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43 Fotos[M] Michael Breitung/Gallery Stock; Zack Seckler/Gallery Stock; H & D Zielske/Gallery Stock; Jenna Gang/Gallery Stock Foto Markus Tedeskino (r.) mit den Ressourcen des Planeten zu leben. Habekuß: Auf der anderen Seite wussten wir noch nie so viel wie heute. Wir haben es geschafft, zum Mond zu fliegen und zurückzukommen. Wir haben Nasenhaarschneider entwickelt, die leuchten. Wir können Elektroautos bauen mit 600 PS. Und wir haben es geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in Europa wieder einen verhältnismäßig stabilen Frieden herzustellen. Warum soll es uns nicht gelingen, einen Ausweg aus der Ökokrise zu finden? Warum werden die Warnungen der Wissenschaft in der Ökokrise anscheinend weniger ernst genommen als zum Beispiel in der Corona-Krise? Habekuß: Bei der Ökokrise macht die Wissenschaft die Leitplanken sichtbar, innerhalb derer wir uns bewegen können, wenn wir das planetare System vernünftig nutzen wollen. Alle großen Umweltgutachten fordern heute längst eine radikale gesamtgesellschaftliche Transformation. Wir müssen unsere komplette Art, zu leben und zu wirtschaften, umstellen. Im Bundestag wird aber nur über Tempolimits für Autos und Gütesiegel für Fleisch verhandelt. Die Radikalität, die sich aus den Forderungen der Forscher ergibt, findet keine Entsprechung im politischen Mainstream. Die Debatte bildet nicht ab, wie ernst die Lage ist. Steffens: Die Folgen der Ökokrise sind zwar radikal, aber sie sind auch so vielgestaltig und vielschichtig, dass wir sie oft nicht als konkrete Bedrohung empfinden. Anders als in der Corona-Krise. Hier gab es irgendwann im Fernsehen Bilder von Leichentransporten in Italien und von Massengräbern in Brasilien zu sehen. Die Bedrohung wurde dort sinnlich und konkret erfahrbar. Die Ökokrise bleibt zu abstrakt. Kann der Wissenschaftsjournalismus hier etwas anders machen? Steffens: Wir berichten oft über negative Ereignisse. Wir sprechen über Verzicht, Verbote und Zerstörung. Total demotivierend, abschreckend. Vielleicht sollten wir den Blick öfter mal darauf lenken, was wir gewinnen, wenn wir die Umwelt schützen. Wir gewinnen ökonomisch, emotional, gesundheitlich und an Sicherheit. Wir gewinnen die bessere Zukunft. Kehren wir noch einmal zum Beginn des Interviews zurück. Welches Urteil fordern Sie als Staatsanwalt im Prozess gegen den Menschen, Herr Steffens? Steffens: Ich plädiere für eine lange Bewährungsstrafe mit strengen Auflagen. Wir müssen auch mit einer langfristigen Resozialisierungsmaßnahme rechnen. Die großen Systeme, die Wirtschaft und die Politik, müssen sich ändern. Hier müssen die Leitplanken, die die Naturwissenschaft definiert hat, in Handlungsanweisungen umgesetzt werden. Wirtschaft und Politik müssen sich resozialisieren – und was kann der Einzelne ändern? Müssen wir uns wieder in die Natur verlieben? Habekuß: Wenn wir von Liebe zur Natur sprechen, meinen wir damit, dass wir die uralte Verbindung zu ihr wiederentdecken müssen, aus der wir uns in den vergangenen Jahrzehnten herausgelöst haben. Und, ja, das ist dringend notwendig. Steffens: Wir müssen uns wieder mehr als Teil der Natur fühlen und öfter mal spüren, dass wir eigentlich kleine Wichte sind. Dirk Steffens moderiert die ZDF-Dokureihe »Terra X« und engagiert sich für den Artenschutz. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis. Steffens ist zudem UN- Botschafter für die Dekade der biologischen Vielfalt sowie nationaler Botschafter des World Wide Fund For Nature (WWF) und des Jane-Goodall-Instituts. Fritz Habekuß schreibt als Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT vor allem über das Verhältnis von Mensch und Natur. Vor zwei Jahren erhielt Habekuß den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Sie sind beide viel unterwegs. Wann haben Sie sich zuletzt gegenüber der Natur so richtig wie ein Zwerg gefühlt? Steffens: Ich war neulich in einer der längsten Höhlen Deutschlands, dem Hölloch. Wir haben dort in 80 Meter Tiefe in einem Biwak übernachtet. Durch die Höhle geht ein reißender Bach, ab und zu knallt das Gestein, der Berg arbeitet. Und jedes Mal, wenn man die Taschenlampe ausmacht, herrscht absolute Finsternis. Die Sinne sind vollkommen irritiert, und man beginnt auf einmal zwischen dem Tropfen, dem Gurgeln der Wasserfälle und dem Knacken der Steine menschliche Stimmen herauszuhören. Der Berg spricht zu einem. Solche Natureindrücke machen einen demütig. Alle großen Naturlandschaften – ob Berge, Küsten oder Vulkane – vermögen Riesenegos schrumpfen zu lassen. Demut ist ein schönes Gefühl, das wir öfter erleben sollten. Habekuß: Ich war zuletzt in Österreich am Berg Großglockner. In den Siebzigerjahren wurde dort eine Seilbahn gebaut, die einen damals direkt bis zum Gletscher gebracht hat. Die Seilbahn gibt es zwar immer noch, aber man muss inzwischen anderthalb Stunden laufen, bis man tatsächlich am Gletscher ist. Alle paar Kilometer steht ein Schild mit einer Jahreszahl, das die Stelle markiert, bis wohin das Eis zu dieser Zeit reichte. Man geht diesem sterbenden Gletscher hinterher und sieht quasi Naturgeschichte in Echtzeit. Ich solchen Momenten spüre ich Demut, und ich spüre sie gerne. Was ist es, was uns an der Natur so bewegt? Habekuß: Das fragen sich Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten, ohne eine abschließende Antwort zu haben. Ich finde es aber eigentlich auch ganz schön, dass es einen Bereich gibt, der dem Verstand nicht direkt zugänglich ist. Steffens: Das Interessante ist ja, dass es unser Beruf ist, Wunder wissenschaftlich zu erklären. Als meine Eltern mir irgendwann eröffnet haben, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, hat das viel von der Faszination Weihnachten weggenommen. Die Natur aber verliert nichts von ihrem Zauber, wenn man sie versteht – im Gegenteil. — Andrea Böhnke und Clara Rauschendorfer wussten schon vor dem Interview, dass der Mensch für das Artensterben verantwortlich ist. Aber erst nach dem Gespräch ist ihnen bewusst geworden, dass vor dem Büro täglich eine Amsel singt.