zeitwissen_2020_05_full
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16<br />
JUNGES WISSEN<br />
ÜBER<br />
GEDICHTE<br />
Unsere Expertin:<br />
Anneke Schwarck,<br />
18, lebt in Kiel und<br />
macht nächstes<br />
Jahr Abitur. Beim<br />
U20-Poetry-Slam in<br />
Schleswig-Holstein<br />
wurde sie Zweite.<br />
Hier schreibt sie<br />
über die Entstehung<br />
von Lyrik live beim<br />
Slammen<br />
Z<br />
uerst ist da ganz wenig, ja fast<br />
gar nichts. Ein leises Knistern,<br />
hier ein Räuspern, da ein Wispern<br />
– dann wieder gespannte<br />
Stille. Augen schließen, und<br />
Mundwinkel heben sich, wir<br />
atmen tief ein, tief aus – Vorhang auf.<br />
Wir sehen eine leere Bühne und ein<br />
leeres Blatt. Ein erster Buchstabe erscheint,<br />
wird zu einem Wort, wird zu einem Satz.<br />
Plötzlich Zeilen,<br />
formen Strophen,<br />
gefüllt mit großen Emotionen, bis der<br />
Worte Wellen Woge an des Hörers Ufer<br />
bricht. Es spricht: das Ich, das hier niemand<br />
sehen, aber jeder sein kann. Hat weder<br />
Körper noch Geist, doch die Menschen fest<br />
in seinem Bann.<br />
Wenn es erzählt, wird gelauscht und<br />
gerunzelt, geschluchzt und geschmunzelt<br />
und manch einer munkelt, was das wohl sein<br />
könnte. Ein Gedicht. Fast wie ein Gemälde,<br />
das vor dem inneren Auge entsteht, wenn<br />
die Lider geschlossen sind.<br />
Ein Gedicht.<br />
Dessen Worte wie Töne erklingen.<br />
Ein Gedicht.<br />
Das in dieser Form noch keiner kennt.<br />
Ein Gedicht.<br />
Aber nicht nur über die Liebe.<br />
Ein Gedicht, wohl nicht wie einer der<br />
Großen es schriebe, nein, Zeilen wie diese<br />
finden sich nicht hinter Buchrücken verborgen.<br />
Zeilen wie diese sind wie Filme aus<br />
Worten. Auf Leinwänden aus Schatten und<br />
Licht werden hier Szenen in Klangfarben<br />
lebendig, dicht drängen sich Reime und<br />
Metaphern, zwischen Tränen und Lachern<br />
werden Gefühle geschaffen, die Spuren und<br />
Menschen sprachlos hinterlassen.<br />
Sätze brennen sich in Trommelfelle, bebende<br />
Atemzüge, Gänsehaut breitet sich<br />
auf Körpern aus.<br />
Eine letzte Pause – tosender Applaus.<br />
Was in früheren Zeiten gang und<br />
gäbe, ist heute eine eigene Szene. Lyrik wird<br />
hier gelebt, nicht nur gelesen, eng verwebt<br />
mit raumgreifenden Blicken und Gesten<br />
wird aus einem Gedicht ein Schauspiel, das<br />
keiner großen Bühne bedarf, weil es auch<br />
auf kleinstem Raum Emotionen schafft.<br />
Ein Blick, der mehr als gesagt wird –<br />
verrät. Eine Stimme, die sich durch den<br />
ganzen Raum bewegt. Hände, die Sätze<br />
modellieren, um nicht den Faden zu verlieren<br />
und das Gesprochene in die Höhe zu<br />
heben. Hier erwachen die Zeilen zum Leben.<br />
Denn wenn Gedichte beginnen, durch<br />
die Luft zu tanzen, dann hört das Zuhören<br />
auf – und das Träumen fängt an. —<br />
Foto Hanna Lenz, aufgenommen im Kulturzentrum hansa48, Kiel