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zeitwissen_2020_05_full

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Titelillustration Wiebke Hansen/ZEIT Wissen Foto Vera Tammen; Selina Oberpriller; Privat<br />

EDITORIAL<br />

GEH MIR AUS DER SONNE<br />

Dieser Baum war höher als die anderen, vermutlich war er älter.<br />

Er war eine Föhre am Rande eines Föhrenwaldes, gleich bei<br />

unserer Wohnsiedlung. Föhren sind knorrige, windschiefe<br />

Nadelbäume, die immer ein bisschen so aus sehen wie alte Männer<br />

mit Hexenschuss. Aber die »große Föhre«, wie wir Kinder sie<br />

nannten, hatte einen relativ geraden Stamm und weit oben eine<br />

Gabel aus drei waagrechten Ästen – ein idealer Platz für ein Baumhaus. Die Bretter und<br />

Nägel klauten wir von Baustellen in der Nähe. Man gelangte in das Baumhaus durch<br />

eine Luke von unten. Ich bilde mir ein, dass meine Hände und Füße heute noch blind<br />

die Anordnung der Äste für den Aufstieg wüssten. Eines Tages war die große Föhre<br />

verschwunden. Ich erinnere das genau: wie ich dastand und auf den Boden blickte,<br />

wo nur noch ein kreisrunder Holzteller zu sehen war – und frische Sägespäne im Gras.<br />

So klein war dieser Teller, viel zu klein für die große Föhre. Der zersägte Stamm war<br />

aufgeschichtet zu einem kleinen Stapel, der nach Harz roch, abholbereit. Und weiter<br />

hinten lag ein Haufen zersplitterter Bretter, aus denen Nägel ragten. Es hieß, der Baum<br />

habe dem Dr. Ebner die Sonne für seine Terrasse genommen. Es hieß auch: Da kann<br />

man nichts machen. Liebe Leserin, lieber Leser, was halten Sie davon, dass ein Baum<br />

oder ein Fluss auch vor Gericht ziehen können? Im ZEIT WISSEN-Gespräch (S. 36)<br />

wird diese Idee diskutiert. Ich jedenfalls würde der großen Föhre dann posthum einen<br />

Anwalt besorgen und durch alle Instanzen gehen.<br />

AUS DER REDAKTION<br />

Clara Rauschendorfer hat im letzten Jahr in vier<br />

Großstädten gelebt. Sie hält es wie Vincent van Gogh:<br />

Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man<br />

es überall schön. Auch in der Stadt. Im ZEIT WISSEN-<br />

Gespräch unterhält sie sich mit den Naturliebhabern<br />

Dirk Steffens und Fritz Habekuß (S. 36).<br />

Wiebke Hansen, unsere Artdirektorin, wunderte sich<br />

schon als Kind über die unberechenbare Koexistenz<br />

von Großzügigkeit und Kleinlichkeit in jedem Menschen<br />

und schlug dieses Titelthema vor. Das Interview mit<br />

dem Psychologen Wolfgang Schmidbauer (S. 25)<br />

brachte sie auf die Idee der Cover-Illustration.<br />

3<br />

Andreas Lebert, Chefredakteur<br />

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