zeitwissen_2020_05_full
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28<br />
auch in Paarbeziehungen finde ich es immer<br />
besser, das Ökonomische kleinlich zu<br />
klären. Um dann auf dieser Grundlage<br />
auch großzügig sein zu können. Folgt man<br />
Idealen wie »Wir rechnen untereinander<br />
nicht« oder »Es gehört alles allen«, dann ist<br />
der Streit später oft umso erbitterter. Weil<br />
gar keine Struktur da ist. Die Italiener sagen:<br />
Amici cari, conti chiari, »Je lieber die Freunde,<br />
desto klarer sollten die Rechnungen<br />
sein«. Wenn man einem Freund Geld leiht,<br />
dann sollte man unbedingt einen Vertrag<br />
machen. Dann entsteht auch in keinem der<br />
beiden das Gefühl, er sei dem anderen<br />
etwas über den Vertrag hinaus schuldig.<br />
Das heißt: Großzügigkeit aufgrund einer<br />
kleinlichen Basis.<br />
Aufgrund einer realistischen Basis. Wenn<br />
jemand über den Geiz eines Partners<br />
klagt, finde ich das unerfreulich. Denn es<br />
geht nicht um Geiz, sondern darum, dass<br />
manche Menschen mehr Angst vor Armut<br />
und Not haben als andere. Und in Beziehungen<br />
ist es ja oft so: Wenn einer viel<br />
Angst hat, zu verarmen, dann kann der<br />
andere natürlich seine eigene Angst verlässlich<br />
an den einen delegieren und so<br />
tun, als ob er selbst überhaupt keine Angst<br />
hätte. Das ist eine schlechte Basis. Es geht<br />
doch darum, Fantasien von gutem Austausch<br />
– also etwa von Großzügigkeit – so<br />
zu gestalten, dass sie ein Fundament in der<br />
Realität haben und nicht zu heftigen Enttäuschungen<br />
führen. Dann kann sich das<br />
Ganze stabilisieren. In guten Partnerschaften<br />
hat jeder das Gefühl: Ich bekomme das in<br />
unserer Beziehung, was ich möchte – und<br />
der andere auch.<br />
Welche negativen und welche positiven<br />
Eigenschaften hat Kleinlichkeit?<br />
Kleinlichkeit ist eine Filiale des Perfektionismus.<br />
Und Perfektionismus ist in bestimmten<br />
Feldern absolut angebracht. Um<br />
ihn zu trösten, habe ich neulich einem<br />
Chirurgen mit Eheproblemen gesagt: Im<br />
OP-Saal ist Perfektionismus eine Tugend,<br />
Sie müssen kleinlich sein und auf jedes<br />
Detail achten – in Ihrer Ehe aber kommen<br />
Sie damit nicht weit. Da geht es nicht um<br />
Perfektion. In einer guten und stabilen<br />
Beziehung erträgt man sich in seinen Unvollkommenheiten<br />
und findet sie vielleicht<br />
sogar irgendwann liebenswert. Auf jeden<br />
Fall ist es kleinlich, den anderen immer<br />
wieder darauf hinzuweisen, dass er etwas<br />
nicht richtig gemacht hat.<br />
Was aber natürlich oft passiert.<br />
Ein beliebtes Schlachtfeld in Beziehungen<br />
ist der Kampf zwischen den Menschen des<br />
Zwischenlagers und den Menschen des<br />
Endlagers. Die Zwischenlagerer machen sich<br />
zum Beispiel ein Butterbrot in der Küche,<br />
und dann liegt das Papier da und der Käse,<br />
während sie zufrieden vor dem Fernseher<br />
sitzen. Dann kommen die Endlagerer und<br />
sagen: »Warum kannst du nicht die Küche<br />
aufräumen, das vergammelt doch?!« Wenn<br />
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />
Großzügigkeit gegen<br />
Kleinlichkeit<br />
Welche Haltung uns<br />
wirklich weiter bringt<br />
In den folgenden Ausgaben<br />
2. TEIL:<br />
ERZIEHUNG<br />
Nicht alles ist möglich: Wie kleinliche Regeln<br />
große Freiräume zur Entfaltung schaffen<br />
3. TEIL:<br />
SCHENKEN<br />
Großzügige Gaben: Wie bereichernd es ist,<br />
Geschenke auch annehmen zu können<br />
die das einfach wegräumen würden, wäre<br />
das ein Beispiel für Großzügigkeit in einer<br />
Beziehung, das heißt: Ich bestehe nicht<br />
ständig darauf, dass mein Partner sich genauso<br />
optimal verhält wie ich. Wenn es<br />
mich nicht viel Aufwand kostet, dann<br />
schenke ich ihm meine Zeit und mache<br />
sauber. Die Beziehung bleibt dann in einem<br />
liebevollen Bereich. Es ist oft hilfreich für<br />
Paare, wenn sie das lernen.<br />
Diese Art von Großzügigkeit berührt den<br />
Bereich von Regeln und deren Übertretung<br />
– und damit sind wir beim Verzicht<br />
und bei der Milde. Inwieweit hat Verzeihen<br />
bei Paaren oder Freunden mit Großzügigkeit<br />
zu tun?<br />
Das Prinzip »Gnade vor Recht« – oder: Verzicht<br />
auf Rechthaberei – ist sehr wichtig,<br />
leidet aber in Beziehungen oft unter dem<br />
Druck von Stolz. Großzügig wäre, auf die<br />
Befriedigung meines gekränkten Stolzes zu<br />
verzichten, indem ich nicht immer wieder<br />
einen Vorwurf erneuere, mit dem ich ihr<br />
und mir das Leben vermiese. Doch ich befürchte,<br />
nicht mehr ich selbst zu sein, wenn<br />
ich den Vorwurf weglassen würde, dass der<br />
andere mich zum Beispiel betrogen hat.<br />
Dabei hätte die Akzeptanz – das Verzeihen<br />
– etwas sehr Lebensfreundliches, eine Art<br />
Großzügigkeit auch mit sich selbst. Da<br />
kommt natürlich auch der Humor ins Spiel.<br />
Die menschlichen Liebesbeziehungen sind<br />
schließlich so reich an Widersprüchen, dass<br />
man ohne Humor überhaupt nicht klarkommt.<br />
Letztlich hilft mir die Großzügigkeit,<br />
dass ich die Enttäuschung wegstecke.<br />
Dass ich sehen kann, dass noch viel Gutes<br />
da ist, statt zu sagen: »Damit ist auch der<br />
Rest vernichtet.« Das ist die destruktive<br />
Form von Kleinlichkeit, bei der es nur das<br />
perfekte Liebesobjekt gibt. Dabei besteht<br />
auch ein glückliches Paar doch immer<br />
nur aus zwei Menschen, die allmählich<br />
lernen können, sich mit ihren für ein an der<br />
richtigen und falschen Seiten gut zu verstehen<br />
und zu vertragen.<br />
Glauben Sie, dass Menschen sich grundsätzlich<br />
falsch einschätzen können? Dass<br />
sie sich selbst für generell großzügig<br />
halten, alle anderen denken jedoch: Das<br />
ist aber wirklich ein Geizhals?<br />
Ja, auf jeden Fall. Die menschliche Selbsteinschätzung,<br />
das hat schon der Philosoph<br />
Friedrich Nietzsche sehr schön gesagt, ist<br />
einfach dem Stolz unterworfen. Wenn<br />
mein Stolz mir gebietet, ein großzügiger<br />
Mensch zu sein, dann kann ich noch so<br />
geizige Dinge treiben, aber in der Bilanz<br />
halte ich mich für großzügig.<br />
Wenn Sie ein Bild malen würden, das Sie<br />
»Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit« nennen<br />
möchten: Wie würde das aussehen?<br />
Oh. Großzügigkeit würde ich wohl ein bisschen<br />
malen wie Chagall, mit bunten Farben<br />
und fließenden Übergängen. Die Kleinlichkeit<br />
sähe eher aus wie ein Wimmelbild, wie<br />
ein Gemälde von Albrecht Altdorfer vielleicht,<br />
auf dem viele kleine Figuren penibel<br />
gemalt sind. Oder Dürer wäre eher kleinlich<br />
und Rubens großzügig: barock, dramatisch,<br />
bewegt. Großzügigkeit und Kleinlichkeit:<br />
Beides ist an sich etwas Gutes. Und<br />
beides ist im Übermaß problematisch. —<br />
Wiebke Hansen und Sven Stillich freuten<br />
sich sehr über die Großzügigkeit ihrer Videokonferenz-Software.<br />
Die hob mitten im Interview die<br />
eingebaute Zeitbeschränkung von 40 Minuten für<br />
die Gratis-Version einfach auf. Danke vielmals.<br />
Illustration Saša Ostoja