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er stabilisiert sich durch seine Massenträgheit selbst. Ein<br />

leichterer Reifen wird durch falsche Bewegungen aus<br />

seiner Bahn geworfen. Große Reifen mit einem Durchmesser<br />

von bis zu 120 Zentimetern drehen sich langsamer<br />

– »und man muss nicht so schnell kreisen«, sagt<br />

der Trainingswissenschaftler Patrick Berndt von der<br />

Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement<br />

in Saarbrücken. »Der Nachteil ist, dass ein schwerer<br />

Reifen mehr Kraft braucht, um geschwungen zu<br />

werden.« Der Australierin Marawa Ibrahim gelang es,<br />

200 Reifen gleichzeitig um ihre Hüfte kreisen zu lassen.<br />

Um den Hals geht es auch, der Rekord: zehn Reifen.<br />

Was müssen wir tun, damit der Reifen nicht herunterfällt?<br />

»Dafür braucht es eine möglichst rhythmische,<br />

kreisende Bewegung in einer Geschwindigkeit, die<br />

ausreicht, um die Masse des Reifens so stark zu beschleunigen,<br />

dass die Kraft nach außen größer ist als die<br />

Gravitation nach unten«, sagt Berndt. Da arbeitet ein<br />

kompletter Muskel-Gelenk-Verbund: die wirbelsäulenstabilisierende<br />

Muskulatur, die Bauch-, Gesäß- und die<br />

hüftumgebende Muskulatur. »Wenn diese in der richtigen<br />

Reihenfolge angesteuert werden, kommt es zu einer<br />

kreisenden Bewegung des Beckens«, so Berndt. Muskulär<br />

sei dazu so gut wie jeder Mensch in der Lage. »Die<br />

eigentliche Schwierigkeit ist die Koordination. Die<br />

kreisende Bewegung muss gleichbleibend rhythmisch<br />

erfolgen.« Je länger man schwingt, desto beanspruchender<br />

wird es. Zwischen 110- und 140-mal umrundet der<br />

Reifen in einer Minute den Körper. Hula-Hoop fördert<br />

die Ausdauer, der Trainingswissenschaftler nennt es Ermüdungswiderstandsfähigkeit.<br />

Und weil man sich bei<br />

alldem konzentrieren muss, schaltet man beim Hüftkreisen<br />

gedanklich ab. Die perfekte Auszeit. Hinzu<br />

kommt: Die Verbindung zwischen linker und rechter<br />

Hirnhälfte nimmt durch motorische Stimulation an<br />

Volumen zu. »Und weil die Motorik zentral eta bliert ist«,<br />

so der Sportmediziner Kwast, »lassen sich motorische<br />

Lerneffekte auf andere Bereiche des Gehirns ausweiten.«<br />

Für Anfänger: Reicht ein Reifen auf dem Boden stehend<br />

bis zum Bauchnabel, hat er die richtige Größe.<br />

So geht’s: »Mit Anleitung üben«, sagt Ingo Froböse<br />

von der Deutschen Sporthochschule Köln. Dann:<br />

kreisen, kreisen, kreisen. Keine ruckhaften Bewegungen.<br />

Für Fortgeschrittene: Hat man Hula-Hoop gelernt,<br />

kann man Größe und Gewicht des Reifens reduzieren,<br />

um immer schneller zu werden.<br />

Das stimmt nicht: Wer seine Körpermitte trainiert,<br />

verliert in dieser Region auch Fett.<br />

Schaukeln heißt: das Leben spielen«, hat der<br />

Kunsthistoriker Jürgen von der Wense gesagt.<br />

Wer schaukelt, fühlt sich schwerelos.<br />

Der Höhenflug lässt uns die Erdanziehungskraft<br />

vergessen, wir schwingen dem<br />

Himmel entgegen, jauchzen und jubeln,<br />

fühlen uns frei und lebendig. Die Schaukel ist unsere<br />

Verbindung zur Erde. Ein Überschlag geht nicht (mit<br />

menschlicher Kraft), wenn das Schaukelbrett an Seilen<br />

oder Ketten befestigt ist. Sobald man damit über die<br />

Horizontale hinausschwingt, endet die Kreisbahn, die<br />

Schaukelketten erschlaffen, und man fällt senkrecht ab.<br />

Hängt die Schaukel dagegen an Stangen, kann sie 360<br />

Grad rund um die Achse der Aufhängung fliegen.<br />

7,38 Meter waren die Stangen lang, mit denen der Este<br />

Sven Saarpere geschaukelt ist – Weltrekord. In Estland<br />

ist Schaukeln jahrhundertealte Tradition: Beim Kiiking<br />

an Mittsommer loten die Schaukelsportler ihre Grenzen<br />

aus – und das verstehen die über Jahrzehnte von anderen<br />

Ländern besetzten Esten auch politisch.<br />

Unsere erste Schaukel ist der Mutterleib. Es folgt<br />

die Wiege, im Tragetuch oder Kinderwagen geht es<br />

weiter, dann aufs Schaukelpferd und raus auf den Spielplatz.<br />

Die dortigen Schaukelgeräte müssen der Europa-<br />

Norm EN1176 entsprechen. Im öffentlichen Raum<br />

entstehen immer spektakulärere Schaukellandschaften,<br />

wie die in Amsterdam mit dem Namen »Over the Edge«:<br />

Europas höchste Schaukel, mit der man über die Kante<br />

eines Hochhauses schwingt, steht in hundert Meter<br />

Höhe über dem Nordseekanal.<br />

Auf der Schaukel erleben wir, dass wir uns aus<br />

eigener Kraft Erdanziehung und Zentrifugalkraft zunutze<br />

machen können. Wenn man während der Passage<br />

des tiefsten Punktes seinen Schwerpunkt nach oben verlagert<br />

und am höchsten Punkt nach unten, gewinnt man<br />

Energie, die die Geschwindigkeit erhöht und die Pendelbewegung<br />

antreibt, also die Amplitude der Schwingung<br />

vergrößert. Während wir schwingen, verlagern wir<br />

dafür unseren Körper in der Vorwärtsbewegung in die<br />

Rückenlage, während der Gegenbewegung beugen wir<br />

uns nach vorn. Kinder machen das intuitiv richtig.<br />

»Diese Abläufe übertragen wir unbewusst auf andere<br />

Bewegungen. Je jünger man ist, desto besser gelingt der<br />

Transfer«, sagt Stefan Kwast von der Universität Leipzig.<br />

Der Spielplatzschaukel entwachsen, suchen wir das<br />

beschwingte Hin und Her in der Schiffsschaukel auf<br />

dem Jahrmarkt oder beim Bungee-Jumping, in Schaukelkissen<br />

und hängenden Sitzhalbkugeln, dem Wohlfühlinterieur<br />

der Möbelindustrie. Im besten Fall endet<br />

das lebenslange Gewiege im Schaukelstuhl. Denn

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