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21 Der Strich durch die Rechnung Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf. Aber ein Statiker, der eine Brücke berechnet, sollte möglichst kleinlich sein, oder? Bericht aus einem menschlichen Spannungsfeld Text Niels Boeing Illustration Noma Bar (vorige Seite), Monique Bröring Wir waren auf dem Weg ins damals noch unzerstörte Aleppo im Transit gelandet. Den türkischen Grenzposten hatten wir bereits passiert, den syrischen durften wir ohne Mitfahrgelegenheit nicht durchqueren. Die Sonne war längst untergegangen, ein Bus fahre nicht mehr, hieß es. Irgendwann näherte sich ein Taxi, drei junge Syrer saßen darin. Sie erklärten uns, dass wir mit einsteigen sollten, es sei die allerletzte Möglichkeit für heute, nach Aleppo zu kommen. Wir quetschten uns auf die Rückbank und fuhren los. Nach einer halben Stunde hielt der Fahrer an einer Tankstelle, auch die jungen Männer stiegen aus und kauften ein paar Kleinigkeiten. Als sie wieder zurückkamen, reichte uns einer von ihnen zwei kleine Tetrapaks Orangensaft. In unseren Gesichtern las er sofort die Frage, was er dafür haben wolle. Er lächelte nur. Ein Geschenk. Wir haben den jungen Mann, nachdem wir uns in Aleppo verabschiedet hatten, nie wiedergesehen. Nach der Logik der heute geltenden Wirtschaftstheorie war seine Geste unsinnig, ja irrational: Er hatte uns etwas gegeben, obwohl er sicher sein konnte, dass wir uns nie würden revanchieren können. Die Geste des jungen Mannes entsprang einer anderen, älteren Logik: Da waren zwei Reisende in der Nacht gestrandet, an einem Ort, an den sich außer Grenzpendlern selten Reisende verirren. Für ihn war es ein Akt der Gastfreundschaft – willkommen in Syrien! Gastfreundschaft ist eine Form der Großzügigkeit, die Menschen überall auf dem Globus seit Jahrtausenden praktizieren. Sie bieten Fremden Essen und Getränke an, manchmal auch ein Dach über dem Kopf, und erwarten nichts dafür außer vielleicht einem Lächeln, das mit einem Lächeln erwidert wird. Großzügigkeit wärmt die Herzen, sie knüpft unsichtbare Bande zwischen Menschen, die sich nicht kennen, und verstärkt sie zwischen Freunden. Sie ereignet sich täglich an unzähligen Orten auf der Welt. Im Obstladen einer Großstadt, in dem die Verkäuferin ein Körbchen Erdbeeren »obendrauf« packt. In der Mittagspause, in der eine Kollegin die andere zum Lunch einlädt. Im Büro, wenn ein Kollege dem anderen Arbeit abnimmt, weil dieser sonst zu spät zur Geburtstagsparty seines Kindes käme. Die Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf. Ihr Gegenstück, die Kleinlichkeit, wird in aller Welt verachtet. Doch auch die Kleinlichen sind allgegenwärtig: Die Geizhälse, die nie einen ausgeben und selbst einen gemeinsamen Ausflug auf den Cent genau in Excel- Tabellen abrechnen. Die Pedanten, die überall einen Fehler finden, und sei er auch noch so gering. Die Prinzipienreiter, die nicht fünfe gerade sein lassen können und jeden Spaß im Keim ersticken. Vor allem die englische Literatur war fasziniert von Geizhälsen wie dem steinreichen Adligen John Elwes aus dem 18. Jahrhundert, der zeitlebens denselben abgewetzten Gehrock trug und vor Einbruch der Dunkelheit zu Bett ging, um Kerzen zu sparen. Charles Dickens setzte ihm in der Figur des Ebenezer Scrooge ein zweifelhaftes Denkmal, Carl Barks formte daraus die Figur des Dagobert Duck. Die westliche Welt hat seit Beginn der Aufklärung den wahren Charakter des Menschen sogar zunehmend im Egoisten gesehen, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist. Der englische Aufklärer Thomas Hobbes beschrieb im 16. Jahrhundert den Naturzustand der Menschheit als einen Krieg aller gegen alle, angetrieben von der Angst vor einem gewaltsamen Tod. Nur ein starker Staat sei imstande, den Menschen zu zivilisieren. Die neoklassische Wirtschaftstheorie des 19. Jahrhunderts erhob den mutmaßlichen Egoisten zum wissenschaftlichen Konzept des rationalen Individuums, das alle Handlungen daraufhin überprüft, ob sie seinen Nutzen maximieren. Folglich wurde der Wettbewerb zum Normalzustand des menschlichen Mit ein an ders ausgerufen. Umso größer war das Erstaunen, als Experimente von Verhaltensökonomen Ende des 20. Jahrhunderts ein anderes Bild zeichneten: Großzügigkeit ist ein Verhalten, das tief in der Evolution des Menschen verankert ist. Eines der Experimente war das Diktator-Spiel: Eine Person bekam beispielsweise 100 Dollar und entschied