zeitwissen_2020_05_full
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Am Ende der Römischen Republik war der Begriff bereits<br />
in Verruf geraten. Für den Dichter Catull war die<br />
Freigebigkeit Cäsars geradezu »niederträchtig«, weil er<br />
in ihr nur eine politische Manipulation der öffentlichen<br />
Meinung erblickte. Der schmale Grat zwischen echter<br />
Großzügigkeit und manipulativer Großkotzigkeit wurde<br />
bereits vor über 2000 Jahren überschritten.<br />
Ab dem 14. Jahrhundert hielt dann in Europa ein<br />
aus dem Lateinischen entlehnter Begriff Einzug: Generosität.<br />
Ursprünglich bezeichnete diese eine Person,<br />
die von edler Abstammung (lat.: genus) ist – und die<br />
hatte nicht einmal etwas mit der wohlmeinenden Freigebigkeit<br />
nach Aristoteles am Hut. Noch im 18. Jahrhundert<br />
warf der generöse Adel am Ende eines Festbanketts<br />
»Ochsenzungen, Cervelatwürste, das Brot und<br />
Truthahnteile von den Buffets in die Luft«, wie es der<br />
Historiker Jean Starobinski einmal beschrieben hat, und<br />
ergötzte sich am einfachen Volk, das verzweifelt eine der<br />
fliegenden Wohltaten zu erhaschen hoffte.<br />
Die an Vermögen geknüpfte Generosität hat nicht<br />
nur einen herrschaftlichen Beigeschmack, sie ist auch<br />
unzuverlässig. Eine groß angelegte Untersuchung von<br />
Soziologen aus Toronto und Stanford fand 2015 heraus,<br />
dass Menschen mit niedrigerem Einkommen im Verhältnis<br />
mehr spenden als Gutbetuchte. Das kann fast<br />
Mit Großzügigkeit<br />
baut man keine<br />
Kraftwerke oder<br />
Autos. Da glänzt<br />
die Kleinlichkeit<br />
jeder bestätigen, der in einem Dienstleistungsberuf gearbeitet<br />
hat, etwa im Taxi-Gewerbe oder in der Gastronomie.<br />
Mehr noch: Die Wohlhabenden erwiesen sich<br />
als umso knauseriger, je größer die Einkommensungleichheit<br />
in dem US-Bundesstaat war, in dem sie lebten.<br />
Im Angesicht deutlich ärmerer Bevölkerungsschichten<br />
empfanden sie ihren Wohlstand stärker als<br />
eigenes Verdienst und sahen eine entsprechend geringere<br />
moralische Verpflichtung, etwas abzugeben.<br />
Großzügigkeit kann also vieles sein: freigebig, ein<br />
Ausdruck von Nähe, gönnerhaft, protzig. Und die<br />
Kleinlichkeit? In deren sprachlichem Kern versteckt sich<br />
auch eine positive Deutung. Das Wort ist – im Gegensatz<br />
zur »Großzügigkeit«, die im Deutschen erst im<br />
19. Jahrhundert als Begriff auftaucht – bereits sehr alt.<br />
Im Althochdeutschen hieß «kleinlich« noch kleinlihho<br />
und meinte »fein, genau, scharf, zierlich«. Und genau<br />
dort beginnt das verschmähte Wort zu leuchten.<br />
Denn ist es nicht gerade die Exzellenz zum Beispiel<br />
des Ingenieurs, vielleicht der Inbegriff trockener, sachlicher<br />
Kleinlichkeit, dass er genau ist und fein und<br />
scharf, um all die technischen Errungenschaften der<br />
Moderne zu realisieren? Man könnte auch sagen: Mit<br />
Großzügigkeit baut man keine Kraftwerke, Autos oder<br />
Raketen. Da muss jede Schraube, jedes Ventil sitzen und<br />
zuverlässig arbeiten. Was passiert, wenn man bei den<br />
Berechnungen nicht absolut pingelig ist, zeigt schön<br />
das Beispiel des Mars Climate Orbiter. Die Nasa-Ingenieure<br />
hatten bei der Marssonde sowohl mit dem internationalen,<br />
dezimalen Einheitensystem als auch mit<br />
dem angloamerikanischen Maßsystem gearbeitet. Daraus<br />
entstand eine Unstimmigkeit, die die Sonde am 23. September<br />
1999 zu niedrig in die Mars-Atmosphäre eintreten<br />
ließ – sie verglühte, noch bevor sie die Oberfläche<br />
des Roten Planeten erreichte.<br />
Der deutsche Begriff Großzügigkeit erweitert die<br />
Generosität auch um eine neue, räumliche Dimension,<br />
die sich im 20. Jahrhundert in der Architektur wiederfindet.<br />
In baulich großen Zügen versuchen die Architekten<br />
ab den 1920er-Jahren, die Enge der Arbeitersiedlungen<br />
und Gründerzeitquartiere zu überwinden. Die<br />
Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin oder der<br />
Karl-Marx-Hof in Wien, der längste zusammenhängende<br />
Wohnbau der Welt, enthielten ausgedehnte Gartenund<br />
Grünflächen, um ihren Bewohnern mehr Luft und<br />
Sonne zu verschaffen. Auch die Großwohnsiedlungen<br />
der Nachkriegszeit folgten dieser Idee, doch entpuppte<br />
sich die Großzügigkeit der auf weite Flächen hingestreuten<br />
Wohnblocks oft als verstörende Leere. »Großzügigkeit<br />
kann nicht auf einem großen, leeren, offenen Feld<br />
entstehen«, sagt der italienische Architekt Silvio Carta.<br />
Vielmehr wird Architektur da großzügig, wo sie in<br />
der Dichte der Städte für die Bewohner neue Räume und<br />
damit auch neue Möglichkeiten eröffnet, die Architekten<br />
womöglich nicht einmal selbst vorhergesehen haben.<br />
Ausgerechnet der Corona-Shutdown hat nun in der Welt<br />
der Architektur eine neue Debatte entfacht, ob Städte<br />
und ihre Bauten in Zukunft nicht großzügiger – und<br />
damit Pandemie-tauglicher – gedacht werden müssten.<br />
Den Trend der vergangenen Jahre zu immer kompakterer<br />
Bebauung mit durchaus kleinlichen Grundrissen<br />
bei hohen, sagen wir ruhig: großzügigen Mieten hält die<br />
britische Architektin Alison Brooks für einen Irrweg.<br />
»Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber<br />
besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben«, schrieb<br />
Albert Camus in Der Mensch in der Revolte. Vielleicht ist<br />
die Corona-Pandemie genau dafür gut: Großzügigkeit<br />
neu zu denken und von jeglicher Berechnung und Überheblichkeit<br />
zu befreien, die sich über die Jahrtausende<br />
eingeschlichen haben. Und die Kleinlichkeit insofern zu<br />
rehabilitieren, als ohne Sorgfalt und Genauigkeit, da,<br />
wo sie vonnöten sind, Großzügigkeit zur Verantwortungslosigkeit<br />
herabsinken könnte. —<br />
Niels Boeing war auf Reisen immer wieder angetan, wie<br />
großzügig die Leute in aller Welt in Alltagssituationen sind.<br />
Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, wie der Philosoph<br />
Thomas Hobbes annahm, hält er für einen Irrglauben.