zeitwissen_2020_05_full
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im Alleingang darüber, wie viel sie einer zweiten Person<br />
abgab. Beim Ultimatum-Spiel wiederum konnte die<br />
erste Person der zweiten vorschlagen, wie sie die 100<br />
Dollar aufteilen wollten. Lehnte die zweite Person ab,<br />
bekamen beide gar nichts. Nach der neoklassischen<br />
Theorie würde jene Person rational handeln, wenn sie<br />
der anderen nichts abgibt – und ihren Nutzen somit<br />
maximiert, sprich: die 100 Dollar für sich behält.<br />
In den Versuchsanordnungen taten aber die wenigsten<br />
Menschen genau dies. Stattdessen teilten sie mit<br />
der anderen Person. Im Durchschnitt gaben sie 10 bis<br />
30 Prozent ab. Und in Folgestudien stellte sich heraus:<br />
Der Anteil, den die erste Person abgibt, wird größer,<br />
wenn im Versuchsraum im Hintergrund menschliche<br />
Stimmen zu hören sind oder scheinbar zufällig in Sichtweite<br />
ein Augenpaar als Poster an der Wand hängt. Auch<br />
Gespräche zwischen den Personen führten zu einer<br />
großzügigeren Aufteilung.<br />
Überraschen sollte dies nicht. Der Homo sapiens<br />
ist ein Gemeinschaftstier, er kann nicht allein überleben.<br />
In seiner Frühgeschichte hat er deshalb auch kooperative<br />
Verhaltenszüge entwickelt, die nicht nur seinen Platz in<br />
der Gemeinschaft stärken, sondern auch die Überlebensfähigkeit<br />
der Gemeinschaft insgesamt. Das großzügige<br />
Geben gehört dazu – und macht sogar glücklich.<br />
Akte der Großzügigkeit aktivieren im Gehirn dieselben<br />
Belohnungsmechanismen wie Sex und Essen.<br />
Gehirnscans zeigten, dass bei Menschen in dem Moment,<br />
in dem sie eine wohltätige Spende geben, eine<br />
spezielle Region im Großhirn aktiviert wird (das sogenannte<br />
Brodmann-Areal 25 der Gürtelwindung). Diese<br />
Region hat besonders viele Rezeptoren für das Hormon<br />
Oxytocin, das bei einer emotionalen Bindung zwischen<br />
Menschen erzeugt wird. Dockt Oxytocin an die Rezeptoren<br />
an, wird wiederum verstärkt das »Glückshormon«<br />
Dopamin ausgeschüttet. Dazu passt, dass die Versuchspersonen<br />
deutlich großzügiger wurden, wenn man ihnene<br />
mittels Nasenspray eine Dosis Oxytocin verabreichte.<br />
Im Vergleich mit Versuchspersonen, die nur ein Placebo<br />
bekommen hatten, gaben sie fast doppelt so viel ab.<br />
»Großzügigkeit ist nicht einfach ein kulturelles<br />
Konstrukt«, stellt deshalb Summer Allen vom Greater<br />
Good Science Center an der Universität Berkeley fest.<br />
Sie ist entwicklungsgeschichtlich eine Zuwendung zu<br />
anderen Menschen der eigenen Gemeinschaft, sei es in<br />
Form von körperlicher Nähe, sei es in Form von Nahrung.<br />
Diese Zuwendung hat in den Anfängen des Homo<br />
sapiens wohl ohne ein bewusstes Kalkulieren dessen<br />
stattgefunden, was die anderen einem zurückgeben<br />
könnten. Erst indem differenziertere Kulturen entstanden,<br />
schlich sich auch eine Berechnung ein: Wenn ich<br />
dir in meiner Großzügigkeit dies gebe, bist du mir später<br />
etwas anderes schuldig. Verhaltenspsychologische Untersuchungen<br />
mit Kleinkindern ergaben, dass dieser<br />
entwicklungsgeschichtliche Übergang auch beim einzelnen<br />
Menschen stattfindet – zwischen dem dritten<br />
und dem fünften Lebensjahr. Während Dreijährige<br />
noch gewissermaßen absichtslos großzügig sind, kalkulieren<br />
Fünfjährige bereits ein, ob eine andere Person<br />
diese Großzügigkeit eigentlich verdient hat.<br />
Der Wandel der Großzügigkeit lässt sich auch in<br />
der Kulturgeschichte beobachten. In Asien kam sie ihrem<br />
biologischen Ursprung noch am nächsten. Denn im<br />
Hinduismus und in dem aus diesem heraus entstandenen<br />
Buddhismus wird sie als Dana praktiziert. Dana<br />
meint eine Gabe, die sowohl materiell als auch spirituell<br />
ist. »Die Nahrung bildet den Le bens atem aller Menschen.<br />
Denn alles ist auf Nahrung gegründet«, heißt es<br />
im indischen Epos Mahabharata, und weiter: »Wer<br />
Nahrung gibt, der gibt auch Leben, und wer Leben gibt,<br />
der gibt alles.« Der junge Mann in Aleppo handelte eindeutig<br />
nach dieser Maxime. Dana steht nicht für Almosen,<br />
sondern für die Einsicht, dass alles, was das Leben<br />
ermöglicht, geteilt werden muss. Ein, wenn man so will,<br />
sehr früher Ausdruck von Open- Source- Logik.<br />
Im Judentum wiederum gab es den Begriff Tzedaka,<br />
der auch eine gerechte Verteilung und eine Fürsorge<br />
für die Bedürftigen meint. Tzedaka war keine Option,<br />
sondern eine Verpflichtung, die sich im Islam später als<br />
Fünfjährige denken<br />
bereits darüber nach,<br />
ob eine andere Person<br />
ihre Großzügigkeit<br />
wirklich verdient hat<br />
Zakat wiederfindet. Von Jesus, der ja selbst aus der<br />
jüdischen Tradition des Tzedaka kam, ist in der Bergpredigt<br />
überliefert: »Wenn du Almosen gibst, lass es<br />
also nicht vor dir herposaunen.«<br />
Weiter westlich ging die Unmittelbarkeit und Bescheidenheit<br />
des Gebens weitgehend verloren. Aristoteles<br />
verwendete in seiner Nikomachischen Ethik den Begriff<br />
»Freigebigkeit« (griechisch: eleutheriotes). Die<br />
griechisch-römische Antike war die erste Zivilisation,<br />
die – bereits zu Aristoteles’ Zeiten – eine entwickelte<br />
Geldwirtschaft hatte. Der Freigebige werde, so Aristoteles,<br />
für seine Art gelobt, »Vermögensobjekte hinzugeben«.<br />
Ein Vermögensobjekt ist laut Aristoteles »alles, dessen<br />
Wert nach Geld bemessen wird«.<br />
Diese Form der Großzügigkeit hatte mit der Wohltätigkeit<br />
des Tzedaka oder der Spiritualität des Dana<br />
nichts zu tun. Denn sie habe nicht den Armen der damaligen<br />
Gesellschaft, sondern immer der eigenen Familie<br />
gegolten, der eigenen Sippe oder Gästen, wie der Theologe<br />
Pieter van der Horst schreibt. Wenn ein reicher<br />
Bürger in Athen oder Rom etwa den Stadtbewohnern<br />
Essen spendete, dann bekamen es alle – nicht nur die<br />
Bedürftigen. So diente die Großzügigkeit schließlich<br />
dazu, den eigenen Status zu erhöhen.<br />
Illustration Nishant Choksi