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Am Ende der Römischen Republik war der Begriff bereits<br />

in Verruf geraten. Für den Dichter Catull war die<br />

Freigebigkeit Cäsars geradezu »niederträchtig«, weil er<br />

in ihr nur eine politische Manipulation der öffentlichen<br />

Meinung erblickte. Der schmale Grat zwischen echter<br />

Großzügigkeit und manipulativer Großkotzigkeit wurde<br />

bereits vor über 2000 Jahren überschritten.<br />

Ab dem 14. Jahrhundert hielt dann in Europa ein<br />

aus dem Lateinischen entlehnter Begriff Einzug: Generosität.<br />

Ursprünglich bezeichnete diese eine Person,<br />

die von edler Abstammung (lat.: genus) ist – und die<br />

hatte nicht einmal etwas mit der wohlmeinenden Freigebigkeit<br />

nach Aristoteles am Hut. Noch im 18. Jahrhundert<br />

warf der generöse Adel am Ende eines Festbanketts<br />

»Ochsenzungen, Cervelatwürste, das Brot und<br />

Truthahnteile von den Buffets in die Luft«, wie es der<br />

Historiker Jean Starobinski einmal beschrieben hat, und<br />

ergötzte sich am einfachen Volk, das verzweifelt eine der<br />

fliegenden Wohltaten zu erhaschen hoffte.<br />

Die an Vermögen geknüpfte Generosität hat nicht<br />

nur einen herrschaftlichen Beigeschmack, sie ist auch<br />

unzuverlässig. Eine groß angelegte Untersuchung von<br />

Soziologen aus Toronto und Stanford fand 2015 heraus,<br />

dass Menschen mit niedrigerem Einkommen im Verhältnis<br />

mehr spenden als Gutbetuchte. Das kann fast<br />

Mit Großzügigkeit<br />

baut man keine<br />

Kraftwerke oder<br />

Autos. Da glänzt<br />

die Kleinlichkeit<br />

jeder bestätigen, der in einem Dienstleistungsberuf gearbeitet<br />

hat, etwa im Taxi-Gewerbe oder in der Gastronomie.<br />

Mehr noch: Die Wohlhabenden erwiesen sich<br />

als umso knauseriger, je größer die Einkommensungleichheit<br />

in dem US-Bundesstaat war, in dem sie lebten.<br />

Im Angesicht deutlich ärmerer Bevölkerungsschichten<br />

empfanden sie ihren Wohlstand stärker als<br />

eigenes Verdienst und sahen eine entsprechend geringere<br />

moralische Verpflichtung, etwas abzugeben.<br />

Großzügigkeit kann also vieles sein: freigebig, ein<br />

Ausdruck von Nähe, gönnerhaft, protzig. Und die<br />

Kleinlichkeit? In deren sprachlichem Kern versteckt sich<br />

auch eine positive Deutung. Das Wort ist – im Gegensatz<br />

zur »Großzügigkeit«, die im Deutschen erst im<br />

19. Jahrhundert als Begriff auftaucht – bereits sehr alt.<br />

Im Althochdeutschen hieß «kleinlich« noch kleinlihho<br />

und meinte »fein, genau, scharf, zierlich«. Und genau<br />

dort beginnt das verschmähte Wort zu leuchten.<br />

Denn ist es nicht gerade die Exzellenz zum Beispiel<br />

des Ingenieurs, vielleicht der Inbegriff trockener, sachlicher<br />

Kleinlichkeit, dass er genau ist und fein und<br />

scharf, um all die technischen Errungenschaften der<br />

Moderne zu realisieren? Man könnte auch sagen: Mit<br />

Großzügigkeit baut man keine Kraftwerke, Autos oder<br />

Raketen. Da muss jede Schraube, jedes Ventil sitzen und<br />

zuverlässig arbeiten. Was passiert, wenn man bei den<br />

Berechnungen nicht absolut pingelig ist, zeigt schön<br />

das Beispiel des Mars Climate Orbiter. Die Nasa-Ingenieure<br />

hatten bei der Marssonde sowohl mit dem internationalen,<br />

dezimalen Einheitensystem als auch mit<br />

dem angloamerikanischen Maßsystem gearbeitet. Daraus<br />

entstand eine Unstimmigkeit, die die Sonde am 23. September<br />

1999 zu niedrig in die Mars-Atmosphäre eintreten<br />

ließ – sie verglühte, noch bevor sie die Oberfläche<br />

des Roten Planeten erreichte.<br />

Der deutsche Begriff Großzügigkeit erweitert die<br />

Generosität auch um eine neue, räumliche Dimension,<br />

die sich im 20. Jahrhundert in der Architektur wiederfindet.<br />

In baulich großen Zügen versuchen die Architekten<br />

ab den 1920er-Jahren, die Enge der Arbeitersiedlungen<br />

und Gründerzeitquartiere zu überwinden. Die<br />

Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin oder der<br />

Karl-Marx-Hof in Wien, der längste zusammenhängende<br />

Wohnbau der Welt, enthielten ausgedehnte Gartenund<br />

Grünflächen, um ihren Bewohnern mehr Luft und<br />

Sonne zu verschaffen. Auch die Großwohnsiedlungen<br />

der Nachkriegszeit folgten dieser Idee, doch entpuppte<br />

sich die Großzügigkeit der auf weite Flächen hingestreuten<br />

Wohnblocks oft als verstörende Leere. »Großzügigkeit<br />

kann nicht auf einem großen, leeren, offenen Feld<br />

entstehen«, sagt der italienische Architekt Silvio Carta.<br />

Vielmehr wird Architektur da großzügig, wo sie in<br />

der Dichte der Städte für die Bewohner neue Räume und<br />

damit auch neue Möglichkeiten eröffnet, die Architekten<br />

womöglich nicht einmal selbst vorhergesehen haben.<br />

Ausgerechnet der Corona-Shutdown hat nun in der Welt<br />

der Architektur eine neue Debatte entfacht, ob Städte<br />

und ihre Bauten in Zukunft nicht großzügiger – und<br />

damit Pandemie-tauglicher – gedacht werden müssten.<br />

Den Trend der vergangenen Jahre zu immer kompakterer<br />

Bebauung mit durchaus kleinlichen Grundrissen<br />

bei hohen, sagen wir ruhig: großzügigen Mieten hält die<br />

britische Architektin Alison Brooks für einen Irrweg.<br />

»Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber<br />

besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben«, schrieb<br />

Albert Camus in Der Mensch in der Revolte. Vielleicht ist<br />

die Corona-Pandemie genau dafür gut: Großzügigkeit<br />

neu zu denken und von jeglicher Berechnung und Überheblichkeit<br />

zu befreien, die sich über die Jahrtausende<br />

eingeschlichen haben. Und die Kleinlichkeit insofern zu<br />

rehabilitieren, als ohne Sorgfalt und Genauigkeit, da,<br />

wo sie vonnöten sind, Großzügigkeit zur Verantwortungslosigkeit<br />

herabsinken könnte. —<br />

Niels Boeing war auf Reisen immer wieder angetan, wie<br />

großzügig die Leute in aller Welt in Alltagssituationen sind.<br />

Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, wie der Philosoph<br />

Thomas Hobbes annahm, hält er für einen Irrglauben.

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