Anschluss‹ Österreichs.« Sie<br />

blickte Sebastian he rausfordernd an. »Verstehst du, Hitler fühlt<br />

sich dadurch, dass seine Provokationen folgenlos bleiben, ermutigt,<br />

immer dreister vorzugehen. Und so zettelt er als Nächstes<br />

die Sudetenkrise an, indem er sich über die angeblich entwürdigende<br />

Behandlung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei<br />

beklagt und dieser ›beistehen‹ will. Du weißt selbst,<br />

was dann passiert ist: Im September bekommt der Führer im<br />

Rahmen des Münchner Abkommens das Sudetenland zugesprochen,<br />

das eigentlich zur Tschechoslowakei gehört, und obwohl<br />

er sich im Gegenzug verpflichtet, den Frieden zu wahren,<br />

marschiert er keine sechs Monate später in Prag ein.« Sie stieß<br />

hörbar die Luft aus. »Man kann nicht mit einem Diktator verhandeln.<br />

Das ist die Moral aus der Geschichte. Doch jetzt hat<br />

man ihn bereits so lange gewähren lassen, dass er nicht ruhen<br />

wird, bis er sich den ganzen Osten einverleibt hat. Und das bedeutet<br />

Krieg.«<br />

Kurts Herz klopfte wild. Rachels Worte klangen leidenschaftlich,<br />

aber auch schrecklich logisch.<br />

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Sebastians Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab. »Aber<br />

Chamberlain hat doch gesagt, solange der Krieg nicht begonnen<br />

hat, besteht Hoffnung, dass er verhindert werden kann.«<br />

Rachel schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät. Die Weichen<br />

sind bereits gestellt. Du wirst sehen, wir rasen unaufhaltsam auf<br />

den nächsten Krieg zu. Niemand kann Hitler jetzt noch aufhalten.<br />

Deshalb ist die Einführung der Wehrpflicht in England<br />

absolut notwendig. Sonst weht hier demnächst nicht mehr der<br />

Union Jack, sondern die Hakenkreuzfahne.«<br />

Kurt wurde flau im Magen. Wenn all das stimmte, dann war<br />

es egal, wohin sie zogen, wenn sie Dovercourt verlassen mussten.<br />

Hitler würde sie auch in England verfolgen. Er musste unbedingt<br />

Max und Charlotte einen Brief schreiben. Wenn es tatsächlich<br />

Krieg geben sollte, wollte er nicht <strong>von</strong> seinem Cousin<br />

und seiner Schwester getrennt sein. Dann musste auch er irgendwie<br />

in London unterkommen. Er blinzelte eine Träne weg.<br />

Und auch Fanni und seiner Mutter würde er schreiben. Wer<br />

wusste schon, wie lange unter diesen Umständen der Postverkehr<br />

aufrechterhalten werden konnte.<br />

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