zeitwissen_2020_05_full
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September / Oktober <strong>2020</strong><br />
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Großzügigkeit<br />
gegen<br />
Kleinlichkeit<br />
Mit welcher Haltung kommen wir weiter?<br />
In der Gesellschaft,<br />
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EDITORIAL<br />
GEH MIR AUS DER SONNE<br />
Dieser Baum war höher als die anderen, vermutlich war er älter.<br />
Er war eine Föhre am Rande eines Föhrenwaldes, gleich bei<br />
unserer Wohnsiedlung. Föhren sind knorrige, windschiefe<br />
Nadelbäume, die immer ein bisschen so aus sehen wie alte Männer<br />
mit Hexenschuss. Aber die »große Föhre«, wie wir Kinder sie<br />
nannten, hatte einen relativ geraden Stamm und weit oben eine<br />
Gabel aus drei waagrechten Ästen – ein idealer Platz für ein Baumhaus. Die Bretter und<br />
Nägel klauten wir von Baustellen in der Nähe. Man gelangte in das Baumhaus durch<br />
eine Luke von unten. Ich bilde mir ein, dass meine Hände und Füße heute noch blind<br />
die Anordnung der Äste für den Aufstieg wüssten. Eines Tages war die große Föhre<br />
verschwunden. Ich erinnere das genau: wie ich dastand und auf den Boden blickte,<br />
wo nur noch ein kreisrunder Holzteller zu sehen war – und frische Sägespäne im Gras.<br />
So klein war dieser Teller, viel zu klein für die große Föhre. Der zersägte Stamm war<br />
aufgeschichtet zu einem kleinen Stapel, der nach Harz roch, abholbereit. Und weiter<br />
hinten lag ein Haufen zersplitterter Bretter, aus denen Nägel ragten. Es hieß, der Baum<br />
habe dem Dr. Ebner die Sonne für seine Terrasse genommen. Es hieß auch: Da kann<br />
man nichts machen. Liebe Leserin, lieber Leser, was halten Sie davon, dass ein Baum<br />
oder ein Fluss auch vor Gericht ziehen können? Im ZEIT WISSEN-Gespräch (S. 36)<br />
wird diese Idee diskutiert. Ich jedenfalls würde der großen Föhre dann posthum einen<br />
Anwalt besorgen und durch alle Instanzen gehen.<br />
AUS DER REDAKTION<br />
Clara Rauschendorfer hat im letzten Jahr in vier<br />
Großstädten gelebt. Sie hält es wie Vincent van Gogh:<br />
Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man<br />
es überall schön. Auch in der Stadt. Im ZEIT WISSEN-<br />
Gespräch unterhält sie sich mit den Naturliebhabern<br />
Dirk Steffens und Fritz Habekuß (S. 36).<br />
Wiebke Hansen, unsere Artdirektorin, wunderte sich<br />
schon als Kind über die unberechenbare Koexistenz<br />
von Großzügigkeit und Kleinlichkeit in jedem Menschen<br />
und schlug dieses Titelthema vor. Das Interview mit<br />
dem Psychologen Wolfgang Schmidbauer (S. 25)<br />
brachte sie auf die Idee der Cover-Illustration.<br />
3<br />
Andreas Lebert, Chefredakteur<br />
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4<br />
INHALT<br />
Wo gibt’s das beste Bier? S. 56 Wer darf mir nahe kommen? S. 44 Wie kann der Mensch überleben? S. 36<br />
6 AM ANFANG DREI FRAGEN<br />
1. Was können wir von Ameisen<br />
lernen? 2. Wie entscheidend<br />
ist der erste Blick? 3. Wo ist<br />
das Wetter besser – am Meer<br />
oder in den Bergen?<br />
12 DER OPTIMIST<br />
Schluss mit dem Lästern:<br />
E-Scooter sind eine Chance<br />
14 GEORDNETE VERHÄLTNISSE<br />
Die Infografik, diesmal: Fehler<br />
16 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN<br />
Anneke Schwarck und Michael<br />
Krüger über Gedichte<br />
36 »DER MISSISSIPPI SOLLTE VOR<br />
GERICHT ZIEHEN KÖNNEN«<br />
Das ZEIT WISSEN-Gespräch<br />
mit den Bestsellerautoren Fritz<br />
Habekuß und Dirk Steffens<br />
44 WER TUT MIR GUT, WER NICHT?<br />
Gar nicht so einfach, das rauszufinden.<br />
Und dann zu handeln<br />
52 DIE GROSSEN DREI<br />
Hula-Hoop, Springseil und<br />
Schaukel – diese Klassiker<br />
machen glücklich und fit<br />
56 SCHENKT EIN, TRINKT AUS!<br />
Das Bier ist einer der ältesten<br />
Freunde des Menschen. Es geht<br />
mit ihm durch dick und dünn<br />
62 ZUM MITMACHEN<br />
Ein Citizen-Science-Projekt<br />
erforscht die Bedeutung des<br />
Kinos in der DDR<br />
64 GEBRAUCHSANLEITUNG FÜR<br />
EIN GEFÜHL<br />
In dieser Folge unserer Reihe:<br />
Fomo (»fear of missing out«).<br />
Die Angst, etwas zu versäumen,<br />
greift immer mehr um sich<br />
68 WOHNUNGSBESICHTIGUNG<br />
Nie zuvor ist eine Technik so<br />
schnell in unser Zuhause eingedrungen<br />
wie die Videokonferenz,<br />
das hat Konsequenzen<br />
75 DIE ZUMUTUNG<br />
Endlich genau erklärt: Die Miete.<br />
War längst fällig<br />
80 JETZT GEHT’S UMS GELD<br />
Was ist es uns wirklich wert?<br />
Bilder aus Papua-Neuguinea<br />
und eine Bilanz aus Hamburg<br />
90 HILDEGARD VON BINGEN<br />
Die großen Denkschulen – wie<br />
sie uns heute weiterbringen<br />
94 WAS IST DENN DAS FÜR EINER?<br />
Rassismus versteckt sich oft<br />
sehr gut. Manchmal auch in<br />
einem selbst. Teil 1 der Mini-Serie<br />
98 BUCHTIPPS / APPS<br />
102 IMPRESSUM / DIE BESTE FRAGE<br />
104 EINWURF:<br />
VERLETZUNGSANFÄLLIGKEIT<br />
106 DIE WELT AUS DER SICHT<br />
DES BALKONS<br />
Fotos Getty Images; Loredana Nemes; Zack Seckler/Gallery Stock Illustration Eiko Ojala
5<br />
18<br />
GROSSZÜGIGKEIT GEGEN KLEINLICHKEIT<br />
Schon klar, wer bei diesem Wettstreit gewinnt? Täuschen Sie sich nicht:<br />
Eine von beiden hat nur die bessere Propaganda.<br />
Bericht aus einem menschlichen Spannungsfeld mit hilfreichen Erkenntnissen<br />
+ Test: Wann sind Sie großzügig? Und wann nicht? (Seite 30)<br />
Unsere Recherchequellen: Studien, Bücher, Fachartikel und Dokumente, die wir für unsere journalistische Arbeit genutzt haben, finden<br />
Sie online unter www.zeit-wissen.de/<strong>05</strong>20quellen. Zu diesen Texten: Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit, Wer tut mir gut, wer nicht?,<br />
Die großen 3, Schenkt ein, trinkt aus!, Die Zumutung
6<br />
AM ANFANG DREI FRAGEN<br />
1. Was können wir<br />
von Ameisen lernen?<br />
Die Ameise arbeitet emsig, wenn sie muss. Doch sie ist<br />
bei Weitem kein Workaholic. Weil sie seit Millionen von<br />
Jahren etwas macht, das wir gar nicht von ihr erwarten<br />
Text Clara Rauschendorfer<br />
Foto Jon Attenborough<br />
S<br />
ich trotz Fieber und Husten zur Arbeit zu<br />
schleppen ist nicht gesund für einen selbst<br />
und nicht für andere, die sich im schlimmsten<br />
Falle anstecken – das weiß spätestens seit<br />
diesem Frühjahr jeder Mensch. Ameisen<br />
haben das seit 130 Millionen Jahren verinnerlicht,<br />
da lebten noch die Dinosaurier. Seitdem isolieren<br />
sie sich, wenn sie krank sind. Und seitdem meiden<br />
Ameisen im Außendienst, die einem höheren<br />
Infektionsrisiko ausgesetzt sind, den Kontakt zu ihren<br />
Kolleginnen im Innendienst, zur Brut und zur Königin.<br />
Wer heute durch einen Wald geht, wird keinem<br />
Dinosaurier begegnen – Ameisen schon. Sie verstehen<br />
also etwas vom Überleben. Das sichern die kleinen Tiere,<br />
indem sie einem ähnlichen Credo folgen wie die Musketiere:<br />
Einer für alle, alle für die Kolonie. Und: Keine<br />
Geheimnisse, niemals. »Ameisen tauschen ihre Informationen<br />
ganz effizient aus«, sagt die Insektenforscherin<br />
Sylvia Cremer vom Institute of Science and Technology<br />
im österreichischen Klosterneuburg, »denn es ist für jedes<br />
Koloniemitglied von Vorteil, alle eigenen Informationen<br />
mit den anderen zu teilen.« Trifft eine Ameise auf andere<br />
Ameisen, sagen ihr deren Anzahl und Verhalten und<br />
Geruch, was gerade zu tun ist. Gibt es Futter zu transportieren,<br />
kommen viele Ameisen mit Nahrung zurück.<br />
Die Ameise im Bau registriert das und macht sich selbst<br />
auf den Weg. Ameisen brauchen also keinen Chef, der<br />
ihnen Arbeit zuweist. Sie organisieren sich, indem sie einan<br />
der »zuhören«. »Eine offene Kommunikation ist die<br />
Grundlage für all ihre Erfolge«, sagt Cremer.<br />
Was für die Tiere selbstverständlich ist, führt zu<br />
einer Erkenntnis, die in diesem Jahr auch in den menschlichen<br />
Blick geraten ist: Was alle tun, hat Auswirkungen<br />
auf mich – was ich mache (oder nicht), hat Auswirkungen<br />
auf alle. »Zu Beginn der Pandemie war es interessant<br />
zu sehen, wie manche Menschen erst lernen mussten,<br />
dass individuelles Verhalten kollektive Konsequenzen<br />
hat und umgekehrt«, sagt die Ameisenforscherin Deborah<br />
Gordon von der Stanford University. »Wie sich jeder<br />
Mensch verhielt, konnte das Risiko jedes Einzelnen<br />
beeinflussen. Deshalb haben wir uns im Frühjahr fast<br />
überall in Quarantäne begeben – denn je weniger man<br />
sich selbst bewegte, desto geringer war das Risiko einer<br />
In fek tion für alle», sagt sie. »Das gilt auch umgekehrt:<br />
Wenn viele Menschen sich wieder in Bars treffen, erhöht<br />
das sogar das Risiko für die, die da nicht hingehen.«<br />
Wir können also von Ameisen lernen, mehr aufein<br />
an der zu achten. Wobei das Resultat all der Aufmerksamkeit<br />
zu sein scheint, dass die Insekten den ganzen<br />
Tag ohne Pause hin und her wuseln. Von einem Job zum<br />
nächsten quasi – und das so ausdauernd, dass im Deutschen<br />
die Wörter »emsig« und »Ameise« sogar sprachlich<br />
verwandt sind. Dass der Schein trügt, fanden Forscher<br />
der University of Arizona heraus. Sie markierten für ein<br />
Experiment rund 200 Ameisen mit winzigen Farbmustern,<br />
damit sie die Tiere unterscheiden konnten.<br />
Dann beobachteten sie die Ameisen drei Wochen lang.<br />
Und was taten 40 Prozent der Insekten während des<br />
Forschungszeitraums die meiste Zeit? Absolut nichts.<br />
Warum? Waren es Arbeitsverweigerer? Rebellen? Burnout-Ameisen?<br />
Ahnten sie, dass sie beobachtet wurden?<br />
Das wissen die Forscher noch nicht. Und natürlich<br />
versuchen sie emsig, es zu klären. Eine gute Idee hat der<br />
Autor Florian Werner (Die Weisheit der Trottellumme):<br />
»Vielleicht ist die Tätigkeit, der die Ameisen sich widmen,<br />
die hehrste und schwerste überhaupt: nämlich dem<br />
Menschen, diesem unverbesserlichen Arbeitstier, zu<br />
zeigen, dass man selbst im Angesicht von Millionen<br />
zappeliger Konkurrenten und eines Ameisenhaufens<br />
von Aufgaben einfach ruhig sitzen bleiben kann.« —
8
AM ANFANG DREI FRAGEN<br />
9<br />
2. Wie entscheidend<br />
ist der erste Blick?<br />
Wenn zwei Menschen sich ansehen, erfinden<br />
ihre Augen blitzschnell eine Geschichte – ob<br />
sie wahr ist oder falsch, ist erst einmal egal<br />
Text Rebekka Gottl<br />
Foto Tadao Cern<br />
N<br />
och ist ihr Kopf gesenkt, und die Augen<br />
sind geschlossen, während ihr gegenüber<br />
eine ihr fremde Person Platz<br />
nimmt. Marina Abramović atmet tief<br />
durch, dann öffnet sie die Augen. Lange<br />
Minuten werden dann beide schweigen,<br />
sie werden sich nur ansehen. Gut 600 Stunden saß die<br />
Künstlerin 2010 für ihre Aktion The Artist Is Present im<br />
Atrium des New Yorker Museum of Modern Art. In<br />
1545 Augenpaare hat sie geschaut – 1545 erste Blicke,<br />
und jeder einzelne auf eigene Weise bedeutsam.<br />
Der Philosoph Arthur Schopenhauer war überzeugt<br />
vom Gewicht des ersten Blicks. »Wie Gerüche uns<br />
nur bei ihrem Eintritt affizieren [reizen], so machen<br />
auch Gesichter ihren vollen Eindruck nur das erste<br />
Mal«, schreibt er in seinem Essay Zur Physiognomik. Wie<br />
schnell wir uns ein Urteil über unser Gegenüber bilden,<br />
haben Psychologen der Prince ton University untersucht.<br />
Dafür legten sie Probanden nur einen Wimpernschlag<br />
lang Fotos ihnen unbekannter Gesichter vor und<br />
fragten sie nach den Charaktereigenschaften der abgebildeten<br />
Personen. Das Ergebnis: Die Zehntelsekunde<br />
reichte für einen ersten Eindruck. Die Versuchsteilnehmer<br />
hatten bereits entschieden, ob die Unbekannten<br />
etwa kompetent, aggressiv oder zugänglich wirkten.<br />
Worauf wir beim schnellen ersten Blick besonders<br />
achten, haben Wissenschaftler der University of York<br />
herausgefunden. Es sind vier Merkmale: die Größe der<br />
Augen, die Breite der Augenbrauen, die Form des Mundes<br />
und die Höhe der Wangenknochen.<br />
»Sehen wir jemanden zum ersten Mal, schreibt das<br />
Gehirn dem Unbekannten augenblicklich und unbewusst<br />
bestimmte Eigenschaften zu«, sagt Hans-Peter<br />
Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Helmut-<br />
Schmidt-Universität Hamburg. Evolutionsbiologisch<br />
sei diese Einschätzung lebenswichtig. In der Steinzeit<br />
musste blitzschnell zwischen Freund und Feind unterschieden<br />
werden – ein Reflex, den wir bis heute nicht<br />
abgelegt haben. Hirnscans zeigen, dass beim Betrachten<br />
von Fotos fremder Gesichter zwei Hirnregionen sehr<br />
aktiv sind: die Amygdala, die unser soziales und emotionales<br />
Verhalten kontrolliert, und der hintere cinguläre<br />
Cortex, der auch für die Bewertung von Objekten zuständig<br />
ist – zum Beispiel ihrer Vertrauenswürdigkeit.<br />
»Das intuitive Gefühl, das wir beim ersten Blick<br />
entwickeln, kann uns leicht täuschen«, sagt Erb. Dennoch<br />
zeigt eine Studie der Cornell University: Der erste Eindruck<br />
beeinflusst die folgende Begegnung maßgeblich. So<br />
ordneten Probanden einer Unbekannten, von der sie<br />
zuvor ein Foto gesehen und bewertet hatten, auch nach<br />
einem persönlichen Treffen noch dieselben Eigenschaften<br />
zu, obwohl sie sich mehr als 20 Minuten mit ihr unterhalten<br />
hatten. Das Gehirn veranlasst uns also, stets auf<br />
den ersten Eindruck – ob richtig oder nicht – zu vertrauen.<br />
Grund dafür ist der Halo-Effekt: Wir schließen<br />
von oberflächlichen Merkmalen unserer Mitmenschen<br />
auf deren Persönlichkeit. Finden wir jemanden etwa<br />
attraktiv, setzen wir der Person sozusagen den Heiligenschein<br />
auf und ordnen ihr ausschließlich positive Charakterzüge<br />
zu. Hans-Peter Erb spricht vom confirmation<br />
bias, dem Bestätigungsfehler: »Sobald wir uns ein erstes<br />
Bild von unserem Gegenüber gemacht haben, suchen<br />
wir gezielt Infos, die unsere These bestätigen, und ignorieren<br />
solche, die sie widerlegen.«<br />
Gänzlich umgehen können wir den Mechanismus<br />
nicht. Aber wir können uns des eigenen Blicks und seiner<br />
Macht zumindest bewusst werden. Wer sich das nächste<br />
Mal also dabei erwischt, vom Äußeren einer Person auf<br />
deren Charakter geschlossen zu haben, dem rät Erb:<br />
»Erwägen Sie doch einfach mal das Gegenteil.« —
10<br />
AM ANFANG DREI FRAGEN<br />
3. Wo ist das Wetter<br />
besser – am Meer oder<br />
in den Bergen?<br />
Mit den Füßen im Sand oder dem Kopf in den Wolken:<br />
Überall lässt es sich aushalten, wenn das Wetter stimmt.<br />
Und die Chancen auf Sonne lassen sich sogar erhöhen<br />
Text Sven Stillich<br />
Foto Iveta Gabaliņa<br />
G<br />
utes Wetter ist schlecht zu fassen: Die<br />
einen lieben es knallig heiß, andere<br />
wünschen es sich kühler. Surfer sehnen<br />
sich nach Wind – und scheint die Sonne<br />
zu lange, erhitzen sich die Landwirte.<br />
Dennoch würden die meisten Mitteleuropäer<br />
wohl zustimmen, wenn man »gutes Wetter«<br />
definieren würde als: blauer Himmel, angenehm warm,<br />
trocken. Die Sonne scheint also lange, und man freut<br />
sich auf ein Eis in der Waffel. Zur Sonnenscheindauer<br />
gibt es zum Glück Statistiken, und die sagen: Der Ort,<br />
auf den weltweit am ausdauerndsten die Sonne brutzelt,<br />
heißt Yuma und liegt in Arizona, USA, an der<br />
Grenze zu Mexiko. 4040 Stunden im Jahr scheint dort<br />
durchschnittlich die Sonne, umgerechnet 340 Tage<br />
lang. Das Städtchen mit dem Wüstenklima liegt am<br />
Colorado River – also weder in den Bergen noch an der<br />
Küste. Von Meer umgeben ist immerhin der Ort mit<br />
der kürzesten mittleren jährlichen Sonnenscheindauer<br />
– und dessen Küste ist vereist: Auf den Südlichen Orkneyinseln<br />
nahe der Antarktis scheint nämlich durchschnittlich<br />
von Neujahr bis Silvester nur 478 Stunden<br />
die Sonne, der kälteste Monat ist der Juli mit minus 8,5<br />
Grad Celsius. Zu kalt zum Baden.<br />
Und in Deutschland? Da findet sich die Gegend<br />
mit der meisten Sonne auf dem höchsten Berg – es ist<br />
die Zugspitze mit 1873 Sonnenstunden im Jahresmittel.<br />
Knapp dahinter kommen dann aber schon Orte mit<br />
Küste, nämlich Hiddensee und Fehmarn mit 1771 und<br />
1756 Stunden Sonne. Doch Andreas Friedrich vom<br />
Deutschen Wetterdienst geht die Sache komplexer an:<br />
Entscheidend sei, wann man dorthin reisen wolle. »Im<br />
Sommer sieht es auf der Zugspitze gar nicht gut aus mit<br />
Sonnenschein«, sagt er, »da ist es eher im Herbst oder<br />
im Winter schön, wenn der Gipfel über dem Nebel und<br />
den Wolken liegt.« An der Küste scheine dagegen eher<br />
im Sommer die Sonne, »und dann vor allem auf den<br />
Inseln, weil dort durch die relativ kühle Nord- oder<br />
Ostsee die Wolkenbildung etwas unterdrückt wird«,<br />
sagt Friedrich. »Oft ist es an der Küste noch sonnig,<br />
während sich im Land bereits die Wolken auftürmen.«<br />
Abseits der Mittelwerte gibt es auch hierzulande<br />
Orte mit extrem viel Sonne. Den deutschen Rekord für<br />
die meiste Sonne im Jahr hält das Klip pen eck, ein Berg<br />
am Rande der Schwäbischen Alb. 2329 Stunden hat dort<br />
die Sonne geschienen, allerdings war das 1959 – wer also<br />
seitdem voller Hoffnung auf Sonnengarantie immer<br />
wieder hingefahren ist, wurde enttäuscht. Was man aber<br />
zumindest für Mitteleuropa verlässlich sagen kann: »An<br />
der Küste erlebt man schnellere Wetterwechsel. Man hat<br />
öfter mal einen sonnigen Vormittag und einen regnerischen<br />
Nachmittag oder umgekehrt«, sagt Friedrich.<br />
»Wenn man in den Bergen Pech hat und die Wetterlage<br />
schlecht ist, regnet es auch mal eine Woche lang.«<br />
Einen Tipp hat er trotzdem: Früh aufstehen lohnt<br />
sich immer. »In den Bergen geht es oft am Vormittag<br />
sonnig los, und im Laufe des Tages werden die Quellwolken<br />
immer mächtiger, bis sich am Nachmittag die<br />
Gewitter entladen«, sagt Friedrich. »Man sollte bei<br />
Sonnenaufgang los oder sogar schon auf dem Berg sein.<br />
Wenn man dann auf 2000 Metern auf dem Gipfel steht,<br />
hat man eine fantastische Fernsicht.« Und an der Küste?<br />
»Zum Beispiel an der Nord- und Ostsee gibt es Land-<br />
Seewind-Systeme. Da ist es gern so, dass am Vormittag<br />
der Seewind nicht so ausgeprägt und das Meer noch<br />
relativ ruhig ist«, sagt er. »Dann sind die Temperaturen<br />
am späten Vormittag am höchsten, bevor gegen Mittag<br />
der Seewind einsetzt und es spürbar kühler wird. Der<br />
Surfer wartet also eher auf den Nachmittag.« Und dann<br />
sind ja bis auf die Landwirte wieder alle zufrieden. —
Foto Iveta Gabaliņa / Gallery Stock<br />
11
12<br />
OPTIMIST<br />
Eine Zukunft für zwei Räder<br />
Sind E-Scooter unfallträchtig? Nicht nachhaltig? Stehen im Weg rum? Nachdem<br />
alle jetzt mal abgelästert haben, kann der Ausbau der Mikromobilität beginnen<br />
Text Vivien Valentiner<br />
Weiterlesen<br />
Der Fachartikel<br />
»Why Cities Need<br />
to Take Road<br />
Space from Cars«<br />
von Stefan Gössling:<br />
bit.ly/goessling<br />
Die Studie »Safe<br />
Micromobility« des<br />
Weltverkehrsforums<br />
der OECD:<br />
bit.ly/mikromobil<br />
Florence Norman war nicht nur politisch<br />
ihrer Zeit voraus. Im Jahr 1916 fuhr die<br />
britische Frauenrechtlerin mit wehenden<br />
Kleidern auf einem Autoped zur Arbeit,<br />
einem motorisierten Stehroller, der stark an<br />
heutige E-Scooter erinnert. Als diese ersten<br />
Stehroller Anfang des 20. Jahrhunderts aufkamen, war<br />
die öffentliche Meinung gespalten. Hersteller warben,<br />
man könne mit dem neuen Transportmittel über den<br />
Boden fliegen. Die Autopeds seien lächerlich, gefährlich<br />
und lästig, hieß es hingegen in amerikanischen<br />
Zeitungen. Kommt Ihnen dieser Streit bekannt vor?<br />
Im vergangenen Sommer waren E-Scooter hierzulande<br />
wegen zahlreicher Unfälle in den Schlagzeilen.<br />
Ärzte sorgten sich um die Gesundheit der Rollerfahrer.<br />
Nett gemeint, das ist ihr Job. Aber: Laut einer Studie<br />
des Weltverkehrsforums der OECD ist Elektrorollerfahren<br />
ebenso gefährlich oder ungefährlich wie Radfahren.<br />
Wie das bei neuartigen Fortbewegungsmitteln<br />
(Hoverboard, Inline skates) nun mal der Fall ist, muss die<br />
richtige Handhabung erst einmal gelernt werden. Statt<br />
über Verbote sollten wir über Fahr trainings diskutieren,<br />
zum Beispiel an Schulen. Und ja, die Roller stehen im<br />
öffentlichen Raum herum – bei Autos haben wir uns mit<br />
der Zeit an den Anblick gewöhnt und ihnen viele Privilegien<br />
gewährt. Parkhäuser, Parkbuchten, Tiefgaragen.<br />
Warum sind wir bei E-Scootern so einfallslos?<br />
E-Scooter könnten Bewegung in die Stadtplanung<br />
bringen, schreibt der Verkehrsforscher Stefan Gössling<br />
von der Universität Lund in einer Analyse für das Journal<br />
of Urban Design. »Sie geben der Stadtplanung ein neues<br />
Argument an die Hand, den öffentlichen Raum umzuverteilen.«<br />
Auch wenn noch unklar sei, welche Wege<br />
die Roller ersetzen (im Ideal fall solche, die sonst motorisiert<br />
zurückgelegt werden): »In den engen und verstopften<br />
europäischen Städten lassen sich ganze Straßen<br />
einfach und kostengünstig in Wege für Mikromobilität<br />
umwandeln.« Das würde den Verkehr für alle Beteiligten<br />
sicherer machen, auch für Fußgänger und Autofahrer.<br />
Aus Angst vor dem Coronavirus meiden Menschen<br />
derzeit die U-Bahnen, Busse und S-Bahnen. Eine kluge<br />
Stadtplanung könnte dafür sorgen, dass sie stattdessen<br />
nicht wieder das Auto nehmen, sondern E-Bikes, Fahrräder<br />
und E-Scooter nutzen. Vor hundert Jahren floppten<br />
Autopeds zum einen wegen ihres Preises – nur die<br />
bürgerliche Elite konnte sich das teure Gefährt leisten.<br />
Vor allem scheiterten sie an miserablen Straßenverhältnissen.<br />
Das ist heute keine Entschuldigung mehr. —<br />
Fotos Manfred Neubauer / SZ Photo; Gordon Welters / laif; Caroline Paux / epd-bild; Frédéric Cirou / laif
Die digitale<br />
Themenwoche<br />
14.–18. September<br />
<strong>2020</strong><br />
Grundlagenforschung trifft angewandte Forschung: Wie lösen wir die Weltprobleme?<br />
Und wie bleibt der Wissensstandort Deutschland wettbewerbsfähig?<br />
Unter diesen Leitfragen laden wir führende Forscher und Wissenschaftler,<br />
Wirtschaftsvertreter und Politiker ein, um gemeinsam der Frage<br />
nach zu gehen, wie Wissenschaft & Forschung an der Lösung der dring -<br />
lichen Weltprobleme arbeiten, und welche Rolle die Digitalisierung –<br />
von Quantencomputing bis zu Künstlicher Intelligenz – hier bei spielt.<br />
Wir wollen diskutieren, wie sich der Blick auf die Wissen schaft im<br />
Auszug Sprecher*innen<br />
Kontext von Corona verändert hat und den Stand der Corona-Impfstoffforschung<br />
reflektieren; wir wollen herausfinden, wie wir eine stetig<br />
wachsende Zahl von Menschen ressourcenschonend ernähren können<br />
und ob Wasserstoff Teil unserer Energiestrategie sein kann. Und<br />
welche Rolle spielt die Wissenschaft beim Kampf gegen den Klimawandel<br />
überhaupt, auch in Unternehmen?<br />
Prof. Dr. Sandra Ciesek<br />
Direktorin, Institut für<br />
Medizinische Virologie,<br />
Universitätsklinikum<br />
Frankfurt<br />
Prof. Dr. Maja Göpel<br />
Generalsekretärin, Wissenschaftlicher<br />
Beirat der<br />
Bundesregierung Globale<br />
Umweltveränderungen<br />
Anja Karliczek<br />
Bundesministerin für<br />
Bildung und Forschung<br />
Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner<br />
Präsident,<br />
Leibniz-Gemeinschaft<br />
Rafael Laguna<br />
Direktor der Bundesagentur<br />
für Sprunginnovationen SPRIND<br />
Annette Maier<br />
Managing Director,<br />
Google Cloud DACH<br />
Prof. Dr. Katja Matthes<br />
Leiterin des Forschungsbereiches<br />
Ozeanzirkulation und<br />
Klimadynamik, GEOMAR<br />
Helmholtz-Zentrum für<br />
Ozeanforschung Kiel<br />
Prof. Dr. Reimund Neugebauer<br />
Präsident,<br />
Fraunhofer-Gesellschaft<br />
Prof. Dr. Claudia Peus<br />
Geschäftsführende Vize -<br />
präsidentin für Talentmanagement<br />
und Diversity,<br />
Technische Universität München<br />
Richard Socher<br />
CEO, Start-up<br />
Prof. Dr. Martin Stratmann<br />
Präsident,<br />
Max-Planck-Gesellschaft<br />
Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.wissenfuerdiewelt.de<br />
Prof. Dr. Otmar D. Wiestler<br />
Präsident,<br />
Helmholtz-Gemeinschaft<br />
Veranstalter:<br />
Premium-Partner:<br />
Anja Karliczek: © BMBF/Laurence Chaperon | Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner: © Leibniz-Gemeinschaft, Oliver Lang | Rafael Laguna: © SPRIND<br />
Prof. Dr. Reimund Neugebauer: © Fraunhofer, Bernhard Huber | Prof. Dr. Martin Stratmann: © Alex Griesch | Prof. Dr. Otmar D. Wiestler: © Gesine Born
14<br />
GEORDNETE VERHÄLTNISSE<br />
Fehler<br />
62 %<br />
Missgeschicke, Ausrutscher, Schnitzer: Nicht alle<br />
Fehler sind groß und bedeutend – es kommt wie<br />
immer im Leben auf die richtige Mischung an<br />
1993<br />
Rund 20 Jahre nach der ersten<br />
digitalen Rechtschreibprüfung:<br />
Die Geburt der Autokorrektur<br />
9 %<br />
Mann<br />
gegenüber<br />
Mann<br />
17 %<br />
Mann<br />
gegenüber<br />
Frau<br />
Mit welcher Wahrscheinlichkeit<br />
Männer und Frauen einander<br />
um Entschuldigung bitten<br />
13<br />
Tippfehler pro 100 Wörter<br />
machen wir durchschnittlich in<br />
E-Mails (Social Media: 39/100)<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
18 %<br />
Frau<br />
gegenüber<br />
Mann<br />
Baden-Württemberg<br />
Bayern<br />
Berlin<br />
Brandenburg<br />
56 %<br />
Frau<br />
gegenüber<br />
Frau<br />
ID10T<br />
»Fehlercode« unter IT-Nerds<br />
für »Fehler des Benutzers«: Die<br />
Kennung sieht aus wie »Idiot«<br />
%<br />
60<br />
Griechenland<br />
Deutschland<br />
Groß britannien<br />
USA<br />
Kein Führerschein: Nicht bestandene Prüfungen zur Erlangung<br />
der Fahrerlaubnis 2019 nach Bundesländern (in Prozent)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
Nicht bestandene theoretische Prüfungen<br />
Nicht bestandene praktische Prüfungen<br />
Bremen<br />
Hamburg<br />
Hessen<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
45 %<br />
... der deutschen Firmen würden<br />
menschliche Fehler gern mittels<br />
künstlicher Intelligenz gänzlich<br />
ausschließen<br />
2001 2003 20<strong>05</strong> 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019<br />
»Und wenn es ein Fehler ist?«: Anteil der 18- bis 64-Jährigen<br />
in ausgewählten Ländern, die gern ein Unternehmen gründen<br />
würden – aber durch ihre Angst vor dem Scheitern davon<br />
abgehalten werden. Der Fachbegriff: »Fear of Failure Rate«<br />
Niedersachsen<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
Rheinland-Pfalz<br />
Saarland<br />
Sachsen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Schleswig-Holstein<br />
Thüringen<br />
Mir ist korrekte Rechtschreibung<br />
nicht wichtig,<br />
ich achte auch selbst nicht<br />
immer so genau drauf<br />
26 %<br />
Korrekte Rechtschreibung<br />
in Nach-<br />
12 %<br />
richten ist für mich<br />
sehr wichtig und ein<br />
Zeichen von Respekt<br />
gegenüber dem Empfänger.<br />
Wer sich hier<br />
schon keine Mühe<br />
gibt, scheidet für<br />
mich als Partner aus<br />
11 %<br />
Viele Jüngere drücken sich<br />
davor, Fehler zuzugeben. Dabei<br />
ist der größte Beziehungsfehler:<br />
Nicht zu sagen, was los ist<br />
43.750 £<br />
Erlös für eine Erstausgabe von<br />
»Harry Potter und der Stein<br />
der Weisen«, auf der »Weisen«<br />
falsch geschrieben war<br />
Eigentore<br />
Fortuna Düsseldorf<br />
Borussia Dortmund<br />
SV Werder Bremen<br />
FC Augsburg<br />
Pfosten-/Lattenschüsse<br />
Bayern München<br />
Bundesliga: Fehlleistungen und<br />
Missgeschicke, Saison 19/20<br />
3 % Frauen<br />
Männer<br />
77 %<br />
71 %<br />
Ich achte<br />
zwar auf<br />
richtige<br />
Rechtschreibung,<br />
im Eifer des<br />
Gefechts<br />
verzeihe ich<br />
jedoch den<br />
einen oder<br />
anderen<br />
Flüchtigkeitsfehler<br />
Wenn man beim Online-Dating zum ersten Mal eine Nachricht<br />
erhält, ist korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht<br />
ausschlaggebend – schadet aber im weiteren Verlauf auch nicht<br />
14–29 Jahre<br />
29 %<br />
30–39 J.<br />
38 %<br />
40–49 J.<br />
TSG 1899 Hoffenheim<br />
37 %<br />
50–59 J.<br />
Borussia Mönchengladbach<br />
41 %<br />
60 und älter<br />
4<br />
3<br />
3<br />
3<br />
19<br />
16<br />
14<br />
Infografik Mirko Merkel Quellen Bitkom, bundesliga.de, ElitePartner, Guardian, Kantar Emnid, KBA, NYT, Parship, University of Waterloo, Victoria University of Wellington, World Bank
Wir gratulieren den<br />
Preisträgern <strong>2020</strong>!<br />
Für den ZEIT WISSEN-Preis Mut zur Nachhaltigkeit <strong>2020</strong> wurden wieder herausragende Personen, Projekte,<br />
Initiativen und Unternehmen in den Kategorien WISSEN, HANDELN und DURCHSTARTEN ausgewählt.<br />
Der Preis ist mit jeweils 10.000 Euro dotiert und soll mit den ausgezeichneten Projekten Impulse für<br />
Nachhaltigkeitsinitiativen in Wissenschaft und Wirtschaft geben. Die drei Preisträger und ihre Projekte sind<br />
Vorzeigebeispiele, wie nachhaltige und zukunftsorientierte Ideen in die Tat umgesetzt werden können.<br />
Prof. Maja Göpel<br />
Wir gratulieren der Transformationsforscherin Prof. Maja Göpel als<br />
Preisträgerin in der Kategorie WISSEN. Sie macht sich für neue<br />
Wohlstandsmodelle und entsprechende Veränderungen in politischer und<br />
ökonomischer Hinsicht stark. Die Generalsekretärin des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der Bundesregierung und Honorarprofessorin der Leuphana<br />
Universität Lüneburg ist eine der Vordenkerinnen in Richtung nachhaltige<br />
Gesellschaften und der dafür notwendigen Innovationen.<br />
Regionalwert AG<br />
In der Kategorie HANDELN gratulieren wir der Regionalwert AG als diesjährigem<br />
Preisträger. Die Regionalwert AG wurde 2006 in Freiburg von Christian Hiß<br />
als Bürgeraktiengesellschaft ins Leben gerufen. Ziel ist es, regionale Betriebe<br />
und Betriebsgründungen der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft<br />
durch Eigenkapitalfinanzierung und Support zu fördern. Eine regionale<br />
Wertschöpfungskette sorgt dabei für eine ganzheitliche Problemlösung.<br />
Peer Sachteleben<br />
Weitere Informationen finden Sie unter: www.zeitfuerklima.de<br />
Der diesjährige Preisträger der Kategorie DURCHSTARTEN heißt Peer<br />
Sachteleben. Der Osnabrücker Jungbauer hat ein neues Konzept zur<br />
Schweinehaltung entwickelt. Die Tiere werden in mobilen Ställen gehalten, die<br />
gleichzeitig Schutz und genug Auslauf bieten. Davon profitieren neben den<br />
Tieren auch der Boden sowie die Kulturpflanzen und ermöglichen ein geschlossenes<br />
System zur nachhaltigen Bewirtschaftung von Landwirtschaftsbetrieben.<br />
Foto v. o. u.: © Andree Kaiser | © Baptiste Schmitt | © Patrick Slesiona | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg<br />
Mut zur Nachhaltigkeit
16<br />
JUNGES WISSEN<br />
ÜBER<br />
GEDICHTE<br />
Unsere Expertin:<br />
Anneke Schwarck,<br />
18, lebt in Kiel und<br />
macht nächstes<br />
Jahr Abitur. Beim<br />
U20-Poetry-Slam in<br />
Schleswig-Holstein<br />
wurde sie Zweite.<br />
Hier schreibt sie<br />
über die Entstehung<br />
von Lyrik live beim<br />
Slammen<br />
Z<br />
uerst ist da ganz wenig, ja fast<br />
gar nichts. Ein leises Knistern,<br />
hier ein Räuspern, da ein Wispern<br />
– dann wieder gespannte<br />
Stille. Augen schließen, und<br />
Mundwinkel heben sich, wir<br />
atmen tief ein, tief aus – Vorhang auf.<br />
Wir sehen eine leere Bühne und ein<br />
leeres Blatt. Ein erster Buchstabe erscheint,<br />
wird zu einem Wort, wird zu einem Satz.<br />
Plötzlich Zeilen,<br />
formen Strophen,<br />
gefüllt mit großen Emotionen, bis der<br />
Worte Wellen Woge an des Hörers Ufer<br />
bricht. Es spricht: das Ich, das hier niemand<br />
sehen, aber jeder sein kann. Hat weder<br />
Körper noch Geist, doch die Menschen fest<br />
in seinem Bann.<br />
Wenn es erzählt, wird gelauscht und<br />
gerunzelt, geschluchzt und geschmunzelt<br />
und manch einer munkelt, was das wohl sein<br />
könnte. Ein Gedicht. Fast wie ein Gemälde,<br />
das vor dem inneren Auge entsteht, wenn<br />
die Lider geschlossen sind.<br />
Ein Gedicht.<br />
Dessen Worte wie Töne erklingen.<br />
Ein Gedicht.<br />
Das in dieser Form noch keiner kennt.<br />
Ein Gedicht.<br />
Aber nicht nur über die Liebe.<br />
Ein Gedicht, wohl nicht wie einer der<br />
Großen es schriebe, nein, Zeilen wie diese<br />
finden sich nicht hinter Buchrücken verborgen.<br />
Zeilen wie diese sind wie Filme aus<br />
Worten. Auf Leinwänden aus Schatten und<br />
Licht werden hier Szenen in Klangfarben<br />
lebendig, dicht drängen sich Reime und<br />
Metaphern, zwischen Tränen und Lachern<br />
werden Gefühle geschaffen, die Spuren und<br />
Menschen sprachlos hinterlassen.<br />
Sätze brennen sich in Trommelfelle, bebende<br />
Atemzüge, Gänsehaut breitet sich<br />
auf Körpern aus.<br />
Eine letzte Pause – tosender Applaus.<br />
Was in früheren Zeiten gang und<br />
gäbe, ist heute eine eigene Szene. Lyrik wird<br />
hier gelebt, nicht nur gelesen, eng verwebt<br />
mit raumgreifenden Blicken und Gesten<br />
wird aus einem Gedicht ein Schauspiel, das<br />
keiner großen Bühne bedarf, weil es auch<br />
auf kleinstem Raum Emotionen schafft.<br />
Ein Blick, der mehr als gesagt wird –<br />
verrät. Eine Stimme, die sich durch den<br />
ganzen Raum bewegt. Hände, die Sätze<br />
modellieren, um nicht den Faden zu verlieren<br />
und das Gesprochene in die Höhe zu<br />
heben. Hier erwachen die Zeilen zum Leben.<br />
Denn wenn Gedichte beginnen, durch<br />
die Luft zu tanzen, dann hört das Zuhören<br />
auf – und das Träumen fängt an. —<br />
Foto Hanna Lenz, aufgenommen im Kulturzentrum hansa48, Kiel
ALTES WISSEN<br />
17<br />
Fotos<br />
Hanna Lenz<br />
Andreas Müller<br />
Unser Experte:<br />
Michael Krüger, 76,<br />
hat lange die Carl<br />
Hanser Literaturverlage<br />
geleitet und<br />
war Präsident der<br />
Bayerischen Akademie<br />
der Schönen<br />
Künste. Er schreibt<br />
Lyrik, Novellen,<br />
Romane – und hier<br />
über Gedichte<br />
Foto Andreas Müller / Visum<br />
D<br />
er russische Dichter Joseph<br />
Brodsky hat einmal gesagt,<br />
neunzig Prozent aller Gedichte<br />
seien Liebesgedichte,<br />
die entweder vor oder<br />
nach der Liebe geschrieben<br />
würden. Vor der Liebe, um bei der Angebeteten<br />
Eindruck zu machen (was selten<br />
gelingt, weil die meisten Mädchen dichtende<br />
Verehrer eher peinlich finden). Nach der<br />
Liebe, um dem schönen Gefühl hinterherzutrauern.<br />
Offenbar geht während der großen<br />
Liebe die Energie in andere Projekte.<br />
Aber nach einer großen Liebe sieht die Welt<br />
eben anders aus, man nimmt sie anders<br />
wahr, wenn auch nicht immer von ihrer<br />
besten Seite. Alles Leben führt unweigerlich<br />
zum Tod, das spürt man am schmerzhaftesten,<br />
wenn eine große Liebe vorbei ist.<br />
Diese Erfahrung hat viele Dichter inspiriert.<br />
Gedichte kann man nicht auf Befehl<br />
schreiben. Wenn sich jemand vornimmt,<br />
das schönste Liebesgedicht aller Zeiten oder<br />
das anrührendste Gedicht über ein Schaf<br />
oder eine Ode auf den Pflaumenbaum zu<br />
schreiben, geht es meistens schief. Es muss<br />
aber nicht schiefgehen. Gedichte brauchen<br />
Glück! Und Gedichte brauchen Zeit. Sie<br />
wachsen in einem auf eine sehr vertrackte<br />
Weise heran und sind plötzlich da. Man<br />
braucht also viel Geduld und wenig Wollen.<br />
Am besten, man macht lange Spaziergänge<br />
allein, um den eigenen Rhythmus zu finden.<br />
Der Hamburger Dichter Peter Rühmkorf<br />
hat seine Gedichte immer wieder abgeschrieben,<br />
mit der Hand, hundertmal, und<br />
sie immer wieder ein wenig verändert, bis sie<br />
»saßen«. Und oft wollten dann die Gedichte<br />
in eine andere Richtung gehen als die vom<br />
Dichter eingeschlagene. Denn Gedichte<br />
sind sehr eigensinnig. Am besten ist es,<br />
wenn man jeden Tag ein Gedicht liest oder<br />
mehrere. Laut am Küchentisch, noch vor<br />
dem Frühstück. Oder in der Straßenbahn.<br />
Man muss das ausprobieren, auch wenn die<br />
andern denken, der hat nicht mehr alle<br />
Tassen im Schrank. Im Großraumbüro<br />
Goethes Marienbader Elegie, damit macht<br />
man sich wenige, aber verlässliche Freunde.<br />
Oder Ottos Mops von Jandl. Vorteil der Gedichte:<br />
Sie sind kurz. Wenn sie einem nicht<br />
gefallen, kann man das nächste lesen. Bei<br />
Romanen ist das schwieriger, weil man denkt,<br />
es kommt noch was, also muss ich dranbleiben,<br />
obwohl es mich zu Tode langweilt.<br />
Gute Gedichte bleiben einem ein Leben<br />
lang. Der Ehrgeiz, ein gutes Gedicht geschrieben<br />
zu haben, ist auch ein lebenslanger.<br />
Aber das sollen die andern herausfinden,<br />
wenn möglich vor dem Tod des Dichters. —
18<br />
GROSSZÜGIGKEIT<br />
DIE NEUE SERIE<br />
Welche Haltung bringt uns<br />
eigentlich weiter? In der Liebe,<br />
in der Kindererziehung,<br />
im Beruf, in der Gesellschaft?<br />
Jede kann förderlich oder hinderlich<br />
sein, krank machen oder gesund<br />
Artwork Noma Bar, Monique Bröring,<br />
Nishant Choksi, Eiko Ojala, Saša Ostoja<br />
KLEINLICHKEIT
19
20
21<br />
Der Strich durch<br />
die Rechnung<br />
Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf. Aber ein Statiker,<br />
der eine Brücke berechnet, sollte möglichst kleinlich sein, oder?<br />
Bericht aus einem menschlichen Spannungsfeld<br />
Text Niels Boeing<br />
Illustration Noma Bar (vorige Seite), Monique Bröring<br />
Wir waren auf dem Weg ins damals<br />
noch unzerstörte Aleppo im Transit<br />
gelandet. Den türkischen Grenzposten<br />
hatten wir bereits passiert,<br />
den syrischen durften wir ohne Mitfahrgelegenheit<br />
nicht durchqueren.<br />
Die Sonne war längst untergegangen, ein Bus fahre<br />
nicht mehr, hieß es. Irgendwann näherte sich ein Taxi,<br />
drei junge Syrer saßen darin. Sie erklärten uns, dass wir<br />
mit einsteigen sollten, es sei die allerletzte Möglichkeit<br />
für heute, nach Aleppo zu kommen. Wir quetschten<br />
uns auf die Rückbank und fuhren los. Nach einer halben<br />
Stunde hielt der Fahrer an einer Tankstelle, auch die<br />
jungen Männer stiegen aus und kauften ein paar Kleinigkeiten.<br />
Als sie wieder zurückkamen, reichte uns einer<br />
von ihnen zwei kleine Tetrapaks Orangensaft. In unseren<br />
Gesichtern las er sofort die Frage, was er dafür haben<br />
wolle. Er lächelte nur. Ein Geschenk.<br />
Wir haben den jungen Mann, nachdem wir uns in<br />
Aleppo verabschiedet hatten, nie wiedergesehen. Nach<br />
der Logik der heute geltenden Wirtschaftstheorie war<br />
seine Geste unsinnig, ja irrational: Er hatte uns etwas<br />
gegeben, obwohl er sicher sein konnte, dass wir uns nie<br />
würden revanchieren können. Die Geste des jungen<br />
Mannes entsprang einer anderen, älteren Logik: Da<br />
waren zwei Reisende in der Nacht gestrandet, an einem<br />
Ort, an den sich außer Grenzpendlern selten Reisende<br />
verirren. Für ihn war es ein Akt der Gastfreundschaft<br />
– willkommen in Syrien!<br />
Gastfreundschaft ist eine Form der Großzügigkeit,<br />
die Menschen überall auf dem Globus seit Jahrtausenden<br />
praktizieren. Sie bieten Fremden Essen und Getränke an,<br />
manchmal auch ein Dach über dem Kopf, und erwarten<br />
nichts dafür außer vielleicht einem Lächeln, das mit<br />
einem Lächeln erwidert wird. Großzügigkeit wärmt die<br />
Herzen, sie knüpft unsichtbare Bande zwischen Menschen,<br />
die sich nicht kennen, und verstärkt sie zwischen<br />
Freunden. Sie ereignet sich täglich an unzähligen Orten<br />
auf der Welt. Im Obstladen einer Großstadt, in dem die<br />
Verkäuferin ein Körbchen Erdbeeren »obendrauf«<br />
packt. In der Mittagspause, in der eine Kollegin die<br />
andere zum Lunch einlädt. Im Büro, wenn ein Kollege<br />
dem anderen Arbeit abnimmt, weil dieser sonst zu spät<br />
zur Geburtstagsparty seines Kindes käme.<br />
Die Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf.<br />
Ihr Gegenstück, die Kleinlichkeit, wird in aller Welt verachtet.<br />
Doch auch die Kleinlichen sind allgegenwärtig:<br />
Die Geizhälse, die nie einen ausgeben und selbst einen<br />
gemeinsamen Ausflug auf den Cent genau in Excel-<br />
Tabellen abrechnen. Die Pedanten, die überall einen<br />
Fehler finden, und sei er auch noch so gering. Die Prinzipienreiter,<br />
die nicht fünfe gerade sein lassen können<br />
und jeden Spaß im Keim ersticken. Vor allem die englische<br />
Literatur war fasziniert von Geizhälsen wie dem<br />
steinreichen Adligen John Elwes aus dem 18. Jahrhundert,<br />
der zeitlebens denselben abgewetzten Gehrock<br />
trug und vor Einbruch der Dunkelheit zu Bett ging, um<br />
Kerzen zu sparen. Charles Dickens setzte ihm in der<br />
Figur des Ebenezer Scrooge ein zweifelhaftes Denkmal,<br />
Carl Barks formte daraus die Figur des Dagobert Duck.<br />
Die westliche Welt hat seit Beginn der Aufklärung<br />
den wahren Charakter des Menschen sogar zunehmend<br />
im Egoisten gesehen, der nur auf seinen Vorteil bedacht<br />
ist. Der englische Aufklärer Thomas Hobbes beschrieb<br />
im 16. Jahrhundert den Naturzustand der Menschheit<br />
als einen Krieg aller gegen alle, angetrieben von der<br />
Angst vor einem gewaltsamen Tod. Nur ein starker Staat<br />
sei imstande, den Menschen zu zivilisieren. Die neoklassische<br />
Wirtschaftstheorie des 19. Jahrhunderts erhob<br />
den mutmaßlichen Egoisten zum wissenschaftlichen<br />
Konzept des rationalen Individuums, das alle Handlungen<br />
daraufhin überprüft, ob sie seinen Nutzen maximieren.<br />
Folglich wurde der Wettbewerb zum Normalzustand<br />
des menschlichen Mit ein an ders ausgerufen.<br />
Umso größer war das Erstaunen, als Experimente<br />
von Verhaltensökonomen Ende des 20. Jahrhunderts<br />
ein anderes Bild zeichneten: Großzügigkeit ist ein Verhalten,<br />
das tief in der Evolution des Menschen verankert<br />
ist. Eines der Experimente war das Diktator-Spiel: Eine<br />
Person bekam beispielsweise 100 Dollar und entschied
22<br />
im Alleingang darüber, wie viel sie einer zweiten Person<br />
abgab. Beim Ultimatum-Spiel wiederum konnte die<br />
erste Person der zweiten vorschlagen, wie sie die 100<br />
Dollar aufteilen wollten. Lehnte die zweite Person ab,<br />
bekamen beide gar nichts. Nach der neoklassischen<br />
Theorie würde jene Person rational handeln, wenn sie<br />
der anderen nichts abgibt – und ihren Nutzen somit<br />
maximiert, sprich: die 100 Dollar für sich behält.<br />
In den Versuchsanordnungen taten aber die wenigsten<br />
Menschen genau dies. Stattdessen teilten sie mit<br />
der anderen Person. Im Durchschnitt gaben sie 10 bis<br />
30 Prozent ab. Und in Folgestudien stellte sich heraus:<br />
Der Anteil, den die erste Person abgibt, wird größer,<br />
wenn im Versuchsraum im Hintergrund menschliche<br />
Stimmen zu hören sind oder scheinbar zufällig in Sichtweite<br />
ein Augenpaar als Poster an der Wand hängt. Auch<br />
Gespräche zwischen den Personen führten zu einer<br />
großzügigeren Aufteilung.<br />
Überraschen sollte dies nicht. Der Homo sapiens<br />
ist ein Gemeinschaftstier, er kann nicht allein überleben.<br />
In seiner Frühgeschichte hat er deshalb auch kooperative<br />
Verhaltenszüge entwickelt, die nicht nur seinen Platz in<br />
der Gemeinschaft stärken, sondern auch die Überlebensfähigkeit<br />
der Gemeinschaft insgesamt. Das großzügige<br />
Geben gehört dazu – und macht sogar glücklich.<br />
Akte der Großzügigkeit aktivieren im Gehirn dieselben<br />
Belohnungsmechanismen wie Sex und Essen.<br />
Gehirnscans zeigten, dass bei Menschen in dem Moment,<br />
in dem sie eine wohltätige Spende geben, eine<br />
spezielle Region im Großhirn aktiviert wird (das sogenannte<br />
Brodmann-Areal 25 der Gürtelwindung). Diese<br />
Region hat besonders viele Rezeptoren für das Hormon<br />
Oxytocin, das bei einer emotionalen Bindung zwischen<br />
Menschen erzeugt wird. Dockt Oxytocin an die Rezeptoren<br />
an, wird wiederum verstärkt das »Glückshormon«<br />
Dopamin ausgeschüttet. Dazu passt, dass die Versuchspersonen<br />
deutlich großzügiger wurden, wenn man ihnene<br />
mittels Nasenspray eine Dosis Oxytocin verabreichte.<br />
Im Vergleich mit Versuchspersonen, die nur ein Placebo<br />
bekommen hatten, gaben sie fast doppelt so viel ab.<br />
»Großzügigkeit ist nicht einfach ein kulturelles<br />
Konstrukt«, stellt deshalb Summer Allen vom Greater<br />
Good Science Center an der Universität Berkeley fest.<br />
Sie ist entwicklungsgeschichtlich eine Zuwendung zu<br />
anderen Menschen der eigenen Gemeinschaft, sei es in<br />
Form von körperlicher Nähe, sei es in Form von Nahrung.<br />
Diese Zuwendung hat in den Anfängen des Homo<br />
sapiens wohl ohne ein bewusstes Kalkulieren dessen<br />
stattgefunden, was die anderen einem zurückgeben<br />
könnten. Erst indem differenziertere Kulturen entstanden,<br />
schlich sich auch eine Berechnung ein: Wenn ich<br />
dir in meiner Großzügigkeit dies gebe, bist du mir später<br />
etwas anderes schuldig. Verhaltenspsychologische Untersuchungen<br />
mit Kleinkindern ergaben, dass dieser<br />
entwicklungsgeschichtliche Übergang auch beim einzelnen<br />
Menschen stattfindet – zwischen dem dritten<br />
und dem fünften Lebensjahr. Während Dreijährige<br />
noch gewissermaßen absichtslos großzügig sind, kalkulieren<br />
Fünfjährige bereits ein, ob eine andere Person<br />
diese Großzügigkeit eigentlich verdient hat.<br />
Der Wandel der Großzügigkeit lässt sich auch in<br />
der Kulturgeschichte beobachten. In Asien kam sie ihrem<br />
biologischen Ursprung noch am nächsten. Denn im<br />
Hinduismus und in dem aus diesem heraus entstandenen<br />
Buddhismus wird sie als Dana praktiziert. Dana<br />
meint eine Gabe, die sowohl materiell als auch spirituell<br />
ist. »Die Nahrung bildet den Le bens atem aller Menschen.<br />
Denn alles ist auf Nahrung gegründet«, heißt es<br />
im indischen Epos Mahabharata, und weiter: »Wer<br />
Nahrung gibt, der gibt auch Leben, und wer Leben gibt,<br />
der gibt alles.« Der junge Mann in Aleppo handelte eindeutig<br />
nach dieser Maxime. Dana steht nicht für Almosen,<br />
sondern für die Einsicht, dass alles, was das Leben<br />
ermöglicht, geteilt werden muss. Ein, wenn man so will,<br />
sehr früher Ausdruck von Open- Source- Logik.<br />
Im Judentum wiederum gab es den Begriff Tzedaka,<br />
der auch eine gerechte Verteilung und eine Fürsorge<br />
für die Bedürftigen meint. Tzedaka war keine Option,<br />
sondern eine Verpflichtung, die sich im Islam später als<br />
Fünfjährige denken<br />
bereits darüber nach,<br />
ob eine andere Person<br />
ihre Großzügigkeit<br />
wirklich verdient hat<br />
Zakat wiederfindet. Von Jesus, der ja selbst aus der<br />
jüdischen Tradition des Tzedaka kam, ist in der Bergpredigt<br />
überliefert: »Wenn du Almosen gibst, lass es<br />
also nicht vor dir herposaunen.«<br />
Weiter westlich ging die Unmittelbarkeit und Bescheidenheit<br />
des Gebens weitgehend verloren. Aristoteles<br />
verwendete in seiner Nikomachischen Ethik den Begriff<br />
»Freigebigkeit« (griechisch: eleutheriotes). Die<br />
griechisch-römische Antike war die erste Zivilisation,<br />
die – bereits zu Aristoteles’ Zeiten – eine entwickelte<br />
Geldwirtschaft hatte. Der Freigebige werde, so Aristoteles,<br />
für seine Art gelobt, »Vermögensobjekte hinzugeben«.<br />
Ein Vermögensobjekt ist laut Aristoteles »alles, dessen<br />
Wert nach Geld bemessen wird«.<br />
Diese Form der Großzügigkeit hatte mit der Wohltätigkeit<br />
des Tzedaka oder der Spiritualität des Dana<br />
nichts zu tun. Denn sie habe nicht den Armen der damaligen<br />
Gesellschaft, sondern immer der eigenen Familie<br />
gegolten, der eigenen Sippe oder Gästen, wie der Theologe<br />
Pieter van der Horst schreibt. Wenn ein reicher<br />
Bürger in Athen oder Rom etwa den Stadtbewohnern<br />
Essen spendete, dann bekamen es alle – nicht nur die<br />
Bedürftigen. So diente die Großzügigkeit schließlich<br />
dazu, den eigenen Status zu erhöhen.<br />
Illustration Nishant Choksi
»Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit«:<br />
Dieses Thema hat in unserer Redaktion<br />
das Tor zu allerlei Gedanken, Thesen<br />
und persönlichen Erinnerungen geöffnet.<br />
Die Vielfalt der Assoziationen wollten<br />
wir auch optisch umsetzen. Deshalb<br />
baten wir gleich fünf Illustratorinnen<br />
und Illustratoren um ihren Blick auf<br />
den Wettstreit der Haltungen<br />
23
24<br />
Am Ende der Römischen Republik war der Begriff bereits<br />
in Verruf geraten. Für den Dichter Catull war die<br />
Freigebigkeit Cäsars geradezu »niederträchtig«, weil er<br />
in ihr nur eine politische Manipulation der öffentlichen<br />
Meinung erblickte. Der schmale Grat zwischen echter<br />
Großzügigkeit und manipulativer Großkotzigkeit wurde<br />
bereits vor über 2000 Jahren überschritten.<br />
Ab dem 14. Jahrhundert hielt dann in Europa ein<br />
aus dem Lateinischen entlehnter Begriff Einzug: Generosität.<br />
Ursprünglich bezeichnete diese eine Person,<br />
die von edler Abstammung (lat.: genus) ist – und die<br />
hatte nicht einmal etwas mit der wohlmeinenden Freigebigkeit<br />
nach Aristoteles am Hut. Noch im 18. Jahrhundert<br />
warf der generöse Adel am Ende eines Festbanketts<br />
»Ochsenzungen, Cervelatwürste, das Brot und<br />
Truthahnteile von den Buffets in die Luft«, wie es der<br />
Historiker Jean Starobinski einmal beschrieben hat, und<br />
ergötzte sich am einfachen Volk, das verzweifelt eine der<br />
fliegenden Wohltaten zu erhaschen hoffte.<br />
Die an Vermögen geknüpfte Generosität hat nicht<br />
nur einen herrschaftlichen Beigeschmack, sie ist auch<br />
unzuverlässig. Eine groß angelegte Untersuchung von<br />
Soziologen aus Toronto und Stanford fand 2015 heraus,<br />
dass Menschen mit niedrigerem Einkommen im Verhältnis<br />
mehr spenden als Gutbetuchte. Das kann fast<br />
Mit Großzügigkeit<br />
baut man keine<br />
Kraftwerke oder<br />
Autos. Da glänzt<br />
die Kleinlichkeit<br />
jeder bestätigen, der in einem Dienstleistungsberuf gearbeitet<br />
hat, etwa im Taxi-Gewerbe oder in der Gastronomie.<br />
Mehr noch: Die Wohlhabenden erwiesen sich<br />
als umso knauseriger, je größer die Einkommensungleichheit<br />
in dem US-Bundesstaat war, in dem sie lebten.<br />
Im Angesicht deutlich ärmerer Bevölkerungsschichten<br />
empfanden sie ihren Wohlstand stärker als<br />
eigenes Verdienst und sahen eine entsprechend geringere<br />
moralische Verpflichtung, etwas abzugeben.<br />
Großzügigkeit kann also vieles sein: freigebig, ein<br />
Ausdruck von Nähe, gönnerhaft, protzig. Und die<br />
Kleinlichkeit? In deren sprachlichem Kern versteckt sich<br />
auch eine positive Deutung. Das Wort ist – im Gegensatz<br />
zur »Großzügigkeit«, die im Deutschen erst im<br />
19. Jahrhundert als Begriff auftaucht – bereits sehr alt.<br />
Im Althochdeutschen hieß «kleinlich« noch kleinlihho<br />
und meinte »fein, genau, scharf, zierlich«. Und genau<br />
dort beginnt das verschmähte Wort zu leuchten.<br />
Denn ist es nicht gerade die Exzellenz zum Beispiel<br />
des Ingenieurs, vielleicht der Inbegriff trockener, sachlicher<br />
Kleinlichkeit, dass er genau ist und fein und<br />
scharf, um all die technischen Errungenschaften der<br />
Moderne zu realisieren? Man könnte auch sagen: Mit<br />
Großzügigkeit baut man keine Kraftwerke, Autos oder<br />
Raketen. Da muss jede Schraube, jedes Ventil sitzen und<br />
zuverlässig arbeiten. Was passiert, wenn man bei den<br />
Berechnungen nicht absolut pingelig ist, zeigt schön<br />
das Beispiel des Mars Climate Orbiter. Die Nasa-Ingenieure<br />
hatten bei der Marssonde sowohl mit dem internationalen,<br />
dezimalen Einheitensystem als auch mit<br />
dem angloamerikanischen Maßsystem gearbeitet. Daraus<br />
entstand eine Unstimmigkeit, die die Sonde am 23. September<br />
1999 zu niedrig in die Mars-Atmosphäre eintreten<br />
ließ – sie verglühte, noch bevor sie die Oberfläche<br />
des Roten Planeten erreichte.<br />
Der deutsche Begriff Großzügigkeit erweitert die<br />
Generosität auch um eine neue, räumliche Dimension,<br />
die sich im 20. Jahrhundert in der Architektur wiederfindet.<br />
In baulich großen Zügen versuchen die Architekten<br />
ab den 1920er-Jahren, die Enge der Arbeitersiedlungen<br />
und Gründerzeitquartiere zu überwinden. Die<br />
Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin oder der<br />
Karl-Marx-Hof in Wien, der längste zusammenhängende<br />
Wohnbau der Welt, enthielten ausgedehnte Gartenund<br />
Grünflächen, um ihren Bewohnern mehr Luft und<br />
Sonne zu verschaffen. Auch die Großwohnsiedlungen<br />
der Nachkriegszeit folgten dieser Idee, doch entpuppte<br />
sich die Großzügigkeit der auf weite Flächen hingestreuten<br />
Wohnblocks oft als verstörende Leere. »Großzügigkeit<br />
kann nicht auf einem großen, leeren, offenen Feld<br />
entstehen«, sagt der italienische Architekt Silvio Carta.<br />
Vielmehr wird Architektur da großzügig, wo sie in<br />
der Dichte der Städte für die Bewohner neue Räume und<br />
damit auch neue Möglichkeiten eröffnet, die Architekten<br />
womöglich nicht einmal selbst vorhergesehen haben.<br />
Ausgerechnet der Corona-Shutdown hat nun in der Welt<br />
der Architektur eine neue Debatte entfacht, ob Städte<br />
und ihre Bauten in Zukunft nicht großzügiger – und<br />
damit Pandemie-tauglicher – gedacht werden müssten.<br />
Den Trend der vergangenen Jahre zu immer kompakterer<br />
Bebauung mit durchaus kleinlichen Grundrissen<br />
bei hohen, sagen wir ruhig: großzügigen Mieten hält die<br />
britische Architektin Alison Brooks für einen Irrweg.<br />
»Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber<br />
besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben«, schrieb<br />
Albert Camus in Der Mensch in der Revolte. Vielleicht ist<br />
die Corona-Pandemie genau dafür gut: Großzügigkeit<br />
neu zu denken und von jeglicher Berechnung und Überheblichkeit<br />
zu befreien, die sich über die Jahrtausende<br />
eingeschlichen haben. Und die Kleinlichkeit insofern zu<br />
rehabilitieren, als ohne Sorgfalt und Genauigkeit, da,<br />
wo sie vonnöten sind, Großzügigkeit zur Verantwortungslosigkeit<br />
herabsinken könnte. —<br />
Niels Boeing war auf Reisen immer wieder angetan, wie<br />
großzügig die Leute in aller Welt in Alltagssituationen sind.<br />
Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, wie der Philosoph<br />
Thomas Hobbes annahm, hält er für einen Irrglauben.
25<br />
»Seien Sie nie sparsam<br />
mit kleinen Gesten«<br />
Ein Euro zu viel Trinkgeld, und plötzlich fliegen Funken: Großzügigkeit<br />
und Kleinlichkeit können unter Paaren wie Brandbeschleuniger wirken.<br />
Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer weiß Rat<br />
Interview Wiebke Hansen und Sven Stillich<br />
Wir leben in einer Gesellschaft,<br />
die Großzügigkeit<br />
zwar schätzt, aber nicht<br />
unbedingt belohnt. Zudem<br />
sind die widerstreitenden<br />
Konzepte von<br />
Großzügigkeit und Kleinlichkeit biologisch<br />
tief in uns verwurzelt – und in jedem Menschen<br />
gewichtet. Da stellen sich zwei Fragen:<br />
Wie wirken sich diese Spannungen auf Beziehungen<br />
aus? Und wie können Partnerschaften<br />
zwischen Großzügigen und Kleinlichen<br />
gelingen? Ein Gespräch mit dem<br />
Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.<br />
In der Öffentlichkeit erlebt man oft eine<br />
verführerisch-berechnende Großzügigkeit.<br />
Etwa wenn die Verkäuferin auf dem Wochenmarkt<br />
sagt: »Ich lege Ihnen noch zwei<br />
leckere Äpfel obendrauf.« Kann man so<br />
etwas auf Beziehungen übertragen?<br />
Das wäre eine gute Idee. Es entsteht dabei<br />
ja der Eindruck, dass man bevorzugt wird<br />
– und dem Partner zu vermitteln, dass er<br />
wichtiger ist als alle anderen, schadet in<br />
keiner Beziehung. Man darf auf dem Wochenmarkt<br />
natürlich nicht so genau hingucken,<br />
denn der Nächste bekommt ja auch<br />
zwei Äpfel. Aber man sollte nicht allzu<br />
kleinlich sein bei seinen Forderungen an die<br />
menschliche Großzügigkeit. Manche stören<br />
sich dann auch noch daran, dass so eine<br />
Geste ihr Gegenüber ja nichts kostet. Dabei<br />
macht vieles, was gratis ist, das Leben doch<br />
viel schöner – darunter wichtige Dinge wie<br />
Freundlichkeit, Witz oder Entgegenkommen.<br />
Das sind ja alles kleine Gesten, die<br />
eine Beziehung fördern. Mit denen sollte<br />
man auf keinen Fall sparsam sein.<br />
Man muss also nicht unbedingt ein reicher<br />
Mensch sein, um großzügig zu sein?<br />
Nein, überhaupt nicht. Man muss nur eine<br />
Freude daran haben, zu teilen.<br />
Setzt Großzügigkeit Überfluss voraus?<br />
Er erleichtert sie auf jeden Fall. Aber das<br />
Problem ist ja, die Großzügigkeit durchzuhalten.<br />
Bei Paaren zum Beispiel ist es oft so,<br />
dass zuerst der Bessersituierte großzügig ist,<br />
der aber irgendwann anfängt zu rechnen –<br />
und damit beginnen teils heftige Konflikte.<br />
Ich sage dann immer etwas ironisch, dass<br />
man nicht gleichzeitig Schwabe und Neapolitaner<br />
sein kann.<br />
Sind Bessersituierte stets die Großzügigen?<br />
Nein, das ist sehr stark von der Familientradition<br />
geprägt. Und es ist auch ein Generationenthema:<br />
Einstellungen wie »Man<br />
wirft kein Brot weg« sind bei Kriegs- oder<br />
Nachkriegskindern stärker ausgeprägt, während<br />
in der Konsumgesellschaft aufgewachsene<br />
Kinder bedenkenloser sind. Analysiert<br />
man Großzügigkeit und Kleinlichkeit<br />
psychologisch, dann kommt man auf den<br />
Aspekt der Angst. Biografisch betrachtet<br />
ist es so, dass großzügige Menschen als<br />
Kinder wohl weniger Angst haben mussten.<br />
Wenn ich bereits in der Kindheit ein Gefühl<br />
von Sicherheit mitbekomme, kann ich später<br />
oft gut unterscheiden, was jetzt wirklich<br />
wichtig ist und was nicht so. Eine wichtige<br />
Komponente von Großzügigkeit ist der reife<br />
Narzissmus: Man kann verzeihen und verliert<br />
das Gute an einer Beziehung nicht aus<br />
dem Blick, wenn man gekränkt ist. Eine<br />
andere ist Empathie. Dass man überhaupt<br />
sieht, was ein anderer braucht, und man es<br />
ihm ohne viel Aufhebens gibt. Dass man<br />
ein Kompliment macht zum Beispiel – und<br />
eines, das der andere annehmen kann. Das<br />
setzt die Bereitschaft voraus, ein Geschenk<br />
herzugeben. Und es anzunehmen kann<br />
auch eine Form von Großzügigkeit sein.<br />
Die Angst, von der Sie sprachen, entsteht<br />
somit in der Kindheit?<br />
Wie so vieles, ja. Es setzt sich eine Kette von<br />
Rückkopplungsprozessen in Gang. Hat jemand<br />
in der Kindheit vorwiegend gute Beziehungserfahrungen<br />
gemacht, dann ist es<br />
für ihn natürlich viel leichter, großzügig zu<br />
sein, weil er dann eher davon ausgeht, dass<br />
Menschen im Prinzip freundlich sind:<br />
Wenn er jemandem etwas gibt, wird er das<br />
schon irgendwie wiederbekommen – und<br />
wenn nicht direkt, dann später von jemand<br />
anderem. Wenn man davon ausgeht, dass<br />
Beziehungen positiv sind und man von anderen<br />
Menschen vorwiegend Unterstützung<br />
erwarten kann, dann ist man auch<br />
selbst geneigt, andere zu unterstützen.<br />
Und wenn das Misstrauen dominiert?<br />
Dann schaut man die anderen schon so an,<br />
als ob sie einen ausnützen wollen, und der<br />
Austausch funktioniert dann weniger. Das<br />
führt oft dazu, dass man unbedingt darauf<br />
achtet, dass man nicht benachteiligt wird,<br />
und dabei wird man kleinlich. Ich erinnere<br />
mich an einen Patienten, der sehr traumatisiert<br />
war. Der hatte eine sehr impulsive<br />
Mutter, bei der er nie sicher sein konnte:<br />
Versteht sie mich, oder schlägt sie mich? Bei<br />
ihm war ganz deutlich, dass er immer dann<br />
Angst bekommen hat, wenn er sich auch<br />
nur ein bisschen ungerecht behandelt fühlte<br />
– und dann wurde er kleinlich.<br />
Wie großzügig sollten Eltern denn mit<br />
ihren Kindern sein?<br />
Man sollte unbedingt großzügig sein, auch<br />
weil man vielleicht etwas davon zurückbekommt.<br />
Ich erinnere mich etwa daran, wie<br />
meine mittlere Tochter eine Flugreise machen<br />
wollte und ihr auf dem Flughafen das<br />
Portemonnaie gestohlen wurde. Sie kam<br />
ganz betrübt und heulend nach Hause. Da
26
27<br />
Illustration Eiko Ojala Foto Peter Rigaud/laif<br />
ist ihre acht Jahre jüngere Schwester in ihr<br />
Zimmer gelaufen und hat ihr Sparschwein<br />
geholt. Ihre Schwester hatte ihr Geld verloren,<br />
und sie wollte Hilfe bringen. Das<br />
fanden wir unglaublich rührend. Bei der<br />
Erziehung gibt es eine gute Regel, denke<br />
ich: Wenn mein heranwachsendes Kind das<br />
erste Mal volltrunken von einer Party nach<br />
Hause kommt, dann kann ich fürchten,<br />
dass es ein Alkoholproblem hat und ich<br />
jetzt unbedingt was tun muss – oder ich<br />
denke mir: »Ach Gott, das machen ja alle<br />
mal.« Wenn das aber immer und immer<br />
wieder geschieht, ist diese Art von Großzügigkeit<br />
nicht gut. Man muss ein Konzept<br />
haben. Es ist ganz wichtig, Räume zu<br />
schaffen, in denen Kinder ihre eigenen Erfahrungen<br />
machen können – diese Räume<br />
sollten aber kleinlich genau umgrenzt sein.<br />
Denn immer großzügig zu sein ist in der Erziehung<br />
genauso problematisch, wie immer<br />
kleinlich zu sein. Dabei ist Verantwortung<br />
der Schlüsselbegriff: Jeder in der Familie<br />
sollte versuchen, Großzügigkeit und Kleinlichkeit<br />
verantwortungsvoll zu handhaben.<br />
Wenn man älter wird, übernimmt man<br />
Verantwortung für das eigene Leben – und<br />
ist vielleicht in der Lage, sich zu ändern.<br />
Natürlich. Die kindlichen Ängste können<br />
durch die Erfahrungen, die man macht,<br />
kompensiert oder verstärkt werden. Das<br />
hängt auch viel mit Glück zusammen, mit<br />
Zufall. Wenn jemand eigentlich misstrauisch<br />
ist, sich aber mit 18 Jahren in jemanden<br />
verliebt, der empathisch und gelassen ist,<br />
dann kann es gut sein, dass er das übernimmt<br />
und mehr so wird wie dieser stabilere<br />
Partner. Aber es kann auch das Gegenteil<br />
passieren. Ich denke, dass gerade Liebesbeziehungen<br />
Resonanzräume sind für frühe<br />
Prägungen. In denen entscheidet sich, wie<br />
das Paar mit ein an der umgeht. Ob die als<br />
Paar kleinlich sind oder großzügig. Da passt<br />
diese Geschichte von Kleist, der eine Zeit<br />
lang mit seiner Schwester zusammengelebt<br />
hat. Sie war das, was man eine gute Haushälterin<br />
nennt, und Kleist war einer, der<br />
überhaupt nicht wirtschaften konnte, der<br />
gespielt hat und absolut liederlich mit Geld<br />
umgegangen ist. In diesem Zusammenleben<br />
ist die Schwester immer geiziger geworden,<br />
und bevor sie getrennte Wege gegangen<br />
sind, war sie zum richtigen Knicker geworden,<br />
sie hat ihm alles vorgezählt. Das ist oft<br />
so: Wenn in einer Beziehung einer zur<br />
überbordenden Großzügigkeit neigt, wird<br />
der andere immer kleinlicher und schaut<br />
immer genauer aufs Geld.<br />
Gelingen Beziehungen besser, wenn dasselbe<br />
zusammenkommt – wenn also ein<br />
großzügiger mit einem großzügigen<br />
Menschen anbandelt oder sich ein Kleinlicher<br />
in eine Kleinliche verliebt?<br />
Ich denke schon. Kleinlich mit kleinlich,<br />
das ist sehr viel stabiler. Und bei der Großzügigkeit<br />
kommt es darauf an, wie vernünftig<br />
sie gesteuert wird. Es gibt eine vernünftige<br />
Form, und es gibt natürlich das Risiko der<br />
Entgleisung: Verschwendung, Schulden<br />
machen. Aber wenn sie gut austariert ist,<br />
dann lebt man nicht über seine Verhältnisse<br />
und teilt, was man hat, nach seinen Möglichkeiten<br />
mit anderen. Das setzt eine gute<br />
Mischung voraus zwischen gutem Wirtschaften<br />
– dazu gehört die Sparsamkeit –<br />
und dem Lockerlassen. Wenn ich das Geld<br />
nur ausgebe, dann habe ich am Ende nichts<br />
mehr, was ich teilen kann ...<br />
... weil ich es verprasst habe. <br />
Genau. Das erinnert mich an eine sehr sprechende<br />
Geschichte von Machiavelli, der das<br />
Risiko der übertriebenen Großzügigkeit gut<br />
beschrieben hat. Was er schildert, kann man<br />
Wolfgang Schmidbauer, geboren<br />
1941, arbeitet als Psychoanalytiker<br />
und Autor. Neben erfolgreichen<br />
Sachbüchern veröffentlicht er<br />
auch Erzählungen, Romane und<br />
Artikel in Zeitschriften. Jüngst<br />
erschienen ist von ihm das Buch<br />
»Kaltes Denken, warmes Denken.<br />
Über den Gegensatz von Macht<br />
und Empathie«. Schmidbauer ist<br />
unter anderem Mitbegründer der<br />
Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.<br />
Er lebt in München<br />
und in Dießen am Ammersee und<br />
hat drei erwachsene Töchter.<br />
oft beobachten, sowohl in Beziehungen als<br />
auch bei der Arbeit, etwa wenn jemand ein<br />
Team übernimmt. Machiavelli sagt: Der<br />
törichte Fürst gibt zu Beginn seiner Herrschaft<br />
den Untertanen alles, was er entbehren<br />
kann, weil er denkt, dass sie ihm<br />
dann dankbar sind und ihn lieben und ihm<br />
gehorchen werden. Aber so wie die Menschen<br />
beschaffen sind, werden sie im<br />
nächsten Jahr wiederkommen und neue<br />
Gaben erwarten, er jedoch hat nichts mehr<br />
zu geben. Worauf sie ihn verfluchen und als<br />
knauserigen Herrscher in Erinnerung behalten.<br />
Der kluge Fürst hingegen nimmt zu<br />
Beginn seiner Herrschaft den Untertanen so<br />
viel ab, wie er ihnen mit Anstand wegnehmen<br />
kann. Das gibt er ihnen über die Jahre nach<br />
ihren Verdiensten wieder zurück – und sie<br />
werden ihn als weise und großzügig verehren.<br />
Wenn man das wiederum auf seine Beziehung<br />
überträgt: Sollte ich dann dem Partner<br />
erst einmal etwas nehmen?<br />
Sie sollen nicht immer parat stehen, wenn<br />
er das von Ihnen verlangt, sondern mit Ihrer<br />
Zeit durchaus sparsam umgehen und aufpassen,<br />
dass Sie genauso viel kriegen von<br />
ihm wie er von Ihnen – und ihm erst nach<br />
Maßgabe seiner Verdienste allmählich mehr<br />
und mehr einräumen. Doch oft läuft es so:<br />
Ein Paar beschließt, sich die Hausarbeit zu<br />
teilen, aber ein Partner ist stinkfaul und<br />
macht nichts, und der andere macht alles.<br />
Weil er denkt, dass der Faule das schon irgendwann<br />
merken und mehr machen wird.<br />
Doch solche Rechnungen gehen nie auf.<br />
Das sind die Machiavelli-Fehler: wenn jemand<br />
am Anfang schon alles hergibt, sich<br />
maximal zur Verfügung stellt und dann<br />
nichts mehr zusetzen kann – sich aber erhofft,<br />
dass irgendwann die Gegenleistung<br />
kommt. Dass irgendwann das Gegenüber<br />
Schuldgefühle bekommt, so viel erhalten zu<br />
haben, ohne dass es etwas zurückgegeben<br />
hat. Auf diese Schuldgefühle wartet man<br />
aber meistens lange und vergeblich.<br />
In Ihren Worten erscheint gute Großzügigkeit<br />
immer sehr vernunftgesteuert, wie<br />
ein rational begründetes Geben und Nehmen,<br />
eine Art Deal.<br />
Gerade in der bürgerlichen Gesellschaft, in<br />
der eigentlich ziemlich genau gerechnet<br />
wird, tut man oft so, als ob man nicht<br />
rechnen würde. Es gehört zum guten Ton,<br />
das zu verleugnen, aber man rechnet natürlich<br />
dennoch. Auch weil Kapitalismus<br />
und Großzügigkeit sich ausschließen. Und
28<br />
auch in Paarbeziehungen finde ich es immer<br />
besser, das Ökonomische kleinlich zu<br />
klären. Um dann auf dieser Grundlage<br />
auch großzügig sein zu können. Folgt man<br />
Idealen wie »Wir rechnen untereinander<br />
nicht« oder »Es gehört alles allen«, dann ist<br />
der Streit später oft umso erbitterter. Weil<br />
gar keine Struktur da ist. Die Italiener sagen:<br />
Amici cari, conti chiari, »Je lieber die Freunde,<br />
desto klarer sollten die Rechnungen<br />
sein«. Wenn man einem Freund Geld leiht,<br />
dann sollte man unbedingt einen Vertrag<br />
machen. Dann entsteht auch in keinem der<br />
beiden das Gefühl, er sei dem anderen<br />
etwas über den Vertrag hinaus schuldig.<br />
Das heißt: Großzügigkeit aufgrund einer<br />
kleinlichen Basis.<br />
Aufgrund einer realistischen Basis. Wenn<br />
jemand über den Geiz eines Partners<br />
klagt, finde ich das unerfreulich. Denn es<br />
geht nicht um Geiz, sondern darum, dass<br />
manche Menschen mehr Angst vor Armut<br />
und Not haben als andere. Und in Beziehungen<br />
ist es ja oft so: Wenn einer viel<br />
Angst hat, zu verarmen, dann kann der<br />
andere natürlich seine eigene Angst verlässlich<br />
an den einen delegieren und so<br />
tun, als ob er selbst überhaupt keine Angst<br />
hätte. Das ist eine schlechte Basis. Es geht<br />
doch darum, Fantasien von gutem Austausch<br />
– also etwa von Großzügigkeit – so<br />
zu gestalten, dass sie ein Fundament in der<br />
Realität haben und nicht zu heftigen Enttäuschungen<br />
führen. Dann kann sich das<br />
Ganze stabilisieren. In guten Partnerschaften<br />
hat jeder das Gefühl: Ich bekomme das in<br />
unserer Beziehung, was ich möchte – und<br />
der andere auch.<br />
Welche negativen und welche positiven<br />
Eigenschaften hat Kleinlichkeit?<br />
Kleinlichkeit ist eine Filiale des Perfektionismus.<br />
Und Perfektionismus ist in bestimmten<br />
Feldern absolut angebracht. Um<br />
ihn zu trösten, habe ich neulich einem<br />
Chirurgen mit Eheproblemen gesagt: Im<br />
OP-Saal ist Perfektionismus eine Tugend,<br />
Sie müssen kleinlich sein und auf jedes<br />
Detail achten – in Ihrer Ehe aber kommen<br />
Sie damit nicht weit. Da geht es nicht um<br />
Perfektion. In einer guten und stabilen<br />
Beziehung erträgt man sich in seinen Unvollkommenheiten<br />
und findet sie vielleicht<br />
sogar irgendwann liebenswert. Auf jeden<br />
Fall ist es kleinlich, den anderen immer<br />
wieder darauf hinzuweisen, dass er etwas<br />
nicht richtig gemacht hat.<br />
Was aber natürlich oft passiert.<br />
Ein beliebtes Schlachtfeld in Beziehungen<br />
ist der Kampf zwischen den Menschen des<br />
Zwischenlagers und den Menschen des<br />
Endlagers. Die Zwischenlagerer machen sich<br />
zum Beispiel ein Butterbrot in der Küche,<br />
und dann liegt das Papier da und der Käse,<br />
während sie zufrieden vor dem Fernseher<br />
sitzen. Dann kommen die Endlagerer und<br />
sagen: »Warum kannst du nicht die Küche<br />
aufräumen, das vergammelt doch?!« Wenn<br />
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />
Großzügigkeit gegen<br />
Kleinlichkeit<br />
Welche Haltung uns<br />
wirklich weiter bringt<br />
In den folgenden Ausgaben<br />
2. TEIL:<br />
ERZIEHUNG<br />
Nicht alles ist möglich: Wie kleinliche Regeln<br />
große Freiräume zur Entfaltung schaffen<br />
3. TEIL:<br />
SCHENKEN<br />
Großzügige Gaben: Wie bereichernd es ist,<br />
Geschenke auch annehmen zu können<br />
die das einfach wegräumen würden, wäre<br />
das ein Beispiel für Großzügigkeit in einer<br />
Beziehung, das heißt: Ich bestehe nicht<br />
ständig darauf, dass mein Partner sich genauso<br />
optimal verhält wie ich. Wenn es<br />
mich nicht viel Aufwand kostet, dann<br />
schenke ich ihm meine Zeit und mache<br />
sauber. Die Beziehung bleibt dann in einem<br />
liebevollen Bereich. Es ist oft hilfreich für<br />
Paare, wenn sie das lernen.<br />
Diese Art von Großzügigkeit berührt den<br />
Bereich von Regeln und deren Übertretung<br />
– und damit sind wir beim Verzicht<br />
und bei der Milde. Inwieweit hat Verzeihen<br />
bei Paaren oder Freunden mit Großzügigkeit<br />
zu tun?<br />
Das Prinzip »Gnade vor Recht« – oder: Verzicht<br />
auf Rechthaberei – ist sehr wichtig,<br />
leidet aber in Beziehungen oft unter dem<br />
Druck von Stolz. Großzügig wäre, auf die<br />
Befriedigung meines gekränkten Stolzes zu<br />
verzichten, indem ich nicht immer wieder<br />
einen Vorwurf erneuere, mit dem ich ihr<br />
und mir das Leben vermiese. Doch ich befürchte,<br />
nicht mehr ich selbst zu sein, wenn<br />
ich den Vorwurf weglassen würde, dass der<br />
andere mich zum Beispiel betrogen hat.<br />
Dabei hätte die Akzeptanz – das Verzeihen<br />
– etwas sehr Lebensfreundliches, eine Art<br />
Großzügigkeit auch mit sich selbst. Da<br />
kommt natürlich auch der Humor ins Spiel.<br />
Die menschlichen Liebesbeziehungen sind<br />
schließlich so reich an Widersprüchen, dass<br />
man ohne Humor überhaupt nicht klarkommt.<br />
Letztlich hilft mir die Großzügigkeit,<br />
dass ich die Enttäuschung wegstecke.<br />
Dass ich sehen kann, dass noch viel Gutes<br />
da ist, statt zu sagen: »Damit ist auch der<br />
Rest vernichtet.« Das ist die destruktive<br />
Form von Kleinlichkeit, bei der es nur das<br />
perfekte Liebesobjekt gibt. Dabei besteht<br />
auch ein glückliches Paar doch immer<br />
nur aus zwei Menschen, die allmählich<br />
lernen können, sich mit ihren für ein an der<br />
richtigen und falschen Seiten gut zu verstehen<br />
und zu vertragen.<br />
Glauben Sie, dass Menschen sich grundsätzlich<br />
falsch einschätzen können? Dass<br />
sie sich selbst für generell großzügig<br />
halten, alle anderen denken jedoch: Das<br />
ist aber wirklich ein Geizhals?<br />
Ja, auf jeden Fall. Die menschliche Selbsteinschätzung,<br />
das hat schon der Philosoph<br />
Friedrich Nietzsche sehr schön gesagt, ist<br />
einfach dem Stolz unterworfen. Wenn<br />
mein Stolz mir gebietet, ein großzügiger<br />
Mensch zu sein, dann kann ich noch so<br />
geizige Dinge treiben, aber in der Bilanz<br />
halte ich mich für großzügig.<br />
Wenn Sie ein Bild malen würden, das Sie<br />
»Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit« nennen<br />
möchten: Wie würde das aussehen?<br />
Oh. Großzügigkeit würde ich wohl ein bisschen<br />
malen wie Chagall, mit bunten Farben<br />
und fließenden Übergängen. Die Kleinlichkeit<br />
sähe eher aus wie ein Wimmelbild, wie<br />
ein Gemälde von Albrecht Altdorfer vielleicht,<br />
auf dem viele kleine Figuren penibel<br />
gemalt sind. Oder Dürer wäre eher kleinlich<br />
und Rubens großzügig: barock, dramatisch,<br />
bewegt. Großzügigkeit und Kleinlichkeit:<br />
Beides ist an sich etwas Gutes. Und<br />
beides ist im Übermaß problematisch. —<br />
Wiebke Hansen und Sven Stillich freuten<br />
sich sehr über die Großzügigkeit ihrer Videokonferenz-Software.<br />
Die hob mitten im Interview die<br />
eingebaute Zeitbeschränkung von 40 Minuten für<br />
die Gratis-Version einfach auf. Danke vielmals.<br />
Illustration Saša Ostoja
29
30<br />
Wann sind Sie<br />
großzügig?<br />
Warum sind<br />
Sie kleinlich?
31<br />
PSYCHOTEST<br />
Wo immer unser Schwerpunkt vom Naturell her liegen mag:<br />
Wir alle haben nicht nur eine großzügige, sondern auch<br />
eine kleinliche Seite, die je nach Situation zum Vorschein<br />
kommt. So schauen wir etwa einerseits kaum aufs Geld,<br />
während wir andererseits erbittert feilschen. Mal sind wir<br />
perfektionistisch, dann wieder lassen wir fünfe gerade sein.<br />
Hier verzeihen wir, dort sind wir nachtragend.<br />
Die Frage ist: Was steckt jeweils hinter unserer<br />
Großzügigkeit und Kleinlichkeit? Mit diesem Test<br />
kommen Sie Ihren Motiven für beides auf die Spur<br />
Test Dr. Eva Wlodarek<br />
KREUZEN SIE IMMER DIE ANTWORT AN,<br />
DIE AUF SIE AM EHESTEN ZUTRIFFT.<br />
1.<br />
Im Restaurant bekommen Sie mit, dass<br />
der unfreundliche Kellner von einem<br />
Gast ein dickes Trinkgeld bekommt.<br />
Sie vermuten, dass …<br />
… dieser hier Stammgast ist. (A)<br />
… ihn das Verhalten nicht besonders<br />
stört. (C)<br />
… er sich sagt, dass jeder mal<br />
einen schlechten Tag hat. (B)<br />
Eine Kollegin möchte früher gehen,<br />
weil sie ein Date hat. Sie sagen: »Kein<br />
Problem, ich nehme inzwischen deine<br />
Anrufe entgegen. Viel Spaß!« (A)<br />
3.<br />
Sie erfahren, dass eine Bekannte negativ<br />
über Sie geredet hat. Statt sich darüber<br />
aufzuregen, sagen Sie sich souverän:<br />
Was kümmert es den Mond, wenn<br />
ihn ein Hund anbellt. (C)<br />
Für mich ist wichtiger, was meine<br />
Freunde von mir halten. (A)<br />
»Großzügigkeit ist der natürlichste<br />
äußere Ausdruck einer inneren Haltung<br />
von Mitgefühl und liebender Güte.«<br />
Dalai Lama XIV. (B)<br />
5.<br />
Sie nehmen an einem Charity-Event der<br />
Stiftung »Kinder in Not« teil. Mit welchen<br />
Worten kann man Sie am ehesten zu<br />
einer Spende bewegen?<br />
»Sie wissen ja, dass gerade die<br />
Kleinsten und Schwächsten in der<br />
Gesellschaft unserer besonderen<br />
Fürsorge bedürfen.« (B)<br />
Illustration Noma Bar<br />
2.<br />
Welche kleine Großzügigkeit liegt<br />
Ihnen am meisten?<br />
An der Kasse im Supermarkt fehlt einer<br />
Frau ein Euro zu ihrem Einkauf. Sie<br />
schenken ihr spontan die Münze. (C)<br />
Ein kleiner Junge sitzt weinend vor der<br />
Haustür. »Meine Mutter ist nur kurz<br />
zum Bäcker«, sagt er. Sie bleiben ein<br />
paar Minuten bei ihm und trösten ihn,<br />
bis sie zurückkommt. (B)<br />
Was andere über mich sagen, sagt<br />
mehr über sie aus als über mich. (B)<br />
4.<br />
Welches Zitat über Großzügigkeit spricht<br />
Sie am meisten an?<br />
»Der Wert eines Menschen liegt in dem,<br />
was er gibt, und nicht in dem, was er<br />
empfangen kann.« Albert Einstein (A)<br />
»Wer Gutes tun will, muss es verschwenderisch<br />
tun.« Martin Luther (C)<br />
»Wir, die wir hier sind, leben im<br />
Überfluss. Was für ein gutes Gefühl<br />
macht es doch, davon abzugeben!« (C)<br />
»Die Kleinen werden es Ihnen von Herzen<br />
danken, Sie werden in strahlende<br />
Kinderaugen schauen.« (A)<br />
6.<br />
Der alte Conte überlegt, welchem seiner<br />
drei Söhne er sein Weingut vererben soll.<br />
Die dort tätigen Arbeiter liegen ihm am<br />
Herzen. Also entscheidet er sich für …
32<br />
Luigi. Der hat immer ein offenes Ohr<br />
für die Sorgen anderer und bemüht<br />
sich, ihnen zu helfen. (B)<br />
Paolo. Er setzt sich vor allem für die<br />
Belange der Familie ein, hat aber auch<br />
diejenigen im Auge, die mit ihr zu tun<br />
haben. (A)<br />
Graziano. Er ist unkompliziert und verbindlich<br />
und begegnet auch den einfachen<br />
Menschen auf Augenhöhe. (C)<br />
7.<br />
Beim Klassentreffen sehen Sie nach<br />
Jahren wieder Bruno, der Sie damals<br />
so fies gemobbt hat. Er scheint es nicht<br />
weit gebracht zu haben. Sie …<br />
… weisen lässig darauf hin, was Sie<br />
inzwischen alles erreicht haben. (E)<br />
… denken: »Gott sei Dank muss ich<br />
mit solchen Menschen heute nichts<br />
mehr zu tun haben.« (D)<br />
… fragen extra genau nach, was er<br />
denn jetzt so macht. (F)<br />
8.<br />
In der Diskussion mit einem Freund sind<br />
Sie sicher, dass Sie recht haben. Trotzdem<br />
verzichten Sie darauf, ihm das unter<br />
die Nase zu reiben, weil Sie …<br />
… keine Lust haben, sich wegen<br />
Peanuts zu streiten. (C)<br />
… wissen, dass er auf Kritik immer<br />
empfindlich reagiert. (B)<br />
… die gute Beziehung zu ihm wichtiger<br />
finden, als recht zu behalten. (A)<br />
9.<br />
Sie warten bereits seit 20 Minuten im<br />
Café auf eine Freundin. Als sie endlich<br />
kommt, sagt sie lässig: »Tut mir leid, ich<br />
habe unterwegs jemand getroffen.« Sie …<br />
… sagen vorwurfsvoll: »Ich habe mir<br />
schon Gedanken gemacht, ob ich mich<br />
vielleicht im Datum vertan habe.« (D)<br />
… weisen sie darauf hin, dass es ziemlich<br />
unangenehm ist, wie bestellt und<br />
nicht abgeholt im Lokal zu sitzen. Da<br />
sind 20 Minuten lang. (F)<br />
… sagen: »Ist schon okay«, verhalten<br />
sich dann aber recht reserviert. (E)<br />
10.<br />
Sie haben sich Hoffnung auf die Teamleitung<br />
gemacht. Aber die bekommt ein<br />
intriganter Kollege, der Ihnen fachlich<br />
nicht das Wasser reichen kann. Wütend<br />
und enttäuscht …<br />
… äußern Sie sich besorgt an höherer<br />
Stelle über seine Inkompetenz. (D)<br />
… halten Sie wichtige Informationen<br />
zurück. Soll der doch sehen, wie er<br />
da rankommt. (E)<br />
… führen Sie ein Protokoll über seine<br />
Fehler und falschen Entscheidungen.<br />
Irgendwann können Sie das nutzen. (F)<br />
11.<br />
Jemand hat Sie gekränkt, nun tut es ihm<br />
leid. Welche Entschuldigung nehmen Sie<br />
am ehesten an?<br />
»Ich konnte die ganze Nacht nicht<br />
schlafen. Mich hat so bedrückt, dass<br />
du verletzt bist.« (B)<br />
»Es tut mir so leid. Ich verstehe gar<br />
nicht, wie ich so etwas sagen konnte.<br />
Glaub mir, ich wollte dich wirklich nicht<br />
kränken.« (C)<br />
»Bitte verzeih mir. Mir liegt wirklich viel<br />
an dir, und ich halte es nicht aus, wenn<br />
du mir böse bist.« (A)<br />
12.<br />
Ihr Nachbar beschwert sich ständig<br />
darüber, dass ein kleiner Ast aus Ihrem<br />
Garten auf sein Grundstück ragt.<br />
Genervt sagen Sie:<br />
»Messen Sie doch nach, und gehen<br />
Sie damit vor Gericht!« (F)<br />
»Stellen Sie sich nicht so an. Ich beschwere<br />
mich ja auch nicht, wenn Sie<br />
mich mit Ihrem Grill vollräuchern.« (E)<br />
»Sonst haben Sie keine Sorgen?« (D)<br />
13.<br />
Über welche Großzügigkeit freuen Sie<br />
sich am meisten?<br />
Sie entdecken auf einem Flohmarkt<br />
einen schönen kleinen Gegenstand.<br />
Nachdem Sie mit dem Besitzer ein<br />
wenig geplaudert haben, sagt er:<br />
»Den schenke ich Ihnen.« (C)<br />
Ihre Nachbarin steht mit einem Teller<br />
vor der Tür: »Ich habe gerade mein<br />
Spezialgericht gekocht und dachte,<br />
Sie mögen vielleicht probieren«. (A)<br />
Es war ein harter Tag, Sie sind erschöpft.<br />
Offenbar sieht man es Ihnen<br />
an: Im voll besetzten Bus steht ein<br />
junger Mann auf und bietet Ihnen<br />
seinen Platz an. (B)<br />
14.<br />
Drei von sieben Todsünden – zu welcher<br />
neigen Sie am ehesten?<br />
Zorn (E)<br />
Geiz (F)<br />
Habgier (D)<br />
15.<br />
Manche Menschen sind mit einem<br />
goldenen Löffel im Mund geboren:<br />
Geld wie Heu, prominente Familie, beste<br />
Beziehungen. Mit welcher Überlegung<br />
bezähmen Sie Ihren Neid?<br />
Die sind ständig von Bodyguards<br />
umgeben, weil sie Angst vor einer<br />
Entführung haben. (D)<br />
Die leiden genauso unter Krankheiten,<br />
Liebeskummer und Versagen wie<br />
unsereins. (F)<br />
Die wissen doch nie, ob man nur<br />
wegen ihres Geldes und ihrer<br />
Prominenz nett zu ihnen ist. (E)<br />
16.<br />
Was könnte Sie wohl dazu bringen,<br />
jemandem zum Geburtstag ein billiges<br />
Geschenk mitzubringen?<br />
Sie haben von ihm ein ähnliches<br />
Geschenk bekommen. (E)<br />
Sie sind pleite. (D)<br />
Sie hatten absolut keine Zeit, etwas<br />
anderes zu besorgen. (F)
33<br />
17.<br />
Der Duke of Lancaster ist mit der<br />
schönen Georgia verheiratet. Er<br />
vermutet, dass sie ihn betrügt.<br />
Schreiben Sie die Geschichte weiter:<br />
Rasend vor Eifersucht …<br />
… ändert er sein Testament<br />
zu ihren Ungunsten. (E)<br />
… verfolgt er sie heimlich auf Schritt<br />
und Tritt. (F)<br />
… fleht er sie an, ihm die Wahrheit<br />
zu sagen. (D)<br />
18.<br />
Sie haben jemandem einen Gefallen<br />
getan, und der hat sich nicht einmal bei<br />
Ihnen bedankt. Verärgert denken Sie:<br />
Der braucht sich bei mir nicht mehr<br />
zu melden! (E)<br />
Undank ist der Welten Lohn. (D)<br />
Kein Benehmen, so ein Verhalten<br />
ist unmöglich. (F)<br />
19.<br />
Sie gehen mit drei Bekannten zum<br />
Italiener. Die anderen bestellen ein<br />
Hauptgericht, Sie nur einen Salat. Am<br />
Ende heißt es: Lasst uns die Rechnung<br />
durch vier teilen. Sie wollen nicht<br />
knauserig erscheinen und zahlen, aber …<br />
… nehmen sich zähneknirschend vor:<br />
Nächstes Mal bestelle ich ein Drei-<br />
Gänge-Menü. (E)<br />
… ärgern sich über jeden Euro, den Sie<br />
zu viel bezahlt haben. (F)<br />
… mit solchen Leuten gehen Sie<br />
bestimmt nicht wieder essen. (D)<br />
TESTAUSWERTUNG<br />
1. Zählen Sie bitte zusammen, wie oft Sie im Test jeweils<br />
A, B und C angekreuzt haben. Der Buchstabe,<br />
den Sie am häufigsten gewählt haben, verrät Ihnen Ihr<br />
Motiv für Großzügigkeit.<br />
2. Bitte zählen Sie jeweils zusammen, wie oft Sie auf<br />
den vorigen Seiten D, E und F angekreuzt haben. Der<br />
Buchstabe, den Sie am häufigsten gewählt haben,<br />
verrät Ihnen Ihr Motiv für Kleinlichkeit.<br />
Sind mehrere Buchstaben gleich häufig, dann werden<br />
Sie je nach Situation von unterschiedlichen – vielleicht<br />
sogar widersprüchlichen – Motiven bestimmt. Welche<br />
das sind, lesen Sie bitte unter den entsprechenden<br />
Buchstaben nach.<br />
DAS STECKT HINTER IHRER GROSSZÜGIGKEIT:<br />
A<br />
Ihr Motiv: Beliebtheit<br />
Wir haben uns bei Ihren Freunden und Ihrer Familie<br />
sowie bei Ihren Kolleginnen und Kollegen umgehört.<br />
Die bestätigen unisono, dass Sie sehr oft großzügig<br />
sind. Für Menschen, die Ihnen nahestehen, ist Ihnen<br />
jedenfalls selten etwas zu viel. Sie sind bereit, einiges zu<br />
geben – sei es Ihre Zeit, ein finanzieller Beitrag, Ihre<br />
Arbeitsleistung oder sonstige Unterstützung. Das gilt<br />
privat wie beruflich. Kein Wunder, dass man es Ihnen<br />
dankt und anerkennend über Sie spricht. Und das ist<br />
auch genau das, was Sie – vielleicht unbewusst – dazu<br />
bewegt, großzügig zu sein.<br />
Ihr Gewinn: Auf diese Weise erreichen Sie, dass Sie<br />
von Ihrer Umgebung geliebt oder geschätzt werden.<br />
Die Gefahr: Sie geben anderen zu oft zu viel, um sympathisch<br />
zu sein.<br />
Tipp: Verteilen Sie Ihre Großzügigkeit nicht mit der<br />
Gießkanne, sondern differenzieren Sie, wer sie verdient<br />
hat. Sie müssen nicht everybody’s darling sein.<br />
20.<br />
Wo spüren Sie es in Ihrem Körper, wenn<br />
Sie so richtig großzügig gewesen sind?<br />
Im Kopf. Ich denke immer wieder<br />
mit Freude daran. (A)<br />
Im Bauch. Es ist ein warmes<br />
Glücksgefühl. (C)<br />
Im Herzen. Es fühlt sich lebendig an. (B)<br />
B<br />
Ihr Motiv: Empathie<br />
Erinnern Sie sich an Grimms Märchen Die Sterntaler?<br />
Da gibt das Mädchen am Ende sein letztes Hemd her.<br />
Das ist ein passendes Bild für Ihre Großzügigkeit. Die<br />
wird vor allem von Ihrem Herzen bestimmt. Sie können<br />
niemanden darben sehen, weder körperlich noch seelisch<br />
oder geistig. Sogleich verspüren Sie den Impuls,<br />
ihm beizuspringen und die Lücke mit Ihren Mitteln zu<br />
schließen. Sie geben etwa eine hilfreiche Adresse weiter,
34<br />
unterstützen mit Ihrem Know-how bei schwierigen<br />
Aufgaben oder spenden für Menschen in Not.<br />
Ihr Gewinn: Sie haben das beruhigende Gefühl, das<br />
Richtige getan zu haben, und sind mit sich im Reinen.<br />
Die Gefahr: Es besteht das Risiko, dass Ihre Großzügigkeit<br />
von anderen ausgenutzt wird.<br />
Tipp: Geben Sie nicht automatisch. Bevor Sie das<br />
nächste Mal großzügig sind, fragen Sie sich: Will ich<br />
das wirklich? Üben Sie, gelegentlich Nein zu sagen.<br />
C<br />
Ihr Motiv: Lässigkeit<br />
In Ihrem Schulzeugnis stand bestimmt der Zusatz:<br />
»… ist intelligent, aber muss sich mehr anstrengen.« Sie<br />
halten es gern mit dem Motto »Man lebt nur einmal«.<br />
Entsprechend zeigt sich Ihre Großzügigkeit im Alltag:<br />
Alle um sie herum hecheln der Selbstoptimierung hinterher?<br />
Wozu der Stress, man ist halt, wie man ist. Es<br />
sind Freunde in der Stadt? Die müssen doch nicht ins<br />
Hotel, die können gerne bei Ihnen übernachten. Jemand<br />
hat sich danebenbenommen? Schwamm drüber,<br />
das kann doch jedem mal passieren.<br />
Ihr Gewinn: Sie gehen leichtfüßiger als andere durch<br />
den Tag und gewinnen Sympathien.<br />
Die Gefahr: Zu wenig Disziplin hindert Sie daran, Ihr<br />
volles Potenzial zu entfalten. Wenn Sie wichtige Arbeiten<br />
allzu unbekümmert erledigen, kann das unter Umständen<br />
eine Fehlerquelle sein.<br />
Tipp: Erlauben Sie, dass Menschen mit einer präziseren<br />
Lebenseinstellung überprüfen, wo Ihre Großzügigkeit<br />
zu weit geht. Hören Sie dann darauf.<br />
DAS STECKT HINTER IHRER KLEINLICHKEIT:<br />
D<br />
Ihr Motiv: Sorge<br />
Was ist, wenn Sie krank werden? Wenn demnächst<br />
vielleicht teure Reparaturen fällig sind? Wenn die große<br />
Liebe erstirbt oder sich die Geschäftsidee als Flop erweisen<br />
sollte? Was passiert, wenn Sie das wichtige Projekt<br />
in den Sand setzen? Sich über solche Fragen Gedanken<br />
zu machen ist durchaus berechtigt. Schließlich ist es<br />
klug, Eventualitäten nicht zu verdrängen und dafür<br />
einen Plan B in der Tasche zu haben. Doch Sie neigen<br />
dazu, Unwägbarkeiten und Ängsten mit Kleinlichkeit<br />
zu begegnen. Das ist Ihre Art, sich dagegen zu wappnen.<br />
Vielleicht halten Sie deswegen eisern Ihr Geld zusammen<br />
und verkneifen sich jeden Luxus. Oder Sie<br />
gehen vorsorglich zurückhaltend mit Ihren Gefühlen<br />
um, damit Sie nicht enttäuscht werden können.<br />
Ihr Gewinn: Sie schützen sich weitgehend vor unliebsamen<br />
Überraschungen.<br />
Die Gefahr: Sie verpassen Chancen, weil Sie sich in<br />
einem Schneckenhaus eingerichtet haben.<br />
Tipp: Nichts gegen Vorsorge. Aber lernen Sie, auch in<br />
puncto Zukunft dem Leben zu vertrauen. Es ist großzügiger,<br />
als Sie denken.<br />
E<br />
Ihr Motiv: Vergeltung<br />
Jemand trifft Ihren wunden Punkt – und ist für Sie erledigt!<br />
Die Kellnerin knallt Ihnen das Essen lieblos auf<br />
den Tisch: Das wird sie am Trinkgeld merken. In Ihrem<br />
Team gibt es Leute, die wenig tun, aber die Lorbeeren<br />
ernten wollen – da sind Sie zurückhaltend mit Informationen.<br />
Sobald Sie das Gefühl haben, Geben und<br />
Nehmen seien nicht ausgeglichen, können Sie ganz<br />
schön kleinlich sein. Dazu besitzen Sie eine innere<br />
Waage, die das genau austariert und deren Motor Gerechtigkeit<br />
ist. Wenn jemand Sie übervorteilen will,<br />
wehren Sie sich mit Kleinlichkeit. Und das geschieht<br />
dann meist sehr deutlich, damit Ihr Gegenüber auch<br />
merkt, dass es hier um Ausgleich geht.<br />
Ihr Gewinn: Sie sind zufrieden, weil der Gerechtigkeit<br />
Genüge getan ist.<br />
Die Gefahr: Das kann in kleinliche Rache ausarten, bei<br />
der man sich gegenseitig hochschaukelt.<br />
Tipp: Versuchen Sie erst einmal, sich in den anderen<br />
einzufühlen. Vielleicht fällt Ihr Urteil dann weniger<br />
streng aus.<br />
F<br />
Ihr Motiv: Stress<br />
Wenn Sie sich unter Druck fühlen, können Sie ziemlich<br />
kleinlich werden. Dann ist da nichts mehr von der<br />
ursprünglichen Großzügigkeit – plötzlich reagieren Sie<br />
gereizt und ungeduldig. Oft fallen Ihnen dann in Ihrer<br />
Umgebung Details ins Auge, die Sie vorher nicht beachtet<br />
haben. Sie bemängeln, dass ein Bild schief hängt<br />
oder das Besteck auf dem Esstisch nicht parallel liegt.<br />
Im Job weisen Sie Kollegen auf Rechtschreibfehler in<br />
einer unwichtigen E-Mail hin oder prüfen eine Abrechnung<br />
Punkt für Punkt bis auf den Cent. Meist<br />
leiden Sie selbst darunter, dass Sie so pingelig reagieren,<br />
können das aber kaum abstellen.<br />
Ihr Gewinn: Die penible Kontrolle über eine Situation<br />
gibt Ihnen Sicherheit.<br />
Die Gefahr: Andere fühlen sich von Ihnen kritisiert<br />
oder bevormundet. Hinter vorgehaltener Hand bezeichnet<br />
man Sie als »Krämer« oder »Erbsenzählerin«.<br />
Tipp: Nehmen Sie auftauchende Kleinlichkeit als Indikator<br />
dafür, dass Sie sich entspannen sollten.
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36<br />
DAS ZEIT WISSEN GESPRÄCH<br />
»Der Mississippi sollte vor<br />
Gericht ziehen können«<br />
Müssen die Menschen ihr Weltbild auf den Kopf stellen,<br />
um sich zu retten? Ein Gespräch mit Fritz Habekuß und<br />
Dirk Steffens – zwei Experten des Überlebens<br />
Interview Andrea Böhnke und Clara Rauschendorfer
37
38<br />
D<br />
irk Steffens und Fritz Habekuß<br />
kriechen berufsbedingt<br />
normalerweise durch<br />
Höhlen, beobachten Elefanten<br />
in Afrika oder stapfen<br />
an Gletschern entlang.<br />
Doch die Corona-Pandemie hat auch die<br />
Wissenschaftsjournalisten »gegroundet«, wie<br />
die beiden selbst sagen. Wir treffen uns für<br />
das Gespräch daher in einem Konferenzraum<br />
der ZEIT in Hamburg. Nach dem<br />
Interview wollen Steffens und Habekuß<br />
endlich auf das Buch anstoßen, das sie miteinander<br />
geschrieben haben. Es geht darin<br />
um nichts Geringeres als die Rettung der<br />
Menschheit – daher der Titel: Über Leben.<br />
Herr Steffens, Herr Habekuß, Sie berichten<br />
regelmäßig über die Probleme, die wir der<br />
Natur bereiten. Wer von Ihnen ist der größere<br />
Menschenfreund?<br />
Dirk Steffens: Ganz klar Fritz.<br />
Fritz Habekuß: (erstaunt) Warum?<br />
Steffens: Du reagierst verständnisvoller auf<br />
Fehlverhalten als ich und fragst dich eher,<br />
warum wir so handeln, wie wir es tun.<br />
Machen wir den Menschen doch mal im<br />
Namen der Natur den Gerichtsprozess.<br />
Herr Steffens, Sie sind der Staatsanwalt.<br />
Welche Zeugen rufen Sie auf?<br />
Steffens: Ich könnte neun Millionen Arten<br />
einzeln in den Zeugenstand rufen, und jede<br />
könnte eine Geschichte von sinnloser Zerstörung<br />
durch den Homo sapiens erzählen<br />
und belegen. Es gibt auch Menschen, die zu<br />
den Opfern zählen, vor allem indigene Völker,<br />
die von Naturzerstörung betroffen sind.<br />
Nennen Sie uns bitte konkrete Zeugen.<br />
Steffens: Gehen auch ausgestorbene Arten?<br />
Ja, das geht auch.<br />
Steffens: Dann rufe ich den Riesenalk auf.<br />
Das letzte lebende Pärchen wurde im 19.<br />
Jahrhundert auf Island gesichtet. Ein<br />
Sammler hat damals drei Männer damit<br />
beauftragt, die beiden Riesenalke zu fangen<br />
und für seine Sammlung auszustopfen. Die<br />
Männer haben die Tiere mit bloßen Händen<br />
erwürgt und nebenbei auch noch das<br />
letzte Ei zertreten. Einfach so, weil’s ging.<br />
Es gehörte gar nicht zu ihrem Auftrag. Zwei<br />
Charakterzüge des Menschen führen immer<br />
unweigerlich zur Zerstörung: seine Gier,<br />
die eigenen Lebensumstände einfach und<br />
schnell zu verbessern, und seine Gedankenlosigkeit,<br />
was das für Folgen hat.<br />
Herr Habekuß, wenn Sie den Menschen in<br />
dem Prozess verteidigen müssten, welche<br />
Zeugen würden Sie aufrufen?<br />
Habekuß: Die Nachtigall. Dieser Vogel, der<br />
früher nur im Wald vorgekommen ist, fühlt<br />
sich heute in Berlin so wohl wie an keinem<br />
anderen Ort. So schlecht können wir also<br />
für die Natur nicht sein, wenn es sogar die<br />
ehemals so scheue Nachtigall in der deutschen<br />
Hauptstadt aushält.<br />
Steffens: Einspruch! Das ist kein Entlastungsgrund,<br />
weil es nicht absichtsvoll geschehen<br />
ist. Das Wohlergehen der Nachtigall<br />
ist nur ein zufälliges Nebenprodukt<br />
menschlichen Verhaltens. Der Riesenalk<br />
wurde in vollem Bewusstsein ausgerottet.<br />
Einspruch stattgegeben. Herr Habekuß?<br />
Habekuß: Weltweit betreiben Menschen<br />
wahnsinnigen Aufwand, um Arten zu retten.<br />
Der Kranich, der Seeadler und der Wolf<br />
sind in Deutschland Erfolgsbeispiele. Wenn<br />
wir Menschen wollen, können wir durchaus<br />
Arten erhalten und investieren auch viel<br />
Geld in ihren Schutz.<br />
Steffens: Nochmals Einspruch! Dass wir<br />
einzelne Arten retten und es einzelne Menschen<br />
gibt, die bis zur Selbstaufopferung für<br />
sie kämpfen, macht unsere Vergehen nicht<br />
besser. Wir rotten viel mehr Arten aus, als<br />
wir retten. Das große Bemühen einzelner<br />
Menschen wird immer wieder dadurch konterkariert,<br />
dass die Masse egoistisch handelt.<br />
Habekuß: In einem Gerichtsprozess kann<br />
man aber nur Personen anklagen. Und die<br />
wenigsten von uns fällen doch Bäume im<br />
Amazonas oder fangen Fische aus überfischten<br />
Meeren. Das heißt, die Verantwortlichkeit<br />
ist gar nicht so leicht festzustellen.<br />
Steffens: Wer von uns weiß denn heute<br />
nicht, dass billiges Fleisch mit der Abholzung<br />
des Regenwalds in Brasilien verbunden<br />
ist? Aber ich muss jetzt mal eine Sache<br />
sagen: Ich spüre, wie Fritz leidet. Wir würden<br />
ja eigentlich gerne zusammen den<br />
Richter belangen, der solche Dinge nicht<br />
verurteilt. (lacht)<br />
Wie können wir den Menschen denn zur<br />
Verantwortung ziehen?<br />
Habekuß: Es gibt überall auf der Welt<br />
Menschen, die der Natur Rechte verleihen<br />
wollen. Eine Bewegung in den USA will<br />
zum Beispiel erwirken, dass der Mississippi<br />
vor Gericht ziehen kann. In den letzten<br />
Jahrzehnten hat der Mensch dessen Ufer begradigt<br />
und verbaut, sein Wasser ist verdreckt,<br />
und er wird ausgebeutet. Die konventionellen<br />
Umweltgesetze definieren nur,<br />
wie sehr man einen Fluss nutzen, verschmutzen<br />
und verbauen darf. Aber wenn eine Aktiengesellschaft<br />
Rechte besitzt, warum nicht<br />
auch ein Fluss? Warum darf ein Wald nicht<br />
dagegen klagen, dass er abgeholzt wird?<br />
Steffens: Naturzerstörung müsste im Grunde<br />
wie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
geahndet werden. Seit dem Philosophen<br />
Jean-Jacques Rousseau sagen wir: Die<br />
individuelle Freiheit endet dort, wo sie die<br />
Freiheit des Nächsten einschränkt. Die Idee<br />
von Gesetzen ist doch, das gemeinschaftliche<br />
Glück möglichst hochzuhalten. Aber Glück<br />
ist nur innerhalb funktionierender Natursysteme<br />
möglich. An deren Zerstörung ist<br />
die Naturwissenschaft, die heute als Kronzeugin<br />
von Arten- und Klimaschützern auftritt,<br />
mitschuldig. Für sie war die Natur irgendwann<br />
nur noch ein Gegenstand von<br />
Untersuchungen. Etwas, das man in Schubladen<br />
stecken, kategorisieren, in Rubriken<br />
einteilen kann. Und sie hat so getan, als<br />
seien wir Menschen nicht Teil der Natur,<br />
zumindest kein emotionaler. Wir betrachten<br />
alles nur als Kausalkonzept, Ursache hier,<br />
Wirkung dort. Das funktioniert gut für<br />
kleine Alltagsprobleme, aber schlecht für<br />
große Zusammenhänge.<br />
Warum sind wir überhaupt so viele Jahrhunderte<br />
damit durchgekommen?<br />
Steffens: Bis zur Industrialisierung konnte<br />
der Mensch Natur verbrauchen, ohne<br />
grundsätzlich in die Naturkreisläufe einzugreifen.<br />
Nun sind wir zum ersten Mal so<br />
viele, und unser Einfluss ist so groß, dass<br />
diese alte Erfahrung nicht mehr gilt. Das ist<br />
ein neues Problem, dessen wir uns jetzt zum<br />
ersten Mal wirklich gewahr werden können.<br />
Als Staatsanwalt würde ich sagen: Der<br />
Mensch kommt aus schwierigen sozialen<br />
Verhältnissen. Das können wir strafmildernd<br />
geltend machen. Aber das geht eben<br />
nur bis zu einem gewissen Punkt. Jetzt, da<br />
wir diese Zusammenhänge kennen, sind<br />
wir auch nicht mehr im Jugendstrafrecht,<br />
sondern wir sind voll verantwortlich für<br />
das, was wir tun. Und es ist eigentlich ganz<br />
einfach: Auf einem begrenzten Planeten ist<br />
unbegrenztes Wachstum nicht möglich.<br />
Wie kommt es, dass wir der Natur so etwas<br />
antun? Wir haben Gesetze, die verbieten,<br />
zu stehlen oder Menschen zu töten. Dem<br />
Fluss aber entwenden wir einfach sein Bett.<br />
Habekuß: Wir ziehen zwischen uns und der<br />
Natur eine Grenze und leben in der Illu sion,<br />
dass wir außerhalb von Naturzusammen-
39
40<br />
»Alle großen Umweltgutachten fordern heute längst eine radikale gesamtgesellschaftliche Transformation.<br />
Wir müssen unsere komplette Art, zu leben und zu wirtschaften, umstellen.«<br />
hängen existieren könnten. Dabei gibt es<br />
zwischen Mensch und Natur eine uralte<br />
Verbindung; sie steckt in jedem von uns.<br />
Das zeigt sich auch daran, dass Kinder nicht<br />
zwischen einem belebten und einem unbelebten<br />
Wesen und einem Menschen unterscheiden.<br />
Doch in den letzten zehn Generationen<br />
haben wir uns aus dieser Verbindung<br />
herausentwickelt.<br />
Steffens: Wir brauchen ein anderes Naturverständnis<br />
und auch wieder mehr von unserem<br />
alten Gemeinsinn: Die Luft gehört<br />
uns allen, das Wasser gehört uns allen, ein<br />
gesundes Leben muss für alle möglich sein.<br />
Dennoch sterben jährlich etwa neun Millionen<br />
Menschen an Folgen von Umweltverschmutzung.<br />
Mehr Gemeinsinn hört<br />
sich vielleicht heutzutage ein wenig weltfremd<br />
an, aber die meiste Zeit in der Geschichte<br />
unserer Art haben die Menschen<br />
doch nach diesen Grundsätzen gelebt.<br />
Wie ist uns das Naturverständnis und<br />
dieser Gemeinsinn abhandengekommen?<br />
Steffens: Als in der neolithischen Re vo lu tion<br />
aus Jägern und Sammlern Bauern wurden,<br />
sind die Motive entstanden, die uns heute so<br />
quälen: Egoismus und Habgier. Für die<br />
Nomaden war es sinnlos, Reichtum anzuhäufen,<br />
weil man ihn gar nicht mitschleppen<br />
konnte. Es hat erst einen Sinn bekommen,<br />
als wir begonnen haben, Zäune zu ziehen,<br />
Grund und Boden zu Privateigentum zu erklären<br />
und andere auszugrenzen.<br />
Welche Weichen hätten damals anders gestellt<br />
werden müssen?<br />
Steffens: Die Frauen hätten früher auf den<br />
Plan treten müssen. Die Gleichberechtigung<br />
der Frau ist aus meiner Sicht die beste<br />
Umweltschutzmaßnahme. Ich denke da<br />
auch an eine Freundin, die Verhaltensforscherin<br />
Jane Goodall. Sie hat manches<br />
nur entdecken können, weil sie jede Regel,<br />
die ihre männlichen Kollegen aufgestellt<br />
hatten, gebrochen hat: Sie ist zu den<br />
Schimpansen hingegangen und hat sich<br />
mit ihnen angefreundet. Nur deshalb hat sie<br />
herausgefunden, dass der Mensch nicht die<br />
einzige Art ist, die Werkzeuge benutzt.<br />
Durch eine weibliche, emotionale Sicht auf<br />
Natur können wir alle etwas lernen. Und<br />
aus der Bevölkerungswissenschaft wissen<br />
wir auch: Wenn mehr Frauen Zugang zu<br />
Bildung haben, fällt das Bevölkerungswachstum<br />
auf ein nachhaltiges Niveau.<br />
Und welche Rolle spielt unsere Gier nach<br />
immer mehr Besitz?<br />
Habekuß: Man sieht seit dem Mittelalter<br />
eine gigantische Verschiebung von Gemeinschaftseigentum<br />
in Privatbesitz. Was früher<br />
gemeinschaftlich nach klaren Regeln organisiert<br />
wurde, wurde plötzlich nach Einzelinteressen<br />
genutzt. Dass man überhaupt<br />
Boden besitzen kann, ist in anderen Kulturen<br />
übrigens ein völlig abwegiger Gedanke. In<br />
Grönland zum Beispiel gibt es keine Zäune,<br />
weil dieses Konzept von Grundeigentum<br />
nicht funktioniert. In Deutschland kann<br />
man Boden kaufen, und das führt dazu,<br />
dass er total übernutzt wird. Es lohnt sich
41<br />
für das Individuum, aus Privatgrund maximal<br />
viel herauszuholen.<br />
Steffens: Wir sind besoffen vom Erfolg des<br />
Kapitalismus und haben ihn in Lebens- und<br />
Gesellschaftsbereiche übertragen, in die er<br />
nicht gehört: in unsere Verteidigung, in<br />
Krankenhäuser, in Schulen, in Universitäten<br />
und eben auch in die Umweltpolitik. Andererseits<br />
sollten wir in den richtigen Bereichen<br />
viel mehr Kapitalismus wagen. Jemand, der<br />
die Umwelt zerstört, muss dafür auch zahlen.<br />
Wir müssen aufhören, Kosten auszulagern,<br />
und echte Umweltkosten berechnen, Preiswahrheit<br />
herstellen. Eine solche Art von<br />
Kapitalismus bedeutet Eigenverantwortung:<br />
Wenn du etwas kaputt machst, musst du es<br />
auch wieder reparieren.<br />
Muss man denn ansonsten zwingend gegen<br />
Wirtschaftswachstum sein, wenn man sich<br />
für die Umwelt einsetzen will?<br />
Habekuß: Solange wir dieses Wachstum<br />
mit Verbrauch von Natur und der Verschmutzung<br />
der Atmosphäre gleichsetzen,<br />
muss man gegen Wachstum sein. Aber es<br />
gibt ja andere Möglichkeiten, Wachstum zu<br />
definieren. Jeder will gesund sein, will Zeit<br />
haben, sich um seine Liebsten zu kümmern,<br />
will genügend zu essen haben und in sicheren<br />
Zusammenhängen leben. Die Kurven von<br />
Wohlstand und Lebensqualität verlaufen<br />
eine Zeit lang parallel. Irgendwann verdient<br />
man mehr, aber das Wohlbefinden bleibt<br />
auf dem gleichen Niveau.<br />
Steffens: Seit dem Jahr 1970 ist der Durchschnittsdeutsche<br />
schätzungsweise fünfmal<br />
wohlhabender geworden, aber kein bisschen<br />
glücklicher. Warum also wollen wir noch<br />
wohlhabender werden? Wir brauchen eine<br />
neue Idee von Wachstum.<br />
Wie könnte eine solche Idee aussehen?<br />
Steffens: Wachstum kann auch bedeuten,<br />
dass wir nicht mehr Nahrungsmittel produzieren<br />
als jetzt, sondern genauso viele – aber<br />
dabei keine Natur zerstören. Ich war gerade<br />
in Hallstatt in Österreich. Seit 7000 Jahren<br />
wird dort ununterbrochen Salz abgebaut.<br />
Wenn man heute vor dem Bergwerk steht,<br />
sieht man davon nichts. Weil vor Ort Vorschriften<br />
tradiert werden, wie man mit der<br />
Natur umzugehen hat, damit der Schaden<br />
nicht größer ist als der Nutzen des Bergbaus:<br />
Man darf nicht zu viele Bäume abholzen,<br />
sonst kommen Lawinen herunter.<br />
Man darf die Stollen nicht zu weit treiben,<br />
sonst brechen darüber die Hänge ein. Das<br />
sind einfache Gedanken. Uralte Einsichten.<br />
Habekuß: Wachstum ist auch eine Frage<br />
der Metrik. Wenn jemand Stunden im Stau<br />
verbracht hat, aber vorher getankt hat, ist<br />
das nach unserem heutigen Verständnis<br />
Wirtschaftswachstum. Dieser Mensch hat<br />
etwas verbraucht. Aber ist das dabei entstandene<br />
Wirtschaftswachstum gut für ihn?<br />
Am Ende geht es doch um Glück und Zufriedenheit<br />
und darum, dass man ein Teil<br />
der Natur ist und so lebt, dass wir als Art<br />
langfristig überleben können. Das ist ein<br />
Wert. Ihn muss man messbar machen, damit<br />
die Politik sich daran ausrichten kann.<br />
Steffens: Apropos Politik: Die Ökologie<br />
wird zur entscheidenden machtpolitischen<br />
Frage dieses Jahrhunderts werden. Die<br />
Staaten, die es schaffen, nachhaltig zu wirtschaften,<br />
die nachhaltig arbeitende Energieund<br />
Mobilitätstechnologien entwickeln,<br />
werden künftig Führungsnationen sein. Es<br />
geht doch beim Umweltschutz nicht darum,<br />
Bäume zu umarmen. Und wir dürfen<br />
ihn hier bei uns nicht mehr in politische<br />
Lager schieben, weil er da nicht hingehört.<br />
Umweltschutz ist unsere Lebensgrundlage<br />
– und diese darf niemals Gegenstand politischer<br />
Richtungskämpfe sein.<br />
Wie stoppen wir das Wachstum, das für<br />
unseren Planeten schädlich ist? Sollten wir<br />
alle weniger Auto fahren?<br />
Habekuß: Während der Corona-Hochphase<br />
sind an einzelnen Tagen die Emissionen<br />
weltweit um bis zu 18 Prozent zurückgegangen.<br />
Auf das Jahr gemittelt, werden wir<br />
wahrscheinlich acht Prozent CO₂ eingespart<br />
haben. Für uns persönlich war der Konsumverzicht<br />
während Corona zwar massiv –<br />
aber er hatte relativ geringe Auswirkungen<br />
auf die Umwelt. Das zeigt, dass die richtig<br />
fetten Räder, an denen wir jetzt in relativ<br />
kurzer Zeit drehen müssen, bei der Industrie<br />
und der Politik zu finden sind. Nur dort<br />
können wir den Klimawandel und die<br />
Zerstörung der Ökosphäre aufhalten.<br />
Ist die Corona-Pandemie ein guter Zeitpunkt,<br />
um ein Umdenken anzustoßen?<br />
Habekuß: Wir können zwei Erkenntnisse<br />
aus der Corona-Krise ziehen. Erstens: Wir<br />
sind ein Teil der Natur, und wir können uns<br />
nicht von Naturzusammenhängen befreien.<br />
Umweltschutz ist Seuchenschutz. Zweitens:<br />
Können und Wollen ist dasselbe. Vor der<br />
Krise hieß es immer, man könne nicht alle<br />
Flugzeuge am Boden lassen und man könne<br />
nicht aufhören zu wachsen und den Konsum<br />
stark einschränken. Aber es ging doch.<br />
Wenn wir wissen, warum wir bestimmte<br />
Dinge tun oder lassen sollen, sind wir<br />
durchaus bereit zu handeln – auch wenn das<br />
zulasten unserer persönlichen Freiheiten<br />
geht. Der Weg ist immer noch weit, aber<br />
weiter als jetzt war die Debatte noch nie.<br />
Steffens: Dass Umweltzerstörungen Epidemien<br />
auslösen, war schon lange vor Corona<br />
bekannt. Solange die Wissenschaft aber nur<br />
gewarnt hat, haben wir nicht gehandelt.<br />
Erst als Corona vor unserer Tür stand, hat<br />
sich etwas bewegt.<br />
Und wann können wir das Artensterben<br />
nicht mehr ignorieren?<br />
Steffens: Ich befürchte, dass wir erst handeln,<br />
wenn die Landwirtschaft Ernteausfälle von<br />
katastrophalem Ausmaß hat. Wenn die<br />
Nahrungsmittelversorgung auch in den<br />
westlichen Ländern wieder ein Problem<br />
wird. Wenn Wassermangel, Dürren und<br />
Missernten dazu führen, dass wir Flüchtlingswellen<br />
erleben, wie wir sie noch nicht<br />
erlebt haben. Verteilungskriege, Hungersnöte,<br />
neue Seuchen: Das sind die apokalyptischen<br />
Reiter, die von der Umweltzerstörung<br />
abhängen. Erst wenn die durch unsere<br />
Straßen galoppieren, werden wir handeln.<br />
Habekuß: Und das ist eine sehr westliche<br />
Perspektive. Wir sind so reich, dass wir uns<br />
davon freikaufen können, den apokalyptischen<br />
Reitern zu begegnen. Woanders hat<br />
die Apokalypse längst begonnen.<br />
Ist es dann schon zu spät, um zu handeln?<br />
Steffens: Jede Art und jede menschliche<br />
Population hat in früheren Zeiten bis in die<br />
Krise hinein expandiert. Das gilt für Elefanten<br />
genauso wie für die Aborigines in<br />
Australien, die ersten Siedler in Neuseeland<br />
oder für uns. Expansion ist ein biologisches<br />
Grundgesetz. Manche Menschenpopulationen<br />
haben nach der Krise in einer Balance<br />
mit der Natur gelebt, zum Beispiel Naturvölker<br />
wie die Yanomami oder die San.<br />
Wenn die das konnten, haben wir vielleicht<br />
auch eine Chance. Aber wir können es auch<br />
verbocken: Manche Völker sind schließlich<br />
verschwunden. Weil sie nicht schnell genug<br />
gelernt haben. Das Rennen ist offen.<br />
Habekuß: Die Warnzeichen der Katastrophe<br />
sind mittlerweile auch in einem so reichen<br />
Land wie Deutschland nicht mehr zu ignorieren.<br />
Und ich hoffe, dass das zu einem<br />
Umdenken führen wird.<br />
Steffens: Ich befürchte, dass wir tatsächlich<br />
durch eine große Krise gehen müssen, bevor<br />
wir als Art einen Weg finden, nachhaltig
42
43<br />
Fotos[M] Michael Breitung/Gallery Stock; Zack Seckler/Gallery Stock; H & D Zielske/Gallery Stock; Jenna Gang/Gallery Stock Foto Markus Tedeskino (r.)<br />
mit den Ressourcen des Planeten zu leben.<br />
Habekuß: Auf der anderen Seite wussten<br />
wir noch nie so viel wie heute. Wir haben es<br />
geschafft, zum Mond zu fliegen und zurückzukommen.<br />
Wir haben Nasenhaarschneider<br />
entwickelt, die leuchten. Wir können Elektroautos<br />
bauen mit 600 PS. Und wir haben<br />
es geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
zumindest in Europa wieder einen verhältnismäßig<br />
stabilen Frieden herzustellen. Warum<br />
soll es uns nicht gelingen, einen Ausweg<br />
aus der Ökokrise zu finden?<br />
Warum werden die Warnungen der Wissenschaft<br />
in der Ökokrise anscheinend<br />
weniger ernst genommen als zum Beispiel<br />
in der Corona-Krise?<br />
Habekuß: Bei der Ökokrise macht die Wissenschaft<br />
die Leitplanken sichtbar, innerhalb<br />
derer wir uns bewegen können, wenn<br />
wir das planetare System vernünftig nutzen<br />
wollen. Alle großen Umweltgutachten fordern<br />
heute längst eine radikale gesamtgesellschaftliche<br />
Transformation. Wir müssen<br />
unsere komplette Art, zu leben und zu wirtschaften,<br />
umstellen. Im Bundestag wird<br />
aber nur über Tempolimits für Autos und<br />
Gütesiegel für Fleisch verhandelt. Die Radikalität,<br />
die sich aus den Forderungen der<br />
Forscher ergibt, findet keine Entsprechung<br />
im politischen Mainstream. Die Debatte<br />
bildet nicht ab, wie ernst die Lage ist.<br />
Steffens: Die Folgen der Ökokrise sind zwar<br />
radikal, aber sie sind auch so vielgestaltig<br />
und vielschichtig, dass wir sie oft nicht als<br />
konkrete Bedrohung empfinden. Anders als<br />
in der Corona-Krise. Hier gab es irgendwann<br />
im Fernsehen Bilder von Leichentransporten<br />
in Italien und von Massengräbern<br />
in Brasilien zu sehen. Die Bedrohung<br />
wurde dort sinnlich und konkret erfahrbar.<br />
Die Ökokrise bleibt zu abstrakt.<br />
Kann der Wissenschaftsjournalismus hier<br />
etwas anders machen?<br />
Steffens: Wir berichten oft über negative<br />
Ereignisse. Wir sprechen über Verzicht,<br />
Verbote und Zerstörung. Total demotivierend,<br />
abschreckend. Vielleicht sollten wir<br />
den Blick öfter mal darauf lenken, was wir<br />
gewinnen, wenn wir die Umwelt schützen.<br />
Wir gewinnen ökonomisch, emotional,<br />
gesundheitlich und an Sicherheit. Wir gewinnen<br />
die bessere Zukunft.<br />
Kehren wir noch einmal zum Beginn des<br />
Interviews zurück. Welches Urteil fordern<br />
Sie als Staatsanwalt im Prozess gegen den<br />
Menschen, Herr Steffens?<br />
Steffens: Ich plädiere für eine lange Bewährungsstrafe<br />
mit strengen Auflagen. Wir<br />
müssen auch mit einer langfristigen Resozialisierungsmaßnahme<br />
rechnen. Die großen<br />
Systeme, die Wirtschaft und die Politik,<br />
müssen sich ändern. Hier müssen die Leitplanken,<br />
die die Naturwissenschaft definiert<br />
hat, in Handlungsanweisungen umgesetzt<br />
werden.<br />
Wirtschaft und Politik müssen sich resozialisieren<br />
– und was kann der Einzelne<br />
ändern? Müssen wir uns wieder in die<br />
Natur verlieben?<br />
Habekuß: Wenn wir von Liebe zur Natur<br />
sprechen, meinen wir damit, dass wir die<br />
uralte Verbindung zu ihr wiederentdecken<br />
müssen, aus der wir uns in den vergangenen<br />
Jahrzehnten herausgelöst haben. Und, ja,<br />
das ist dringend notwendig.<br />
Steffens: Wir müssen uns wieder mehr als<br />
Teil der Natur fühlen und öfter mal spüren,<br />
dass wir eigentlich kleine Wichte sind.<br />
Dirk Steffens moderiert die<br />
ZDF-Dokureihe »Terra X« und<br />
engagiert sich für den Artenschutz.<br />
Er wurde mehrfach<br />
ausgezeichnet, unter anderem<br />
mit dem Deutschen Fernsehpreis.<br />
Steffens ist zudem UN-<br />
Botschafter für die Dekade der<br />
biologischen Vielfalt sowie nationaler<br />
Botschafter des World<br />
Wide Fund For Nature (WWF)<br />
und des Jane-Goodall-Instituts.<br />
Fritz Habekuß schreibt als<br />
Redakteur im Ressort Wissen<br />
der ZEIT vor allem über das<br />
Verhältnis von Mensch und<br />
Natur. Vor zwei Jahren erhielt<br />
Habekuß den Holtzbrinck-Preis<br />
für Wissenschaftsjournalismus.<br />
Sie sind beide viel unterwegs. Wann haben<br />
Sie sich zuletzt gegenüber der Natur so<br />
richtig wie ein Zwerg gefühlt?<br />
Steffens: Ich war neulich in einer der längsten<br />
Höhlen Deutschlands, dem Hölloch.<br />
Wir haben dort in 80 Meter Tiefe in einem<br />
Biwak übernachtet. Durch die Höhle geht<br />
ein reißender Bach, ab und zu knallt das<br />
Gestein, der Berg arbeitet. Und jedes Mal,<br />
wenn man die Taschenlampe ausmacht,<br />
herrscht absolute Finsternis. Die Sinne sind<br />
vollkommen irritiert, und man beginnt auf<br />
einmal zwischen dem Tropfen, dem Gurgeln<br />
der Wasserfälle und dem Knacken der Steine<br />
menschliche Stimmen herauszuhören. Der<br />
Berg spricht zu einem. Solche Natureindrücke<br />
machen einen demütig. Alle großen<br />
Naturlandschaften – ob Berge, Küsten oder<br />
Vulkane – vermögen Riesenegos schrumpfen<br />
zu lassen. Demut ist ein schönes Gefühl,<br />
das wir öfter erleben sollten.<br />
Habekuß: Ich war zuletzt in Österreich am<br />
Berg Großglockner. In den Siebzigerjahren<br />
wurde dort eine Seilbahn gebaut, die einen<br />
damals direkt bis zum Gletscher gebracht<br />
hat. Die Seilbahn gibt es zwar immer noch,<br />
aber man muss inzwischen anderthalb<br />
Stunden laufen, bis man tatsächlich am<br />
Gletscher ist. Alle paar Kilometer steht ein<br />
Schild mit einer Jahreszahl, das die Stelle<br />
markiert, bis wohin das Eis zu dieser Zeit<br />
reichte. Man geht diesem sterbenden Gletscher<br />
hinterher und sieht quasi Naturgeschichte<br />
in Echtzeit. Ich solchen Momenten<br />
spüre ich Demut, und ich spüre sie gerne.<br />
Was ist es, was uns an der Natur so bewegt?<br />
Habekuß: Das fragen sich Wissenschaftler<br />
schon seit Jahrhunderten, ohne eine abschließende<br />
Antwort zu haben. Ich finde es<br />
aber eigentlich auch ganz schön, dass es<br />
einen Bereich gibt, der dem Verstand nicht<br />
direkt zugänglich ist.<br />
Steffens: Das Interessante ist ja, dass es unser<br />
Beruf ist, Wunder wissenschaftlich zu erklären.<br />
Als meine Eltern mir irgendwann<br />
eröffnet haben, dass es den Weihnachtsmann<br />
nicht gibt, hat das viel von der Faszination<br />
Weihnachten weggenommen. Die<br />
Natur aber verliert nichts von ihrem Zauber,<br />
wenn man sie versteht – im Gegenteil. —<br />
Andrea Böhnke und Clara Rauschendorfer<br />
wussten schon vor dem Interview, dass der Mensch<br />
für das Artensterben verantwortlich ist. Aber erst<br />
nach dem Gespräch ist ihnen bewusst geworden,<br />
dass vor dem Büro täglich eine Amsel singt.
44<br />
WER TUT MIR GUT?<br />
UND WER NICHT?
45<br />
Es ist gar nicht so einfach rauszufinden, welche Menschen<br />
das eigene Leben wirklich bereichern und welche nicht.<br />
Die Stinktiere tarnen sich nämlich oft ziemlich gut<br />
Text Katrin Zeug<br />
Fotos Loredana Nemes
46<br />
Kann es sein, dass ein paar Meter und die<br />
Laune eines anderen Menschen darüber<br />
entscheiden, wie es uns geht? Nicht die<br />
eigene Vergangenheit, nicht das Einkommen?<br />
Nicht die Gesundheit, die Glücksspiele,<br />
politischen Enttäuschungen oder<br />
Zukunftschancen? Nicholas Christakis, Soziologe und<br />
Direktor des Human Nature Lab der Yale University,<br />
hat die Daten einer ganzen Kleinstadt untersucht, gesammelt<br />
über Jahre. Er hat sich die sozialen Verstrickungen<br />
angesehen, die Krankheiten und Launen der<br />
Leute, hat die Winkel und Nischen in deren sozialen<br />
Netzen durchsucht – um herauszufinden, wo sich das<br />
Glück ansammelt und wo es fehlt. Und dann hat er<br />
eine interessante Entdeckung gemacht: Ob reich oder<br />
arm, gesund oder nicht – glücklich sind diejenigen, die<br />
von Glücklichen umgeben sind. Ganz direkt, Tür an<br />
Tür. Nicht nur weil sich Glückliche mit Glücklichen<br />
zusammentun, sondern weil sich Glück ausbreitet.<br />
Glück und Unglück sind ansteckend wie Viren. Besonders<br />
wichtig für die Übertragung: physische Nähe<br />
und regelmäßiger Kontakt. Je näher man wohnt, desto<br />
höher ist die Ansteckungsrate, vor allem zwischen<br />
gleichen Geschlechtern. Sein dringender Rat: Achten<br />
Sie darauf, mit wem Sie Ihre Zeit verbringen!<br />
»Das Schicksal des Menschen ist der Mensch«<br />
(Bertolt Brecht, »Die Mutter«)<br />
Die menschliche Existenz ist darauf ausgelegt, sich mit<br />
anderen zusammenzutun. Als Einzelkämpfer hätte sich<br />
der Homo sapiens nicht durchgesetzt. Er war vermutlich<br />
weder der Schlaueste noch der Stärkste unter den<br />
Menschenarten, und seine Babys kommen so unreif<br />
auf die Welt, dass sie sterben würden, wenn sich nicht<br />
jahrelang andere um sie kümmern – sein Vorteil ist die<br />
Kooperation. Jeder Einzelne wird fest in das Netz der<br />
Menschheit eingewoben, in das große Mit ein an der.<br />
Wobei die meisten bestimmt schon festgestellt haben:<br />
Das Zusammensein ist nicht immer leicht. Und egal ob<br />
durch Job, Liebe, Wohnraum, Geburt oder andere<br />
Spielarten des Schicksals: Nicht mit jedem will man im<br />
Leben verbunden sein, vorsichtig ausgedrückt.<br />
Aber kann man die Stinktiere einfach aussortieren?<br />
Die Jammerer, Bremser, Kleinmacher? Die Schlechtgelaunten,<br />
Immerbesorgten und Besserwisser? Die Gemeinen<br />
und Hinterhältigen? Bei manchen geht das bestimmt,<br />
und wenn man jemanden kennenlernt, kann<br />
man darauf achten, sich kein Stinktier ans Bein zu<br />
binden – doch die Realität zeigt: Schon das ist nicht so<br />
leicht. Gerade wenn es darauf ankommt, zum Beispiel<br />
in der Liebe, tarnen sie sich nämlich. Und wieder andere,<br />
wie Eltern, Kinder, Nachbarn oder Kollegen, kann man<br />
sich gar nicht aussuchen und somit auch nicht so leicht<br />
loswerden. Der Mensch hat zwar keine natürlichen<br />
Feinde. Aber er hat die anderen Menschen. »Wir sind<br />
unsere schlimmsten Raubtiere«, sagt Christakis.<br />
Warum ist es so kompliziert zu erkennen, wer uns<br />
wirklich guttut? Wie gehen wir am besten mit denen<br />
um, die es nicht tun – aber nun mal in unserem Leben<br />
vorhanden sind? Und was ist das überhaupt: guttun?
47<br />
Warum ist das so kompliziert?<br />
Der englische Psychoanalytiker Roger Money-Kyrle hat<br />
einmal gesagt, dass es ein Zeichen von seelischer Gesundheit<br />
sei, den Unterschied erkennen zu können<br />
zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was<br />
wir brauchen. Das trifft auch auf Verliebte zu. »Das<br />
Fatale an der Partnerwahl ist, dass die Entscheidungen<br />
nicht im Frontalhirn getroffen werden, sondern auf einer<br />
emotional gefärbten Ebene im limbischen System«,<br />
sagt Eckhard Roediger, Neurologe, Paartherapeut und<br />
Leiter des Instituts für Schematherapie in Frankfurt. In<br />
uns herrsche ein Codierungssystem, das blitzschnell<br />
sortiert: Freund, Feind, mag ich, mag ich nicht, kann<br />
ich riechen oder nicht. »Die emotionale und körperliche<br />
Anziehung ist sehr animalisch. Sie sagt allerdings nichts<br />
darüber, wer einem wirklich guttut.«<br />
Was uns anzieht, lernen wir oft sehr früh. Um all<br />
die sozialen Prozesse gleich parat zu haben, die uns als<br />
Mensch später ausmachen, bräuchten wir ein so großes<br />
Gehirn, dass unser Kopf nicht mehr durch den Geburtskanal<br />
passen würde. Wir kommen also zu früh auf die<br />
Welt, unfertig und verletzlich. Dann saugen wir wie ein<br />
Schwamm alles auf, was uns umgibt. Was unser Umfeld<br />
– oft die Mutter, der Vater – denkt, wie es lebt und liebt,<br />
bildet sich direkt in uns ab, gräbt sich ein in unser junges<br />
Hirn: Haben wir uns aufgehoben gefühlt? Wurde uns<br />
die Panik genommen vor dem plötzlichen Ausgeliefertsein<br />
in der Welt? Was wir in dieser Phase kennenlernen,<br />
wird unsere erste Vorstellung von Liebe prägen. Auch<br />
wenn das nicht immer gut für uns ist.<br />
Um im späteren Leben zu erkennen, wer uns wirklich<br />
guttut, müssen wir eine Lektion von Eckhard Roediger<br />
lernen: »Auch das Gegenteil von Guttun kann stimulieren<br />
und reizen. Damit müssen wir leben. Das ist Teil<br />
unserer Existenz.« Wenn Wollen und Brauchen immer<br />
dasselbe wären, dann gäbe es viel weniger Menschen<br />
mit Übergewicht oder Drogenproblemen. Und seltener<br />
Beziehungsdramen. Sein nüchterner Rat: »Wir müssen<br />
lernen, einen Ausgleich zu finden zwischen dem, was<br />
der Kopf gut findet, und dem, was der Bauch will.«<br />
Was ist das eigentlich: guttun?<br />
Mäeutik heißt eine Gesprächstechnik, deren Entwicklung<br />
Platon seinem Lehrer Sokrates zuschreibt. Bei<br />
dieser Technik erläutert nicht ein Redner einem anderen<br />
eine Erkenntnis, sondern er bringt das Gegenüber<br />
durch Fragen dazu, selbst auf den Gedanken zu kommen.<br />
Den Namen Mäeutik soll Sokrates’ Mutter vorgeschlagen<br />
haben, die Hebamme war. Sie verglich die<br />
Technik mit einer Geburt: Mithilfe des Lehrers werde<br />
die Einsicht vom Lernenden selbst geboren. Mäeutik<br />
ist das altgriechische Wort für die Hebammenkunst.<br />
Ulrike Geppert-Orthofer sagt: »Menschen, die einen<br />
dazu bringen, aus sich heraus zu erkennen, was einem<br />
guttut, das sind auch die, die einem guttun. Das sind die,<br />
die einen ernst nehmen und die einen so sein lassen, wie<br />
man ist.« Geppert-Orthofer ist Präsidentin des Deutschen<br />
Hebammenverbands und hat jahrelang selbst Frauen bei<br />
der Geburt begleitet. Eine Geburt sei natürlich eine<br />
Grenzsituation. Im Laufe dieses elementaren Ereignisses
48
49
50<br />
verlieren sich die guten Manieren, man schwitzt, schreit,<br />
scheidet aus. »Die Frauen sind dann ganz pur und<br />
spüren sehr klar, was sie brauchen und was nicht.« Auch<br />
wenn es die erste Geburt der Gebärenden ist und die<br />
dreihundertste der Hebamme – die Haltung müsse<br />
immer sein: Die Frau ist die Expertin für ihren Körper.<br />
Geppert-Orthofer sagt, das gelte eigentlich für jedes<br />
gute Mit ein an der: zugewandt sein, Zutrauen geben und<br />
bei dem unterstützen, was das Gegenüber allein nicht<br />
kann. »Das klingt so selbstverständlich, aber ich glaube,<br />
es ist trotzdem sehr selten.«<br />
Mit dem Moment der Geburt beginnt ein lebenslanges<br />
Ringen zweier Pole in uns: des Bedürfnisses nach<br />
einem Wir und des Bedürfnisses nach dem Ich. Ganz<br />
am Anfang ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind<br />
sehr eng und hingebungsvoll. In dieser Form von Beziehung<br />
fühlt das Kind sich sicher. Aber bald fängt es an,<br />
sich von der Mutter zu lösen. Erst nur ein paar Meter,<br />
robbend. Später immer weiter, sowohl physisch als auch<br />
emotional. Es will sich selbst entwickeln und Kontrolle<br />
haben. In dieser fundamentalen Polarität leben wir fortwährend:<br />
Man kann nicht voll beim anderen sein und<br />
gleichzeitig ganz bei sich. Wir wollen uns ganz angenommen<br />
fühlen und wollen doch den Kitzel des Fremden,<br />
der Herausforderung, der Freiheit, in der wir uns<br />
selbst spüren. In Beziehungen, in denen wir uns wohlfühlen,<br />
findet beides statt. Es geht hin und her. Der eine<br />
führt, der andere folgt. Dann wechselt es wieder, wie<br />
beim Tanz. Das gilt besonders für die Liebe, aber nicht<br />
nur. Auch im Job läuft es am besten, wenn es Freiräume<br />
gibt, sich auszuprobieren, Verantwortung zu übernehmen<br />
– und ein Auffangnetz, wenn es mal schiefgeht.<br />
Was tun mit denen, die uns nicht guttun?<br />
Es gibt jemanden, der sich in den vergangenen Jahren<br />
zu einem Experten für Menschen entwickelt hat, die uns<br />
nicht guttun: Robert Sutton, Management-Professor an<br />
der Stanford Business School und Berater vieler weltweit<br />
tätiger Unternehmen. Er bezeichnet sie geradeheraus<br />
als Arschlöcher, seine Bücher zum Umgang mit<br />
ihnen sind Bestseller. Dabei ist solch ein Urteil natürlich<br />
höchst subjektiv: Wer wen schlecht behandelt, ist<br />
nicht immer eindeutig, das Gewirr aus Gefühlen,<br />
Macht und Zwängen wird von den Beteiligten sehr<br />
unterschiedlich eingeschätzt. Sutton zitiert eine Studie<br />
aus den USA, in der die Hälfte der Befragten angab,<br />
unter dauerndem Mobbing am Arbeitsplatz zu leiden<br />
oder Zeuge davon zu sein – aber nicht mal ein Prozent<br />
zugab, andere wiederholt mies behandelt zu haben.<br />
Eine Sache ist also wichtig zu bedenken: Wer mit<br />
Arschlöchern konfrontiert ist, könnte auch eines sein.<br />
So vorsichtig man bei der Beurteilung anderer<br />
Menschen sein muss, so eindeutig kann schlechtes Verhalten<br />
benannt werden. Mies ist: Manipulation und der<br />
Versuch, andere dazu zu bringen, etwas zu tun, zu denken<br />
oder zu fühlen, was sie nicht wollen. Das Verwenden<br />
von etwas Anvertrautem gegen jemanden. Das eigene<br />
Leid wichtiger zu nehmen als das der anderen und nicht<br />
zu eigenen Taten und Fehlern zu stehen. Misstrauen zu<br />
hegen gegenüber denen, die sich weiterentwickeln. Und<br />
besser zu wissen, was gut für andere ist, als diese selbst.<br />
Solche Eigenschaften braucht niemand. Doch gerade in<br />
der Arbeitswelt hält sich leider das Gerücht, dass sie<br />
dabei helfen, mehr zu erreichen und mehr zu verdienen.<br />
Dass gerade Chefs sie bräuchten. Aber auch im Privaten<br />
wird schlechtes Benehmen oft damit gerechtfertigt, man<br />
wolle die Kinder, die Partnerin nur vor deren Fehlern<br />
bewahren. Das Schreien, die Rügen und die Lügen<br />
seien also leider Gottes nötige Erziehungsmaßnahmen.<br />
Studien zeigen dagegen deutlich: Wer schlecht behandelt<br />
wird, wird unproduktiv, macht mehr Fehler,<br />
verliert den Elan und wird langsamer und schlechter<br />
darin, Entscheidungen zu fällen – egal, ob schikanierte<br />
Ärztinnen und Krankenpfleger, gemobbte Kinder, Büroangestellte,<br />
Gemeindemitglieder oder unterdrückte<br />
Beziehungspartner. Nicht nur Glück ist ansteckend.<br />
Wenn uns jemand<br />
schadet, haben wir<br />
zwei Möglichkeiten:<br />
Etwas zu ändern –<br />
oder wegzugehen<br />
Auch Unhöflichkeit und Respektlosigkeit verbreiten<br />
sich viral. Zu Hause, am Arbeitsplatz, online, in der<br />
Schule und in Sportvereinen. Sie beeinflussen Gefühle,<br />
Hirnleistung, Motivation und Aufmerksamkeit negativ.<br />
Ganz grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten für den<br />
Umgang mit Menschen, die uns nicht guttun. Erstens:<br />
Man kann versuchen, etwas zu ändern. Zweitens: Man<br />
kann versuchen, wegzugehen. Beides muss man selbst<br />
tun. Beides ist mit Schmerzen verbunden. Es ist ein<br />
natürlicher und verbreiteter Reflex, sich davor schützen<br />
zu wollen und darum lieber erst mal gar nichts zu tun.<br />
Sutton nennt das »Arschloch-Blindheit«: Wir reden<br />
uns ein, es sei alles gar nicht so schlimm oder wir hätten<br />
keine Wahl – und manchmal kann das auch ein Teil der<br />
Wahrheit sein. Der Druck zu handeln und die Möglichkeiten<br />
dazu hängen nicht nur am individuellen<br />
Leid, sondern auch an äußeren Faktoren wie Geld,<br />
Macht und der Dauer, die man dem Ganzen ausgesetzt<br />
ist. Sutton warnt aber eindringlich davor, dauerhaft<br />
auszuharren. Besser sei es, sich Unterstützung zu suchen<br />
bei anderen Kollegen, Freunden oder einer Chefin, die<br />
einen schützt. Bei den Eltern. Bei allen, die hinter einem<br />
stehen. Um dann loszulegen.<br />
Erstens: versuchen, etwas zu ändern. Wir sitzen<br />
physiologisch und damit ganz grundsätzlich in einer<br />
Subjektivitätsfalle. Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass<br />
wir denken, die Welt und deren Geschöpfe seien so, wie
51<br />
wir sie sehen. Dabei sind sie womöglich auch anders.<br />
Der Buddhismus lehrt, das Eigene nur als eine Option<br />
zu sehen. Dafür müssen wir uns öffnen, oft schmerzlich,<br />
und versuchen, die andere Sichtweise zu erkennen und<br />
anzunehmen. Weil das so schwer ist, empfiehlt Eckhard<br />
Roediger eine spezielle Gesprächstechnik: Beide Gesprächspartner<br />
wiederholen jeweils das, was das Gegenüber<br />
sagt. Zum Perspektivwechsel rät Roediger aber<br />
nicht nur bei der Aus ein an der set zung mit anderen,<br />
sondern auch bei der Bewertung der beruflichen und<br />
privaten Beziehungen. Wir seien auf der Suche nach der<br />
Eier legenden Wollmilchsau: einem Job, der aufregend<br />
und lehrreich ist und doch nicht zu anstrengend – und<br />
nach einem Partner, der alle<br />
Bedürfnisse befriedigt. »Es gibt<br />
Paare, die teilen alles: Sexualität,<br />
Wohnen, Kindererziehung,<br />
Sport, Theater und sogar denselben<br />
Musikgeschmack«, sagt<br />
Roediger. »Aber man kann das<br />
nicht einklagen.« Ein langweiliger<br />
Partner wird nicht unbedingt<br />
aufregend durch eine<br />
neue Perspektive. Vielleicht ist<br />
er jedoch genau der Richtige<br />
für die Person, die Karriere<br />
machen, ein Haus bauen und<br />
Kinder großziehen will. Weil er<br />
gern zu Hause ist und das Kind<br />
versorgt. Manchmal, sagt Roediger,<br />
mache es glücklicher,<br />
wenn man flexibler wird in<br />
dem, was man erwartet. Und<br />
dann mit ein an der verhandelt,<br />
welche Freiheiten man sich<br />
lässt. »Es ist ein bürgerliches Ideal, nicht viel älter als 200<br />
Jahre, das uns denken lässt, wir müssten eine Person<br />
finden, mit der wir alles teilen können.«<br />
Zweitens: zu gehen versuchen. In diesem Punkt<br />
steckt viel Spielraum – und eine starke Abhängigkeit von<br />
räumlichen, emotionalen und finanziellen Möglichkeiten.<br />
Aber es lohnt sich, diese auszuloten. Sutton<br />
schreibt, manchmal würden schon ein paar Meter Abstand<br />
helfen, damit Menschen uns weniger schaden: in<br />
der Konferenz weiter weg sitzen, am Esstisch so, dass<br />
man den anderen nicht vor sich hat, auf einer Party in<br />
einen anderen Raum gehen. Bei gemeinen Mails oder<br />
Anrufen: nicht gleich antworten, den Takt verlangsamen.<br />
»Schaffen Sie sich Atempausen«, schreibt Sutton. Kurz<br />
rausgehen sei bei schlimmen Besprechungen, Streit,<br />
Familienfeiern, Mobbingattacken wie Erste Hilfe. Wer<br />
wenig Macht zur Veränderung hat, darf sich auch mal<br />
innerlich distanzieren: Versuchen Sie nicht, von Menschen<br />
verstanden oder gesehen zu werden, die nicht gut zu<br />
Ihnen sind (sie werden es eh nicht tun). Nutzen Sie, statt<br />
zu kämpfen, Ihre Kraft für das wirklich Wichtige: dass<br />
die Dinge, die mit diesen Menschen geregelt werden<br />
müssen, geregelt werden. Und passen Sie auf, dass Sie<br />
nicht von der Bosheit angesteckt werden. Auf Dauer<br />
reicht es allerdings oft nicht aus, zu verharren. Dann<br />
muss der Job gekündigt werden, der Partner verlassen,<br />
die Schule gewechselt. »Unsere Gesellschaft ist durchlässiger<br />
geworden, wir können gehen, wir wissen es oft<br />
nur noch nicht«, sagt Roediger und erzählt die Geschichte<br />
vom kleinen Elefanten, der an einen Pflock<br />
gekettet ist. Er versucht sich loszureißen, schafft es aber<br />
nicht. Irgendwann hört er auf, es zu versuchen, wird<br />
erwachsen und hängt als mächtiger Elefant immer noch<br />
am Pflock und glaubt, er sei zu schwach, sich zu lösen.<br />
Auch wenn diese Vorschläge<br />
im Grunde für alle Beziehungen<br />
gelten, gibt es einen<br />
Spezialfall: die Eltern. Weil wir<br />
sie so sehr in uns tragen. »Eltern,<br />
die einem nicht guttun, muss<br />
man differenzierter sehen«, sagt<br />
Heinz Weiss, Psycho analytiker<br />
am Sigmund-Freud-Institut in<br />
Frankfurt. Wenn man zu viele<br />
Groll- und Rachegefühle gegenüber<br />
den Eltern hege, könne<br />
man zwar versuchen, sich<br />
äußerlich von ihnen abzuwenden.<br />
Dann aber werde man die<br />
gleichen Beziehungen mit anderen<br />
Menschen immer wiederholen.<br />
»Letztlich muss eine<br />
Wiedergutmachung mit den<br />
inneren Eltern stattfinden, die<br />
wir in uns tragen und die wir nie<br />
loswerden können.« Es gehe<br />
darum, auch zwiespältige und gegensätzliche Gefühle<br />
aushalten zu können. Wer sich selbst mit all seinen guten<br />
und schwierigen Seiten akzeptieren könne, der könne<br />
auch andere besser mit ihren verschiedenen Seiten<br />
akzeptieren. Und meist hängen die eigenen schwierigen<br />
Seiten und die der Eltern ja auch zusammen.<br />
Dass Gut und Böse nicht so weit von ein an der entfernt<br />
liegen, weiß auch Nicholas Christakis. Bevor man<br />
allzu streng die Menschen um sich herum aussortiert,<br />
empfiehlt er ein altes japanisches Konzept der Ästhetik,<br />
das Wabi-Sabi. Es bedeutet, nicht nur offenkundige<br />
Schönheit zu sehen, sondern auch gebrochene, verhüllte.<br />
Den bemoosten Fels, den verrosteten Teekessel. Es ist<br />
die Wertschätzung der Schönheit trotz Unvollkommenheit.<br />
Wabi-Sabi können wir auch anwenden auf<br />
Menschen, die uns umgeben. Und auf uns selbst. —<br />
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />
Das tut jetzt gut<br />
1. TEIL:<br />
DANN BLEIB ICH HALT ZU HAUSE<br />
Sich selbst verwöhnen und neu entdecken<br />
(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />
2. TEIL:<br />
WIE ICH VOM REDEN<br />
INS HANDELN KOMME<br />
Dem Alltag neue Impulse geben<br />
(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />
3. TEIL:<br />
WER TUT MIR GUT, WER NICHT?<br />
Die Beziehungen neu sortieren<br />
(in dieser Ausgabe)<br />
Katrin Zeug findet, es kann auch manchmal zu viel<br />
darum gehen, wer wem wie und wann guttut oder schadet:<br />
In manchen Situationen würde es helfen, wenn es einfach nur<br />
um die Sache an sich ginge.
52<br />
DIE GROSSEN<br />
3<br />
Hula-Hoop-Reifen, Schaukel und Springseil: Die Veteranen<br />
der Turnhalle treten zum Kräftemessen an.<br />
Moderne Fitnessgeräte dürfen schon mal nervös werden<br />
Text Hella Kemper<br />
Mitte des 16. Jahrhunderts malte Pieter<br />
Bruegel der Ältere im Vordergrund<br />
des Gemäldes Die Kinderspiele zwei<br />
Reifenspieler. Die beiden treiben ihre<br />
Reifen mit einem Stöckchen voran.<br />
Tüdelreifen, wie sie genannt wurden,<br />
waren aus Weidenholz – oder gar aus Eisen, wenn sie<br />
zuvor als Halteringe von Holzfässern gedient hatten.<br />
»Alles, was rund ist, fasziniert«, sagt Karin Schmidt-<br />
Ruhland, Professorin für Spiel- und Lerndesign an der<br />
Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Bunt beklebt<br />
– fertig ist das Spielzeug: der Hula-Hoop-Reifen.<br />
Die Amerikaner Arthur Melin und Richard Knerr bastelten<br />
den ersten in einer Garage in Kalifornien aus einem<br />
leichten, aber stabilen Plastik. Im Sommer 1958<br />
verkauften sich 40 Millionen Stück – seither gilt der<br />
Plastikreifen als eins der erfolgreichsten Sportgeräte.<br />
»Eigentlich ist Jonglage eine ur alte Kunst«, sagt der<br />
Sporthistoriker Ansgar Molzberger von der Deutschen<br />
Sporthochschule Köln, »aber Melin und Knerr ist es<br />
gelungen, eine Trade mark zu entwickeln, ein Markenzeichen.«<br />
Doch der Hula- Hoop- Hype hielt in den USA<br />
nicht lange an: Nach dem Sommer 1958 verschwanden<br />
die Reifen. Dafür wurden jetzt in Deutschland die Hüften<br />
geschwungen. »Eine klassische Wirtschaftswundergeschichte«,<br />
sagt Molzberger. »Nach dem Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs war der erste Aufschwung erreicht, man<br />
konnte es sich leisten, wieder albern zu sein.« Hula-<br />
Hoop, das klang außerdem exotisch und erotisch. Seinen<br />
Ursprung hat der Name in einem hawaiianischen Tanz,<br />
hoop ist das englische Wort für Reifen. Das sexy Hüftkreisen<br />
rief Moralwächter auf den Plan. In Japan wurde<br />
Hula-Hoop in der Öffentlichkeit sogar verboten.<br />
Ein typischer Reifen wiegt zwischen 200 und 500<br />
Gramm und verhält sich ähnlich wie ein Ball. »Durch<br />
seinen großen Durchmesser hat er trotz seines geringen<br />
Gewichts eine gewisse Trägheit«, sagt Stefan Kwast von<br />
der Universität Leipzig. Das erleichtert das Spiel – denn
53<br />
er stabilisiert sich durch seine Massenträgheit selbst. Ein<br />
leichterer Reifen wird durch falsche Bewegungen aus<br />
seiner Bahn geworfen. Große Reifen mit einem Durchmesser<br />
von bis zu 120 Zentimetern drehen sich langsamer<br />
– »und man muss nicht so schnell kreisen«, sagt<br />
der Trainingswissenschaftler Patrick Berndt von der<br />
Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement<br />
in Saarbrücken. »Der Nachteil ist, dass ein schwerer<br />
Reifen mehr Kraft braucht, um geschwungen zu<br />
werden.« Der Australierin Marawa Ibrahim gelang es,<br />
200 Reifen gleichzeitig um ihre Hüfte kreisen zu lassen.<br />
Um den Hals geht es auch, der Rekord: zehn Reifen.<br />
Was müssen wir tun, damit der Reifen nicht herunterfällt?<br />
»Dafür braucht es eine möglichst rhythmische,<br />
kreisende Bewegung in einer Geschwindigkeit, die<br />
ausreicht, um die Masse des Reifens so stark zu beschleunigen,<br />
dass die Kraft nach außen größer ist als die<br />
Gravitation nach unten«, sagt Berndt. Da arbeitet ein<br />
kompletter Muskel-Gelenk-Verbund: die wirbelsäulenstabilisierende<br />
Muskulatur, die Bauch-, Gesäß- und die<br />
hüftumgebende Muskulatur. »Wenn diese in der richtigen<br />
Reihenfolge angesteuert werden, kommt es zu einer<br />
kreisenden Bewegung des Beckens«, so Berndt. Muskulär<br />
sei dazu so gut wie jeder Mensch in der Lage. »Die<br />
eigentliche Schwierigkeit ist die Koordination. Die<br />
kreisende Bewegung muss gleichbleibend rhythmisch<br />
erfolgen.« Je länger man schwingt, desto beanspruchender<br />
wird es. Zwischen 110- und 140-mal umrundet der<br />
Reifen in einer Minute den Körper. Hula-Hoop fördert<br />
die Ausdauer, der Trainingswissenschaftler nennt es Ermüdungswiderstandsfähigkeit.<br />
Und weil man sich bei<br />
alldem konzentrieren muss, schaltet man beim Hüftkreisen<br />
gedanklich ab. Die perfekte Auszeit. Hinzu<br />
kommt: Die Verbindung zwischen linker und rechter<br />
Hirnhälfte nimmt durch motorische Stimulation an<br />
Volumen zu. »Und weil die Motorik zentral eta bliert ist«,<br />
so der Sportmediziner Kwast, »lassen sich motorische<br />
Lerneffekte auf andere Bereiche des Gehirns ausweiten.«<br />
Für Anfänger: Reicht ein Reifen auf dem Boden stehend<br />
bis zum Bauchnabel, hat er die richtige Größe.<br />
So geht’s: »Mit Anleitung üben«, sagt Ingo Froböse<br />
von der Deutschen Sporthochschule Köln. Dann:<br />
kreisen, kreisen, kreisen. Keine ruckhaften Bewegungen.<br />
Für Fortgeschrittene: Hat man Hula-Hoop gelernt,<br />
kann man Größe und Gewicht des Reifens reduzieren,<br />
um immer schneller zu werden.<br />
Das stimmt nicht: Wer seine Körpermitte trainiert,<br />
verliert in dieser Region auch Fett.<br />
Schaukeln heißt: das Leben spielen«, hat der<br />
Kunsthistoriker Jürgen von der Wense gesagt.<br />
Wer schaukelt, fühlt sich schwerelos.<br />
Der Höhenflug lässt uns die Erdanziehungskraft<br />
vergessen, wir schwingen dem<br />
Himmel entgegen, jauchzen und jubeln,<br />
fühlen uns frei und lebendig. Die Schaukel ist unsere<br />
Verbindung zur Erde. Ein Überschlag geht nicht (mit<br />
menschlicher Kraft), wenn das Schaukelbrett an Seilen<br />
oder Ketten befestigt ist. Sobald man damit über die<br />
Horizontale hinausschwingt, endet die Kreisbahn, die<br />
Schaukelketten erschlaffen, und man fällt senkrecht ab.<br />
Hängt die Schaukel dagegen an Stangen, kann sie 360<br />
Grad rund um die Achse der Aufhängung fliegen.<br />
7,38 Meter waren die Stangen lang, mit denen der Este<br />
Sven Saarpere geschaukelt ist – Weltrekord. In Estland<br />
ist Schaukeln jahrhundertealte Tradition: Beim Kiiking<br />
an Mittsommer loten die Schaukelsportler ihre Grenzen<br />
aus – und das verstehen die über Jahrzehnte von anderen<br />
Ländern besetzten Esten auch politisch.<br />
Unsere erste Schaukel ist der Mutterleib. Es folgt<br />
die Wiege, im Tragetuch oder Kinderwagen geht es<br />
weiter, dann aufs Schaukelpferd und raus auf den Spielplatz.<br />
Die dortigen Schaukelgeräte müssen der Europa-<br />
Norm EN1176 entsprechen. Im öffentlichen Raum<br />
entstehen immer spektakulärere Schaukellandschaften,<br />
wie die in Amsterdam mit dem Namen »Over the Edge«:<br />
Europas höchste Schaukel, mit der man über die Kante<br />
eines Hochhauses schwingt, steht in hundert Meter<br />
Höhe über dem Nordseekanal.<br />
Auf der Schaukel erleben wir, dass wir uns aus<br />
eigener Kraft Erdanziehung und Zentrifugalkraft zunutze<br />
machen können. Wenn man während der Passage<br />
des tiefsten Punktes seinen Schwerpunkt nach oben verlagert<br />
und am höchsten Punkt nach unten, gewinnt man<br />
Energie, die die Geschwindigkeit erhöht und die Pendelbewegung<br />
antreibt, also die Amplitude der Schwingung<br />
vergrößert. Während wir schwingen, verlagern wir<br />
dafür unseren Körper in der Vorwärtsbewegung in die<br />
Rückenlage, während der Gegenbewegung beugen wir<br />
uns nach vorn. Kinder machen das intuitiv richtig.<br />
»Diese Abläufe übertragen wir unbewusst auf andere<br />
Bewegungen. Je jünger man ist, desto besser gelingt der<br />
Transfer«, sagt Stefan Kwast von der Universität Leipzig.<br />
Der Spielplatzschaukel entwachsen, suchen wir das<br />
beschwingte Hin und Her in der Schiffsschaukel auf<br />
dem Jahrmarkt oder beim Bungee-Jumping, in Schaukelkissen<br />
und hängenden Sitzhalbkugeln, dem Wohlfühlinterieur<br />
der Möbelindustrie. Im besten Fall endet<br />
das lebenslange Gewiege im Schaukelstuhl. Denn
54<br />
Schaukeln macht gute Laune. »Körper und Welt durch<br />
das eigene Tun in Gang zu bringen macht Freude«, sagt<br />
die Spiel- und Lerndesign-Professorin Karin Schmidt-<br />
Ruhland. Schaukeln als dynamische Form des Sitzens<br />
wirke beruhigend. Das liegt an unserem Gleichgewichtsorgan,<br />
dem Vestibularapparat, der seinen Sitz im Innenohr<br />
hat. Er informiert das Gehirn über die Lage des<br />
Körpers im Raum, über Beschleunigung und Abbremsen.<br />
Werden durch das Schaukeln die Sinneswahrnehmungen<br />
angeregt, wird das Gleichgewichtsorgan aktiviert.<br />
Die Körperhaltung stabilisiert sich, der<br />
Muskeltonus normalisiert sich. Sanft schwingend, erinnert<br />
sich der Körper an das Wohlgefühl im Mutterleib.<br />
Manchen Menschen wird auf der Schaukel aber<br />
schwindelig. Das geschieht dann, wenn die Botschaften<br />
der Sinnesorgane nicht übereinstimmen: Meldet also<br />
das Gleichgewichtsorgan eine Beschleunigung, die das<br />
Auge nicht wahrnimmt, etwa weil die Schaukelamplitude<br />
zu groß ist, ist das Gehirn überfordert, man fühlt sich<br />
des orien tiert. Kommen aus dem Innenohr nicht genügend<br />
Reize, verkümmert der Vestibularapparat. »Aber<br />
wir können unser Gleichgewichtsorgan reaktivieren. Wir<br />
müssen es nur regelmäßig trainieren«, sagt Stefan Kwast.<br />
Nicht aufhalten können wir dagegen den Alterungsprozess<br />
des Vestibularsystems. Es kann degenerieren: Die<br />
Haarzellen, die für die Wahrnehmung der Bewegungen<br />
verantwortlich sind, verkalken, oder die Zahl der Sinneszellen<br />
nimmt ab. Aus ist der Traum vom Fliegen.<br />
Für Anfänger: Wem beim Schaukeln schwindelig wird,<br />
der sollte sich langsam an die ungewohnte Bewegung<br />
gewöhnen. Fünf Minuten reichen für den Anfang.<br />
So geht’s: Ingo Froböse rät: »Lass dich nicht anschubsen,<br />
initiiere die Bewegungen selbst, und kontrolliere sie.<br />
Lass locker, schwinge frei.«<br />
Mehr, mehr, mehr!<br />
Schaukeln ist<br />
wie Fliegen mit<br />
Bodenhaftung<br />
Es ist ein ganz einfaches Sportgerät und bereitet<br />
doch auf alle Sportarten vor, die auf<br />
beiden Beinen stattfinden. Früher schwangen<br />
vor allem Mädchen auf Gehwegen<br />
und Schülerinnen auf Pausenhöfen die<br />
Hanfseile und sangen im Rhythmus des<br />
Seils. Heute ist es nicht nur eins von vier Geräten in der<br />
rhythmischen Sportgymnastik, sondern das Springen<br />
auch Teil der Prüfung für das Deutsche Sportabzeichen<br />
und als »Rope- Skip ping« Trendsport. Aus dem harmlosen<br />
Zeitvertreib sind eine Fitnessübung und ein akrobatischer<br />
Show- und Hochleistungssport erwachsen –<br />
»was an der vielseitigen Verwendbarkeit des Seils liegt«,<br />
wie Karin Schmidt-Ruhland von der Kunsthochschule<br />
Halle sagt: »Es ist höchst interpretationsfähig.«<br />
Die Renaissance des Seilspringens ist einem Lehrer<br />
aus Kaiserslautern zu verdanken. Mitte der 1980er-<br />
Jahre brachte Wolfgang Westrich Rope- Skip ping als<br />
neue Sportart aus den USA mit. Dort war es durch eine<br />
Kampagne der American Heart Association bekannt<br />
geworden. Aber eigentlich ist Rope- Skip ping nichts<br />
anderes als Seilspringen – nur schneller, präziser, spektakulärer.<br />
Könner schaffen 160 Sprünge pro Minute. Was<br />
früher Hanf war, ist heute Kunststoff. Seile aus Draht<br />
sind schwerer und behalten beim Schwingen ihre Form.<br />
Fotos Stockbyte/Getty Images (S. 12, 13); Lillagunga Grand; Eyem/Getty Images
55<br />
Die Griffe sind hohl, damit das Seil mit weniger Kraftaufwand<br />
schneller gedreht werden kann. Sitzen im Griff<br />
zudem Kugellager, rast das Seil noch schneller. Entscheidend<br />
für die besten Flugeigenschaften ist aber vor<br />
allem das Verhältnis von Gewicht und Durchmesser.<br />
Das klassische Springseil trainiert eigentlich alles,<br />
»vor allem aber das kardiovaskuläre System, also die Ausdauerleistungsfähigkeit«,<br />
sagt der Trainigswissenschaftler<br />
Patrick Berndt. »Je mehr Muskulatur man einsetzt,<br />
desto mehr Blut muss zirkulieren, um die Muskulatur<br />
zu versorgen, und desto größer ist der Trainingseffekt<br />
auf das Herz-Kreislauf-System.« Zusätzlich habe es<br />
einen positiven Einfluss auf den gesamten Bewegungsapparat,<br />
sagt Stefan Kwast von der Universität Leipzig.<br />
»Die Nährstoffversorgung wird gefördert, Sehnen und<br />
Knorpel werden belastungsfähiger.« Die Stoßbelastung<br />
beim Seilspringen schade dem Knorpel nicht, sondern<br />
sei gerade so groß, um ihn anzuregen, sich der Belastung<br />
anzupassen. »Die Gelenke werden widerstandsfähiger<br />
und stabiler«, so Kwast. Außerdem regeneriert ein trainierter<br />
gesunder Knorpel nach einer Belastung schneller.<br />
Hinzu kommt: Wer über das Seil springt, verbindet die<br />
Sinneseindrücke mit dem motorischen Zentrum »und<br />
erfährt die Fähigkeit zur Rhythmisierung«.<br />
Für Anfänger: Je größer die Schwungmasse, also je<br />
schwerer das Seil ist, desto leichter ist Seilspringen zu<br />
lernen. Der Grund: Die Masse, die rotiert, gibt dem<br />
Springer Rückmeldungen über die Hand, er kann die<br />
Rotation nachempfinden. Der Nachteil: Durch das höhere<br />
Gewicht des Seils ermüden die Schultern schneller.<br />
Grundlagenausdauer: Über längere Zeit weniger intensiv<br />
springen – nicht so schnell und nicht so hoch,<br />
aber konstant. Fünf Minuten täglich reichen, um die<br />
kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit zu verbessern.<br />
Für Fortgeschrittene: Trainierte können barfuß springen.<br />
Das fördert die sogenannte Propriozeption, also<br />
die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Um die anaero<br />
be Ausdauer zu trainieren, springt man intensiver,<br />
höher und schneller, mit doppeltem Seilschlag in einem<br />
Sprung. Der Belastungsphase von 30 bis 60 Sekunden<br />
folgt eine ebenso lange Ruhepause.<br />
Jetzt reicht’s: Wer ein paarmal am Seil hängen bleibt,<br />
ist müde oder erschöpft. Genug gehüpft! —<br />
Hella Kemper taucht in das Glück der Erinnerung ein,<br />
wenn sie an die Schaukel im großelterlichen Garten zurückdenkt.<br />
Auf deren breitem Holzbrett flog sie mithilfe der<br />
Zentrifugalkraft hoch in die Zweige einer alten Trauerbirke.<br />
© arche noVa/Axel Fassio<br />
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56<br />
SCHENKT EIN,<br />
TRINKT AUS!<br />
Text Filippa Lessing
57<br />
Das Bier ist einer der besten Freunde des Menschen,<br />
es geht mit ihm seit Jahrtausenden durch dick und dünn.<br />
Eine prickelnde Liebesgeschichte<br />
C<br />
ountdown für den SpaceX-<br />
Raumfrachter: »3 ... 2 ... 1 ...<br />
Zündung – Start!« Donnernd<br />
hebt am 5. Dezember<br />
2019 im US-amerikanischen<br />
Cape Canaveral die Rakete<br />
Dragon ab. An Bord hat sie: Versorgungsnachschub<br />
für die Crew der Internationalen<br />
Raumstation ISS, wissenschaftliche Experimente<br />
– und Zutaten zum Bierbrauen.<br />
Mit einer Mini-Mälzerei und einigen<br />
Körnern Gerste soll geklärt werden, ob das<br />
Getreide auch in der Schwerelosigkeit durch<br />
kontrolliertes Keimen zu einer Grundzutat<br />
von Bier werden kann, zu Malz.<br />
Bier im All? Das Experiment soll in die<br />
Zukunft weisen, ausschweifende Expeditionen<br />
auf dem Mars möglich machen, die<br />
Ernährung von Astronauten im Weltraum<br />
voranbringen. Kennt man die Geschichte<br />
des Biers, erscheint der Versuch im All nicht<br />
mehr ganz so absurd: Bier ist fast so alt wie<br />
der moderne Mensch selbst – kein Wunder,<br />
dass es nun auch im Zeitalter der interplanetaren<br />
Raumfahrt eine Rolle spielen wird.<br />
Zum ersten Mal wurde Bier wahrscheinlich<br />
in Vor der asien getrunken, im<br />
10. Jahrtausend vor Christus. Indizien dafür<br />
fanden Archäologen an der Ausgrabungsstätte<br />
Göbekli Tepe im Süden der heutigen<br />
Türkei. Dort stehen riesige T-förmige Pfeiler<br />
im Kreis und bilden die wohl älteste Gebetsstätte<br />
der Welt. Die Menschen, die das Heiligtum<br />
aufbauten, waren Jäger und Sammler,<br />
organisiert in einem lockeren Kult. Sie hatten<br />
noch keine Nutztiere, bestellten noch keine<br />
Felder, verwendeten noch keine Tongefäße.<br />
Doch sie brauten bereits Bier: Zwischen<br />
den Pfeilern fanden Archäologen wannenartige<br />
Steine, an denen Rückstände von<br />
Calciumoxalat klebte – Bierstein.<br />
Um die Tempelanlage herum wuchsen<br />
im günstigen Klima wilde Gerste, Einkorn<br />
und Emmer. Die reiche Ernte wurde dabei<br />
jedoch zunächst nicht etwa für Brot genutzt.<br />
Im Gegenteil: Heute ist sich die Forschung<br />
sicher, dass Bier lange vor Brot hergestellt<br />
wurde. Die Wuchsform der Wildkräuter<br />
eignete sich besser für Gerstenschleim und<br />
Bier. Bier war zudem nahrhafter als der Brei,<br />
und die Gärung tötete gefährliche Keime.<br />
Hinzu kam die berauschende Wirkung<br />
des Getränks – und mit ihm die Geselligkeit:<br />
Alkohol förderte das soziale Zusammenleben.<br />
Denn allein zu trinken war gefährlich. Wer<br />
allerdings in der Gruppe trank, war vor<br />
Fressfeinden recht sicher. Der Alkohol<br />
diente auch als Lockmittel: Um die Tempelanlage<br />
zu errichten, brauchten die Erbauer<br />
die Hilfe befreundeter Stämme. Als Dankeschön<br />
wurde bei religiösen Feiern reichlich<br />
Bier serviert. »Die Entdeckung der Gärung<br />
und die Verwendung von Bier im gesellschaftlichen<br />
und religiösen Leben führten<br />
wahrscheinlich zur Domestizierung von<br />
Getreide«, fassten Archäologen ihre Entdeckung<br />
2012 in einer Studie zusammen. Erst<br />
das Bier, dann die Sesshaftwerdung.<br />
Bier blieb kein exklusives Getränk der<br />
Türken. Wenig später – vor etwa 9000 Jahren<br />
– genossen die Menschen auch in China<br />
ein Gläschen, wie Ausgrabungen in Jiahu<br />
zeigten. Statt Gerste wurden dort selbst gezüchteter<br />
Reis und Honig verwendet. Vor<br />
etwa 6000 Jahren schrieben die Babylonier<br />
ihre ersten Bierrezepte auf Tontafeln auf.<br />
Spätestens vor 5000 Jahren wurde auch im<br />
heutigen Iran und Israel Bier gebraut.<br />
Die Chinesen gehörten wohl zu den<br />
Ersten, die das Bierbrauen verfeinerten.<br />
Überließen die Steinzeitmenschen noch alles<br />
weitgehend dem Zufall, mälzten und<br />
fermentierten die chinesischen Bierbrauer<br />
bereits vor etwa 5000 Jahren recht gezielt,<br />
wie Ausgrabungen in der nordchinesischen<br />
Provinz Shaanxi belegen. Und in der Shang-<br />
Dynastie, vor etwa 3000 Jahren, stellten sie<br />
fest, dass Bier besser schmeckt, wenn es in<br />
den immer gleichen Gefäßen gebraut wird,<br />
da sich Hefen in den Spalten und Rissen<br />
einnisteten und so die zufälligen (und teils<br />
abenteuerlich schmeckenden) wilden Hefen<br />
aus der Luft ersetzten. Das wussten die Menschen<br />
damals freilich noch nicht – sie hielten<br />
die alkoholische Gärung je nach Glaube für<br />
Hexen- oder Götterwerk. Dennoch konnten<br />
die höheren Schichten so bereits zwischen<br />
Kräuterwein, Reis- und Hirsebier mit unterschiedlichem<br />
Alkoholgehalt wählen.<br />
Auch die alten Ägypter hatten eine beachtliche<br />
Bierauswahl zu bieten, etwa welches<br />
aus Einkorn, Emmer und Dinkelmalz, auf<br />
Datteln gelagert oder aus aufgeweichten<br />
Broten hergestellt, gewürzt mit Honig, Ingwer<br />
und Früchten, Lilie und Kürbis. Am Nil<br />
war Bier jedoch nicht nur Alltagsgetränk,<br />
die Ägypter verstanden den Drink mit der<br />
bewusstseinserweiternden Wirkung als Brücke<br />
zwischen dem Dies- und Jenseits. Bier<br />
hatte eine Göttin (Tjenenet), war Opfergabe<br />
und Teil ritueller Formeln. Pyramidenarbeiter<br />
wurden auch in Bier ausgezahlt. Die<br />
Verbindung von Alkohol und Göttern ist in<br />
fast allen Teilen der Welt zu beobachten.<br />
Zu einer höheren Macht zu beten war<br />
in der Frühzeit auch deshalb naheliegend,<br />
weil Brauen eine gefährliche Angelegenheit<br />
war. Frühe Braumeister arbeiteten wohl mit<br />
hölzernen Kesseln. Damit die beim Brauen<br />
nicht in Flammen aufgingen, erhitzten sie<br />
Steine in der Glut und legten sie als Heizkörper<br />
in die Maische. Netter Nebeneffekt:<br />
Ein Teil des Malzzuckers karamellisierte an<br />
den heißen Steinen und gab zusammen mit<br />
dem Ruß und den Mineralien des Gesteins<br />
Aroma ins Bier. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert<br />
war dieses »Steinbier« in Teilen<br />
Österreichs und Skandinaviens verbreitet.<br />
Schon bald spielte die Qualität eine<br />
Rolle – und deren Überprüfung. So finden<br />
sich im Codex Hammurapi, einer 3800 Jahre<br />
alten Sammlung babylonischer Rechtssätze,<br />
durchaus brachiale Methoden: Wer minderwertiges<br />
Bier teuer verkauft, wird getötet.<br />
Wer panscht, wird im eigenen Fass ertränkt.<br />
Die Babylonier schrieben damit das wohl<br />
älteste Biergesetz der Welt nieder – 3000<br />
Jahre vor dem bayerischen Reinheitsgebot.
58<br />
In Europa trinken die Menschen seit<br />
mindestens 400 vor Christus Bier.<br />
Das belegt ein Zufallsfund: Bei<br />
Straßenbauarbeiten im englischen<br />
Cambridgeshire wurden Rückstände<br />
gerösteter Gerste entdeckt. Das damalige<br />
Getränk würde heute jedoch<br />
kaum als Bier durchgehen. Es war<br />
schaumiger, nur schwach alkoholisch<br />
– und mit weitaus mehr festen Bestandteilen.<br />
Der kalorienhaltige<br />
Trunk war gerade für die Stadtbevölkerung,<br />
die nur wenig Zugang zu<br />
sauberem Trinkwasser hatte, eine<br />
gesunde Alternative und Grundnahrungsmittel<br />
für Jung und Alt.<br />
Bei den Europäern hatte es das<br />
Bier allerdings erst schwer. Die antiken<br />
Griechen und Römer verstanden<br />
sich als kultivierte Weintrinker. Verächtlich<br />
schauten sie auf die jenseits<br />
der Alpen wohnenden »Barbaren«,<br />
die in germanischer Tradition dem<br />
»kulturlosen« Gerstensaft frönten.<br />
Doch welch Fehlschluss! Das Volk<br />
der Nubier, das im heutigen Sudan<br />
lebte, verwendete Bier bereits 400 nach<br />
Christus als eine Art Antibiotikum. Dabei<br />
machten sie sich das Bakterium Streptomyces<br />
zunutze, das im Getreide enthalten war, und<br />
heilten damit Zahnfleischerkrankungen<br />
und Knocheninfektionen.<br />
Nun, das Römische Reich ging unter,<br />
die Biertrinker blieben. Doch erst die Mönche<br />
und Nonnen brachten Ende des 1. Jahrtausends<br />
die Bierkultur voran. Sie verfeinerten<br />
das Bier, um es stärker und nahrhafter zu<br />
machen. Ihr Ziel: die harten Fastenregeln<br />
erträglicher machen – schließlich durften<br />
die Gläubigen während der Fastenzeit zwar<br />
nicht essen, aber durchaus trinken. Damals<br />
entstanden auch die ersten Hopfenfelder.<br />
Vorher wurde Bier mit Grut gewürzt, einer<br />
Kräutermischung aus Gagel, Wacholder,<br />
Kümmel, Heidekraut, Schafgarbe und anderen<br />
Kräutern. In Deutschland waren es<br />
Hamburgs Brauer, die als Erste Hopfen<br />
statt Grut ins Bier mischten. Es wurde dadurch<br />
länger haltbar und war für den Handel<br />
geeignet – wobei auf Qualität und<br />
Gerechtigkeit gleichermaßen geachtet wurde.<br />
Als Friedrich I. Barbarossa, der Kaiser des<br />
römisch-deutschen Reiches, um 1150 immer<br />
mehr Städten das Stadtrecht verlieh,<br />
lautete eine Rechtsverordnung: »Wenn ein<br />
Bierschenker schlechtes Bier macht oder ungerechtes<br />
Maß gibt, soll er gestraft werden.«<br />
Bier wurde vom Grundnahrungsmittel<br />
zum Exportschlager – und Hamburg zur<br />
Biermetropole Europas. 1374 brauten dortige<br />
Brauereien erstmals aus Gersten- und<br />
Weizenmalz ihr »Schiffsbier«, das Grundlage<br />
für das heutige Weizenbier ist. Hamburg<br />
exportierte es bis nach Russland, Indien und<br />
Skandinavien. Kaum zu glauben: Norddeutsche<br />
Biere hatten zu dieser Zeit einen<br />
weitaus besseren Ruf als die bayerischen.<br />
Erst einige Hungersnöte machten der<br />
Bierblüte ein Ende. Und brachten das bayerische<br />
Reinheitsgebot: Am 23. April 1516<br />
verabschiedeten die Herzöge Ludwig X. und<br />
Wilhelm IV. im oberbayerischen Ingolstadt<br />
eine Landesverordnung, dass »zu kainem<br />
Pier merer Stuckh dann allain Gersten<br />
Hopfen und Wasser genomen unnd<br />
gepraucht sölle werden«. Dahinter<br />
standen gleich mehrere Interessen:<br />
Zum einen wollten die Herzöge verhindern,<br />
dass zum Brotbacken taugliches<br />
Getreide für Bier verplempert<br />
wird. Nur niedere Gerste durfte fortan<br />
verwendet werden. Zum anderen<br />
spielte der Schutz vor Panschern und<br />
die Sicherung der Qualität eine Rolle.<br />
Und zuletzt ging es den Herzögen<br />
um wirtschaftliche Interessen: Sie<br />
setzten für das Bier einen Preis fest<br />
und schützten ihre Brauer ganz nebenbei<br />
vor der norddeutschen Konkurrenz,<br />
die Kräuter in das Bier<br />
mischte, welche in Bayern nicht<br />
wuchsen. Denn auch Mitte des 16.<br />
Jahrhunderts noch hatte die Hansestadt<br />
beim Bierbrauen die Nase vorn.<br />
Mehr als 500 Brauereien zählte die<br />
Stadt, 60 Prozent ihres Außenhandels<br />
beruhten auf dem Bierexport.<br />
Doch das bayerische Reinheitsgebot<br />
(das damals noch nicht so hieß) hatte<br />
nicht lange Bestand. 1548 erwarb<br />
Freiherr von Degenberg das Privileg, auch<br />
aus Weizen Bier herzustellen – das Weizenbiermonopol<br />
hielt fast 250 Jahre an und<br />
war äußerst profitabel. Ohnehin weichten<br />
die bayerischen Landesherren den Erlass<br />
bereits 1551 wieder auf. Fortan durften<br />
auch Koriander und Lorbeer ins Bier, später<br />
auch Kümmel, Wacholder und Salz. Getrieben<br />
waren die Gesetzesvorschriften im<br />
römisch-deutschen Kaiserreich von Steuereinnahmen:<br />
Vor allem im Spätmittelalter<br />
wurde viel Bier konsumiert, und Biergeld<br />
war eine der wichtigsten Einnahmequellen.<br />
Und so gab es bald innerhalb Deutschlands<br />
eine große Biervielfalt. Der Geograf<br />
Johann Gottfried Gregorii beschrieb 1744<br />
die 35 bekanntesten deutschen Biersorten,<br />
darunter Duckstein, Kastrum, Gose oder<br />
Schluntz. Am weitesten verbreitet war zu<br />
dieser Zeit ein Bierstil, der heute auch »Ale«<br />
heißt, ein obergäriges Bier. Wenn sich obergärige<br />
Hefen teilen, bleiben sie im Verbund<br />
kleben und schwimmen mit der entstehenden<br />
Kohlensäure an die Oberfläche, daher<br />
Im Mittelalter hatten norddeutsche Biere einen besseren Ruf als die<br />
bayerischen. Also ersannen die Herzöge dort ein Gebot, das ihnen half<br />
Fotos Christopher T. Stein / Getty Images; Westend61 / Getty Images
59<br />
»DAS BIER ZERGEHT WORTWÖRTLICH IM MUND«<br />
Elisa Raus gewann als erste Frau überhaupt die Weltmeisterschaft der<br />
Biersommeliers in Italien. Fünf Fragen für angehende Bierkenner<br />
Frau Raus, es ist schön, dass es eine so große Biervielfalt<br />
gibt. Der Nachteil: Man verliert leicht den<br />
Überblick. Was sind die wichtigsten Unterschiede?<br />
Es gibt weltweit um die 150 Bierstile. Manche sind<br />
sehr hopfenbetont und herb, etwa Pils oder Indian<br />
Pale Ale (IPA), das gerade sehr populär ist. Andere<br />
sind malzbetont, da zählen Porter- oder Stoutbiere<br />
dazu. Man unterscheidet außerdem ober- und untergärige<br />
Biere, da werden beim Brauen unterschiedliche<br />
Hefearten benutzt. Hefe wandelt ja den Zucker in<br />
Alkohol und Kohlensäure um, und obergärige Hefe<br />
produziert als Nebenprodukt sogenannte Ester, die<br />
einen fruchtigen Geschmack geben, etwa Bananenund<br />
Nelkennoten bei Weizenbier. Untergärige Hefen<br />
bringen hingegen nicht so viel Aroma ins Bier. Da<br />
sind eher die anderen Rohstoffe für den Geschmack<br />
verantwortlich: beim Pils der Hopfen, bei Lagerbieren<br />
oft eine Kombination aus Malz und Hopfen. Natürlich<br />
können auch untergärige Biere fruchtig sein, aber das<br />
kommt dann oft aus dem Hopfen. Es ist ein bisschen<br />
vertrackt – ein buntes Zusammenspiel aus Rohstoffen.<br />
Welches Bier empfehlen Sie für den Sommer?<br />
Zum Sommer passen leichtere Biere. Das Weizenbier<br />
ist natürlich ein Klassiker mit seiner Fruchtigkeit und<br />
Frische. Wer das mag, dem rate ich, belgisches Witbier<br />
auszuprobieren. Auch da spielen Weizen und<br />
fruchtige Hefe eine Rolle, dazu kommen Gewürze wie<br />
Koriander und Orangenschalen. Auch Sauerbiere, die<br />
durch Milchsäurebakterien oder wilde Hefen Säurenoten<br />
entwickeln, passen zum Sommer. Sie sind<br />
frisch, spritzig, mit einer leichten Säure und trocken<br />
im Geschmack. Und sie löschen hervorragend den<br />
Durst. Es kommt aber auch darauf an, zu was das Bier<br />
gereicht wird: Zu Pils passen leichte und schärfere<br />
Speisen, helles Fleisch oder Fisch. Zu einem Steak<br />
würde ich hingegen kräftigeres Bier reichen, mit einem<br />
stärkeren Malzkörper und mehr Alkohol. Die beiden<br />
Partner – Speise und Bier – sollten gleichberechtigt<br />
sein und die gegenseitigen Aromen hervorheben.<br />
Wo sollte man Bier lagern?<br />
Der Balkon ist fast die schlimmste Lagerstätte. Die<br />
Feinde eines jeden Bieres sind Wärme und Sonnenlicht.<br />
Sie lassen das Bier schneller altern und schaffen<br />
Aromen, die nicht hineingehören. Bier sollte am besten<br />
dunkel gelagert sein, in einer Kammer oder im Keller<br />
mit konstanter Temperatur – um die zehn Grad wäre<br />
ideal. Im Kühlschrank ist es oft zu kalt zum Trinken.<br />
Viele Aromen entwickeln sich erst bei Raumtemperatur.<br />
Aber der Klassiker ist ja, Bier im Tiefkühlfach<br />
herunterzukühlen, wenn sich spontan Gäste ankündigen.<br />
Davon rate ich ab: Der große Temperaturabsturz<br />
kann zu einer Kältetrübung führen, außerdem leidet<br />
das Aroma. Wie beim Wein gilt auch beim Bier: Nur<br />
eine konstante Temperatur sichert konstante Qualität.<br />
Flasche oder Glas?<br />
Immer aus dem Glas! Denn die kleine Flaschenöffnung<br />
schränkt die Sinne ein. Im Glas dagegen kann sich<br />
der Geruch viel besser entfalten. Auch der leichte<br />
Hefesatz, der sich etwa bei Weizenbier am Flaschenboden<br />
absetzt, verteilt sich im Glas gleichmäßiger. Da<br />
schmeckt man das volle Aroma schon beim allerersten<br />
Schluck. Im Glas trifft die Flüssigkeit auch viel früher<br />
auf die Zungenspitze, das Bier zergeht wortwörtlich<br />
im Mund. Dabei gibt es quasi für jedes Bier das passende<br />
Glas. Der Einfachheit halber empfehle ich aber,<br />
zum Weinglas zu greifen. In dem bauchigen Glas<br />
sieht man toll die Farbe, und der Schaum kann sich<br />
vernünftig entwickeln. Man kann die Nase tief ins<br />
Glas hineinhalten. Und Weingläser sind schön dünnwandig:<br />
Die Flüssigkeit läuft wirklich komplett die<br />
Zunge entlang. Bierhumpen haben natürlich auch<br />
ihre Vorteile, gerade im Sommer: In dem dicken<br />
Glas bleibt das Bier länger kühl. Aber für den Genuss<br />
ist das Weinglas besser.<br />
Wie schenkt man ein perfektes Bier ein?<br />
Das Glas sollte zunächst wirklich sauber sein – Fett<br />
killt jede Schaumkrone. Dann das Glas im 45-Grad-<br />
Winkel halten und das Bier sachte einfließen lassen.<br />
Gegen Ende das Glas langsam wieder aufrichten,<br />
damit eine Schaumkrone entsteht. Der Schaum hat<br />
dann eine größere Oberfläche, die einzelnen Bläschen<br />
platzen auf, und die Aromen treten deutlicher<br />
hervor, das Bier bleibt auch länger frisch. Und, ganz<br />
wichtig – ob aus der Flasche oder dem Zapfhahn:<br />
beides nicht in die Flüssigkeit reinhalten! Denn das<br />
birgt die Gefahr von Verunreinigungen.
60<br />
Biersorten von A bis Z Altbier: herb, nussig-malzig. Berliner Weiße: säuerlich, leicht. Blondbier: fruchtig,<br />
leicht bitter. Bockbier: alkoholhaltiger, malzbetont. Export: stärker, bitter. Helles: malzig, süffig. Kellerbier:<br />
süffig, ungefiltert. Indian Pale Ale: bitter, blumig. Kölsch: mild, leicht malzig. Lambic: trocken, sauer. Pilsner:<br />
hopfig, eher bitter. Schwarzbier: malzig, süßlich. Stout: schokoladig, bitter. Weizenbier: süßlich, cremig