zeitwissen_2020_05_full
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Kann es sein, dass ein paar Meter und die<br />
Laune eines anderen Menschen darüber<br />
entscheiden, wie es uns geht? Nicht die<br />
eigene Vergangenheit, nicht das Einkommen?<br />
Nicht die Gesundheit, die Glücksspiele,<br />
politischen Enttäuschungen oder<br />
Zukunftschancen? Nicholas Christakis, Soziologe und<br />
Direktor des Human Nature Lab der Yale University,<br />
hat die Daten einer ganzen Kleinstadt untersucht, gesammelt<br />
über Jahre. Er hat sich die sozialen Verstrickungen<br />
angesehen, die Krankheiten und Launen der<br />
Leute, hat die Winkel und Nischen in deren sozialen<br />
Netzen durchsucht – um herauszufinden, wo sich das<br />
Glück ansammelt und wo es fehlt. Und dann hat er<br />
eine interessante Entdeckung gemacht: Ob reich oder<br />
arm, gesund oder nicht – glücklich sind diejenigen, die<br />
von Glücklichen umgeben sind. Ganz direkt, Tür an<br />
Tür. Nicht nur weil sich Glückliche mit Glücklichen<br />
zusammentun, sondern weil sich Glück ausbreitet.<br />
Glück und Unglück sind ansteckend wie Viren. Besonders<br />
wichtig für die Übertragung: physische Nähe<br />
und regelmäßiger Kontakt. Je näher man wohnt, desto<br />
höher ist die Ansteckungsrate, vor allem zwischen<br />
gleichen Geschlechtern. Sein dringender Rat: Achten<br />
Sie darauf, mit wem Sie Ihre Zeit verbringen!<br />
»Das Schicksal des Menschen ist der Mensch«<br />
(Bertolt Brecht, »Die Mutter«)<br />
Die menschliche Existenz ist darauf ausgelegt, sich mit<br />
anderen zusammenzutun. Als Einzelkämpfer hätte sich<br />
der Homo sapiens nicht durchgesetzt. Er war vermutlich<br />
weder der Schlaueste noch der Stärkste unter den<br />
Menschenarten, und seine Babys kommen so unreif<br />
auf die Welt, dass sie sterben würden, wenn sich nicht<br />
jahrelang andere um sie kümmern – sein Vorteil ist die<br />
Kooperation. Jeder Einzelne wird fest in das Netz der<br />
Menschheit eingewoben, in das große Mit ein an der.<br />
Wobei die meisten bestimmt schon festgestellt haben:<br />
Das Zusammensein ist nicht immer leicht. Und egal ob<br />
durch Job, Liebe, Wohnraum, Geburt oder andere<br />
Spielarten des Schicksals: Nicht mit jedem will man im<br />
Leben verbunden sein, vorsichtig ausgedrückt.<br />
Aber kann man die Stinktiere einfach aussortieren?<br />
Die Jammerer, Bremser, Kleinmacher? Die Schlechtgelaunten,<br />
Immerbesorgten und Besserwisser? Die Gemeinen<br />
und Hinterhältigen? Bei manchen geht das bestimmt,<br />
und wenn man jemanden kennenlernt, kann<br />
man darauf achten, sich kein Stinktier ans Bein zu<br />
binden – doch die Realität zeigt: Schon das ist nicht so<br />
leicht. Gerade wenn es darauf ankommt, zum Beispiel<br />
in der Liebe, tarnen sie sich nämlich. Und wieder andere,<br />
wie Eltern, Kinder, Nachbarn oder Kollegen, kann man<br />
sich gar nicht aussuchen und somit auch nicht so leicht<br />
loswerden. Der Mensch hat zwar keine natürlichen<br />
Feinde. Aber er hat die anderen Menschen. »Wir sind<br />
unsere schlimmsten Raubtiere«, sagt Christakis.<br />
Warum ist es so kompliziert zu erkennen, wer uns<br />
wirklich guttut? Wie gehen wir am besten mit denen<br />
um, die es nicht tun – aber nun mal in unserem Leben<br />
vorhanden sind? Und was ist das überhaupt: guttun?