zeitwissen_2020_05_full
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
38<br />
D<br />
irk Steffens und Fritz Habekuß<br />
kriechen berufsbedingt<br />
normalerweise durch<br />
Höhlen, beobachten Elefanten<br />
in Afrika oder stapfen<br />
an Gletschern entlang.<br />
Doch die Corona-Pandemie hat auch die<br />
Wissenschaftsjournalisten »gegroundet«, wie<br />
die beiden selbst sagen. Wir treffen uns für<br />
das Gespräch daher in einem Konferenzraum<br />
der ZEIT in Hamburg. Nach dem<br />
Interview wollen Steffens und Habekuß<br />
endlich auf das Buch anstoßen, das sie miteinander<br />
geschrieben haben. Es geht darin<br />
um nichts Geringeres als die Rettung der<br />
Menschheit – daher der Titel: Über Leben.<br />
Herr Steffens, Herr Habekuß, Sie berichten<br />
regelmäßig über die Probleme, die wir der<br />
Natur bereiten. Wer von Ihnen ist der größere<br />
Menschenfreund?<br />
Dirk Steffens: Ganz klar Fritz.<br />
Fritz Habekuß: (erstaunt) Warum?<br />
Steffens: Du reagierst verständnisvoller auf<br />
Fehlverhalten als ich und fragst dich eher,<br />
warum wir so handeln, wie wir es tun.<br />
Machen wir den Menschen doch mal im<br />
Namen der Natur den Gerichtsprozess.<br />
Herr Steffens, Sie sind der Staatsanwalt.<br />
Welche Zeugen rufen Sie auf?<br />
Steffens: Ich könnte neun Millionen Arten<br />
einzeln in den Zeugenstand rufen, und jede<br />
könnte eine Geschichte von sinnloser Zerstörung<br />
durch den Homo sapiens erzählen<br />
und belegen. Es gibt auch Menschen, die zu<br />
den Opfern zählen, vor allem indigene Völker,<br />
die von Naturzerstörung betroffen sind.<br />
Nennen Sie uns bitte konkrete Zeugen.<br />
Steffens: Gehen auch ausgestorbene Arten?<br />
Ja, das geht auch.<br />
Steffens: Dann rufe ich den Riesenalk auf.<br />
Das letzte lebende Pärchen wurde im 19.<br />
Jahrhundert auf Island gesichtet. Ein<br />
Sammler hat damals drei Männer damit<br />
beauftragt, die beiden Riesenalke zu fangen<br />
und für seine Sammlung auszustopfen. Die<br />
Männer haben die Tiere mit bloßen Händen<br />
erwürgt und nebenbei auch noch das<br />
letzte Ei zertreten. Einfach so, weil’s ging.<br />
Es gehörte gar nicht zu ihrem Auftrag. Zwei<br />
Charakterzüge des Menschen führen immer<br />
unweigerlich zur Zerstörung: seine Gier,<br />
die eigenen Lebensumstände einfach und<br />
schnell zu verbessern, und seine Gedankenlosigkeit,<br />
was das für Folgen hat.<br />
Herr Habekuß, wenn Sie den Menschen in<br />
dem Prozess verteidigen müssten, welche<br />
Zeugen würden Sie aufrufen?<br />
Habekuß: Die Nachtigall. Dieser Vogel, der<br />
früher nur im Wald vorgekommen ist, fühlt<br />
sich heute in Berlin so wohl wie an keinem<br />
anderen Ort. So schlecht können wir also<br />
für die Natur nicht sein, wenn es sogar die<br />
ehemals so scheue Nachtigall in der deutschen<br />
Hauptstadt aushält.<br />
Steffens: Einspruch! Das ist kein Entlastungsgrund,<br />
weil es nicht absichtsvoll geschehen<br />
ist. Das Wohlergehen der Nachtigall<br />
ist nur ein zufälliges Nebenprodukt<br />
menschlichen Verhaltens. Der Riesenalk<br />
wurde in vollem Bewusstsein ausgerottet.<br />
Einspruch stattgegeben. Herr Habekuß?<br />
Habekuß: Weltweit betreiben Menschen<br />
wahnsinnigen Aufwand, um Arten zu retten.<br />
Der Kranich, der Seeadler und der Wolf<br />
sind in Deutschland Erfolgsbeispiele. Wenn<br />
wir Menschen wollen, können wir durchaus<br />
Arten erhalten und investieren auch viel<br />
Geld in ihren Schutz.<br />
Steffens: Nochmals Einspruch! Dass wir<br />
einzelne Arten retten und es einzelne Menschen<br />
gibt, die bis zur Selbstaufopferung für<br />
sie kämpfen, macht unsere Vergehen nicht<br />
besser. Wir rotten viel mehr Arten aus, als<br />
wir retten. Das große Bemühen einzelner<br />
Menschen wird immer wieder dadurch konterkariert,<br />
dass die Masse egoistisch handelt.<br />
Habekuß: In einem Gerichtsprozess kann<br />
man aber nur Personen anklagen. Und die<br />
wenigsten von uns fällen doch Bäume im<br />
Amazonas oder fangen Fische aus überfischten<br />
Meeren. Das heißt, die Verantwortlichkeit<br />
ist gar nicht so leicht festzustellen.<br />
Steffens: Wer von uns weiß denn heute<br />
nicht, dass billiges Fleisch mit der Abholzung<br />
des Regenwalds in Brasilien verbunden<br />
ist? Aber ich muss jetzt mal eine Sache<br />
sagen: Ich spüre, wie Fritz leidet. Wir würden<br />
ja eigentlich gerne zusammen den<br />
Richter belangen, der solche Dinge nicht<br />
verurteilt. (lacht)<br />
Wie können wir den Menschen denn zur<br />
Verantwortung ziehen?<br />
Habekuß: Es gibt überall auf der Welt<br />
Menschen, die der Natur Rechte verleihen<br />
wollen. Eine Bewegung in den USA will<br />
zum Beispiel erwirken, dass der Mississippi<br />
vor Gericht ziehen kann. In den letzten<br />
Jahrzehnten hat der Mensch dessen Ufer begradigt<br />
und verbaut, sein Wasser ist verdreckt,<br />
und er wird ausgebeutet. Die konventionellen<br />
Umweltgesetze definieren nur,<br />
wie sehr man einen Fluss nutzen, verschmutzen<br />
und verbauen darf. Aber wenn eine Aktiengesellschaft<br />
Rechte besitzt, warum nicht<br />
auch ein Fluss? Warum darf ein Wald nicht<br />
dagegen klagen, dass er abgeholzt wird?<br />
Steffens: Naturzerstörung müsste im Grunde<br />
wie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
geahndet werden. Seit dem Philosophen<br />
Jean-Jacques Rousseau sagen wir: Die<br />
individuelle Freiheit endet dort, wo sie die<br />
Freiheit des Nächsten einschränkt. Die Idee<br />
von Gesetzen ist doch, das gemeinschaftliche<br />
Glück möglichst hochzuhalten. Aber Glück<br />
ist nur innerhalb funktionierender Natursysteme<br />
möglich. An deren Zerstörung ist<br />
die Naturwissenschaft, die heute als Kronzeugin<br />
von Arten- und Klimaschützern auftritt,<br />
mitschuldig. Für sie war die Natur irgendwann<br />
nur noch ein Gegenstand von<br />
Untersuchungen. Etwas, das man in Schubladen<br />
stecken, kategorisieren, in Rubriken<br />
einteilen kann. Und sie hat so getan, als<br />
seien wir Menschen nicht Teil der Natur,<br />
zumindest kein emotionaler. Wir betrachten<br />
alles nur als Kausalkonzept, Ursache hier,<br />
Wirkung dort. Das funktioniert gut für<br />
kleine Alltagsprobleme, aber schlecht für<br />
große Zusammenhänge.<br />
Warum sind wir überhaupt so viele Jahrhunderte<br />
damit durchgekommen?<br />
Steffens: Bis zur Industrialisierung konnte<br />
der Mensch Natur verbrauchen, ohne<br />
grundsätzlich in die Naturkreisläufe einzugreifen.<br />
Nun sind wir zum ersten Mal so<br />
viele, und unser Einfluss ist so groß, dass<br />
diese alte Erfahrung nicht mehr gilt. Das ist<br />
ein neues Problem, dessen wir uns jetzt zum<br />
ersten Mal wirklich gewahr werden können.<br />
Als Staatsanwalt würde ich sagen: Der<br />
Mensch kommt aus schwierigen sozialen<br />
Verhältnissen. Das können wir strafmildernd<br />
geltend machen. Aber das geht eben<br />
nur bis zu einem gewissen Punkt. Jetzt, da<br />
wir diese Zusammenhänge kennen, sind<br />
wir auch nicht mehr im Jugendstrafrecht,<br />
sondern wir sind voll verantwortlich für<br />
das, was wir tun. Und es ist eigentlich ganz<br />
einfach: Auf einem begrenzten Planeten ist<br />
unbegrenztes Wachstum nicht möglich.<br />
Wie kommt es, dass wir der Natur so etwas<br />
antun? Wir haben Gesetze, die verbieten,<br />
zu stehlen oder Menschen zu töten. Dem<br />
Fluss aber entwenden wir einfach sein Bett.<br />
Habekuß: Wir ziehen zwischen uns und der<br />
Natur eine Grenze und leben in der Illu sion,<br />
dass wir außerhalb von Naturzusammen-