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AM ANFANG DREI FRAGEN 9 2. Wie entscheidend ist der erste Blick? Wenn zwei Menschen sich ansehen, erfinden ihre Augen blitzschnell eine Geschichte – ob sie wahr ist oder falsch, ist erst einmal egal Text Rebekka Gottl Foto Tadao Cern N och ist ihr Kopf gesenkt, und die Augen sind geschlossen, während ihr gegenüber eine ihr fremde Person Platz nimmt. Marina Abramović atmet tief durch, dann öffnet sie die Augen. Lange Minuten werden dann beide schweigen, sie werden sich nur ansehen. Gut 600 Stunden saß die Künstlerin 2010 für ihre Aktion The Artist Is Present im Atrium des New Yorker Museum of Modern Art. In 1545 Augenpaare hat sie geschaut – 1545 erste Blicke, und jeder einzelne auf eigene Weise bedeutsam. Der Philosoph Arthur Schopenhauer war überzeugt vom Gewicht des ersten Blicks. »Wie Gerüche uns nur bei ihrem Eintritt affizieren [reizen], so machen auch Gesichter ihren vollen Eindruck nur das erste Mal«, schreibt er in seinem Essay Zur Physiognomik. Wie schnell wir uns ein Urteil über unser Gegenüber bilden, haben Psychologen der Prince ton University untersucht. Dafür legten sie Probanden nur einen Wimpernschlag lang Fotos ihnen unbekannter Gesichter vor und fragten sie nach den Charaktereigenschaften der abgebildeten Personen. Das Ergebnis: Die Zehntelsekunde reichte für einen ersten Eindruck. Die Versuchsteilnehmer hatten bereits entschieden, ob die Unbekannten etwa kompetent, aggressiv oder zugänglich wirkten. Worauf wir beim schnellen ersten Blick besonders achten, haben Wissenschaftler der University of York herausgefunden. Es sind vier Merkmale: die Größe der Augen, die Breite der Augenbrauen, die Form des Mundes und die Höhe der Wangenknochen. »Sehen wir jemanden zum ersten Mal, schreibt das Gehirn dem Unbekannten augenblicklich und unbewusst bestimmte Eigenschaften zu«, sagt Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Helmut- Schmidt-Universität Hamburg. Evolutionsbiologisch sei diese Einschätzung lebenswichtig. In der Steinzeit musste blitzschnell zwischen Freund und Feind unterschieden werden – ein Reflex, den wir bis heute nicht abgelegt haben. Hirnscans zeigen, dass beim Betrachten von Fotos fremder Gesichter zwei Hirnregionen sehr aktiv sind: die Amygdala, die unser soziales und emotionales Verhalten kontrolliert, und der hintere cinguläre Cortex, der auch für die Bewertung von Objekten zuständig ist – zum Beispiel ihrer Vertrauenswürdigkeit. »Das intuitive Gefühl, das wir beim ersten Blick entwickeln, kann uns leicht täuschen«, sagt Erb. Dennoch zeigt eine Studie der Cornell University: Der erste Eindruck beeinflusst die folgende Begegnung maßgeblich. So ordneten Probanden einer Unbekannten, von der sie zuvor ein Foto gesehen und bewertet hatten, auch nach einem persönlichen Treffen noch dieselben Eigenschaften zu, obwohl sie sich mehr als 20 Minuten mit ihr unterhalten hatten. Das Gehirn veranlasst uns also, stets auf den ersten Eindruck – ob richtig oder nicht – zu vertrauen. Grund dafür ist der Halo-Effekt: Wir schließen von oberflächlichen Merkmalen unserer Mitmenschen auf deren Persönlichkeit. Finden wir jemanden etwa attraktiv, setzen wir der Person sozusagen den Heiligenschein auf und ordnen ihr ausschließlich positive Charakterzüge zu. Hans-Peter Erb spricht vom confirmation bias, dem Bestätigungsfehler: »Sobald wir uns ein erstes Bild von unserem Gegenüber gemacht haben, suchen wir gezielt Infos, die unsere These bestätigen, und ignorieren solche, die sie widerlegen.« Gänzlich umgehen können wir den Mechanismus nicht. Aber wir können uns des eigenen Blicks und seiner Macht zumindest bewusst werden. Wer sich das nächste Mal also dabei erwischt, vom Äußeren einer Person auf deren Charakter geschlossen zu haben, dem rät Erb: »Erwägen Sie doch einfach mal das Gegenteil.« —