Nr. 116 «Girli» - Frühling 2024 (EU)
Die Frühlings-Ausgabe der MANNSCHAFT flattert heran und versorgt dich mit 132 Seiten voller Geschichten aus der queeren Welt: vom After-liebenden Flussdelfin bis zum pansexuellen Stierkämpfer über trans Repräsentation in Filmen und Serien bis nach Wien zu einem queeren Designlabel und zudem Tipps für sicheres Online-Dating.
Die Frühlings-Ausgabe der MANNSCHAFT flattert heran und versorgt dich mit 132 Seiten voller Geschichten aus der queeren Welt: vom After-liebenden Flussdelfin bis zum pansexuellen Stierkämpfer über trans Repräsentation in Filmen und Serien bis nach Wien zu einem queeren Designlabel und zudem Tipps für sicheres Online-Dating.
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Deine Community, dein Team.<br />
<strong>Nr</strong> <strong>116</strong><br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
mannschaft.com<br />
Singer-Songwriter<br />
Girli ruft im <strong>Frühling</strong><br />
das Matriarchat aus<br />
Seite 50<br />
Echo vom Eierstock:<br />
Feministisches<br />
Jodeln ohne Tracht<br />
Seite 56<br />
Dragkings und<br />
-quings erobern<br />
die Bühne<br />
Seite 122<br />
<strong>EU</strong>R 15
„Eine Grand Show<br />
der Superlative!“<br />
GALA<br />
„Ein neuer Weltrekord<br />
im Live-Entertainment“<br />
COSMOPOLITAN<br />
BERLIN’S N o 1 GRAND SHOW<br />
FALLING | IN LOVE ist hinreißende Schönheit. Eine Explosion der<br />
Farben – kuratiert vom Pariser Stardesigner Jean Paul GAULTIER.<br />
Mit der Magie von unglaublichen 100 Millionen (!)<br />
Swarovski Kristallen.<br />
Erlebe die funkelndste Grand Show aller Zeiten auf der<br />
größten Theaterbühne der Welt! Nur im Palast Berlin –<br />
der Nummer 1 für strahlendes Live-Entertainment.<br />
Showtrailer<br />
Jean Paul GAULTIER<br />
TICKETS: www.PALAST.BERLIN
Deine Community, dein Team.<br />
CHF 20<br />
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EDITORIAL<br />
Bunt wie die<br />
Community<br />
MANNSCHAFT entstand 2010<br />
als Monatsmagazin für schwule<br />
und bi Männer. Seit 2020 sprechen<br />
wir als Quartalsmagazin<br />
die ganze queere Community<br />
an. Einige Inhalte behandeln<br />
LGBTIQ-Themen generell,<br />
andere sind explizit schwul,<br />
lesbisch, trans oder ein Mosaik<br />
diverser Identitäten. So bunt<br />
wie die Community eben.<br />
Foto: Jasmin Zaccone<br />
MANNSCHAFT MAGAZIN<br />
<strong>Nr</strong>. <strong>116</strong>, <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Das LGBTIQ-Magazin für die<br />
Schweiz, Deutschland, Österreich<br />
und Liechtenstein.<br />
Joshua Seelenbinder<br />
will mehr queere Rollen<br />
spielen<br />
Seite 92<br />
Virtueller Safe Space:<br />
8 Tipps für sichereres<br />
Onlinedating<br />
Seite 42<br />
Neun Storys bilden das Herzstück<br />
der MANNSCHAFT und<br />
stehen jeweils für eine Farbe<br />
der von Gilbert Baker 2017<br />
entworfenen Regenbogenfahne.<br />
Verschiedene Rubriken zu<br />
Film, Lifestyle, Literatur und<br />
Musik sowie aktuelle Meldungen<br />
runden das Magazin ab.<br />
Coming-out in der<br />
Stierkampfszene:<br />
Feiern wir das?<br />
Seite 100<br />
<strong>Nr</strong> <strong>116</strong><br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
mannschaft.com<br />
Singer-Songwriter<br />
Girli ruft im <strong>Frühling</strong><br />
das Matriarchat aus<br />
Seite 50<br />
Echo vom Eierstock:<br />
Feministisches<br />
Jodeln ohne Tracht<br />
Seite 56<br />
Dragkings und<br />
-quings erobern<br />
die Bühne<br />
Seite 122<br />
<strong>Nr</strong> <strong>116</strong><br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
mannschaft.com<br />
Liebe Mannschaft<br />
Wir werden immer sichtbarer. Queere Menschen zeigen sich an<br />
ganz unerwarteten Orten. Jüngst hat sich mit Mario Alcalde ein Stierkämpfer<br />
geoutet (Seite 100). Nicht als schwul oder bisexuell, sondern als<br />
pansexuell – eine sexuelle Orientierung, die bestimmt nicht wenige in<br />
der konservativen Stierkampfszene Spaniens und vielleicht auch einige<br />
in unserer Community zuerst einmal googeln müssen.<br />
Die LGBTIQ-Sichtbarkeit breitet sich aus wie ein Lauffeuer. In<br />
den Neunziger- und frühen Nullerjahren war in Filmen und Serien der<br />
schwule Sidekick – überzeichnet und klischiert – noch das Höchste der<br />
Gefühle. Ich kann mich gut erinnern, wie wir beim Start von MANN-<br />
SCHAFT vor über zehn Jahren noch die Augen offenhalten mussten,<br />
um queeren Inhalt zu finden. Heute erscheinen so viele Bücher, Filme<br />
und Serien, dass wir eine Auswahl treffen müssen, welche wir vorstellen<br />
wollen. So viele LGBTIQ-Menschen zeigen sich heute, dass wir eine<br />
abwechslungsreiche Bandbreite von Geschichten erzählen dürfen. Und<br />
das ist auch gut so!<br />
In dieser Ausgabe stellen wir dir ein queeres Designlabel aus<br />
Wien vor (Seite 28) und porträtieren einen feministischen Jodelchor<br />
(Seite 56). Wir begleiten den Fotografen Clifford Prince King bei seiner<br />
Suche nach Identität (Seite 68) und die Dragkings und -quings bei ihrem<br />
Kampf um mehr Sichtbarkeit auf der Bühne (Seite 122). Und wir sprechen<br />
mit Ilonka Petruschka, die Produktionsfirmen auf die Finger<br />
schaut, wenn es um trans Repräsentation in Filmen und Serien geht<br />
(Seite 68). Dazu gibt dir meine Co-Chefredaktorin Denise einen Einblick,<br />
wie das so mit queerer Repräsentation in der Tierwelt aussieht<br />
(Seite 110).<br />
Ist die queere Sichtbarkeit überall angekommen? Fast! Noch<br />
immer wird im Männerfussball auf Coming-outs von Profispielern<br />
gewartet. Doch auch hier könnte sich womöglich bald etwas ändern.<br />
Der ehemalige Fussballer Marcus Urban hat für den 17. Mai ein<br />
Gruppen-Coming-out angekündigt. Wir bleiben gespannt und berichten<br />
darüber auf MANNSCHAFT.com. Danke für deine Treue!<br />
Joshua<br />
Foto: Lily Cummings<br />
Girli<br />
Foto: Claryn Chong<br />
Greg Zwygart<br />
Co-Chefredaktion<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
3
Mannschaftsaufstellung<br />
In dieser Ausgabe haben unter anderem diese Personen<br />
für uns geschrieben, gezeichnet und fotografiert.<br />
Von klein auf wusste Raffi<br />
p.n. Falchi, dass er Fotograf<br />
werden wollte. Als Jugendlicher<br />
in der eigenen Dunkelkammer,<br />
als Lehrling in<br />
einem Atelier, als Assistent<br />
bei erfahrenen Fotografen<br />
führte sein Weg in die<br />
Selbständigkeit, worüber wir<br />
uns freuen: Die Fotos der<br />
Story 1 hat er geschossen<br />
und seit Anbeginn vollführt<br />
er unsere Bildredaktion.<br />
→ Seite 6<br />
Lily Cummings<br />
ist eine Fotografin aus New York,<br />
die in Berlin lebt. Sie hat eine Vorliebe<br />
für gedruckte Projekte und<br />
intime Porträts wie das von Joshua<br />
auf unserer Covervariante, das sie<br />
fotografiert hat. → Seite 92<br />
Julian Litschko studierte Kommunikationsdesign<br />
an der Muthesius Kunsthochschule<br />
Kiel und arbeitet als Illustrator<br />
in Hamburg. Sein neues Buch «Die<br />
grosse Revolution: Ein Mondroman» ist<br />
bei der Favoritenpresse erhältlich.<br />
→ Seite 42<br />
In seiner Zeit als Konstrukteur<br />
in der Ostschweiz<br />
realisierte Dominik Schefer,<br />
dass er keine Maschinen-<br />
teile mehr erschaffen wollte,<br />
die ihr Dasein im Dunkeln<br />
fristen müssen.<br />
Nach einem Studium an<br />
der Hochschule Luzern<br />
landete er in Bern und<br />
illustriert seit Jahren unsere<br />
Kolumnen, aktuell Mirko<br />
Beetschens «Alter Ego».<br />
→ Seite 18<br />
Foto: rubenwyttenbach.ch, noord.ch<br />
Bo Wehrheim ist Zimmerer<br />
und freier Autor. Deren<br />
Text nimmt das «go drag!<br />
munich»-Festival unter die<br />
Lupe, das den Drag von<br />
weiblichen, trans und<br />
nicht-binären Performer*innen<br />
feiert. Das Foto<br />
zeigt Bos erstes Mal in «full<br />
drag». → Seite 122<br />
Nora Kehli ist freie Autorin, schreibt mal<br />
über dieses, mal über jenes – Hauptsache,<br />
irgendwas mit Kultur. Wenn sie nicht gerade<br />
auf der Tastatur klimpert, findet man sie<br />
in Kinos, Museen oder auf Konzerten. Immer<br />
mit dabei: ihre geliebte Polaroid-Kamera.<br />
→ Seite 50<br />
Kolumnen:<br />
Mann, Frau Mona!, 37<br />
Reden ist Gold, 83<br />
Die trans Perspektive, 119<br />
4 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Storys<br />
1 2 3<br />
Gesundheit<br />
«Mein Selbstvertrauen<br />
hing<br />
davon ab, beschwipst<br />
zu<br />
sein»<br />
6<br />
4 5 6<br />
Musik<br />
Das Echo<br />
vom Eierstock<br />
bin<br />
ich<br />
56<br />
Lifestyle<br />
Die<br />
Architekten<br />
schöner<br />
Dinge<br />
28 40<br />
Fotografie<br />
«Ich suchte<br />
Bilder, die<br />
meine Identität<br />
widerspiegelten»<br />
Community<br />
68 84<br />
So schützt<br />
du dich auf<br />
Dating-Apps<br />
Film<br />
«Lasst<br />
uns trans<br />
Geschichten<br />
besser erzählen!»<br />
7<br />
Gesellschaft<br />
Blut, blutiger,<br />
das Leben<br />
(der Tod)<br />
8 9<br />
Natur<br />
13 queere<br />
Tiere treiben<br />
es wild<br />
Festival<br />
Dragkings:<br />
Raus aus der<br />
Nische<br />
100 110 122<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
5
Story — 1<br />
1<br />
«Mein<br />
Selbstvertrauen<br />
hing<br />
davon ab,<br />
beschwipst<br />
zu sein»<br />
6 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 1<br />
Text – Denise Liebchen<br />
Fotos – Raffi p.n. Falchi<br />
Wie schwer ist es, als queerer Mensch<br />
nüchtern zu leben? Darüber haben wir<br />
mit Schauspieler Dominic Hartmann<br />
und Dragqueen Klamydia von Karma<br />
gesprochen: in einer Bar übrigens. Aus<br />
ihren Kehlen sprudelte Tiefgang heraus.<br />
Über den Wunsch dazuzugehören,<br />
über grenzenlose Toleranz, tolerierte<br />
Grenzen und schambefreiten Spass.<br />
Bis am Ende das Bier kam.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
7
Story — 1<br />
n Zürich stürmt es auf die Art, die<br />
Regenschirme umknickt und kleine,<br />
fiese Tropfen ins Gesicht peitscht.<br />
Doch sobald sich die Tür zur Bar<br />
«Gleis» öffnet, trocknet das zerzauste<br />
Gemüt unter dem warmen Lächeln<br />
des Tresenpersonals. In der Mitte<br />
des Lokals an einem Holztisch unter<br />
hochhängenden Sonnenschirmen<br />
stecken zwei die Köpfe zusammen:<br />
der Schauspieler Dominic Hartmann<br />
und die Dragqueen Klamydia<br />
von Karma. Dominic gründete die<br />
Gruppe «Queer and Sober» Schweiz<br />
– Klamydia ist deren Botschafterin.<br />
Als die beiden zur Begrüssung aufstehen,<br />
ragt Dominic 1,98 Meter in die<br />
Höhe und Klamydia strahlt mit ihrem<br />
Glitzer-Make-up wie ein Stern. Auf dem Tisch stehen<br />
drei Gläser und eine Karaffe voll Wasser.<br />
Klamydia, du bist seit einem Jahr in der Schweiz<br />
und hast hier bereits zwei Drag-Kronen eingeheimst.<br />
Tagsüber erforschst du als Doktor*in die<br />
Evolution der Pflanzen. Zuvor warst du fünf Jahre in<br />
Schweden und in Frankreich bist du geboren.<br />
Brauchst du einen nüchternen Verstand, um dir<br />
so eine Biografie zu erarbeiten?<br />
Klamydia: Ich habe noch nie getrunken. Ich wurde<br />
nüchtern geboren.<br />
Wir alle werden nüchtern geboren, aber die<br />
meisten von uns bleiben es nicht.<br />
Klamydia: Ich weiss nicht, wie es ist, nicht nüchtern<br />
zu sein, aber als Drag bin ich im Nachtleben umgeben<br />
von Alkohol und Leuten, die mich fragen, ob ich was<br />
trinken möchte. Die Nacht erlebe ich sozusagen von<br />
der anderen Seite, der nüchternen.<br />
Wie gehst du damit um, dass die Leute um dich<br />
herum im Club betrunken sind?<br />
Klamydia: Ich habe weder schlechte noch gute Gefühle<br />
dabei. Ich verstehe, dass die Leute feiern wollen,<br />
eine schöne Zeit haben.<br />
Zu bestimmten Zeiten kann eine Party über-<br />
wältigend sein, oder?<br />
Klamydia: Ja, weil es lauter und dunkler wird. Es gibt<br />
viele Reize. Wenn man betrunken oder high ist, kann<br />
man diese Stimuli besser ertragen, weil man betäubt<br />
ist. Wenn es mir zu viel wird, ziehe ich mich in einen<br />
ruhigen Raum zurück, wo ich mit Leuten reden kann,<br />
und gehe dann wieder auf die Party. Aber irgendwann<br />
sind meine sozialen Batterien leer und es wird schwierig<br />
für mich, neben Leuten zu bleiben, die ich nicht<br />
kenne und die Substanzen konsumiert haben. Deshalb<br />
verlasse ich die Party meist als Erste.<br />
Dominic, wie hat sich dein Leben seit deiner<br />
Abstinenz verändert?<br />
Dominic: Zunächst möchte ich klarstellen, dass es völlig<br />
in Ordnung ist, Drogen zu nehmen oder Alkohol<br />
zu trinken. Ein Therapeut hat mir einmal gesagt: «Jeder<br />
Mensch hat ein Recht auf Rausch», und dem ich<br />
stimme vollkommen zu. «Queer and Sober» zielt nicht<br />
darauf ab, sich selbst zu optimieren, und ist nicht kapitalistisch<br />
ausgerichtet. Für mich ist es wichtig anzuerkennen,<br />
dass Drogen gute als auch schlechte Seiten<br />
haben. Für mich war der Missbrauch jedoch eher<br />
eine negative Erfahrung, die mit meiner mentalen<br />
Verfassung zusammenhängt. Ich habe ADHS, das bis<br />
vorletztes Jahr nie behandelt wurde, und habe deshalb<br />
Alkohol missbraucht. Das ständige Auf und Ab<br />
meines Dopaminspiegels führte zu Angstzuständen<br />
und Depressionen. Ohne den Konsum von Alkohol<br />
und Drogen fühle ich mich ausgeglichener. Meinem<br />
Freund habe ich neulich erzählt, dass ich nicht mehr<br />
die Wellen im Atlantik jage, sondern Stand-up-Paddling<br />
auf dem Zürichsee mache. Ich bin mir bewusst,<br />
dass ich in der privilegierten Lage bin, mein Leben so<br />
zu gestalten, wie es mir gefällt.<br />
Du hast schon einmal aufgehört zu trinken.<br />
Was ist diesmal anders?<br />
Dominic: Von 25 bis 29 war ich nüchtern, aber es fühlte<br />
sich wie ein Verzicht an. In dieser Zeit arbeitete ich<br />
an mir und meinem Wohlbefinden. Als es mir wieder<br />
gut ging, dachte ich, ich könnte ja jetzt auch wieder<br />
anfangen zu trinken und zu feiern. Aber es blieb nicht<br />
bei dem einen Aperol Spritz, sondern ich kam erst am<br />
nächsten Nachmittag nach Hause. Letzten <strong>Frühling</strong><br />
erhielt ich meine ADHS-Diagnose. Das war der Moment,<br />
in dem ich erkannte: Nein, es funktioniert nicht.<br />
Alkohol, Drogen und ADHS verträgt sich bei mir sehr<br />
schlecht. Also habe ich aufgehört. Seitdem fühle ich<br />
mich leichter und denke nicht mehr: Oh, Scheisse, ich<br />
kann nicht trinken, ich muss zu Hause bleiben.<br />
Klamydia, warum lebst du einen absolut nüchternen<br />
Lebensstil anstelle eines mässigen?<br />
Klamydia: Ich bin in einer französisch-tunesischen<br />
Familie geboren, grösstenteils in einer muslimischen<br />
Kultur. Das Trinken war zu Hause verboten, also bin<br />
ich mit dieser kulturellen Prägung aufgewachsen. Ich<br />
fühlte mich nicht einmal in Versuchung, wenn ich<br />
das Haus verliess und die Partys entdeckte. Aber mit<br />
8 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 1<br />
Lebt seit der Geburt<br />
nüchtern: Klamydia<br />
von Karma.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
9
Story — 1<br />
Drogen und Alkohol<br />
findet Schauspieler<br />
Dominic<br />
Hartmann völlig<br />
in Ordnung, bloss<br />
ihm haben sie<br />
nicht gut getan.<br />
10 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 1<br />
«Als ich den Entschluss<br />
fasste,<br />
wieder nüchtern<br />
zu werden, war<br />
meine grösste<br />
Angst, dass ich<br />
von der queeren<br />
Gemeinschaft<br />
ausgeschlossen<br />
werde.» Dominic Hartmann<br />
der Zeit hörte ich auf zu sagen, dass Alkohol böse ist.<br />
Später wurde ich krank und die Pillen, die ich seither<br />
nehmen muss, vertragen sich nicht mit Alkohol. Ich<br />
meine, Marilyn Monroe hat es versucht und ist gescheitert.<br />
Sie starb. Warst du kein einziges Mal versucht,<br />
Alkohol oder anderes zu probieren?<br />
Klamydia: Nein, ich habe noch nie etwas probiert und<br />
hatte auch keine Lust oder Neugier darauf.<br />
Dominic, wenn du noch Alkohol trinken würdest,<br />
wer wärst du dann heute?<br />
Dominic: Mein Leben wäre anstrengender und ungesünder.<br />
Meine psychische Gesundheit würde stark leiden.<br />
Wenn ich trinke und im Mittelpunkt stehe, gebe<br />
ich 150 Prozent und kann die ganze Nacht durchfeiern.<br />
Das ist in dem Moment lustig, aber danach fehlen<br />
mir die 50 oder sogar 80 Prozent.<br />
Du hast den Club «Queer and Sober» gegründet.<br />
Erzähl etwas darüber.<br />
Dominic: Als ich den Entschluss fasste, wieder nüchtern<br />
zu werden, war meine grösste Angst, dass ich<br />
nicht mehr zur queeren Gemeinschaft dazugehöre.<br />
Ich konnte nicht mehr in Bars, Clubs und auf Partys<br />
gehen.<br />
Warum nicht?<br />
Dominic: Mein Selbstvertrauen hing davon ab, beschwipst<br />
zu sein. Das gab mir ein Gefühl der Lockerheit<br />
und half mir, besser mit Leuten zu reden und<br />
soziale Situationen zu meistern. Also fragte ich mich,<br />
wie ich mein Leben wieder in den Griff bekommen<br />
könnte. Bei meiner Recherche stiess ich auf «Queer<br />
and Sober» in Amsterdam. Sie haben Tausende von<br />
Followern und 400 aktive Mitglieder, die zusammen<br />
auf Partys gehen, zur Pride, spazieren gehen und Kaffee<br />
trinken. Also beschloss ich, mutig zu sein und ein<br />
Instagram-Konto zu eröffnen, um zu sehen, was passiert.<br />
Im September fand unser erstes «Queer and Sober»-Treffen<br />
statt. Wir treffen uns hier im «Gleis» jeden<br />
ersten Dienstag im Monat und es kommen immer<br />
zwischen 5 bis 10 Leute. Wenn sich das Ganze mehr<br />
etabliert hat, planen wir auch gemeinsame Partybesuche,<br />
Schwimmen im Sommer oder Wanderungen.<br />
Und Klamydia ist unsere Botschafterin.<br />
Klamydia: Wenn ich als Drag in einer Bar bin, wollen<br />
die Leute nett sein und bieten mir einen Drink an.<br />
Dann sage ich nein und oft beginnt dadurch ein langer<br />
Dialog. Als Dominic mich für «Queer and Sober»<br />
anfragte, konnte ich mich damit identifizieren, weil<br />
ich in Clubs oft schräg angeschaut oder sogar ausgeschlossen<br />
wurde, weil ich nicht trinke. Auf der einen<br />
Seite gibt es den Druck zu trinken und auf der anderen<br />
den sozialen Druck der Ausgrenzung.<br />
Dominic: Ich glaube, die Ausgrenzung kommt hauptsächlich<br />
daher, dass die Leute anfangen zu interpretieren,<br />
was du denkst oder urteilst. Aber ich möchte<br />
noch einmal betonen, dass es aus meinem Herzen<br />
kommt. Ich würde nie Menschen verurteilen, weil sie<br />
betrunken oder high sind. Drogen haben auch gute<br />
Seiten. Ich nehme Drogen auf Rezept für meine geistige<br />
Gesundheit und sie helfen mir sehr.<br />
Klamydia: Genau, das meine ich. Die Leute fühlen sich<br />
unwohl, wenn ich in einer Gruppe bin, die trinkt oder<br />
Drogen nimmt, weil sie ein Urteil spüren, das nicht da<br />
ist.<br />
Dominic: Es ist gut für mich, offen nüchtern zu leben,<br />
damit ich mich nicht ständig erklären muss. Denn das<br />
geht niemanden etwas an. Umgekehrt frage ich auch<br />
nicht jede Person, warum sie trinkt. Geht es dir heute<br />
nicht gut? Hast du Probleme zu Hause? Hast du ein<br />
schlechtes Gewissen? Wurdest du betrogen? Nein, das<br />
interessiert mich nicht.<br />
Du sprichst das Problem der Stigmatisierung an.<br />
Dominic: Ja, das ist ein grosser Teil der Philosophie<br />
dahinter. Nüchtern zu sein hat für mich nichts mit<br />
Selbstoptimierung zu tun, es geht nicht darum, ein<br />
besserer Mensch zu werden. Du kannst nüchtern derselbe<br />
beschissene Mensch sein. «Queer & Sober» soll<br />
ein Ort sein, an dem Menschen es geniessen können,<br />
queer und nüchtern zu sein.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
11
Klamydia<br />
von Karma<br />
Tagsüber Doktor*in, nachts Dragqueen.<br />
Anis kam in Frankreich zur Welt und lebte<br />
zuletzt fünf Jahre in Schweden, arbeitete<br />
als Wissenschaftler*in und kreierte die<br />
Dragfigur Klamydia von Karma. Erst seit<br />
einem Jahr lebt Klamydia in der Schweiz<br />
und erhielt bereits zwei Drag-Kronen:<br />
in Basel von Odette Hella’Grand und in<br />
Zürich beim Heaven’s Drag Race. Darauf<br />
angesprochen, antwortet sie: «Chlamydien<br />
verbreiten sich tatsächlich.» Tagsüber<br />
arbeitet Anis als Biologie-Postdoc<br />
an der Eidgenössischen Technischen<br />
Hochschule (ETH).<br />
Instagram<br />
@klamydiavonkarma<br />
Klamydia: Als nüchterne Drag kann ich zeigen, dass<br />
ich keinen Alkohol brauche, um auf der Bühne albern<br />
zu sein und meinen Hintern zu präsentieren. Sobald<br />
du Alkohol für etwas brauchst, beginnt die Abhängigkeit.<br />
Dominic, wie denkst du heute über deine Angst,<br />
den Kontakt zur Community zu verlieren, weil du<br />
nicht mehr auf Partys oder in Bars gehst?<br />
Dominic: Das klingt klischeehaft, aber ich geniesse<br />
jetzt die Stille und die Einsamkeit, weil sich mein Dopaminspiegel<br />
reguliert hat. Am Sonntagmorgen einen<br />
Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen, erfreut mich<br />
biochemisch gleich wie früher die ganze Nacht zu feiern.<br />
Ich unternehme viel mit meinen Freund*innen,<br />
aber je länger ich nüchtern bin, desto weniger verspüre<br />
ich das Bedürfnis, in eine Bar oder auf eine Party zu<br />
gehen. Das hat viel mit der Gruppe «Queer and Sober»<br />
zu tun. Durch sie fühle ich mich zugehörig und nicht<br />
ausgeschlossen, weil ich nicht in den Club gehe. Das<br />
Gegenteil von Sucht ist Verbindung. Wenn du dich mit<br />
anderen Menschen verbindest, kannst du dieses Bedürfnis<br />
vielleicht kompensieren.<br />
Klamydia, welche Strategien hast du für dein<br />
soziales Leben?<br />
Klamydia: Ich höre in mich hinein. Wenn ich im Club<br />
bin und merke, dass ich nicht sozial sein will, fühle ich<br />
mich nicht schuldig. Ich mache meine Show und gehe.<br />
Manchmal ist es so. Wenn meine sozialen Batterien<br />
geladen sind, bleibe ich. Das ist einer der Gründe, warum<br />
ich Drag mache. Nicht nur um aufzutreten, sondern<br />
auch, um mit der queeren Community in Kontakt<br />
zu sein und verschiedene Perspektiven kennenzulernen.<br />
Meine Rolle ist viel mehr als die einer Dragqueen,<br />
ich bin auch eine Zuhörerin. Wenn sich jemand unwohl<br />
fühlt, weil er zum Beispiel nüchtern ist, sage ich:<br />
«Hey, ich bin auch nüchtern. Wenn du bleiben willst,<br />
dann bleib. Ich feiere mit dir. Wenn du nicht bleiben<br />
willst, geh. Folge deinem Herzen.» Meine Figur Klamydia<br />
von Karma ist auch ein Bewältigungsmechanismus.<br />
Sie hat mir gezeigt, was Anis nicht hat und<br />
was Klamydia haben will. Vielleicht hätte Alkohol<br />
Anis geholfen, dieses Update zu bekommen. Klamydia<br />
ist gekommen, um mir zu sagen: «Nein, du hast es in<br />
dir.» Klamydia ist meine Erweiterung, mein queerer<br />
Narr.<br />
Kennst du andere Dragqueens, die nüchtern sind?<br />
Klamydia: Ja, es gibt viele. In der Schweiz Fiorella, Betty<br />
Business oder in Amsterdam Lady Galore. Es gibt<br />
Dragqueens, die in ihrem Leben und auf der Bühne<br />
12 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 1<br />
nüchtern sind. Und es gibt Künstler*innen, die im Leben<br />
nüchtern sind, aber als Drags nicht als nüchtern<br />
wahrgenommen werden, weil sie in Discos auftreten,<br />
wo es Alkohol und Drogen gibt.<br />
Wie sieht deine Strategie aus, Dominic?<br />
Dominic: Ich respektiere meine Grenzen und die der<br />
anderen besser, wenn ich nüchtern bin. Ich habe<br />
gelernt zu akzeptieren, dass es völlig in Ordnung ist,<br />
zu Hause zu bleiben und zu sagen: «Nein, heute will<br />
ich neun Stunden schlafen und nicht neun Stunden<br />
feiern.» Es ist mir wichtig, meine Bedürfnisse und<br />
Wünsche respektvoll und liebevoll mit anderen zu<br />
teilen. Ich verlange von niemandem, in meiner Gegenwart<br />
nüchtern oder betrunken zu sein. Alle können<br />
so high sein, wie sie wollen. Ich erwarte nur, so respektiert<br />
zu werden, wie ich andere respektiere. Und<br />
ich habe wieder angefangen zu laufen, und mein Sexleben<br />
ist nüchtern viel besser als betrunken.<br />
Klamydia: Genau.<br />
Dominic: Ich habe gelesen, dass Eisbäder den Dopaminspiegel<br />
so stark erhöhen wie Kokain, aber die<br />
höchste Dosis bekommen wir über Sex.<br />
Bist du manchmal versucht zu trinken?<br />
Dominic: Manchmal, wenn ich gestresst bin und das<br />
Gefühl habe, ich muss mich schnell entspannen. Je<br />
länger ich nüchtern bin und meine Grenzen kenne,<br />
Dominic<br />
Hartmann<br />
Theaterschauspieler und «Queer and<br />
Sober»-Gründer: Dominic Hartmann,<br />
1992 in der Schweiz geboren, wuchs im<br />
Kanton Aargau auf. Sein Masterstudium<br />
in Schauspiel schloss er an der Zürcher<br />
Hochschule der Künste ab. Danach<br />
spielte er u.a. in Berlin im Gorki-Theater<br />
und im Theater Basel. Ab April ist er<br />
im Schauspielhaus Zürich zu sehen in<br />
«Moise und die Welt der Vernunft» – ein<br />
Stück über Verschwendung, sexuelle<br />
Zurückhaltung, Exzess und homosexuelle<br />
Zärtlichkeit. Im September gründete<br />
Dominic die Gruppe «Queer and<br />
Sober» in der Schweiz nach dem gleichnamigen<br />
Vorbild aus Amsterdam.<br />
Instagram @queerandsober_ch<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
13
Story — 1<br />
desto weniger lasse ich es so weit kommen. Bei stressigen<br />
Endproben, wo ich von neun Uhr morgens bis<br />
23 Uhr abends mit 40 Leuten auf der Bühne arbeite,<br />
wo es laut ist, trage ich Kopfhörer. In dieser Zeit kommuniziere<br />
ich freundlich mit Respekt, dass ich nicht<br />
angesprochen werden möchte, es sei denn, es ist wichtig.<br />
Dass ich weder die Situation noch die Leute verabscheue,<br />
sondern die Kopfhörer brauche, um es ohne<br />
den Drang nach einer Flasche Rotwein nach Hause zu<br />
schaffen.<br />
Klamydia: Es geht um die Jagd nach Dopamin. Zucker<br />
hat von allen Drogen den grössten Einfluss auf das<br />
Gehirn. Er dringt in jede Zelle ein. Es ist im Grunde<br />
genommen eine Orgie für dein Gehirn.<br />
Dominic: Wenn ich mich nicht mit Alkohol belohne,<br />
womit dann? Dann versuche ich es mit Zucker, Joggen<br />
oder Sex zu kompensieren. Ich wechsle zwischen verschiedenen<br />
Süchten. Mir hilft es, neue Dinge zu lernen,<br />
auszuprobieren und zu erleben. Zum Beispiel Pilates.<br />
Ausserdem habe ich mir eine kleine Gruppe von Menschen<br />
ausgesucht, deren Meinung ich hundertprozentig<br />
schätze und auf deren Feedback ich mich einfach<br />
verlasse. Wenn ich seit drei Wochen fünfmal die Woche<br />
jogge, sagen sie mir, dass ich eine Pause brauche.<br />
Draussen hängen<br />
Regentropfen an<br />
den Scheiben, drinnen<br />
ruht das Wasser<br />
in der Karaffe der<br />
«Gleis»-Bar und<br />
dazwischen ein<br />
Gespräch über das<br />
Nüchternsein.<br />
14 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 1<br />
«Sobald du<br />
Alkohol für etwas<br />
brauchst, beginnt<br />
die Abhängigkeit.»<br />
Klamydia von Karma<br />
Welche Tipps habt ihr für Queers, die mit dem<br />
Gedanken spielen, nüchtern zu leben?<br />
Dominic: Langsam ist immer besser. Fang vielleicht<br />
eine Woche an nicht zu trinken, dann zwei Wochen<br />
und dann wieder zwei Wochen. Nimm es locker, setze<br />
dir eigene Ziele, rede mit anderen Leuten und sei einfach<br />
nett zu dir selbst.<br />
Klamydia: Wenn du in einem Club bist und denkst, du<br />
brauchst Alkohol, um in Stimmung zu kommen, um<br />
zu flirten oder verrückt zu sein, dann sag nein. Alkohol<br />
ist nicht der Schlüssel, du selbst bist der Schlüssel,<br />
um dich zu befreien. Setze eine Perücke auf, schminke<br />
dich, lebe deine Fantasie aus. Schau den Kindern zu,<br />
wie sie spielen, singen, tanzen und sich verkleiden.<br />
Dieses Verhalten steckt in uns allen. Wir verlieren es<br />
nur durch gesellschaftliche Konditionierung wieder.<br />
Scham wird von aussen auf uns projiziert, aber es ist<br />
wichtig zu erkennen, dass es in Ordnung ist, albern zu<br />
sein. Ein Zitat von meiner Mutter lautet: «Das Leben<br />
ist kurz, also hab Spass.» Fühle dich nicht schuldig<br />
wegen der Blicke der anderen, denn es ist dein Leben<br />
und du wirst es nicht noch einmal leben. Und wenn du<br />
einen schlechten Tag hast, geh nach Hause schlafen.<br />
Dominic: Du bist nicht nur ein Zustand, du bist ein<br />
Mensch. Authentizität bedeutet, sich selbst zu kennen,<br />
zu wissen, was man will und was nicht, und sich<br />
selbst treu zu bleiben. Das gibt dir den Raum zu wachsen<br />
und zu erkennen, dass das Leben ein Prozess ist.<br />
Wenn ihr einen Wunsch frei hättet, was würdet ihr<br />
euch für die queere Szene wünschen?<br />
Klamydia: Einen freundlicheren und respektvolleren<br />
Austausch innerhalb unserer Community. Unabhängig<br />
von Alter, sozialem Status, Gesundheitszustand,<br />
ethnischer Herkunft oder sexueller Identität. Ein<br />
stärkerer Zusammenhalt würde dazu beitragen, dass<br />
wir uns alle mehr verbunden fühlen. Teilung ist nie<br />
gut. Eine queere Person wird diskriminiert wie alle<br />
Minderheiten in der Welt und in der Gesellschaft. Und<br />
leider findet diese Diskriminierung auch in unserer<br />
eigenen Gemeinschaft statt, weil wir dazu neigen, sie<br />
zu reproduzieren.<br />
Dominic: Genau das wünsche ich mir auch für die<br />
Community: ein Verständnis für das grössere Bild,<br />
eine Überwindung der internen Konflikte. Und nun<br />
lasst uns einen Drink nehmen – stellt euch das Interviewende<br />
vor.<br />
Stellt euch vor, wir werden betrunken.<br />
Klamydia (lacht): Von zwei Flaschen Wasser auf Ex!<br />
Dominic (lacht): Also ich ziehe alkoholfreies Bier vor.<br />
Prost!<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
15
LIFESTYLE<br />
TREND BIS TRASH<br />
Zusammengestellt von der<br />
MANNSCHAFT-Redaktion.<br />
Boomender Ball<br />
Pickleball boomt in den USA. Auch bei den diesjährigen<br />
Eurogames in Wien wird dieser Mix aus Badminton, Tischtennis<br />
und Tennis zu bewundern sein. Dabei wird ein löchriger<br />
Plastikball mit überdimensionierten Tischtennisschlägern<br />
übers Netz gespielt.<br />
We love, weil es einfach zu erlernen<br />
ist und alle Altersklassen leichtes Spiel<br />
haben.<br />
Bild: Unsplash<br />
Bild: Instagram/ququ_raaakun7<br />
Quälende Qualle<br />
Aqua-Trends wellen auf uns zu – und ganz vorne mit dabei<br />
sind die Quallen. Quallenlampen, Quallenohrringe und<br />
-kleider, sogar Quallenhaarschnitte (genannt Jellyfish). Was wir<br />
von dieser Invasion der majestätischen und glitschigen<br />
Meerestiere halten? Etwas zwischen neugierig und angeekelt.<br />
Ob sich der Trend bis zur Badesaison hält?<br />
Ein erfrischendes Gedankenexperiment.<br />
Bild: zVg Pantone<br />
Für fitte Fellnasen<br />
Tracker für Tiere: Das Minitailz-Halsband lokalisiert für<br />
schlappe 99 Dollar den pelzigen Liebling, misst<br />
Herzschlag, Atemfrequenz und erfährt, was er treibt.<br />
Doch das Verkaufsargument, sein Haustier damit<br />
gesund zu halten, zweifeln wir stark an. Machen die<br />
Tiere am Ende nicht eh, was sie wollen? Im deutschsprachigen<br />
Raum bisher in Deutschland erhältlich.<br />
Wau, was für ein Gadget!<br />
16 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Bild: Pexels Sean P Twomey<br />
Tiefer Talk<br />
LIFESTYLE<br />
An der Oberfläche kratzen war gestern: Auf Plattformen wie Pinterest steigt<br />
das Interesse nach Fragekarten und Gesprächsanregungen für Paare,<br />
Freund*innen und Familie. Der «Deep Talk»-Trend spiegelt, wonach wir uns<br />
sehnen: emotional verbunden und mental gesund sein und echten,<br />
achtsamen Austausch haben.<br />
Raus aus der Selbstspirale und dem Weltschmerz, rein<br />
in den tiefen Talk.<br />
Populärer Pfirsich<br />
Das auf Farbe spezialisierte Unternehmen<br />
Pantone hat Peach Fuzz zur Farbe<br />
des Jahres gekürt, inspiriert von der<br />
saftig-prallen Pfirsichfrucht und nicht<br />
etwa von der zweideutigen Emoji-Verwendung.<br />
Die süsse Versuchung in<br />
Pastell erobert seither Lippen, Wangen<br />
und Kleiderschränke.<br />
Ob das Versprechen was<br />
taugt, Peach Fuzz liesse uns<br />
gesünder aussehen? Selbst<br />
ausprobieren.<br />
Bild: zVg Apple<br />
Avantgardistischer<br />
Augapfel<br />
Sehen als Magie. Die Technologie<br />
der Mixed-Reality-Brille Apple<br />
Vision Pro erntet höchstes Lob,<br />
wobei jüngst einige Kund*innen<br />
die Brille zurückgeben wegen<br />
Kopfschmerzen und Schwindel.<br />
Seit Februar in den USA erhältlich<br />
für 3500 Dollar.<br />
Beeindruckt sind wir<br />
wahrlich, doch verweisen<br />
wir auf vorherigen Trend<br />
«Tiefer Talk» beharrlich:<br />
als Ausgleich,<br />
damit aus magisch nicht<br />
einsam wird.<br />
Caprese im Cocktail<br />
Drinks, die nach Gerichten schmecken, trenden: vom<br />
Caprese Martini in New York bis zum thailändischen<br />
Rindfleischsalat-Drink in Hongkong. Cheers rufen die<br />
Abenteuerlustigen, Prost die Verrückten!<br />
Trinken statt essen? Kann man machen.<br />
Muss man aber nicht.<br />
Bild: Yossy Arefi<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
17
ALTER EGO<br />
Die Freuden und Leiden<br />
der Samstagnacht<br />
Ein Samstagabend im Spätwinter. Mein Mann ist verreist, und ich<br />
habe die Wohnung für mich allein. Mit dem Hund war ich spazieren,<br />
der Haushalt ist erledigt, und es steht nichts mehr an. Ich freu’<br />
mich darauf, einen Abend lang nur zu lesen, Netflix zu glotzen und<br />
mir das Abendessen beim Inder zu bestellen. Ich will mich gerade<br />
aufs Sofa legen, als sich mein Alter Ego zu Wort meldet.<br />
Alter Ego: Ist heute nicht unsere Lieblingsparty?<br />
Ich (schulterzuckend): Möglich.<br />
Ich lasse mich langsam ins Polster sinken und wünsche mir,<br />
dass mein Alter Ego die Party gleich wieder vergisst.<br />
Alter Ego: Ich hab’ doch in der Stadt ein Plakat gesehen.<br />
Guck mal in der Kulturagenda.<br />
Ich (seufzend): Wenn du meinst.<br />
Lustlos stehe ich wieder auf und suche in den diversen über die<br />
ganze Wohnung verteilten Zeitungsstapeln nach der entsprechenden<br />
Beilage, heimlich hoffend, dass sie schon im Altpapier<br />
gelandet ist.<br />
Ich: Ich kann sie leider nicht finden. Ist wahrscheinlich schon<br />
entsorgt.<br />
Schnell schnapp’ ich mir mein Buch und lass’ mich zurück aufs<br />
Sofa plumpsen.<br />
Alter Ego (vorwurfsvoll): Wie wär’s mit online nachsehen?<br />
Ich krame grummelnd mein Handy aus der Tasche und öffne<br />
die Website eines queeren Veranstaltungskalenders.<br />
Alter Ego: Da! Da ist sie! Heute ab 21 Uhr!<br />
Ich: Toll.<br />
Alter Ego: Wir können ja erst gegen elf hin, dann hast du vorher<br />
genügend Zeit rumzulümmeln.<br />
Ich: So spät hab’ ich keine Lust mehr rauszugehen.<br />
Alter Ego: Bah, so spiessig. Früher hat dir das auch nichts<br />
ausgemacht.<br />
Ich: Früher hatten wir auch einen Kaiser. Ich möchte jetzt einfach<br />
einen gemütlichen Abend daheim, basta.<br />
Mein Alter Ego schweigt beleidigt, während ich mich wieder<br />
meinem Roman widme.<br />
Alter Ego (murmelnd): Nächsten Monat können wir bestimmt<br />
wieder nicht, und dann ist Sommerpause, im Herbst verreisen wir –<br />
das heisst, wir kommen dieses Jahr gar nicht mehr an diese Party.<br />
Ich: Was ja auch egal ist.<br />
Alter Ego: Ja, aber dort treffen wir doch immer Leute, die wir<br />
sonst nie sehen.<br />
Ich (zögerlich): Stimmt . . . aber ich bin heute echt nicht in<br />
Stimmung.<br />
Mirko Beetschen ist Schriftsteller –<br />
ausgezeichnet mit dem Literaturpreis<br />
des Kantons Bern.<br />
Er liebt Design und Architektur,<br />
seinen Vizsla-Rüde Puccini und<br />
Kater Elliot.<br />
– alterego@mannschaft.com<br />
Damit vertiefe ich mich wieder in mein Buch. Nach einer<br />
Weile kichert mein Alter Ego. Ich ignoriere es. Wieder ein<br />
Kichern.<br />
Ich: WAS?<br />
Alter Ego: Bestimmt ist die halbe Sportgruppe dort und<br />
feiert ihr Saturday Night Fever, und du liegst hier wie deine<br />
eigene Grosstante.<br />
Ich: Na und?<br />
Alter Ego: Der Türke ist sicher auch mit von der Partie.<br />
Ich (aufhorchend): Meinst du wirklich?<br />
Alter Ego: Na klar! Der lässt sich doch die coolste Party der<br />
Stadt nicht entgehen.<br />
Ich: Hm, vielleicht könnte ich ja gegen zehn kurz reinschauen.<br />
Wenn nichts los ist, bin ich vor Mitternacht wieder<br />
hier und guck’ noch einen Film.<br />
Alter Ego: Deal!<br />
Ich: Aber wehe, ich vergeude dort meine Zeit!<br />
Es ist viele Stunden später, als ich summend und torkelnd<br />
in die dunkle Wohnung zurückkehre und von unserem<br />
Hund freudig begrüsst werde.<br />
Ich (mich umständlich aus der Jacke windend): Wie spät<br />
ist es eigentlich?<br />
Alter Ego: Gleich fünf Uhr früh.<br />
Kurz ist es still, dann beginnen wir beide zu kichern.<br />
Text: Mirko Beetschen<br />
Illustration: Dominik Schefer<br />
18 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
DAS<br />
QUEERE<br />
FILMFESTIVAL<br />
AM<br />
BODENSEE<br />
11.-21. APRIL <strong>2024</strong><br />
IM ZEBRA KINO KONSTANZ
MANNSCHAFT+<br />
ARTS<br />
Bild: zVg<br />
Nicht-binäres<br />
Kinderbuch<br />
Vier Tage wach:<br />
Queer Music Festival<br />
Bouygerhl, das Archiv für queere Musik, veranstaltet vom 18. bis 21.<br />
April in Leipzig die erste Ausgabe des Queer Music Festivals. Unter<br />
dem Motto «Identität ist Realität» bietet das Programm Konzerte<br />
(u.a. mit der Indieband Privacy Please, Foto), Clubnächte (etwa mit<br />
DJ-Set von Olof Dreijer von The Knife), Lesung, Filmscreenings,<br />
Kunstausstellung und Tanzkurs. Die Agenda ist klar: Eine Plattform<br />
bieten, auf der Musiker*innen aus der LGBTIQ-Community in einem<br />
sicheren Rahmen ihre künstlerische Stimme erheben können.<br />
Gemeinsam laut und sichtbar sein. Infos & Tickets:<br />
– queermusicfestival.de<br />
Liebe zum Heilen: neues<br />
Album von Fletcher<br />
Die amerikanische Singer-Songwriterin und<br />
Queer-Ikone Fletcher hat am 22. März den Nachfolger<br />
ihres gelobten Debüts «Girl Of My Dreams» veröffentlicht:<br />
Auf dem Album «In Search Of The Antidote»<br />
erforscht Fletcher komplexe Themen wie Identität,<br />
Unsicherheit, Ego und Selbstverwirklichung. Sie<br />
selbst sagt dazu: «Dieses Album zu machen war eine<br />
Ausgrabung, ein tiefes Eintauchen, bei dem ich mich<br />
fragte, was mich wirklich heilen würde, und meine<br />
endgültige Erkenntnis war, dass Liebe das Gegenmittel<br />
ist.» Im April kommt Fletcher nach Frankfurt,<br />
Hamburg, Berlin, München und Köln. Erfahre mehr im<br />
Interview auf mannschaft.com:<br />
Stimmen aus dem eigenen Freund*innenkreis<br />
und dem ihres Patenkindes<br />
bewogen unsere Autorin Simone Veenstra<br />
dazu, ein Kinderbuch zu schreiben<br />
mit einer Hauptfigur (Luca), die nicht<br />
eindeutig als Mädchen oder Junge<br />
gelesen werden muss. Eine herzerwärmende<br />
Gutenachtgeschichte, in der sich<br />
Luca und Papa aufmachen, herauszufinden,<br />
was nachts passiert, wenn Luca<br />
schläft. Erzählt ohne ein einziges gegendertes<br />
Personalpronomen.<br />
John Galliano<br />
auf der<br />
Leinwand<br />
Ab 11. April in den deutschen<br />
Kinos: «High & Low»,<br />
der Dokumentarfilm über<br />
den Aufstieg und Fall<br />
einer der herausragendsten<br />
und einflussreichsten<br />
Modedesigner unserer<br />
Zeit - John Galliano.<br />
Mit illustrer Besetzung:<br />
Naomi Campell, Kate Moss,<br />
Penelope Cruz und weitere<br />
schöne Menschen und natürlich<br />
mit John Galliano<br />
himself.<br />
Bild: David Harriman<br />
20 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
VIENNA<br />
CALLING!<br />
SIGN UP NOW<br />
Foto: Anton Shoutvin/ unsplash<br />
JOIN US from July 17 th to 20 th , <strong>2024</strong> to celebrate<br />
diversity, equality, and inclusion through sports<br />
and culture. With a wide range of exciting sports<br />
competitions, cultural events, and social activities,<br />
there is something for everyone.<br />
EuroGames<strong>2024</strong>.at<br />
EuroGames<strong>2024</strong><br />
#EmbraceDiversity
+B<br />
MANNSCHAFT+ – WERBUNG<br />
BRANDS<br />
Marke ist «Allezeit<br />
bei mir»<br />
Das Modelabel Marke, Akronym für den Designer Mario Keine,<br />
huldigt mit seiner Kollektion all die Momente und Personen, die<br />
einem im Leben begegnen, begleiten, verlassen und die zurückkommen<br />
– alle hinterlassen Spuren im eigenen Charakter: Pragmatismus<br />
und Präzision durch den Vater, Emotion durch die Mutter, Gediegenheit<br />
durch die Herkunft im Sauerland, Exzentrik durch die Mentoren.<br />
Historische Einflüsse des eigenen Taufkleides, das Spiel mit Verkleidungen,<br />
Sportivität von Kinderbekleidung der 90er-Jahre und<br />
Couture Elemente der 50er-Jahre. Marke arbeitet ausschliesslich<br />
mit Über- und Restbeständen italienischer Hersteller, entwickelt in<br />
Köln und fertigt in Deutschland und Polen an.<br />
– marke-brand.com<br />
Bilder: James Cochrane<br />
30 Europareisen<br />
ohne<br />
Flieger<br />
Von entspannt bis Abenteuer, von<br />
Kurztrip bis mehrwöchig: Entdecke<br />
Europa, nachhaltig und ohne Flugzeug.<br />
Wie zeigt dir der neue Bildband<br />
«Reisen ohne Flug» des DuMont<br />
Reiseverlags mit 30 klimaschonenden<br />
Auszeiten, die man so in keinem<br />
Reisebüro buchen kann. Wie wäre es<br />
mit Inselhüpfen per Fähre in Griechenland?<br />
Radelnd das romantische<br />
Cornwall erkunden? Mit dem Postbus<br />
durch die Schweizer Alpen? Oder<br />
eine Fahrt mit dem Elektro-Hausboot<br />
in den Niederlanden über Kanäle,<br />
Grachten und Seen?<br />
Bild: zVg<br />
Bild: zVg<br />
Queerer Tropfen<br />
aus Wien<br />
In der Nähe von Wien hat der Landarzt und Winzer<br />
Gerald Wunderer vor ein paar Jahren ein Weingut<br />
erworben und produziert seitdem mit seinem<br />
Lebensgefährten Matthias Lobner besondere<br />
Weine. Darunter auch einen «queeren» Tropfen:<br />
eine Cuvée aus Grünem Veltliner, Müller-Thurgau,<br />
Sauvignon Blanc und Gelbem Muskateller. Pride<br />
nennt er diesen Wein und widmet ihn allen, die<br />
stolz darauf sind, wie sie sind. Pro Flasche geht ein<br />
Euro als Spende an die Türkis Rosa Lila Villa in<br />
Wien. – doktorwunderer.at<br />
She said<br />
Die Buchhandlung «She said» widmet<br />
sich der Unterrepräsentation von Autorinnen<br />
und queeren Autor*innen und<br />
eignet sich als Rückzugsort, um Neues<br />
zu entdecken und Vorurteilen zu entfliehen.<br />
Wer in Berlin unterwegs ist, sollte<br />
auf eine Stippvisite vorbeikommen und<br />
im integrierten Cafè eine Zimtschnecke<br />
verschlingen. Für alle anderen lohnt sich<br />
ein Besuch im Onlineshop.<br />
– shesaid.de<br />
22 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Bist du bereits Teil<br />
der Mannschaft?<br />
Spannende Persönlichkeiten,<br />
tiefgründige Hintergrundartikel<br />
und Reiseberichte abseits der<br />
typischen Gay-Destinationen.<br />
Wir sind das Magazin für die<br />
ganze Community und erscheinen<br />
viermal jährlich.<br />
Beim Abo ist MANNSCHAFT+<br />
inklusive. So hast du unbeschränkten<br />
Zugriff auf alle<br />
Artikel in unserer LGBTIQ-<br />
News-App oder auf unserer<br />
Newsseite mannschaft.com<br />
Ausserdem unterstützt du mit<br />
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MANNSCHAFT+<br />
COMMUNITY<br />
Bild: Ella Mettler<br />
Queer<br />
durch<br />
Europa<br />
«Pride on tour»: Auf 224 Seiten hat die<br />
Autorin Simone Bauer 35 queere, europäische<br />
Reiseziele zusammengetragen –<br />
mit Geheimtipps und Inspirationen zu<br />
Communitytreffs, Festivals, Partys,<br />
Kultur und Sehenswürdigkeiten. Der<br />
Reiseführer eignet sich auch für diejenigen,<br />
die abseits von Queerness Urlaub<br />
machen möchten, ohne Angst haben zu<br />
müssen, seine*n Partner*in küssen zu<br />
können.<br />
Am ESC: Isaaks’ Run<br />
und Kaleens’ Rave<br />
Bild: Pexels Anna Shvets<br />
Am 11. Mai stehen bei dem ESC-Finale für Deutschland Isaak und für<br />
Österreich Kaleen auf der Bühne. Der 28-jährige Ostwestfale überzeugte<br />
im deutschen Vorentscheid mit seiner voluminösen Reibeisenstimme<br />
und dem Song «Always On The Run» sowohl Publikum als<br />
auch eine internationale Jury. Und die 29-jährige Oberösterreicherin<br />
vertritt ihr Land mit dem Techno-inspirierten Popsong «We Will Rave».<br />
Die Schweiz schickt den nicht-binären Act Nemo (Bild) ins Rennen.<br />
Hier entlang zum Nemo-Interview und -Song:<br />
Studie: LGBTIQs<br />
sind polysexueller<br />
Die Dating-Plattform Gleichklang.de hat 1066 homo- und<br />
heterosexuelle Singles befragt, darunter 562 Frauen, 480<br />
Männer und 24 nicht-binäre Personen im Alter von 20 bis 85<br />
Jahren. Polypartnersexuelle und polypartnerromantische<br />
Orientierungen waren stärker bei LGBTIQs verbreitet: Eine<br />
polypartnersexuelle Orientierung bejahten 8,9 % der Heterosexuellen<br />
und 22,2 % der 302 teilnehmenden LGBTIQ-Personen<br />
– bei einer polypartnerromantische Orientierung waren<br />
es 11,9 % der Heterosexuellen und 24,8 % der LGBTIQs.<br />
Appell von<br />
Aids-Organisationen<br />
Über Monate fehlte mit Prep das einzige<br />
Arzneimittel, das für die Aids-Prophylaxe<br />
zugelassen ist und mit dem sich<br />
knapp 40 000 Menschen in Deutschland<br />
vor HIV schützen. Deshalb haben<br />
verschiedene Aids-Organisationen in<br />
einem offenen Brief die deutsche<br />
Bundesregierung aufgefordert, die<br />
Störanfälligkeit bei der Medikamentenversorgung<br />
zu verringern: etwa unverzichtbare<br />
Arzneimittel wieder verstärkt<br />
in Europa zu produzieren; sich nicht<br />
mehr auf wenige Hersteller zu konzentrieren,<br />
die gegebenenfalls die Preise<br />
bestimmen; dank Meldeverfahren und<br />
Warnsystemen bei Lieferengpässen<br />
früher einzugreifen.<br />
24 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
B<br />
K<br />
Z<br />
F<br />
E<br />
F <br />
F<br />
B<br />
1978.<br />
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Du bist individuell und verdienst<br />
eine HIV-Therapie, die das auch ist.<br />
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zu Dir?<br />
Sprich mit deinem/r Ärzt*in<br />
über deine Möglichkeiten.<br />
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Story — 2<br />
2<br />
Die<br />
Architekten<br />
schöner<br />
Dinge<br />
28 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 2<br />
Text – Greg Zwygart<br />
Bilder – Sheyn<br />
Nicolas Gold und Markus<br />
Schaffer sind Gründer von<br />
Sheyn, ein junges Start-up aus<br />
Wien. Ein Protokoll über die<br />
Träume und Meilensteine eines<br />
queeren Designstudios.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
29
Story — 2<br />
ie 40 futuristische Spinnräder sehen sie<br />
aus: Die 3D-Drucker, die in der Zieglergasse<br />
in Wien leise vor sich hin surren. Nur<br />
spinnen sie keine Wolle, sondern Fäden aus<br />
biobasierten Kunststoffen. Auch spinnen<br />
ist das falsche Wort. Vielmehr tragen die<br />
Maschinen Schicht um Schicht auf, Millimeter<br />
um Millimeter – mit so grosser Präzision,<br />
dass am Ende eine perfekte geometrische<br />
Form entsteht, die nicht nur schön<br />
aussieht, sondern auch einen Zweck erfüllt:<br />
als Vase, als Schale, als Lampenschirm.<br />
Wir befinden uns im Atelier von Sheyn,<br />
am Tisch sitzen Nicolas Gold und Markus<br />
Schaffer. Die beiden Männer sind die<br />
Gründer des jungen Designstudios und sowohl<br />
geschäftlich als auch privat ein Paar.<br />
Die Idee<br />
Sheyn begann vor acht Jahren. Nicht in<br />
diesem Atelier, sondern in der Küche von<br />
Nicolas. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits<br />
seit etwas über einem Jahr mit Markus<br />
zusammen und schlug ihm vor, gemeinsam<br />
ein Unternehmen zu gründen.<br />
Er würde sich um das Kreative kümmern,<br />
Markus um das Geschäftliche. Was genau<br />
Nicolas jedoch produzieren wollte, wusste<br />
er damals noch nicht. «Nur etwas war mir<br />
klar: Ich wollte einfach schöne Dinge machen»,<br />
sagt Nicolas.<br />
Bei diesem entscheidenden Moment in<br />
der Küche war auch ein guter Freund von<br />
Nicolas dabei. Und sagte: «Dann wählt<br />
doch den Namen Sheyn!» Ein Argument<br />
dafür war nicht nur die jiddische Bedeutung<br />
«schön», sondern auch die Herkunft<br />
der jiddischen Sprache. «Ich stamme aus<br />
einer jüdischen Familie in Argentinien,<br />
Markus aus Österreich», sagt Nicolas.<br />
«Jiddisch steht für eine Verbindung der<br />
jüdischen Community mit Europa – ein<br />
Zusammenkommen von Hebräisch und<br />
Deutsch.»<br />
Markus studierte Informationsmanagement,<br />
Nicolas Architektur. Während<br />
Nicolas noch den Master anhängte, absolvierte<br />
Markus den Master in Wirtschaftsinformatik.<br />
Für Nicolas war lange klar,<br />
dass er sich einmal selbstständig machen<br />
würde. «Ich designe lieber für mich selbst<br />
als für andere Leute», sagt er. «Als ich noch<br />
in einem Architekturbüro arbeitete, war<br />
ich frustriert. Du arbeitest 60 Stunden pro<br />
Woche und tust am Ende das, was andere<br />
dir sagen.»<br />
Die Produkte<br />
Ein Architekt ist Nicolas geblieben – ein<br />
Architekt schöner Dinge. Dieser Background<br />
prägt Sheyn von den Anfängen<br />
bis heute, veranschaulicht wird das in den<br />
architektonischen Designs der Produkte.<br />
Diese kommen aus dem 3D-Drucker und<br />
werden nach Modellierungstechniken entworfen,<br />
die Nicolas im Studium gelernt hat.<br />
Die erste Kollektion, die Sheyn herausbringt,<br />
ist Schmuck. «Das waren Ringe,<br />
Anhänger und Armreifen, die wir in Silber<br />
fassten. Damit besuchten wir die ersten<br />
Designermärkte in Wien», erinnert sich<br />
Markus. Sowohl er als auch Nicolas hatten<br />
zu dieser Zeit noch ihre Jobs und Sheyn<br />
war nichts weiter als ein Nebenprojekt.<br />
2019 kauften die beiden ihren eigenen<br />
3D-Drucker, um mehr Kontrolle über die<br />
einzelnen Teile ihrer Schmuckdesigns zu<br />
haben. Nicolas experimentierte mit Vasen<br />
und produzierte erste Prototypen. Diese<br />
stellte er zusammen mit dem Schmuck am<br />
Wiener Fesch’Markt aus, ein ehemaliger<br />
Marktplatz für die Kreativszene Österreichs.<br />
«Die Prototypen waren schnell ausverkauft,<br />
so dass wir nachts weitere nachdrucken<br />
mussten», erinnert sich Markus.<br />
«Uns war sofort klar, dass wir die Vasen<br />
weiterverfolgen mussten.»<br />
30 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 2<br />
Für die «Embracing<br />
Beauty»-Kampagne<br />
posierten queere<br />
Menschen für Sheyn.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
31
Story — 2<br />
Markus Schaffer<br />
(links) ist für die<br />
geschäftliche Seite<br />
von Sheyn verantwortlich,<br />
Nicolas<br />
Gold für Design und<br />
Produktion.<br />
32 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 2<br />
«Markus ist der typische<br />
Österreicher. Er mag es gerne<br />
etwas langsamer, dafür auf<br />
der sicheren Seite.»<br />
Nicolas und Markus konzentrierten<br />
sich auf «Homeware». Der Begriff kann<br />
etwa mit Haushaltswaren übersetzt werden<br />
und umfasst Vasen, Schalen und Töpfe<br />
für Pflanzen. Bald kamen Leuchtmittel<br />
wie Tischlampen und Hängeleuchten<br />
hinzu, die das Paar erstmals 2022 bei der<br />
Vienna Design Week ausstellten.<br />
Heute ist der Schmuck eher in den<br />
Hintergrund gerutscht. «Die Homeware-<br />
Kollektionen können wir komplett selbst<br />
produzieren. Beim Schmuck ist es ein bisschen<br />
komplizierter, da wir die Fassungen<br />
andernorts herstellen lassen müssen»,<br />
sagt Nicolas. «Daher verkaufen wir den<br />
Schmuck nur noch auf Bestellung.»<br />
Vasen und Lampen aus dem 3D-Drucker:<br />
Kann man sich diese Wundermaschine<br />
kaufen und bloss auf den «Print»-Knopf<br />
drücken? So einfach, wie das klingt, ist es<br />
nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass<br />
ein qualitativ hochwertiges Gerät mehrere<br />
hundert Euro kostet, sind die Produkte<br />
von Sheyn das Ergebnis eines zeitintensiven<br />
Design- und Herstellungsprozesses,<br />
die akribisch auf den Drucker abgestimmt<br />
sind. «Wir lassen uns vom Drucker nicht<br />
vorschreiben, wie er unsere Ware druckt»,<br />
sagt Nicolas. «Wir versuchen die Balance<br />
zwischen Design und Produktionsqualität<br />
zu finden.» Ähnlich wie die Statik eines Gebäudes<br />
in der Architektur eine Rolle spielt,<br />
muss Nicolas neben dem Design auch die<br />
Struktur und Stabilität seiner Produkte berücksichtigen<br />
– und wie diese durch den<br />
3D-Drucker gewährleistet werden können.<br />
Seine Anforderungen sind hoch: Produkte,<br />
die einen Makel oder Druckfehler aufweisen,<br />
wandern ins Recycling.<br />
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Du lebst mit HIV und Stigmatisierung ist kein Fremdwort für dich? Nimm das nicht<br />
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Community dagegen unternehmen und was „nicht nachweisbar = nicht übertragbar“<br />
damit zu tun hat. Hilf dabei, die Vorur teile abzubauen, denn du hast !<br />
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Story — 2<br />
«Uns ist wichtig, dass wir<br />
mit ökologischen Materialien<br />
arbeiten.»<br />
Der Durchbruch<br />
2020 erhielten Markus und Nicolas eine<br />
Förderung über 60 000 Euro der Wirtschaftsagentur<br />
Wien, ein Fonds der Stadt<br />
Wien. Markus schrieb den dafür erforderlichen<br />
Antrag und das Budget. «Der Antrag<br />
musste sehr gründlich sein, fast wie<br />
ein Businessplan. Doch für uns war es gut,<br />
so konnten wir uns an ihm orientieren»,<br />
sagt er.<br />
Die beiden erhielten die Zusage für den<br />
Förderbeitrag im Februar 2020. Ein Monat<br />
später kam die Pandemie und Markus<br />
und Nicolas sassen zuhause im Lockdown.<br />
Während viele andere Unternehmen zum<br />
Stillstand kamen, hatte das Paar Glück. Es<br />
war ein guter Zeitpunkt, um durchzustarten.<br />
«Die Menschen mussten im Homeoffice<br />
bleiben und wollten ihr Zuhause<br />
verschönern. Unser Onlineshop mit allen<br />
Produkten war startbereit», sagt Nicolas.<br />
Heute besteht Sheyn aus einem fünfköpfigen<br />
Team. «Wir sind ein ziemlich<br />
queerer Brand», sagt Markus lachend. «Wir<br />
bestehen aus vier schwulen Männern und<br />
einer heterosexuellen Frau.»<br />
Auf die Frage, wann Sheyn der Durchbruch<br />
gelang, geben Markus und Nicolas<br />
unterschiedliche Antworten. Der Betriebswirtschafter<br />
Markus nennt die Bestellung<br />
eines kanadischen Onlineshops<br />
von 1300 Stück. Der lukrative Auftrag liess<br />
die jungen Unternehmer jedoch erst einmal<br />
leer schlucken.<br />
«Bis dahin war unsere grösste Bestellung<br />
lediglich bei 150 Stück», erinnert sich<br />
Markus. «Wir hatten nicht genügend Zeit<br />
und nicht genügend Platz für eine so grosse<br />
Bestellung.» Sheyn einigt sich mit dem<br />
Kunden auf eine Lieferfrist von zwei Monaten<br />
und eine Anzahlung. Mit dem Geld<br />
schaffen sich Markus und Nicolas fünf<br />
neue 3D-Drucker an und beginnen mit der<br />
Produktion.<br />
«Ohne diese Bestellung wären wir heute<br />
vielleicht nicht dort, wo wir jetzt sind», sagt<br />
Nicolas. «Wir konnten viel lernen, was den<br />
Umgang mit grossen Bestellungen betrifft.»<br />
34 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Für den Kreativkopf symbolisiert jedoch<br />
ein anderes Ereignis den Durchbruch<br />
von Sheyn: das Ausstellen bei der renommierten<br />
Designmesse «Maison & Objet»<br />
in Paris. «Die angesehenen Marken und<br />
Produkte sind dort vertreten, für mich<br />
schien das immer unerreichbar», sagt Nicolas.<br />
«Als wir aber dort unseren kleinen<br />
Stand hatten und die Leute zu uns kamen,<br />
um Bestellungen aufzugeben, gab es uns<br />
schon das Gefühl, endlich angekommen<br />
zu sein.»<br />
Die Balance zwischen Geschäft<br />
und Beziehung<br />
Markus und Nicolas sind nicht selten<br />
unterschiedlicher Meinung. Doch es sind<br />
gerade die gegensätzlichen Ansichten<br />
Wer hätte<br />
gedacht, dass<br />
Maisstärke so<br />
aussehen könnte?<br />
und das Treffen in der Mitte, was Teil des<br />
Erfolgsrezepts von Sheyn ist. «Ich bin<br />
sehr impulsiv und möchte alles am liebsten<br />
gleich sofort umsetzen», sagt Nicolas.<br />
«Markus ist der typische Österreicher. Er<br />
mag es gerne etwas langsamer, dafür auf<br />
der sicheren Seite. Für die geschäftlichen<br />
Dinge fehlt mir schlicht die Geduld.»<br />
Es ist jedoch der eher risikoscheue<br />
Markus, der Nicolas zu gemeinsamen<br />
Kollektionen mit anderen Künstler*innen<br />
bringt. «Ich sage anfangs oft nein, weil<br />
ich nicht mit anderen Menschen designen<br />
möchte. Am Ende kommen aber immer<br />
coole Produkte dabei raus», sagt Nicolas.<br />
Ein Jahr nach seiner grossen Bestellung<br />
meldete sich der kanadische Onlineshop<br />
wieder und schlug eine gemeinsame
Story — 2<br />
Die «Blend»-Kollektion kombiniert zwei Farben und erreicht so die Optik eines Farbverlaufs.<br />
Bild: Sellerie Studio<br />
Weihnachtskollektion vor. «Ich bin Jude,<br />
ich habe keinen Bezug zu Weihnachten»,<br />
sagt Nicolas lachend. Doch Markus überzeugte<br />
ihn und im Rahmen der Kollaboration<br />
entdeckte Nicolas eine Methode, die<br />
zwei Farben beim 3D-Druck miteinander<br />
kombiniert. Die zweifarbigen Modelle<br />
sind nun fester Bestandteil der Sheyn-<br />
Hauptkollektion. «Sie gehören zu unseren<br />
Bestsellern», sagt Nicolas. «Ohne die Zusammenarbeit<br />
hätten wir nie diese Richtung<br />
eingeschlagen.»<br />
Während Markus und Nicolas in den<br />
Anfangsjahren fast ihre gesamte Zeit in<br />
Sheyn investierten, kommen sie heute in<br />
einer durchschnittlichen Arbeitswoche<br />
auf je rund 50 Stunden. «Wir sind ein Paar,<br />
das zusammen arbeitet und zusammen<br />
wohnt. Oft besprechen wir Geschäftliches,<br />
wenn wir zuhause oder schon im Bett<br />
sind», sagt Markus.<br />
«Ich bin ein Workaholic», ergänzt Nicolas.<br />
«Für mich ist Sheyn nicht nur ein Unternehmen,<br />
sondern auch ein Hobby. Ich<br />
kann 24 Stunden am Tag arbeiten, wenn<br />
es sein muss.»<br />
Wirklich abschalten können die beiden,<br />
wenn sie auf Reisen sind und sich<br />
von Design und Architektur inspirieren<br />
lassen. Eine weitere Leidenschaft ist der<br />
Eurovision Song Contest, zu dem sie jährlich<br />
reisen. «In der Eurovision-Woche tun<br />
wir auch wirklich nichts Geschäftliches»,<br />
sagt Nicolas. «Wir achten darauf, dass wir<br />
gemeinsam mit unseren Freunden etwas<br />
unternehmen.» Am letztjährigen Contest<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
35
Story — 2<br />
Die «Edge»-Kollektion mit den Vasen «Bulbous» und «Touch» (hinten) enstand mit dem Designstudio «2LG Studio».<br />
unterstützten sie den finnischen Kandidaten<br />
Käärijä und trugen schwarze T-Shirts<br />
mit fluoreszierendem Aufdruck. Nicolas<br />
schmunzelt: «Wir schafften es in der Liveshow<br />
drei Mal vor die Kamera!»<br />
Die Verantwortung für Umwelt<br />
und Community<br />
Die Produkte von Sheyn werden mit<br />
PLA gedruckt, die englische Abkürzung<br />
für Polymilchsäuren. Vereinfacht ausgedrückt<br />
handelt es sich bei diesem Material<br />
aus biobasiertem Kunststoff. Markus und<br />
Nicolas füttern ihre 3D-Drucker mit Filamenten<br />
aus Maisstärke. «Uns ist wichtig,<br />
dass wir mit ökologischen Materialien arbeiten»,<br />
sagt Markus. «PLA aus Maisstärke<br />
ist erneuerbar, kann recycelt werden und<br />
ist sogar biologisch abbaubar.»<br />
Auf dem Komposthaufen sollte PLA<br />
trotzdem nicht landen – der Kunststoff<br />
ist vorerst nur industriell kompostierbar.<br />
«Produkte, die mit PLA gedruckt werden,<br />
können granuliert und so zu neuen Filamenten<br />
verarbeitet werden», erklärt Nicolas.<br />
Des Weiteren sind ihm eine nachhaltige<br />
Produktion wichtig. «Wir produzieren<br />
alles vor Ort und nur auf Bestellung. Wir<br />
36 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
benötigen keine Lagerhäuser und haben<br />
keine überschüssige Ware, die wir recyceln<br />
müssen.»<br />
Als queeres Designstudio legt Sheyn<br />
auch viel Wert darauf, in der Community<br />
ein Zeichen zu setzen. Zum Pridemonth<br />
im Juni 2023 lancierten Markus und Nicolas<br />
die «Embracing Beauty»-Kampagne.<br />
Menschen aus der LGBTIQ-Community,<br />
unter anderem auch «Drag Race Germany»-Finalist<br />
Metamorkid, posierten nackt<br />
mit Vasen. Die Bilder kamen nicht nur gut<br />
an und Sheyn büsste auf Social Media eine<br />
kleine Zahl von Followern ein. Es kamen<br />
Kommentare wie: «Es ist nicht mehr Juni,<br />
können wir wieder Bilder von coolen Vasen<br />
sehen und nicht nackten Menschen.<br />
Auch Kinder nutzen diese App.»<br />
Markus und Nicolas sind trotzdem stolz<br />
auf ihre Kampagne. «Wien ist sehr offen,<br />
wie ganz Österreich das sieht, weiss ich<br />
nicht. Deshalb ist es wichtig, dass wir die<br />
Kampagne zeigen», sagt Markus.<br />
Besonders queer ist auch die Kollektion<br />
«Edge», die Sheyn zusammen mit<br />
Jordan Cluroe and Russell Whitehead<br />
vom Londoner Designstudio «2LG Studio»<br />
umsetzte. Dazu gehören unter anderem<br />
die «genderlose» Vase «Touch» oder die<br />
phallische Vase «Bulbous», mit denen die<br />
beiden Designstudios queere Kreativität<br />
feiern wollen. «Ich arbeitete sicherlich mit<br />
50 Entwürfen von Penissen in den unterschiedlichsten<br />
Grössen und Formen», sagt<br />
Nicolas. «Und es war gar nicht so einfach,<br />
sich auf die Form zu einigen. Soll er lang<br />
oder kurz, dick oder dünn, beschnitten<br />
oder unbeschnitten sein?» Doch so wie<br />
bei allen Kollaborationen konnte auch hier<br />
eine Lösung gefunden werden. Nicolas<br />
lacht: «Es dauerte zwar zwei Monate, doch<br />
wir konnten uns auf einen Penis einigen,<br />
der allen vieren gefiel.»<br />
– sheyn.at
KOLUMNE<br />
Welche<br />
Gamie?<br />
Sie glauben es vielleicht nicht, geschätzte<br />
Leser*innen, aber es kommt vor, dass ich mich meinem<br />
Gegenüber vorstellen muss. Ich weiss – auch<br />
ich hätte gedacht, dass mein Name seit Jahren<br />
schon, spätestens aber seit ich Kolumnistin der<br />
‹Mannschaft› bin, bis in den hinterletzten Winkel des<br />
Landes – ach was! – ganz Europas bekannt ist. Dem<br />
ist bedauerlicherweise nicht so. Aber eigentlich<br />
wollte ich niemanden wegen einer (zugegebenermassen<br />
drastischen) Bildungslücke blossstellen,<br />
sondern schildern, was oft passiert, nachdem ich<br />
mich jemandem vorgestellt habe: In dem Moment,<br />
in dem mein Gegenüber das Wortspiel meines Namens<br />
begriffen hat – manche sind schneller als andere<br />
–, folgt nicht selten die verblüffte Frage: «Ist<br />
dein Name etwa ein Statement für die Monogamie?»<br />
Dieses Erstaunen ist vielschichtiger, als man gemeinhin<br />
aufs erste Hören glauben würde. Darin<br />
schwingt die Unterstellung mit, dass gerade Dragqueens<br />
– quasi die in Stöckelschuhen, Strümpfen<br />
und Make-up kondensierte Reinform der queeren<br />
Kultur – wenn nicht die Polyamorie, so doch mindestens<br />
eine offene Beziehung der Monogamie vorziehen<br />
müssten. Eine offene Beziehung scheint Standard<br />
zu sein in unserer queeren Community. Der<br />
Anspruch: Wer queer und somit sexuell und/oder<br />
geschlechtlich von der Norm befreit ist, soll darum<br />
auch gleich die olle Zweierkiste über Bord werfen.<br />
Erzählt mir doch mal jemand, er*sie sei monogam,<br />
schwingt oft ein entschuldigender Unterton mit.<br />
Nun geht es mir in dieser Kolumne nicht darum,<br />
eigenmächtig festzulegen, welche Beziehungsform<br />
– die polygame oder die monogame – die bessere<br />
ist. Weder will ich eine Lanze für die Monogamie<br />
brechen, noch ist mein Name eine verborgene Botschaft.<br />
Wer bin ich schon, darüber zu urteilen, wie<br />
andere Leute zusammenleben sollen? (Obwohl, als<br />
Dragqueen darf man ja über alles und jede*n ungefragt<br />
urteilen. Aber das am Rande . . . ) Mir geht es um<br />
etwas anderes: Statt, dass wir hier in unserer Community<br />
neue Normen – die offene Beziehung – etablieren,<br />
sollten wir unser Augenmerk darauflegen,<br />
dass wir unsere Lebensformen frei und unabhängig<br />
wählen können. Ganz ohne moralischen Ballast, ob<br />
jetzt von der monogamen oder der polygamen Seite.<br />
Und: Was sich mit der einen Person richtig anfühlt,<br />
muss nicht zur anderen passen. Jede Beziehung ist<br />
anders, jeder Mensch individuell und durch unser<br />
Queersein haben wir «die historische Gelegenheit,<br />
Beziehungs- und Gefühlsmöglichkeiten neuerlich zu<br />
eröffnen». Letzter Teilsatz stammt von meinem<br />
schwulen Lieblingsphilosophen, Michel Foucault. Er<br />
fand schon 1981 in einem wunderbaren Interview,<br />
dass wir uns für Lust empfänglich machen und unsere<br />
eigenen Lebensformen finden sollten, statt neue<br />
Normen zu etablieren. Wobei – über eine ganz bestimmte<br />
neue Norm wäre ich gar nicht so böse:<br />
Nämlich, dass ich nun endlich so berühmt werde,<br />
dass ich mich niemandem mehr vorzustellen brauche.<br />
Das ist die einzige Mono/agamie, um die ich<br />
mich schere.<br />
MANN, FRAU MONA!<br />
«Mona Gamie: Dragqueen mit<br />
popkulturellem Schalk und<br />
nostalgischem Charme. Diven-<br />
Expertin, Chansonnière und<br />
queere Aktivistin.»<br />
mona@mannschaft.com<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
37
REISEN<br />
Manchester & Glasgow<br />
Tanze zwischen Drags und Fussballfans bei<br />
der Manchester Pride und groove durchs grüne<br />
Glasgow, die grösste Stadt Schottlands.<br />
Manchester und Glasgow verbindet ihre<br />
Leidenschaft für Musik und die grosse queere<br />
Community. Manchester, das Herz der industriellen<br />
Revolution, punktet mit Architektur,<br />
Streetart und dem Gay-Village. Das Northern<br />
Quarter mit seinen Geschäften, Boutiquen<br />
und Pubs eignet sich ideal für einen Nachmittagsbummel.<br />
Für alle Asia-Food-Fans<br />
empfiehlt sich die Curry Mile mit der höchsten<br />
Dichte an asiatischen Restaurants in<br />
Grossbritannien. Die bekannteste schwule<br />
Persönlichkeit der Stadt ist der Mathematiker<br />
und Informatiker Alan Turing, der trotz seiner<br />
herausragenden Leistungen zu chemischer<br />
Kastration verurteilt wurde. Seine Statue in<br />
den Sackville Gardens gehört neben der<br />
Manchester Town Hall, der Kathedrale und<br />
der John Rylands Library zu den historischen<br />
Sehenswürdigkeiten. Bei einem Spaziergang<br />
am Kanal von Castlefield entflieht man dem<br />
Trubel: Restaurierte Mühlen, Lagerhäuser<br />
und Wohnviertel zeigen eine ganz andere<br />
Seite der Stadt. Für Sportfans ist ein Besuch<br />
des traditionsreichen Fussballstadions Old<br />
Trafford ein Muss.<br />
Nördlich von Manchester lockt die schottische<br />
Metropole Glasgow mit ihrer Mischung<br />
aus Geschichte, Kultur und Moderne. Der<br />
Mural Trail führt vorbei an riesigen Wandmalereien.<br />
Die Necropolis, Ruhestätte der<br />
bekanntesten «Glaswegians», bietet den<br />
besten Blick über die Stadt. Abends laden die<br />
Pubs der Stadt zu Drinks, gutem Essen und<br />
Livemusik ein.<br />
Bild: Marketing Manchester<br />
Die Manchester Pride<br />
findet jeweils am «Bank<br />
Holiday Weekend» Ende<br />
August statt.<br />
38 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Bild: Cedric Zaugg<br />
Für die Mannschaft<br />
unterwegs:<br />
Christina Kipshoven
REISEN<br />
Northern Quarter: Die Thomas Street mit ihren viktorianischen Gebäuden ist bekannt für ihre vielen Cafés, Bars, Restaurants<br />
und unabhängigen Geschäfte.<br />
Manchester – Tradition trifft Queerness<br />
Mit dem Gay Village, der Canal Street und Diskriminierung und Stigmatisierung.<br />
der zweitgrössten Pride Grossbritanniens Tausende Zuschauer*innen säumen am<br />
gilt Manchester als LGBTIQ-Destination Samstag die Strassen, wenn die Pride<br />
schlechthin. Während des Festwochenendes<br />
im August verwandelt sich die laufen kann man nicht: Nur angemeldete<br />
Parade durch die Innenstadt zieht. Mit-<br />
Stadt in ein brodelndes Regenbogenmeer<br />
mit Gästen aus aller Welt. Das Gay de teilnehmen.<br />
Gruppen und Firmen können an der Para-<br />
Village verwandelt sich in eine riesige<br />
Partymeile mit Strassenbars, unzähligen Ein Teil der Einnahmen des Festivals<br />
Konzerten und Performances auf verschiedenen<br />
Bühnen. Gut zu wissen: Für wurden über £120 000 (ca. <strong>EU</strong>R 140 000/<br />
fliesst zurück in die Community: 2022<br />
den Zutritt zum Gay Village benötigt man CHF 130 000) eingenommen und verschiedene<br />
Projekte initiiert. Seit ihrer<br />
ein Ticket, das man auf der offiziellen<br />
Website kaufen kann. Es empfiehlt sich, Gründung im Jahr 2007 ist die gemeinnützige<br />
Pride-Organisation stetig ge-<br />
die Verfügbarkeit im Auge zu behalten,<br />
denn besonders beliebte Konzerte sind wachsen und arbeitet nun das ganze<br />
schnell ausverkauft.<br />
Jahr über daran, das Leben von LGBTIQ-<br />
Personen im Grossraum Manchester zu<br />
Ein berührendes Erlebnis ist die Candlelit verbessern.<br />
Vigil als Abschluss des Pride Festivals: Bei<br />
Kerzenschein gedenkt die Mahnwache an – manchesterpride.com<br />
Menschen, die durch HIV ihr Leben verloren<br />
haben und setzt ein Zeichen gegen<br />
Die<br />
Arbeiterbiene<br />
Das fleissige Insekt ist eng<br />
mit der Geschichte Manchesters<br />
verbunden: Die Worker Bee<br />
stand für harte Arbeit in den<br />
Fabriken und symbolisierte den<br />
Kampf für Arbeiterrechte,<br />
soziale Gerechtigkeit und<br />
Gleichberechtigung. Heute<br />
repräsentiert sie den Stolz<br />
und den Zusammenhalt der Bewohner*innen<br />
und ist nicht<br />
mehr aus dem Stadtbild wegzudenken.<br />
Weltberühmt wurde die<br />
Biene nach dem Anschlag auf<br />
das Konzert von Ariane Grande<br />
im Jahr 2017: Viele Besuchende<br />
und auch der Popstar selbst<br />
liessen sich die Biene als<br />
Andenken tätowieren.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
39
REISEN<br />
Glasgow – City of Music and Art<br />
Glasgow, die grösste Stadt Schottlands<br />
finden sich überall in der Stadt, unter<br />
Glasgower Kunst- und Musikszene ver-<br />
und ehemalige Arbeiterstadt beherbergt<br />
anderem an der Clutha Bar, der Renfield<br />
bunden sind. Ein gutes Glasgower Pub<br />
einige der besten Museen Grossbritan-<br />
Lane und der Strathclyde University.<br />
erfüllt traditionell drei Kriterien: Es gibt<br />
niens. Wie in ganz Schottland können<br />
Der «Stride with Pride – Heritage Trail»<br />
eine Speisekarte mit einer guten Auswahl<br />
fast alle staatlichen Museen und Galerien<br />
führt Besuchende an Orte, die in der<br />
an Getränken und regionalen, einfachen<br />
kostenlos besucht werden (free access<br />
queeren Geschichte der Stadt eine<br />
Gerichten, abends bietet das Pub Unter-<br />
policy). Dazu gehört das Kelvingrove Art<br />
wichtige Rolle spielen. Dieser Trail<br />
haltung mit Livemusik, Quiz-Events oder<br />
Gallery & Museum mit einer vielfältigen<br />
ist ein Projekt der Women‘s Library,<br />
Sportübertragungen, und humorvolles,<br />
Sammlung von Kunstwerken, darunter<br />
dem einzigen anerkannten Museum in<br />
sympathisches Personal sorgt dafür, dass<br />
ein Teil der weltberühmten Mackintosh-<br />
Grossbritannien, das dem Leben von<br />
sich alle Gäste sicher und wohl fühlen. In<br />
Sammlung. Auch die Gallery of Modern<br />
Frauen gewidmet ist. Die umfangreiche<br />
vielen Pubs hängt die Pride-Flagge über<br />
Art (GoMA) ist einen Besuch wert. Die<br />
Sammlung von Büchern, Zeitschriften,<br />
dem Tresen und die meisten LGBTIQ-<br />
Sammlung des Museums umfasst ein<br />
Manuskripten und Fotografien blickt auf<br />
Pubs mit Dragshows, Karaoke und Kaba-<br />
breites Spektrum zeitgenössischer Kunst,<br />
die Geschichte der Frauen in Schottland<br />
rett befinden sich im Merchant Quarter in<br />
darunter Werke von Niki de Saint Phalle<br />
und ihrer Entwicklung. Die Organisation<br />
der Innenstadt.<br />
und Andy Warhol.<br />
Wer lieber an der frischen Luft unterwegs<br />
unterstützt feministische Forschung und<br />
Bildung und dient als Gemeindezentrum<br />
– peoplemakeglasgow.com/<br />
ist, kann die Stadt bei einem Rundgang<br />
mit Veranstaltungen und Workshops.<br />
oder einer geführten Walking Tour erkunden.<br />
Zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten<br />
zählen die beeindruckende Kathedrale<br />
mitsamt Necropolis an der Castle<br />
Street oder die unzähligen Street-Art-<br />
Kunstwerke. Die grossen Wandmalereien<br />
Der Botanische Garten oder der bekannteste<br />
Park der Stadt, «Glasgow Green»,<br />
sind ideal für ein Picknick im Freien. Mit<br />
über 90 Parks und Gärten ist Glasgow<br />
auch als «Dear Green Place» bekannt.<br />
Danach ist es an der Zeit, die unzähligen<br />
Pubs zu erkunden, die untrennbar mit der<br />
Bild: Dyana Wing, Unsplash<br />
Bild: Glasgow Life<br />
Städte<br />
Manchester — Manchester hat,<br />
nach London, die grösste queere<br />
Community in Grossbritannien.<br />
Das Gay-Village mit der Canal<br />
Street und den Sackville Gardens ist<br />
das Herz der queeren Szene.<br />
Glasgow — Die grösste Stadt Schottlands<br />
ist nicht nur UNESCO City of Music,<br />
sondern auch «World’s Friendliest<br />
City». Merchant City gilt als queerer<br />
Hotspot und ist eines der ältesten und<br />
schönsten Viertel der Stadt.<br />
Einreise — Reisende aus der <strong>EU</strong><br />
und der Schweiz benötigen für die<br />
Einreise einen Reisepass, der für die<br />
gesamte Aufenthaltsdauer gültig ist.<br />
Reiseplanung — Ideal mit dem<br />
LGBTIQ- Guide von Visit Britain:<br />
Queer Life<br />
Was macht Manchester und<br />
Glasgow queer? Die «Mancunians»<br />
und «Glaswegians» haben<br />
für ihre Rechte gekämpft und<br />
prägten die organisierte<br />
Arbeiterbewegung. Manchester<br />
ist die Pionierstadt für<br />
LGBTIQ-Aktivismus: 1964 wurde<br />
hier der Grundstein für die<br />
Entkriminalisierung von Homosexualität<br />
gelegt. Mit der<br />
«LGBT Foundation», der grössten<br />
queeren NGO Grossbrittaniens,<br />
der Canal Street und dem<br />
Pride Festival hat sich die<br />
Stadt zu einem LGBTIQ-Hotspot<br />
entwickelt.<br />
Gemütlicher und genauso<br />
queer geht es in Glasgow zu:<br />
Viele Pubs sind explizit<br />
queerfriendly und direkt an<br />
der Castle Street, neben der<br />
St. Mungo's Cathedral und<br />
der Necropolis, weht auf dem<br />
Dach des Lehrkrankenhauses<br />
«Royal Infirmery» die Pride-<br />
Flagge.<br />
Wie auch im deutschsprachigen<br />
Raum kommt es vermehrt<br />
zu homophoben Übergriffen.<br />
Gemeinsame Kampagnen von<br />
LGBTIQ-Organisationen, Behörden<br />
und Polizei rufen zu<br />
mehr Akzeptanz und Toleranz<br />
auf.<br />
Queerometer:<br />
40 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
REISEN<br />
Das imposante Kelvingrove Museum in Glasgow ist eine der bedeutendsten kulturellen Einrichtungen Schottlands.<br />
Insidertipps<br />
NATIVE MANCHESTER<br />
Mitten im hippen Northern Quarter, wenige<br />
Gehminuten vom Piccadilly Bahnhof und<br />
der Canal Street, liegt das Hotel im Stil eines<br />
der für Manchester ikonischen Lagerhäuser.<br />
Es gibt sieben Zimmerkategorien für jeden<br />
Geldbeutel: vom Standardzimmer bis zum<br />
Apartment mit Küche. In der Lobby gibt es<br />
die besten Donuts der Stadt und das Ducie<br />
Street Warehouse: Die Brunch-Partys mit<br />
Bild: Delmonicas<br />
DJs, (queeren) Performances und Bottomless-Cocktails<br />
(Mocktails) finden jeden<br />
Samstag statt und sind extrem beliebt –<br />
reservieren empfohlen!<br />
– nativeplaces.com<br />
DELMONICAS GLASGOW<br />
Seit 1991 befindet sich das «Del’s» in der<br />
Virginia Street in Merchant City. Die Bar mit<br />
dem Neon-Regenbogen bietet die besten<br />
Drinks der Stadt und ein vollgepacktes Wochenprogramm<br />
mit Quiz Nights, der legendären<br />
Dragshow SUCK und Karaoke. Keine<br />
Angst vor der eigenen Courage: Mitmachen<br />
und vor allem: Mitsingen! Wer nach so viel<br />
Gesangsakrobatik eine Stärkung braucht, ist<br />
mit dem «Pizza & Prosecco Deal» bestens<br />
versorgt. Als Bonus: Gleich nebenan befindet<br />
sich die bekannte Kabarett-Bar «The<br />
Riding Room». Hier erwartet Besuchende<br />
ein schillernder Mix aus Party, Burlesque und<br />
Zaubershows.<br />
– delmonicas.co.uk<br />
– theridingroom.co.uk<br />
Besuche ein<br />
Pub-Konzert, einen<br />
Quizabend oder<br />
eine Drag-Karaoke-<br />
Show und singe<br />
deinen Lieblingssong.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
41
Story — 3<br />
3<br />
So schützt<br />
du dich<br />
auf Dating-<br />
Apps<br />
42 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 3<br />
Redaktion: Greg Zwygart<br />
Illustration: Julian Litschko<br />
In der Schweiz und Deutschland<br />
gab es vereinzelte Überfälle<br />
in Verbindung mit schwulen Dating-Apps.<br />
Täter nutzen sie, um<br />
queere Männer zu überfallen und<br />
auszurauben. So kannst du dich<br />
online besser schützen.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
43
Story — 3<br />
Insgesamt elf solche Fälle wurden in den Kantonen Bern,<br />
Basel- Landschaft, Basel-Stadt, Genf, Waadt, Zug und Zürich verübt,<br />
sechs weitere in den Nachbarkantonen. «Diese Fälle machen<br />
uns tief betroffen. Es ist wichtig und richtig, dass die Polizei diese<br />
Übergriffe ernst nimmt und aktiv dazu kommuniziert», erklärte<br />
Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross im Dezember. Die<br />
Zusammenarbeit zwischen Polizei, Organisationen und Community<br />
sei in solchen Fällen unerlässlich: «Denn die Opfer müssen<br />
bei der Polizei ihre sexuelle Orientierung und die Nutzung von<br />
Dating-Seiten offenlegen, was häufig mit Scham und Angst vor<br />
Diskriminierung verbunden ist.»<br />
Pink Cross betont, dass solche Übergriffe kein neues Phänomen<br />
seien und aus Angst vor Diskriminierung oft in einer Dunkelziffer<br />
enden. «Umso wichtiger ist es, den Opfern eine besonders<br />
umsichtige Opferbetreuung garantieren zu können», so Heggli.<br />
chwule und bi Männer lernen sich heute primär online kennen.<br />
Dating-Apps und Social-Media-Plattformen haben die klassischen<br />
Spaces verdrängt, die jahrzehntelang die zentralen Treffpunkte<br />
der Community waren: Bars, Clubs, Saunen oder Cruising-Orte.<br />
Wer als Mann andere Männer für Freundschaft, Liebe<br />
und/oder Sex sucht, greift heute im meisten Fall zum Handy. Wer<br />
frisch geoutet ist und keine anderen queeren Männer kennt, findet<br />
am ehesten Anschluss über das Internet. Aus diesem Grund<br />
ist es wichtig, dass mit diesem Artikel keine Panik geschürt wird.<br />
Bei Dating-Apps handelt es sich nach wie vor um eine überwiegend<br />
sichere Möglichkeit, Gleichgesinnte kennen zu lernen.<br />
Vereinzelte Fälle in der Schweiz<br />
Im Dezember 2023 informierte die Kantonspolizei Waadt in einer<br />
Medienmitteilung über Betroffene, die über Dating-Plattformen<br />
wie «Gayromeo» und «Hunqz» Kontakt zu unbekannten Männern<br />
hatten und von diesen – mutmasslich bei einer Massage –<br />
betäubt und anschliessend bestohlen wurden. Die Täter nutzten<br />
gefälschte Profile und besuchten ihre Opfer bei ihnen zu Hause.<br />
Dort betäubten sie sie, unter anderem mit der Droge GHB – auch<br />
als Liquid Ecstasy bekannt. Die Kantonspolizei Waadt rief auf,<br />
bei spontanen Dates vorsichtig zu sein und bat Betroffene solcher<br />
Fälle, sich bei der Polizei zu melden. Im Zuge der Ermittlungen<br />
wurden zwei Verdächtige im Alter von 27 und 41 Jahren im Ausland<br />
festgenommen.<br />
Mehrere Fälle auch in Deutschland<br />
Im Februar <strong>2024</strong> meldete die Landespolizei Schleswig-Holstein<br />
mehrere Fälle von Gewalt, bei denen es die Täter offenbar gezielt<br />
auf Männer, die mit Männern Sex haben (MSM), abgesehen hätten.<br />
Demnach werden männliche Opfer in solchen Fällen etwa in<br />
den frühen Abendstunden auf ein abgelegenes Gelände gelockt,<br />
wo sie auf den oder die Täter treffen. Die Opfer werden den Angaben<br />
zufolge geschlagen, getreten oder sogar mit einem Messer<br />
oder Schlagstock bedroht. Auch werden ihnen Bargeld und Wertgegenstände<br />
abgenommen.<br />
Zuvor habe es in diesen Fällen eine Verabredung zwischen<br />
Opfer und Täter über eine Dating-Plattform gegeben, die zu den<br />
bekanntesten für homo- und bisexuelle Männer zählt. Im Gegensatz<br />
zur Polizei in der Schweiz wolle man keine näheren Angaben<br />
zur Website machen, damit es zu keiner negativen Werbung<br />
komme.<br />
«Wir haben für Schleswig-Holstein keine Zahlen zu diesem<br />
speziellen modus operandi. Nach meiner Erfahrung gibt es aber<br />
ein grosses Dunkelfeld», sagte Tim Jänke, der Ansprechperson für<br />
LGBTIQ ist bei der Landespolizei. Durch den Austausch mit anderen<br />
LGBTIQ-Ansprechstellen wisse man auch von Taten, die so<br />
oder ähnlich in anderen Bundesländern stattfänden.<br />
Die Taten zielen Jänke zufolge vermutlich bewusst auf schwule<br />
und bi Männer ab: «Die Täter machen sich zunutze, dass ihre<br />
Opfer aus Scham und aus Angst vor einem Coming-out nicht<br />
zur Polizei gehen.» Das Ausmass der Gewaltanwendung könnte<br />
zudem auf eine Hassmotivation aufseiten der Täter hinweisen,<br />
hiess es.<br />
Die Landespolizei Schleswig-Holstein will ihre Beamt*innen<br />
künftig für schwere Raubtaten sensibilisieren, bei denen es die<br />
Täter offenbar gezielt auf MSM abgesehen haben.<br />
Bei diesen Fällen in Deutschland und der Schweiz handelt es<br />
sich um jeweils vereinzelte und isolierte Taten. Es gibt keinen<br />
Grund, auf Dating-Plattformen zu verzichten. Um deine Sicherheit<br />
im virtuellen Raum zu erhöhen, haben wir dir auf der folgenden<br />
Seite ein paar Tipps zusammengestellt.<br />
44 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 3<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
45
Story — 3<br />
8 Tipps für sichereres<br />
Onlinedating<br />
1. Schütze deine<br />
Privatsphäre<br />
Teile nicht sofort persönliche<br />
Informationen wie deine genaue<br />
Adresse, deine Telefonnummer<br />
oder deinen Arbeitsplatz. Sei dir<br />
bewusst, dass Apps wie Grindr<br />
und Snapchat auf Geolokalisierung<br />
beruhen, die dich aufgrund<br />
deiner Entfernung in Metern<br />
zu anderen Usern oder deinen<br />
Standort auf einer Karte anzeigen.<br />
Mach dir mit den Einstellungen<br />
der Apps vertraut. Je nach<br />
Plattform kannst du deine Privatsphäre<br />
mit gewissen Funktionen<br />
besser schützen. Einige Apps<br />
bieten einen Inkognito-Modus<br />
an, mit dem du deine virtuellen<br />
Fussabdrücke besser verwischen<br />
kannst.<br />
2. Gib mit Bildern<br />
nicht ungewollte<br />
Informationen preis<br />
Wer auf der Suche nach Sex ist, möchte<br />
schnell einmal Nacktfotos sehen.<br />
Wenn du dich an die allgemeine<br />
Faustregel hältst, dass du dein Gesicht<br />
nicht auf Dickpics und anderen<br />
Nackfotos zeigst, bist du auf der sicheren<br />
Seite. Achte auch darauf, dass<br />
deine Bilder keine versteckten Hinweise<br />
auf deinen Wohn- oder Arbeitsort<br />
liefern. Diese können sich auch<br />
in der Datei befinden: Sogenannte<br />
EXIF-Metadaten verraten den genauen<br />
Standort und das Datum der Aufnahme<br />
sowie das Gerät, mit dem das<br />
Foto gemacht wurde. Am Computer<br />
kannst du dir die EXIF-Daten in den<br />
Dateiinformationen anzeigen lassen.<br />
Tipp: Gewisse Nachrichtendienste<br />
wie Signal entfernen beim Versand<br />
eines Bildes automatisch die Bildinformationen.<br />
Mit der Funktion «Notiz<br />
an mich» kannst du dir selbst ein Bild<br />
zuschicken. Übrigens: Mit einer Rückwartssuche<br />
bei Google können andere<br />
herausfinden, wo du dein Bild sonst<br />
noch hochgeladen hast.<br />
46 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 3<br />
3. Mach einen<br />
Videoanruf<br />
Gleich die Videokamera<br />
mit einer fremden Person<br />
zu teilen, setzt etwas Überwindung<br />
voraus – bietet<br />
aber Vorteile. Erstens siehst<br />
du gleich, ob die Person so<br />
aussieht wie auf ihren Bildern.<br />
Zweitens erkennt ihr<br />
auch in einem kurzen Austausch,<br />
ob ihr auf der gleichen<br />
Wellenlänge seid. Falls<br />
die Stimmung seltsam ist<br />
oder die Person nicht wirklich<br />
Interesse an dir zeigt, ist<br />
es vielleicht besser, sich gar<br />
nicht erst live zu treffen.<br />
4. Mach einen<br />
Background-Check<br />
Wir sprechen hier von einer<br />
gründlichen Prüfung und einem<br />
Auszug aus dem Strafregister.<br />
Nein, im Ernst: Nimm dir das Profil<br />
deines Dates genauer unter die<br />
Lupe. Was verrät die Person über<br />
sich? Scheint sie Teil der queeren<br />
Community zu sein? Frag dein<br />
Date nach seinen Social-Media-Profilen.<br />
Damit kannst du die<br />
Authentizität seiner Bilder überprüfen<br />
und kriegst einen Eindruck<br />
seiner Persönlichkeit.<br />
5. Triff dich an<br />
einem sicheren Ort<br />
Lade niemanden zu dir nach Hause ein,<br />
dem du nicht vertraust. Triff dich an gut<br />
beleuchteten, belebten Plätzen wie Cafés<br />
oder Restaurants –, besonders bei den<br />
ersten Treffen. Vermeide abgelegene Orte.<br />
An dieser Stelle muss jedoch erwähnt werden,<br />
dass einige LGBTIQ-Personen sich<br />
nicht gerne in der Öffentlichkeit treffen<br />
möchten. Vielleicht wohnen sie nicht in<br />
einer queer-freundlichen Umgebung oder<br />
möchten nicht als queere Person wahrgenommen<br />
werden. Frag sie nach ihren Beweggründen,<br />
falls sie dich lieber bei sich<br />
zu Hause oder an einem abgelegenen Ort<br />
treffen möchten. Wenn es sich wirklich um<br />
die vorhin erwähnten Befürchtungen handelt<br />
und du ihnen traust, kannst du immer<br />
noch entscheiden, ob du sie trotzdem<br />
treffen möchtest.<br />
Hast du Gewalt erfahren?<br />
Wenn du dich in einer akuten Notlage befindest oder<br />
unmittelbar Opfer von LGBTIQ-feindlicher Gewalt geworden<br />
bist, dann kontaktiere die Polizei. Wähle die<br />
Nummer 110 in Deutschland, 117 in der Schweiz und in<br />
Österreich 133. Europaweit gilt der Euronotruf 112.<br />
Hast du ein Hate Crime erlebt, gehört oder gesehen?<br />
LGBTIQ-Meldestellen sind auf Beratung spezialisiert<br />
und führen Statistiken. Diese sind besonders in denjenigen<br />
Orten von Bedeutung, in denen LGBTIQ-feindliche<br />
Gewalt nicht erfasst wird. In NRW und Wien sind solche<br />
Meldestellen zurzeit in Planung.<br />
D<strong>EU</strong>TSCHLAND<br />
Bayern: strong-community.de<br />
Sachsen-Anhalt: dimsa.lgbt<br />
Berlin: maneo.de<br />
SCHWEIZ<br />
lgbtiq-helpline.ch<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
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48 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Story — 3
Story — 3<br />
6. Informiere eine dir<br />
nahestehende Person,<br />
wohin du gehst<br />
Informiere eine Person, der du vertraust,<br />
wohin du gehst, mit wem du dich triffst<br />
und wann du wieder zuhause sein wirst.<br />
Gib allenfalls temporär deinen Standort<br />
auf einer Messenger-App (wie beispielsweise<br />
Whatsapp) frei. Eine fremde Person<br />
für ein Treffen oder ein Sexdate zu<br />
treffen, gilt für viele noch als Tabu. Falls<br />
du nicht geoutet bist oder keine Person<br />
hast, der du diese Informationen anvertrauen<br />
möchtest, empfiehlt sich die<br />
Installation einer Notfall-App. Apps wie<br />
beispielsweise «Echo SOS» sind weltweit<br />
einsetzbar. Sie zeigt Notrufnummern<br />
und die nächstgelegene Notfallstation an<br />
und ermöglicht einen Notruf mit Standortübermittlung.<br />
Sorge dafür, dass dein<br />
Handy aufgeladen und bei Bedarf griffbereit<br />
ist, und mach dir im Voraus Gedanken,<br />
wie du in einem Notfall handeln<br />
würdest.<br />
7. Sprich über deine<br />
Erwartungen und setze<br />
Grenzen<br />
Einige dich mit deinem Date über eure Erwartungen<br />
an das Treffen und setze Grenzen.<br />
Sei dir bewusst, dass du während des<br />
Dates deine Meinung auch ändern und<br />
«Nein» sagen darfst, wenn dir beim Date<br />
nicht mehr wohl ist. Dein Gegenüber hat<br />
das zu respektieren.<br />
8. Vertraue deinem<br />
Bauchgefühl<br />
Selbst, wenn du diese Tipps befolgst<br />
und alles im grünen Bereich<br />
scheint, kann es immer<br />
noch sein, dass dir mulmig ist.<br />
Wenn sich etwas nicht richtig<br />
anfühlt oder dir bei einem Treffen<br />
nicht ganz wohl ist, dann sag<br />
das Date ab oder verschiebe es.<br />
Am Ende zählt dein Bauchgefühl.<br />
Überlege dir, was du benötigst,<br />
damit du mit einem guten Gewissen<br />
mit diesem Fremden<br />
intim werden kannst. Manchmal<br />
braucht es nur etwas Zeit, um<br />
Vertrauen in eine Onlinebekanntschaft<br />
aufzubauen. Wenn dein<br />
Date dafür kein Verständnis zeigt,<br />
war es ohnehin die richtige Entscheidung,<br />
es abzusagen.<br />
Diese Tipps wurden<br />
in Zusammenarbeit<br />
mit Pink Cross, der<br />
Schweizer Dachorganisation<br />
für schwule<br />
und bi Männer,<br />
erarbeitet.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
49
Interview<br />
50 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Interview<br />
Queer-Feminismus<br />
für die Ohren:<br />
Girlis neues Album<br />
«Matriarchy»<br />
Fünf Jahre nach dem Debütalbum der Londoner Künstlerin Girli erscheint<br />
Mitte Mai ihr zweites Album «Matriarchy». Darauf zeigt sich die Pop -<br />
rebellin von ihrer bisher sensibelsten Seite. Im Interview spricht sie über<br />
ihr Verständnis von Matriarchat, ihre bevorstehende Tour und übers kreative<br />
Dasein.<br />
Interview – Nora Kehli<br />
Bild: Claryn Chong<br />
Girli, wie sieht deiner Meinung nach das ideale<br />
Matriarchat aus?<br />
Für mich ist ein Matriarchat ein Ort, an dem Frauen, Mitglieder<br />
der LGBTIQ-Community und alle, die sich im patriarchalen System<br />
nicht wohlfühlen, sich selbst sein können. Ein Ort, an dem<br />
alle, die in der heutigen Gesellschaft keine Freiheit und Macht<br />
erfahren, diese Dinge erleben können. Mein Ziel ist es, dass sich<br />
meine Musik, meine Videos und meine Shows für die Menschen,<br />
die sie hören, so anfühlen.<br />
Du beschreibst dein kommendes Album «Matriarchy» als dein<br />
bisher reflektiertestes und verletzlichstes Werk, inwiefern?<br />
Während die ersten beiden veröffentlichten Songs «Nothing<br />
Hurts Like a Girl» und «Matriarchy» von anderen Menschen und<br />
der Welt im Allgemeinen handeln, sind die meisten Lieder des Albums<br />
introspektiv und erzählen vom Prozess der Selbstfindung.<br />
Die Songs sind weniger peppig und tanzbar, sondern langsamer,<br />
trauriger, tiefgründiger. Aber das kann auch nur meine Sichtweise<br />
sein, vielleicht empfinden andere die Songs als mitreissend.<br />
Das erste Lied des Albums «Be With Me» zelebriert die Selbstliebe,<br />
während der letzte Song «Happier Her» melancholisch<br />
daherkommt und von einem glücklicheren Ich handelt. Warum<br />
hast du dich dafür entschieden, das Album so enden zu<br />
lassen?<br />
«Happier Her» ist ein Lied über die Heilung und die guten Dinge,<br />
die kommen werden, aber auch über den Schmerz, der dafür<br />
durchlitten werden musste. Es ist ein hoffnungsvoller Song, der<br />
zugleich den Schmerz anerkennt. Das Ende des Albums drückt<br />
also nicht vollkommene Glückseligkeit aus, sondern betont den<br />
fortwährenden Prozess der Heilung.<br />
Welcher Song auf dem Album liegt dir besonders am Herzen<br />
und warum?<br />
Der Song «Overthinking» ist wahrscheinlich mein persönlicher<br />
Favorit. Als der Song entstand, fühlte ich mich vom Leben überrollt<br />
und hatte kaum noch Lust, Musik zu schreiben. Irgendwie<br />
fand ich dann doch die Motivation, ins Studio zu gehen. Der Text<br />
sprudelte nur so aus mir heraus. Zuerst dachte ich, der Song wäre<br />
wahrscheinlich Zeitverschwendung für alle Beteiligten, aber als<br />
ich später das Demo hörte, liebte ich ihn. Ich fühlte keinen Druck,<br />
dass das Lied perfekt sein musste, ich schrieb einfach, was mir in<br />
den Sinn kam, und am Ende kam etwas Schönes dabei heraus.<br />
Wo hast du das Album aufgenommen und wie hat deine<br />
Umgebung das Album beeinflusst?<br />
Ich habe das Album an drei verschiedenen Orten aufgenommen:<br />
London, Stockholm und Los Angeles. London, meine Heimatstadt,<br />
dient mir als stetige Inspirationsquelle, da ich viele Erinnerungen<br />
und Erfahrungen mit dieser Stadt verbinde. Stockholm ist<br />
ein sehr introspektiver Ort für mich. Dort verbringe ich viel Zeit<br />
allein, was mir den nötigen Raum zum Reflektieren gibt. L.A. ist<br />
das absolute Gegenteil: Ich gehe aus, treffe Leute und bin ständig<br />
unterwegs, was natürlich auch sehr inspirierend ist. Ich geniesse<br />
es, an all diesen verschiedenen Orten zu schreiben, da jede Stadt<br />
andere kreative Impulse gibt. Ich könnte wahrscheinlich kein<br />
ganzes Album nur an einem dieser Orte machen.<br />
Wie bereitest du dich auf die bevorstehende «Matriarchy<br />
Tour» vor? Was erwartet das Publikum?<br />
Neben den Proben für die neuen Songs freue ich mich am meisten<br />
darauf, meine Tour-Outfits auszusuchen. Es macht viel Spass,<br />
Kleider von neuen Modeschöpfer*innen zu besorgen. Ausserdem<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
51
Interview<br />
Queerness, Feminismus und mentale Gesundheit sind wiederkehrende Themen in Girlis Musik.<br />
plane ich Aktivitäten für meine Fans. Auf meiner letzten Tour<br />
habe ich etwa eine Schnitzeljagd organisiert, bei der die Fans<br />
Aufkleber mit QR-Codes finden mussten, um Koordinaten zu erhalten,<br />
die sie zu kostenlosem Merchandise führten. Ich habe mir<br />
auch überlegt eine Tiktok-Serie mit dem Titel «Matcharchy Tour»<br />
zu erstellen, in der ich an den verschiedenen Stationen nach dem<br />
besten Matcha-Latte der Stadt suche. Die Tour besteht also nicht<br />
nur aus den Auftritten selbst, sondern auch aus vielen weiteren<br />
spannenden Aktivitäten.<br />
Inwiefern ist Girli eine Stagepersona? Sind Girli und Milly<br />
dieselbe Person?<br />
Girli ist eine übertriebene Version meiner Selbst, die ich online<br />
und in meinen Shows präsentiere. Als Milly geniesse ich es, Zeit<br />
mit mir selbst, meiner Familie und meinen Liebsten zu verbringen,<br />
abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das sind auch Momente,<br />
die ich bewusst nicht mit den sozialen Medien teile. Wenn<br />
ich Songs schreibe, tue ich das sowohl als Girli als auch als Milly.<br />
Ich habe zwar kein Alter Ego wie David Bowie geschaffen, aber<br />
es gibt definitiv eine gesunde Trennung zwischen meiner öffentlichen<br />
und privaten Identität.<br />
Du hast eine grosse Onlinepräsenz. Inwiefern gehört diese<br />
digitale Präsenz heutzutage zum kreativen Dasein?<br />
Als Songwriter und Musikerin verbringe ich wahrscheinlich leider<br />
mehr Zeit damit, Inhalte zu erstellen und Werbung zu machen,<br />
als neue Musik zu kreieren. Der Druck ist gross, die eigene<br />
Musik selbst zu vermarkten. Es gibt allerdings auch positive<br />
Aspekte, zum Beispiel können alle ihre Musik selbst promoten,<br />
ohne auf ein Label angewiesen zu sein. Ausserdem kann ich mich<br />
über die sozialen Netzwerke mit Fans auf der ganzen Welt austauschen.<br />
Das Schönste ist dann, diese Menschen bei Konzerten<br />
persönlich zu treffen.<br />
Du hast eine Videoreihe geschaffen, in der du weibliche und<br />
nicht-binäre Persönlichkeiten vorstellst. Kannst du eine oder<br />
zwei Personen nennen, die dich besonders inspiriert haben?<br />
Die Arbeit an der Reihe hat mir sehr Spass gemacht und ich<br />
habe viel gelernt. Ich liebe Geschichte, aber ich bedauere, dass<br />
der herkömmliche Unterricht viele Erfahrungen und Biografien<br />
von Frauen und queeren Menschen ausradiert hat. Zum Beispiel<br />
die von Chevalier d’Éon, einer genderfluiden Person aus dem 18.<br />
Jahrhundert – es ist nicht bekannt, wie sich diese Person heute<br />
identifizieren würde, weil es die entsprechende Sprache damals<br />
noch nicht gab –, die in Spionageaktivitäten verwickelt war. Die<br />
erste Hälfte ihres Lebens lebte sie als Mann, die zweite als Frau.<br />
Sie wurde sowohl als Mann als auch als Frau respektiert und hat<br />
Erstaunliches geleistet. Chevalier d’Éon inspirierte mich auch<br />
zum Musikvideo für den Song «Matriarchy». Ich war fasziniert<br />
von sapphischen Beziehungen und Liebesgeschichten vor Hunderten<br />
von Jahren, über die kaum etwas bekannt ist. Aber ich<br />
bin mir sicher, dass es schon immer queere Gemeinschaften gegeben<br />
hat.<br />
Kannst du über den Entstehungsprozess der Musikvideos von<br />
«Nothing Hurts Like A Girl» und «Matriarchy» erzählen?<br />
52 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Interview<br />
Bei den beiden Musikvideos führte Claryn Chong die Regie. Gerade<br />
bei diesem Album war es mir wichtig, für die Videos und Visuals<br />
mit einer Frau zusammenzuarbeiten, um so den männlichen Blick<br />
zu vermeiden. Ich wollte viele Frauen und LGBTIQ-Personen am<br />
Set und bei der Arbeit an den Videos einbeziehen, um auch ihre Geschichten<br />
zu repräsentieren. Das Set fühlte sich wie ein Safe Space<br />
an, in dem ich mich unterstützt und gut aufgehoben fühlte. Es war<br />
grossartig.<br />
Auch deine Tour wird von einer weiblichen und nicht-binären<br />
Crew begleitet.<br />
Ja, ich möchte während meiner Tour von Menschen umgeben sein,<br />
mit denen ich mich wohlfühle und mit denen ich mich identifizieren<br />
kann. Da die Tourneewelt ein Männerclub sein kann, werden viele<br />
Frauen und queere Menschen nicht engagiert, obwohl sie besser<br />
oder gleich gut qualifiziert sind. Das möchte ich ändern.<br />
In Anlehnung an deinen Vlog «I am obsessed with . . . » auf Youtube<br />
lautet meine letzte Frage: Wovon bist du gerade besessen?<br />
Im Moment bin ich vom Frauenfussball besessen. Ich habe mich erst<br />
letztes Jahr wegen der Weltmeisterschaft damit auseinandergesetzt.<br />
Das englische Team hat so gut gespielt. Mein Vater ist Australier, also<br />
habe ich auch das australische Team verfolgt. Jetzt spielen nicht die<br />
internationalen Teams, sondern die verschiedenen Vereinsmannschaften.<br />
Ich habe noch nie in meinem Leben ein Fussballspiel gesehen,<br />
aber in den letzten sechs Monaten waren es ungefähr fünf.<br />
Girli<br />
Die gebürtige Londonerin<br />
Amelia «Milly» Toomey<br />
begann ihre Karriere in Bands.<br />
Die Sängerin und Songwriterin<br />
wollte aber ihren eigenen Weg<br />
gehen und startete mit 17 Jahren<br />
ihre Solokarriere. Seit ihren<br />
musikalischen Anfängen setzt<br />
Girli sich offen mit Themen<br />
wie Queerness, Feminismus<br />
und psychischer Gesundheit<br />
auseinander. Klanglich bewegt<br />
sie sich zwischen explorativem<br />
Pop und pulsierendem Elektro.<br />
In Kombination mit ihren persönlichen<br />
Lyrics entsteht ein<br />
mitreissender Sound, der empowert.<br />
Unsere Albumrezension<br />
findest du auf der nächsten<br />
Doppelseite.<br />
Bilder: Claryn Chong<br />
«Ich will Frauen<br />
und LGBTIQ-<br />
Personen bei<br />
der Arbeit an<br />
den Videos<br />
einbeziehen.»<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
53
Musik<br />
Neue<br />
Musik<br />
Lynks<br />
ABOMINATION<br />
Lynks will Aufmerksamkeit und<br />
macht daraus keinen Hehl. Ohne<br />
ein Blatt vor den Mund zu nehmen,<br />
kokettiert Lynks auf dem Debüt<br />
«ABOMINATION» mit der hedonistischen,<br />
sexpositiven Haltung<br />
vieler Queers und macht diese<br />
auch musikalisch erfahrbar – in<br />
Form von exzessiven elektronischen<br />
Beats und Melodien.<br />
Thematisch schlägt das Album<br />
aber auch kritischere Töne an<br />
und bemängelt, dass schwule,<br />
lesbische, nicht-binäre und trans<br />
Personen noch immer Gewalt und<br />
gesellschaftlicher Unterdrückung<br />
ausgesetzt sind.<br />
Erscheint am 12.04.<strong>2024</strong> (PIAS/<br />
Heavenly Recordings/Rough<br />
Trade)<br />
Gossip<br />
Real Power<br />
So feiert man ein fulminantes<br />
Comeback! 12 Jahre nach der<br />
Veröffentlichung ihres letzten Albums<br />
«A Joyful Noise» melden<br />
sich Gossip mit einem wahren<br />
Geniestreich zurück. «Real Power»<br />
hat alles, was man von einer<br />
innovativen Platte erwartet: Intelligente<br />
Texte, eingängige Hooklines,<br />
die zum Tanzen animieren,<br />
sich aber auch nach mehrmaligem<br />
Hören nicht abnutzen, und<br />
eine Frontfrau, deren Stimme<br />
sowohl zarte als auch harte Töne<br />
anschlagen kann. Die LP entstand<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Produzentenlegende Rick Rubin,<br />
der auch für den Nummer-1-<br />
Erfolg «Music For Men» (2009)<br />
mitverantwortlich war, und unterstreicht<br />
die Stärken von Beth<br />
Ditto, Nathan Howdeshell und<br />
Hannah Blilie. Gekonnt bedient<br />
sich das exzentrische Trio bei<br />
Elementen aus Pop, Dance, Post-<br />
Punk, Folk und Soul, um damit<br />
die Indie-Rock-Blaupause, die<br />
den elf Tracks zugrunde liegt,<br />
bunt zu colorieren. Gossip sind<br />
laut, progressiv, lebensbejahend<br />
und sprengen jedweden Konservatismus,<br />
der sich ihnen in den<br />
Weg stellt. Mehr Durchschlagskraft<br />
geht nicht!<br />
Erscheint am 22.03.<strong>2024</strong><br />
(Columbia/Sony Music)<br />
Redaktion<br />
Martin Busse<br />
Can’t Get<br />
It Out Of<br />
My Head<br />
Playlist<br />
Eine exquisite Auslese<br />
von aktuellen<br />
Ohrwürmern findest<br />
du in unserer<br />
MANNSCHAFT-<br />
Playlist:<br />
54 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Porij<br />
Teething<br />
Ausfallende Zähne werden in der<br />
Traumdeutung gerne mit dem Verlust<br />
der sexuellen Unschuld assoziiert.<br />
Sollen wir nun glauben, dass die<br />
queere Dance-Pop-Formation Porij<br />
ihr Erstlingswerk zufällig «Teething»<br />
(zu deutsch: Zahnen) getauft und mit<br />
einem Zahn auf dem Cover versehen<br />
hat? Wohl kaum! Denn dafür ist die<br />
Aura der LP viel zu lasziv und flirrend.<br />
«Teething» eignet sich perfekt als<br />
Hintergrundkulisse für Intimitäten aller<br />
Art, bringt das Blut in Wallung und<br />
vernebelt auf angenehme Weise den<br />
Verstand.<br />
Erscheint am 26.04.<strong>2024</strong> (PIAS)<br />
Girli<br />
Matriarchy<br />
Musik<br />
Girli ruft das Matriarchat aus und präsentiert<br />
sich zuversichtlich und selbstbestimmt.<br />
Verpackt in 14 energiegeladene<br />
Popsongs erzählt die Londonerin ihre<br />
Geschichte und gewährt den Zuhörer*innen<br />
Einblicke in das Leben einer<br />
lesbischen Frau, die sich gegen männliche<br />
Dominanz zu behaupten weiss. Dass<br />
dies nicht immer einfach ist, unterstreichen<br />
die Lyrics auf «Matriarchy». Fans<br />
von Robyn, Charli XCX oder Georgia<br />
werden begeistert von Girlis Optimismus<br />
und der mitreissenden Dynamik der Platte<br />
sein. Erfahre mehr über die Sängerin<br />
im Interview ab Seite 50.<br />
Erscheint am 17.05.<strong>2024</strong><br />
(AllPoints/Believe)<br />
Becky<br />
Diary of Dreams<br />
Berlins vielleicht eigenwilligste<br />
Drag-Künstlerin Becky spannt mit<br />
ihren warmen, aber thematisch und<br />
stimmlich höchst eindringlichen<br />
Stücken einen stilistischen Bogen von<br />
Anohni and the Johnsons über David<br />
Bowies Spätwerk bis hin zu Zara Leander.<br />
Die Theatralik, die ihrer zweiten EP<br />
«Diary of Dreams» anhaftet, ist dabei<br />
keineswegs plakativ, sondern berührt<br />
durch Sensibilität und Reflexionsvermögen.<br />
Ein absoluter Geheimtipp<br />
fernab ausgetretener Klischeepfade<br />
der Travestiekunst.<br />
Erschienen am 23.02.<strong>2024</strong><br />
(Selbstveröffentlichung)<br />
ANZEIGE<br />
www.mfk.ch<br />
NICHTS<br />
NICHTS<br />
10.11.2023 21.7.<strong>2024</strong><br />
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Story — 4<br />
4<br />
Das Echo<br />
vom<br />
Eierstock<br />
bin ich<br />
56 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 4<br />
Text – Denise Liebchen<br />
Die Jodelszene hat die Nase gerümpft,<br />
als der erste feministische Jodelchor<br />
der Schweiz die Bühne betreten hat:<br />
Das «Echo vom Eierstock» bekam Ärger<br />
und Hass zu spüren – auch in Briefform.<br />
Offenbar hat der Chor einen Nerv getroffen<br />
– mit seiner Art die Tradition aus<br />
dem Gestrigen ins Morgen zu führen<br />
und die Texte, die aus der Zeit gefallen<br />
sind, wieder aufzuheben. In sieben Strophen<br />
erzählt das «Echo vom Eierstock»<br />
seine schallende Geschichte selbst.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
57
Story — 4<br />
Strophe 2: Wo ich zuhause bin<br />
ereinspaziert, hereinspaziert in meine gute Stube. Hab' keine<br />
falsche Scheu vor mir, dem Echo vom Eierstock, dem ersten feministischen<br />
Jodelchor der Schweiz. Ich beisse nicht, auch wenn sich<br />
das manche ausmalen. Ich jodle bloss. Das Wort «bloss» habe ich<br />
bewusst gewählt, um zu betonen, dass es bei mir friedlich zu und<br />
her geht, dass ich weder Männer verschlucke noch die Tradition<br />
der Schweizer Jodelmusik. Das Einzige, was bei mir ab und zu<br />
verrückt spielt, das sind die Töne, die zwischen meiner Kopf- und<br />
Bauchstimme umherflippen. Jodeliho, jodelihi.<br />
Hast du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für dich.<br />
Darüber, was mich antreibt, wie ich ticke und warum bei mir und<br />
dem Publikum mitunter Tränen kullern.<br />
Nimm dir einen der freien Stühle, lehne dich zurück und<br />
lausche. Bereit? Die erste Strophe geht so:<br />
Strophe 1: Wer ich bin und wie viele<br />
Kannst du sie sehen, die Frauen, die hier stehen? Sie alle lieben<br />
das Jodeln. Deshalb sind sie zu mir gekommen. Manch eine<br />
hat jahrelange Chorerfahrung wie die Gründerin Elena Kaiser,<br />
die in Stans ein Wollgeschäft führt. Manch andere jodelte bisher<br />
nur ihren Kühen etwas vor und wagte sich erstmals mit mir in<br />
die Öffentlichkeit wie Petra Fässler aus Zürich, die ihre ersten 20<br />
Lebensjahre im Kanton Schwyz auf einem Bauernhof verbrachte.<br />
52 Menschen sind es an der Zahl, die sich als Frauen identifizieren<br />
oder fühlen – 52 Stimmen, die mich vereint zum Klingen<br />
bringen. Die jüngsten Stimmbänder um die Zwanzig, die ältesten<br />
schwingen auf die Siebzig zu. Mehrere Generationen, Erfahrungen,<br />
Sichtweisen aufs Leben nebeneinander. Kurzhaarschnitt<br />
unter schwarzem Hut neben hüftlangen grauen Gretelzöpfen,<br />
Jeanskleid neben Overall, Boots neben Barfüssen. Alle verteilen<br />
sich im Raum, schütteln sich, machen sich locker, bewegen ihr<br />
Zwerchband, hecheln, achteln, schlagen Triolen, zischen lange<br />
Schs, was auch immer ihre musikalische Leiterin Simone Felber<br />
mit ihren durch die Luft schwingenden Armen anweist.<br />
Simone Felber ist meine Dirigentin und vereint Disziplin<br />
mit Hingabe, Herzlichkeit und Anspruch. Sie lächelt gern<br />
und viel, doch wenn sie spricht, weiss ich sofort, welcher<br />
Marsch geblasen hat. Alle zwei Wochen reist die Vollzeitmusikerin<br />
aus dem 15 Minuten entfernten Luzern<br />
nach Stans für eine zweistündige Chorprobe, wofür die<br />
Jodelfrauen je nach Wohnort zwei oder mehr Stunden<br />
Anfahrt in Kauf nehmen. Sie treffen sich im Pfarrereihaus<br />
oder in der Aula eines Schulhauses in Stans, dem Hauptort<br />
mit 8000 Einwohner*innen im Kanton Nidwalden in der Zentralschweiz.<br />
Für mich ist es der perfekte Ort: Als traditionelle<br />
Jodelseele mit modernem Bewusstsein passe ich in dieses geografische<br />
Tor zwischen Städten wie Luzern und Zürich und den<br />
umliegenden, ländlichen Regionen mit Bergen namens Bürgenstock<br />
oder Ruchstock. Petra sieht das tupf genauso. Hach, wie<br />
ihre gletscherblauen Augen leuchten, wenn sie erzählt, wie sie<br />
ihre Liebe zum Ländlichen und Urbanen mit mir verbinden kann:<br />
«In Zürich muss ich erklären, warum ich Jodelmusik mag, meiner<br />
Familie auf dem Bauernhof, was Feminismus ist. Hier im Chor ist<br />
ein Ort, wo sich meine beiden Welten treffen. Hier kann ich ich<br />
selbst sein.» Und Simone strahlt gleich mit und findet: «Es ist Zeit,<br />
dass man urbane Menschen in der Volksmusik sieht.»<br />
Ich spüre, dass ich einen Zeitgeist treffe, denn als ich im Herbst<br />
2022 nach Stimmen suchte, kamen viele mehr als ich rief. Und<br />
auch meine Strahlkraft reicht weit hinaus über die Region und<br />
Landesgrenze, was mich anfangs überrascht, gefreut und mit der<br />
Zeit gar gestört hat. Sogar 900 Kilometer nördlich bis nach Berlin<br />
hallte meine Botschaft. Darauf komme ich in Strophe 6 zurück.<br />
Strophe 3: Wie ich entstanden bin<br />
Meine Mama heisst Elena Kaiser. Sie hat mich vor drei Jahren<br />
als Idee auf die Welt gebracht, aus Jux. Sie erzählt die Geschichte<br />
immer so: «Mit meinem Mann habe ich über die doofen Texte gewitzelt,<br />
die ich im Trachtenchor in Stans singen musste. Irgendwann<br />
muss ich einen feministischen Frauenchor gründen, und<br />
der wird Echo vom Eierstock heissen, sagte ich zu ihm.»<br />
Seither gärte ich als Idee in Elenas Kopf. Das erste Mal, dass<br />
sie mit anderen über mich sprach, war während des Frauentreichelns<br />
des feministischen Kollektivs im Jahr 2021 in Stans. Die<br />
Frauen, darunter auch Elena, standen alle auf dem Dorfplatz und<br />
fanden, es brauche jetzt einen «Juiz», wie es Brauch ist bei einem<br />
Treichelumzug, dem traditionellen Festumzug mit Kuhglocken.<br />
«Juizä» heisst Naturjodeln in Nidwalden, also Jodeln ohne Text.<br />
58 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 4<br />
Bild: zVg<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
59
Story — 4<br />
Frau kann bestens ohne Tracht jodeln, findet das «Echo vom Eierstock».<br />
Alle Frauen meinten, ja, das wäre toll, aber sie wüssten nicht, wie<br />
das gehe. Dann machte es in Elenas Kopf Bling und sie entliess<br />
mich in die Welt, indem sie vorschlug, einen feministischen Jodelchor<br />
zu gründen: Das Echo vom Eierstock. Als mich alle als<br />
gute Idee befanden, suchte Elena eine Person, die mich anleiten<br />
konnte. Auf der anderen Seite des Telefons antwortete Simone:<br />
«Ich habe überhaupt keine Zeit, aber das müssen wir tun.» Das<br />
war meine offizielle Geburtsstunde. Mit einer ersten Aufgabe: am<br />
Weltfrauentag im März 2022 mit 17 Stimmen zwei bis drei Lieder<br />
zu jodeln. Das haben wir wunderbar hinbekommen – und danach<br />
standen Elena und die Frauen da, schauten sich an und konnten<br />
sich nicht vorstellen, dass nun alles vorbei sein sollte.<br />
Dank einem Bericht über uns in der Nidwaldner Zeitung flatterte<br />
uns prompt eine Anfrage der Stanser Musiktage ins Haus. Und<br />
falls du das noch nicht weisst: Die Stanser Musiktage sind schon<br />
eine andere Liga und als Musikfestival in der Zentralschweiz ein<br />
Begriff. Nachdem ich den ersten Schock verarbeitet hatte, war mir<br />
klar: «Go big or go home.» Alles oder nichts. Wenn ich das mache,<br />
muss ich gut sein. Sonst tue ich weder dem Jodel noch dem<br />
Feminismus einen Gefallen. Also habe ich einen Aufruf gestartet<br />
und Sängerinnen gesucht. Der Andrang war riesig. Auch von weit<br />
her, aus anderen Kantonen, Stunden entfernt von meinem herzigen<br />
Stans. Nach 50 Bewerber*innen musste ich dann Stopp sagen. Im<br />
September 2022 begannen meine Proben als offizieller Projektchor.<br />
60 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Buchstabentausch aus dem Jodlerverband einen<br />
Jodelverband machen könnte. Alle drei Jahre lockt der<br />
Verband mit seinem Eidgenössischen Jodlerfest um<br />
die 15 000 Mitwirkende und 200 000 Besucher*innen<br />
an. Es ist ein Wettbewerb, an dem die verschiedenen<br />
Jodelformationen gegeneinander antreten. Um sich<br />
miteinander messen zu können, braucht es Vorgaben,<br />
ein Regelwerk: von der Tracht (eine Frauentracht kostet<br />
rund 10 000 Franken/Euro) bis zur Jodeltechnik.<br />
Die Kehrseite dessen ist das Korsett, in dem die Jodelmusik<br />
dadurch steckt.<br />
Die Texte der Jodellieder, viele im 19. Jahrhundert<br />
von Männern geschrieben, sind längst nicht in der<br />
neuen Zeit angekommen. Noch immer besingen sie<br />
echte Mannsbilder, herzige Mädchen, liebe Mütter<br />
oder böse Gattinnen und das romantische Leben auf<br />
der Alp. Zeitgenössische Themen fehlen fast gänzlich.<br />
«Die Texte waren schon vor hundert Jahren Retrokitsch»,<br />
sagt der Musikethnologe Dieter Ringli in der<br />
Dokumentation «Typisch Volksmusik?» des Schweizer<br />
Senders SRF.<br />
Nicht nur wegen der verstaubten Texte braucht es<br />
mich, sondern auch, weil das Jodeln der Männerchortradition<br />
entspringt. Das merkt man der Szene insofern<br />
an, als es Frauen wie Petra gibt, die erst bei mir<br />
ihren Platz finden: «Bei uns im Dorf gab es einen reinen<br />
Männerchor. Andere Chöre mit Frauen hatten ein<br />
hohes Niveau, da waren die Frauen immer die Vorjodlerinnen,<br />
die mit ihren kopfstimmigen Soli jedes Lied<br />
adeln. Auf unserem Bauernhof habe ich viel und gern<br />
gesungen, aber in der Öffentlichkeit habe ich mich das<br />
nie getraut. Erst als ich vom Chor hörte, hat es mich<br />
richtig gepackt.»<br />
Bild: Christian Felber<br />
«Jodlerklub<br />
Männertreu»<br />
Strophe 4: Warum es mich braucht<br />
Wenn eine Gesangsform die Schweiz repräsentiert, dann ist<br />
es der Jodel. Tausende von Menschen jodeln in der Schweiz, in<br />
Chören, kleineren Formationen oder solo – meist in der Gesangsästhetik<br />
des 19. Jahrhunderts. Während sich die Volksmusik stetig<br />
wandelte, hinkte der Jodel hinterher. Ein Umstand, den der<br />
Eidgenössische Jodlerverband mitgeprägt hat.<br />
«Die Dachorganisation der Schweizer Vereine von Jodlern,<br />
Alphornbläsern, und Fahnenschwingern» besteht mehrheitlich<br />
aus Männern, wird von einer Frau präsidiert und legt bis<br />
heute keinen Wert auf geschlechtergerechte Sprache, wobei ein<br />
Der erste Gay-Jodelklub der Schweiz<br />
existiert seit Januar. Mitgründer<br />
ist Franz-Markus Stadelmann: Der<br />
Dirigent und Jodler sass bereits in der<br />
Jury des Eidgenössischen Jodelfests.<br />
Der «Jodlerclub Männertreu» entspringt<br />
seinem Wunsch gemeinsam<br />
zu jodeln, ohne ein Statement setzen<br />
zu wollen, und probt monatlich.<br />
Mehr Infos:<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
61
Story — 4<br />
62 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Petra Fässler, Jodlerin<br />
«In Zürich muss ich erklären, warum ich<br />
Jodelmusik mag; meiner Familie auf<br />
dem Bauernhof muss ich erklären, was<br />
Feminismus bedeutet. Im Chor kommen<br />
meine beiden Welten zusammen und ich<br />
kann einfach ich selbst sein.»<br />
Strophe 5: Wie feministisch<br />
und queer ich bin<br />
Versteh mich bitte richtig: Ich liebe die traditionellen Jodelund<br />
Volkslieder, die sich vor der schönen Natur verneigen und<br />
die Kühe besingen, die von der Alp ziehen. Ich will die Texte<br />
nicht zensieren. Ich will nicht moralisieren, sondern sensibilisieren.<br />
Dafür, dass ich mich nicht wohl fühle, wenn ich übergriffige<br />
Texte singe wie «Chumm gib mer es Schmützli, etz tue nid<br />
eso» («Komm gib mir ein Küsschen, jetzt tu nicht so») – oder über<br />
christlich konforme Situationen, in denen eine Frau zum Tanz<br />
geht und im Jahr darauf gleich heiratet und ein Kind bekommt.<br />
Ich will Mädchen und Frauen weder verniedlichen noch verteufeln.<br />
Ich will sie aktiv, selbstbestimmt und stark zeigen. Auch das<br />
eine oder andere Gipfelkreuz oder den Herrgott nehme ich heraus,<br />
weil wir heute gesellschaftlich an einem Punkt stehen, wo verschiedene<br />
Konfessionen nebeneinanderstehen und ein Austausch<br />
zwischen ihnen stattfinden muss.<br />
Texte, mit denen ich mich nicht identifizieren kann, ändere<br />
ich: Mal sind es einzelne Wörter – aus «Mann und Frau» wird «Du<br />
und ich», damit die Liebesgeschichte, um die es geht, für alle Liebeskonstellationen<br />
passt –, mal sind es ganze Strophen – «Manne<br />
gö mit Froue und a Frou mit ner Frou, und Manne mit de Manne,<br />
alles andre gat au» («Männer gehen mit Frauen, eine Frau mit ‘ner<br />
Frau, Männer mit den Männern, alles andere geht auch»). Immer<br />
öfter wollen Autor*innen mitschreiben wie zum Beispiel Martina<br />
Clavadetscher, die 2021 für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams»<br />
mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde.<br />
Manche Texte lasse ich im Original, wie das «Truurigi Meitli»,<br />
ein Lied, das mich sehr berührt, über eine Frau, die ihr Kind<br />
verliert, deren Mann weggeht und die von der Gesellschaft abgelehnt<br />
wird. Wenn meine 52 Jodelfrauen zusammenstehen und<br />
Bild: Christian Felber Bild: Denise Liebchen<br />
aus tiefstem Herzen solche Texte singen, dann geschieht etwas<br />
Magisches, eine unsichtbare Energie, die den Raum füllt und sie<br />
miteinander verbindet. Da kullert mir mitunter eine Träne runter.<br />
Das ist auch schon bei Auftritten passiert. Aber ich weiss nicht<br />
mehr so genau, wo die Tränen zuerst herkamen: von mir oder<br />
vom Publikum.<br />
Die Frage, wie queer ich bin, finde ich ehrlich gesagt unwichtig.<br />
Einige meiner Jodelfrauen sind queer, aber ich habe sie weder<br />
gezählt noch explizit danach gefragt. Petra bringt es wunderbar<br />
auf den Punkt: «Das Schöne am Chor finde ich, dass es kein Thema<br />
ist, wer queer ist und wer nicht. Wir sind einfach Menschen<br />
und es spielt keine Rolle.»<br />
Strophe 6: Was ich bisher erlebt habe<br />
Die Medien fahren auf mich ab. Ohne dass ich auch nur eine<br />
Pressemitteilung herausgegeben habe, klopfen sie an meine Tür:<br />
die Regionalpresse von Berlin bis Nidwalden, nationale Sendungen<br />
von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) bis ZDF (Zweites<br />
Deutsches Fernsehen). Elena sagt dazu: «Wir finden das lustig,<br />
aber mittlerweile haben wir genug von Mikrofonen und Kameras,<br />
denn die wenigen Proben, die wir haben, sind durchgetaktet und<br />
wir wollen einfach nur tun, was wir lieben: singen.»<br />
Die vielen positiven Rückmeldungen haben mich überaus gefreut.<br />
Doch natürlich habe ich nicht nur Fans.<br />
Simone Felber, Dirigentin<br />
«Zuerst habe ich die Liedtexte nicht hinterfragt<br />
und das ist auch gut so, denn es gibt<br />
so viele schöne Jodellieder. Doch irgendwann<br />
habe ich gemerkt, wie die Frau<br />
dargestellt wird als liebes Mäteli und liebs<br />
Mütti und Objekt, das für einen Kuss<br />
herhalten soll.»
Story — 4<br />
Tiziana Jäggi, Jodlerin<br />
Bild: Denise Liebchen<br />
Durch mein Auftreten und meine Einstellung öffne ich anderen<br />
das Tür und baue Vorurteile ab: Man kann Jodelmusik hören,<br />
ohne politisch abgestempelt zu werden oder als Landei zu gelten.<br />
Man kann auch ohne teure Tracht jodeln und auftreten.<br />
Ich werde weiterjodeln für Menschen, die sich kritisch mit<br />
Volkskultur auseinandersetzen wollen – und auch für diejenigen,<br />
die gerne Jodellieder hören, sich aber noch nie mit den Aussagen<br />
befasst haben. Für Menschen, die sich bisher nicht für Volksmusik<br />
interessiert haben, und vielleicht erst durch innovative<br />
Projekte wie mich einen Zugang finden. Für Menschen, die sich<br />
schon immer über die Texte geärgert haben und auch für solche,<br />
die sich über meine Anpassungen empören. Schlussendlich gehört<br />
Volksmusik uns allen – sie ist nicht politisch.<br />
Ein paar konzertante Höhepunkte stehen dieses Jahr schon in<br />
meinem Kalender: Zum Beispiel freue ich mich auf die Stubete<br />
am See im August in Zürich, ein zauberhaftes Festival für neue<br />
Schweizer Volksmusik. Wenn du Zeit hast und in der Nähe bist,<br />
schau doch mal vorbei.<br />
«Als Kind wollte ich Bäuerin und Jodlerin werden.<br />
Doch erst, als ich erfahren habe, dass es einen<br />
feministischen Jodelchor gibt, konnte ich es mir als<br />
Erwachsene vorstellen zu jodeln. Nun bin ich im<br />
‹Echo vom Eierstock› und arbeite in der psycho-<br />
logischen Forschung.»<br />
Der Musikethnologe Dieter Ringli sagte in der Dokumentation<br />
«Typisch Volksmusik?»: «Das, war der Chor macht, ist super, aber<br />
er ist grottenschlecht.» Da bin ich ganz anderer Meinung: Ich habe<br />
mich seit der Gründung musikalisch stetig verbessert. Dieter hat<br />
sich nach der Ausstrahlung der Doku bei mir entschuldigt, dass<br />
er mich noch nie live gehört habe und lediglich aus einer Aufnahme<br />
Rückschlüsse gezogen. Das Produktionsteam hatte diese<br />
Aussage aus seinem zweistündigen Interview herausgepickt, was<br />
ihm nicht recht gewesen sei. Schwamm drüber. Kann ja jede*r<br />
sagen, was er oder sie will. Ich bin nicht dafür verantwortlich,<br />
was andere über mich denken. Meistens bin ich nur eine Projektionsfläche.<br />
Auch für jene, die mir Hassbriefe schicken oder<br />
mich mit Blicken strafen, wenn sie mich im Dorf entdecken. Aber<br />
niemand hatte bisher den Mumm, mir ins Gesicht zu sagen, dass<br />
er oder sie mich scheisse findet. Dabei würde ich so gerne mit<br />
so einer Person reden. Egal, was die Leute über mich sagen, ob<br />
himmelhochjauchzend oder tiefverteufelnd, mich als Chor beeinflusst<br />
das nicht. Ich bin mir meiner Sache sicher.<br />
Strophe 7: Was ich noch vorhabe<br />
Bild: Christian Felber<br />
Willst du mich jetzt gleich singen hören?<br />
Hier im Kurzvideo bekommst du einen Vorgeschmack:<br />
Nun verbeuge ich mich vor dir, bedanke mich fürs lesende Zuhören<br />
und falls du bei mir mitjodeln möchtest oder einfach auf<br />
dem Laufenden bleiben, schau hier vorbei: echovomeierstock.ch<br />
Für mich sind schon so viele Träume wahr geworden, darunter<br />
der allergrösste, dass es mich überhaupt gibt, dass Frauen<br />
zusammenstehen, Texte in ihrer Muttersprache singen können,<br />
die sie singen wollen, auf die Art, die ihnen liegt, und das ist der<br />
traditionelle Jodelgesang. Ich wünsche mir, dass es mich noch<br />
möglichst lange gibt und ich noch mehr Menschen den Weg zum<br />
Jodelgesang zeigen kann. Nach unseren Konzerten kommen oft<br />
junge Leute zu uns und sagen: «Jodeln ist gar nicht so scheisse,<br />
wie ich dachte.»<br />
Elena Kaiser, Gründerin<br />
«Ich habe schon in vielen Chören<br />
gesungen, aber eine solche Stimmung<br />
und solchen Zusammenhalt habe ich<br />
noch nie erlebt.»<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
63
FILM<br />
Filmguru<br />
Patrick Schneller<br />
filmguru@mannschaft.com<br />
All of Us Strangers<br />
Zwischen Traum und Wirklichkeit<br />
Der im letzten November 89-jährig verstorbene<br />
japanische Drehbuchautor Taichi<br />
Yamada veröffentlichte drei Romane. Darunter<br />
1987 «Ijintachi to no natsu», der 20<br />
Jahre später als «Sommer mit Fremden»<br />
auf Deutsch erschien und schon 1988 von<br />
Nobuhiko Ôbayashi («Hausu») verfilmt<br />
worden war. Die Adaption fand aber nie<br />
ihren Weg in den deutschen Sprachraum.<br />
Nun diente Yamadas Buch dem Engländer<br />
Andrew Haigh, der schon mit «Weekend»<br />
(2011) ein beachtliches schwules Liebesdrama<br />
geschaffen hatte, als lose Vorlage<br />
für seinen fünften Spielfilm.<br />
Der Autor Adam (Andrew Scott) lebt<br />
in einem Londoner Hochhaus-Apartment,<br />
die Wohnungen um ihn herum stehen leer.<br />
Er arbeitet an einem autobiografischen<br />
Skript, kommt aber nicht voran. Dann<br />
64 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
lernt er Harry (Paul Mescal) kennen und<br />
lieben, der offenbar einzige weitere Mieter<br />
im Gebäude. Parallel versucht Adam,<br />
seinen Schreibstau zu lösen, indem er das<br />
Haus seiner Kindheit in Dorking besucht,<br />
wo seine Eltern (Claire Foy, Jamie Bell) vor<br />
30 Jahren bei einem Autounfall umgekommen<br />
sind. Verblüfft stellt er fest, dass diese<br />
immer noch dort wohnen – und keinen<br />
Tag gealtert sind.<br />
Haigh leitet Adam und mit ihm das<br />
Publikum durch einen geheimnisvollen<br />
Gefühlssturm, in dem sich Realität<br />
und Fantasie vermischen. Das metaphysische<br />
Element erklärt er dabei nie, was<br />
die traumwandlerische Kraft des Ganzen<br />
verstärkt. Virtuos schildert Haigh<br />
gleichzeitig eine fragile Lovestory und<br />
die melancholische Bewältigung eines<br />
Alle sind irgendwie<br />
einsam: Harry in<br />
der ungemütlich<br />
leeren U-Bahn.<br />
Kindheitstraumas, und beides entfaltet<br />
sich emotional mitreissend. Das fulminante,<br />
gleichsam schmerzliche wie tröstliche<br />
Finale schliesslich macht «All of Us<br />
Strangers» endgültig nicht nur zu einem<br />
der besten Filme des Jahres, sondern vielmehr<br />
zu einem der aufwühlendsten Liebesfilme<br />
überhaupt.<br />
Mysterydrama, GB/USA 2023. Regie &<br />
Drehbuch: Andrew Haigh. Mit Andrew<br />
Scott, Paul Mescal, Carter John Grout,<br />
Jamie Bell, Claire Foy, Ami Tredrea.<br />
VoD/Streaming tba.<br />
Bild: The Walt Disney Studios
Patrick empfiehlt<br />
auch das düstere<br />
dänische Historiendrama<br />
«Bastarden»,<br />
das am<br />
2. Mai als «The<br />
King’s Land» (D)<br />
bzw. «The Promised<br />
Land» (CH) in die<br />
Kinos kommt.<br />
Patrick Schneller<br />
Fantasykomödie. D 2023. Regie<br />
& Drehbuch: Harvey Rabbit.<br />
Salzgeber VoD/DVD: April<br />
FILM/SERIEN<br />
Captain Faggotron<br />
Saves the Universe<br />
Priester Gaylord (Rodrigo Garcia<br />
Alves) ist entsetzt: Sein Ex-Lover<br />
Queen Bitch (Bishop Black,<br />
Foto) will die Erde mithilfe eines<br />
magischen Rings in einen queeren<br />
Planeten verwandeln! Daher bittet<br />
er Captain Faggotron (Tchivett)<br />
um Hilfe, dies zu verhindern.<br />
Guerilla-Kino hat in der queeren<br />
Filmgeschichte Tradition. Mit<br />
Rosa von Praunheim und John<br />
Waters seien an dieser Stelle nur<br />
zwei Regisseur*innen erwähnt,<br />
die in diesem Stil ihre Karrieren<br />
starteten. Nun hat der in Berlin<br />
ansässige kalifornische Transkünstler<br />
Harvey Rabbit seinen<br />
ersten Guerilla-Trashfilm gedreht.<br />
Das Resultat ist zwar etwas zu geschliffen<br />
und eher träge inszeniert,<br />
dennoch bietet es 70 Minuten lang<br />
ordentliche queere Unterhaltung<br />
Bild: Salzgeber, Nick Jaussi<br />
mit tüchtigen Seitenhieben gegen<br />
die Bigotterie der Kirchen,<br />
Klemmschwestern und Homophobie.<br />
Zu den Highlights gehören<br />
ein Anti-Grindr-Song,<br />
ein Hot-Dog-Wettfellieren und<br />
natürlich der Anus zur Hölle,<br />
den Queen Bitch öffnen will.<br />
Serienjunkie<br />
Robin Schmerer<br />
robin@mannschaft.com<br />
«Mary & George» – Wenn<br />
die Mutter mit dem Sohne<br />
Seit dem 7. März bei Sky zu sehen.<br />
Bild: <strong>2024</strong> Sky Studios Limited<br />
Die Prämisse von «Mary & George» klingt unglaublich, ist aber<br />
wahr: Anfang des 17. Jahrhunderts schickt Mary Villiers, die Witwe<br />
eines verarmten Adeligen, ihren Sohn George nach Frankreich,<br />
um ihm eine umfassende Ausbildung zu ermöglichen und ihn anschliessend<br />
an den Hof des englischen Königs zu schicken. Kaum<br />
dort angekommen wird George zum Geliebten und Günstling von<br />
König James I., wodurch Mutter und Sohn zunehmend an Einfluss<br />
gewinnen und zahlreiche Intrigen spinnen können. Besonders<br />
Mary nutzt ihre durch ihren Sohn erlangte Machtposition als enge<br />
Vertraute des Regenten immer skrupel- und rücksichtsloser aus.<br />
Mithilfe krimineller Verbündeter und mittels Bestechung schafft<br />
sie es zu einer der reichsten Frauen im Establishment aufzusteigen.<br />
Das siebenteilige Historiendrama ist nicht nur opulent ausgestattet,<br />
sondern auch hochkarätig besetzt. In der Rolle der Mary<br />
Villiers ist Oscar-Preisträgerin Julianne Moore («Still Alice») zu sehen,<br />
die Rolle ihres charismatischen Sohnes George spielt «Royal<br />
Blue»-Star Nicholas Galitzine. Schon der zu Beginn des Jahres veröffentlichte<br />
Trailer hat gezeigt, dass es in der Miniserie wenig zimperlich<br />
zugeht und sie das Potential hat zumindest kurzzeitig die<br />
Lücke zu füllen, die seit dem Ende von «The Tudors» entstanden ist.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
65
SERIEN<br />
«Supersex»: Alles Porno, oder was?<br />
Seit dem 6. März auf Netflix.<br />
Was? Wo? Wann?<br />
WAS WO & WANN IN EINEM SATZ<br />
Single, Out –<br />
Die komplette<br />
erste Staffel<br />
Teen-Drama<br />
Staffel 2<br />
15. Februar<br />
DVD (Salzgeber)<br />
Das australische Teendrama<br />
begleitet einen frisch geouteten<br />
Jugendlichen bei seinen ersten<br />
Schritten im Datingleben. Erfrischend<br />
und humorvoll.<br />
Hotel Mondial –<br />
Staffel 2<br />
Drama<br />
Staffel 2<br />
23. Februar<br />
DVD (OneGate<br />
Media) / ZDF<br />
Mediathek<br />
Dramaserie rund um ein 4-Sterne-<br />
Hotel mit einer lesbischen Hauptfigur.<br />
Nach der Absetzung durch<br />
das ZDF versuchten Fans, die<br />
Produkten mit einer Petition zu<br />
retten – soweit vergeblich.<br />
The Winchesters<br />
– Die komplette<br />
erste Staffel<br />
Fantasy<br />
Staffel 1<br />
07. März<br />
DVD (Warner)/<br />
Amazon Prime<br />
Die Prequel-Serie zum Langzeit-<br />
Hit «Supernatural» macht das<br />
Publikum mit dem nicht-binären<br />
und bisexuellen Dämonenjäger<br />
Carlos bekannt.<br />
Young Royals<br />
Drama<br />
Staffel 3<br />
Seit 11. März<br />
(Teil 1) /<br />
18. März (Teil 2)<br />
Netflix<br />
Die Serie um den schwulen<br />
Kronprinz Schwedens, der sich in<br />
seinen Mitschüler verliebt, geht<br />
in die dritte und letzte Runde. Wie<br />
geht die Geschichte für Wilhelm<br />
und Simon aus?<br />
Rocco Siffredi ist einer der wenigen<br />
männlichen Pornodarsteller, denen es gelungen<br />
ist, sich einen Namen zu machen. Besonders<br />
in seinem Heimatland Italien kommt er<br />
einem Nationalhelden gleich, doch auch im<br />
Rest der Welt ist er kein Unbekannter mehr.<br />
Zugleich ist Siffredi einer der umstrittensten<br />
Akteure der Erotikbranche, war er doch lange<br />
Zeit bekannt für besonders brutale und<br />
tabulose Sexfilme. Insgesamt soll der «Italian<br />
Stallion» in über 1500 Pornos mitgewirkt<br />
und mit über 4000 Frauen geschlafen haben.<br />
So sorgte es auch für Aufsehen, als Siffredi<br />
sich 2017 als bisexuell outete und angab,<br />
auch Sex mit Männern zu haben.<br />
Nun hat Netflix das Leben des wohl<br />
grössten Pornostars seiner Zeit als Serie verfilmt.<br />
Die Hauptrolle in der siebenteiligen<br />
italienischen Produktion spielt der international<br />
noch weitgehend unbekannte Alessandro<br />
Borghi. Besonders interessant ist,<br />
dass das Drehbuch zur Serie «Supersex» von<br />
der militanten Feministin Francesca Manieri<br />
stammt, die einen Blick hinter die harte<br />
Schale des Pornodarstellers verspricht. Der<br />
im Vorfeld veröffentlichte Trailer zeigte in<br />
erster Linie viel Pathos und Camp-Ästhetik.<br />
Ob es der Miniserie tatsächlich gelingt, den<br />
Mann hinter den Schmuddelfilmen greifbar<br />
zu machen, davon kann man sich selbst<br />
überzeugen.<br />
Bild: Lucia Iuorio/Netflix<br />
66 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
KLEINE<br />
SCHMUTZIGE<br />
BRIEFE<br />
WICKED LITTLE LETTERS
Story — 5<br />
5<br />
«Ich suchte<br />
Bilder,<br />
die meine<br />
Identität<br />
widerspiegelten»<br />
68 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 5<br />
Interview – Greg Zwygart<br />
Fotos – Clifford Prince King<br />
Die Analog-Kamera ist Clifford<br />
Prince Kings Begleiterin auf der<br />
Suche nach Gleichgesinnten und<br />
nach Repräsentation. Auf seinen<br />
Bildern zeigen sich schwarze<br />
Männer zärtlich und verletzlich –<br />
eine Seite, die für den Fotografen<br />
allzu oft im Verborgenen bleibt.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
69
Story — 5<br />
Wir sind über Instagram auf dich gestossen.<br />
Findet sich dort eine repräsentative<br />
Übersicht deiner Arbeit als<br />
Fotograf?<br />
Ich fotografiere sehr regelmässig. Folglich<br />
kann man meine Bilder als eine Art visuelles<br />
Tagebuch verstehen. Ich fotografiere die<br />
Menschen, mit denen ich Zeit verbringe,<br />
Freundschaften aufbaue oder Beziehungen<br />
teile. Ich fotografiere primär analog –<br />
wenn es darum geht, Bilder für spezifische<br />
Projekte oder Ausstellungen auszuwählen,<br />
tauche ich oft in meine Sammlung von<br />
Fotofilmen ein. Im Kern dreht sich meine<br />
Arbeit um schwarze Männlichkeit und<br />
den queeren Kontext des Schwarzseins in<br />
den USA.<br />
Sind es spontane Schnappschüsse<br />
oder inszenierte Bilder?<br />
Einige meiner Werke sind bewusst inszeniert,<br />
um Bilder zu präsentieren, die in der<br />
Kunstwelt und den Mainstream-Medien<br />
oft fehlen. Die Suche nach Repräsentation<br />
war in meiner Jugend als queerer Heranwachsender<br />
nicht immer einfach. Es gab<br />
keine Bilder, die meine Identität widerspiegelten,<br />
also nahm ich mir vor, sie selbst<br />
zu schaffen.<br />
Wie war deine Jugend?<br />
Ich bin in Tucson, Arizona, im Südwesten<br />
der USA aufgewachsen, wo die Bevölkerung<br />
hauptsächlich mexikanisch oder<br />
weiss ist. Mein Vater stammt aus Louisiana,<br />
und so fühlte ich mich oft als Aussenseiter<br />
– nicht «schwarz genug», um Anschluss<br />
bei anderen Schwarzen zu finden.<br />
Ohne Spanischkenntnisse passte ich auch<br />
nicht in die mexikanischen Gruppen.<br />
Da das Klima sehr heiss ist, verbrachte<br />
ich viel Zeit drinnen und schaute viele<br />
Filme. Mein Interesse an der Filmkunst<br />
wuchs stetig, ich tauchte in die Welt von<br />
Tumblr ein und bewunderte Pionier*innen<br />
wie Ingmar Bergman. Die Videokamera<br />
meines Vaters wurde mein Werkzeug, um<br />
mein Zimmer oder meine Freund*innen<br />
und Familie zu filmen. Sie wurde auch zu<br />
einem Puffer, der es mir ermöglichte, mich<br />
anderen Menschen zu nähern, ohne ihnen<br />
direkt gegenüberstehen zu müssen.<br />
Und um deine Identität zu erforschen?<br />
Das kam erst später, als ich nach Los Angeles<br />
gezogen bin. Dort traf ich mich mit<br />
Menschen, zu denen ich mich hingezogen<br />
fühlte, verbrachte Zeit mit anderen<br />
70 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
schwarzen Männern – einige davon queer,<br />
andere nicht. In diesem Prozess habe ich<br />
gelernt, mich durch Fotografie auszudrücken.<br />
Fallen dir beim Durchgehen deines<br />
Archivs bestimmte Themen deiner<br />
Arbeit auf?<br />
Ja, mit Fotofilmen ganz besonders. Kennst<br />
du das Gefühl: Du machst ein Foto und<br />
es beeindruckt dich nicht? Gerade in der<br />
heutigen Zeit übersehen wir oft Dinge, die<br />
uns im Moment nicht wertvoll erscheinen.<br />
Aber im Laufe der Zeit gewinnen die Bilder<br />
an Gewicht und werden bedeutsamer.<br />
Wenn du zum Beispiel ein Bild von dir<br />
heute siehst und dann in fünf Jahren. Du<br />
blickst auf die vergangene Zeit zurück und<br />
denkst über den Weg nach, den du zurückgelegt<br />
hast.<br />
Unterscheidest du zwischen Bildern<br />
aus deinem visuellen Tagebuch und<br />
zwischen Bildern, die dich als Künstler<br />
repräsentieren?<br />
Ich lasse alles miteinander verschmelzen.<br />
Das gefällt mir an Instagram. Manchmal<br />
poste ich etwas aus Lust und Laune – egal,<br />
ob es schon älter ist. Gelegentlich gibt es<br />
Reaktionen wie «Ist das deine Kunst?».<br />
Ja, aber nicht alles, was ich poste, muss<br />
ein sorgfältig ausgearbeitetes Kunstobjekt<br />
sein. Instagram ist für mich wie ein kleines<br />
Studio, das mir einen Raum gibt, um über<br />
meine Gefühle, Stimmungen und über<br />
meinen Platz in der Welt zu reflektieren.<br />
Du bist von Los Angeles nach New York<br />
gezogen. Weshalb?<br />
Ich hatte das Bedürfnis, mich selbst herauszufordern,<br />
solange ich noch etwas jugendliche<br />
Ausdauer habe (lacht). In New<br />
York liegt ein stärkerer Fokus auf der<br />
Kunstwelt im Vergleich zu der von der<br />
Filmindustrie geprägten Atmosphäre in<br />
L.A. Ich hatte noch nie an der Ostküste gelebt<br />
und wollte das tun, bevor ich mich «zu<br />
alt» fühle. Eine veränderte Umgebung gibt<br />
mir als visuelle Person neue Energie und<br />
frische Perspektiven auf meine Arbeit. In<br />
New York fühle ich mich grossartig!<br />
Du hast dich lange nach Repräsentation<br />
gesehnt. Wann hast du diese Repräsentation<br />
zum ersten Mal gefunden?<br />
Als ich auf die Arbeit des Dichters und Aktivisten<br />
Essex Hemphill gestossen bin. Er<br />
war eng befreundet mit Marlon Riggs, mit<br />
dem er an Filmen wie «Black Is . . . Black<br />
Ain’t» und «Tongues United» zusammengearbeitet<br />
hat. Leider sind sie aufgrund der<br />
Aids-Krise der Achtziger und Neunziger<br />
nicht mehr hier. Sie wurden so etwas wie<br />
meine queeren schwarzen Vorfahren. In<br />
ihre Arbeit einzutauchen, fühlte sich wie<br />
eine Initiationszeremonie an, als ob sie mir<br />
und anderen zeitgenössischen schwarzen<br />
queeren Künstlern das Staffelholz übergeben<br />
würden. Ihre Arbeit war kraftvoll und<br />
bestärkend und öffnete eine Welt, von der<br />
ich nicht wusste, dass sie existierte.<br />
In einem Interview hast du erwähnt,<br />
dass du deine Identität als queerer,<br />
schwarzer und HIV-positiver Künstler<br />
erforschst. Gehören diese Eigenschaften<br />
unweigerlich zusammen?<br />
Manchmal neige ich dazu, sie unterbewusst<br />
zu trennen – besonders, wenn ich<br />
mich online präsentiere. Ich bin Clifford,<br />
ich bin schwul, ich bin schwarz. Das heisst<br />
nicht, dass diese Etiketten nicht dazu beitragen,<br />
wer ich bin, aber ihre Bedeutung<br />
hängt von der Botschaft ab, die ich im<br />
Moment vermitteln möchte. In bestimmten<br />
Projekten lege ich meinen HIV-Status<br />
offen, weil mir die Entstigmatisierung am<br />
Herzen liegt. Während einige Menschen<br />
nicht bereit sind, diesen Schritt zu gehen,<br />
Clifford<br />
Prince<br />
King<br />
Der Fotograf dokumentiert<br />
seine intimen Beziehungen in<br />
alltäglichen Umgebungen, die<br />
seine Erfahrungen als queerer<br />
schwarzer Mann zum Ausdruck<br />
bringen. Seine Bilder<br />
sind in diversen Zeitschriften<br />
erschienen, darunter Butt, i-D,<br />
The New York Times, Vice und<br />
Vogue. Nebst Ausstellungen<br />
unter anderem im ICA Miami<br />
oder dem Kleefeld Contemporary<br />
Art Museum war King Teil<br />
der Phototriennale Hamburg<br />
und des queeren Midsumma<br />
Festivals in Melbourne.<br />
instagram.com/<br />
cliffordprinceking
Story — 5<br />
glaube ich, dass die Bereitschaft darüber<br />
zu sprechen im Laufe der Zeit zunimmt,<br />
wenn man sich in seinem Körper wohl<br />
fühlt und die mit HIV verbundenen Herausforderungen<br />
bewältigt.<br />
Was bedeutet schwarze Männlichkeit in<br />
der queeren Community für dich?<br />
Über die Jahre hinweg habe ich es mir erlaubt,<br />
verletzlicher und emotional verbundener<br />
zu sein auf Arten, die ich zuvor für<br />
unmöglich gehalten hatte. Vor rund zehn<br />
Jahren – mit etwa 20 – befand ich mich<br />
noch in einem Kampf-oder-Flucht-Modus<br />
bezüglich dessen, was ich wirklich wollte.<br />
Durch die Fotografie und die Verbindung<br />
mit anderen schwarzen Queers konnte ich<br />
persönlich wachsen. Schliesslich habe ich<br />
gelernt, wie wichtig es ist, sich mit Menschen<br />
zu umgeben, die Glück und Schönheit<br />
in dein Leben bringen. Das gibt es auch<br />
in der queeren Kultur – trotz aller Herausforderungen<br />
und Ängste. Ich verbringe<br />
Zeit an Orten, wo mein Herz sich rein und<br />
aufgeregt fühlt, und versuche, mich mit<br />
denen zu umgeben, die zu diesem Gefühl<br />
beitragen.<br />
Wie findest du Menschen, die du<br />
fotografieren möchtest?<br />
Es kommt darauf an. Manchmal spreche<br />
ich jemanden auf der Strasse an. In der<br />
Vergangenheit waren Apps wie Grindr<br />
eine Quelle, weil ich die Anonymität<br />
schätze. Ich bevorzuge es, Personen zu finden,<br />
die nicht unbedingt darauf aus sind,<br />
fotografiert zu werden und keine Erwartungen<br />
an die Fotos haben. Manchmal<br />
sind es auch Freund*innen, mit denen ich<br />
Zeit verbracht und ein Vertrauensverhältnis<br />
aufgebaut habe. Das ermöglicht es mir,<br />
sie in Situationen zu platzieren, in denen<br />
sie meiner Arbeit vertrauen und sicher<br />
sind. Es hängt alles vom Kontext ab.<br />
greifen auf Klischees zurück – setzen ihre<br />
Models in Jockstraps und nennen es Kunst.<br />
Ich versuche sexy Bilder zu machen, die<br />
nicht billig sind. Es ist eine Gratwanderung,<br />
intim und verletzlich zu sein, ohne<br />
gleich alles zu enthüllen. Ich bewahre<br />
lieber eine geheimnisvolle Aura, statt einfach<br />
explizit zu sein um der Explizitheit<br />
willen.<br />
«Viele Fotografen<br />
greifen auf Klischees<br />
zurück – setzen ihre<br />
Models in Jockstraps<br />
und nennen<br />
es Kunst.»<br />
Arbeitest du derzeit an Projekten<br />
oder Ausstellungen?<br />
Ich schreibe derzeit viel und bin in<br />
Drehbüchern involviert. Es gibt ein Projekt<br />
mit dem Public Art Fund in New York,<br />
das eine Ausstellung an Bushaltestellen<br />
und Zeitungskiosken in New York, Boston<br />
und Chicago zeigt. Ausserdem habe ich<br />
eine Foto-Triennale in Australien in der<br />
Pipeline.<br />
Was ist dir in deiner Arbeit wichtig?<br />
Mir liegt viel daran, die Zärtlichkeit und<br />
Verletzlichkeit schwarzer Männer zu betonen,<br />
statt sie auf ihre Sexualität oder ihre<br />
Körper zu reduzieren. Viele Fotografen<br />
Clifford Prince King (links) inszeniert sich in einigen Bildern auch selbst.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
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Story — 5
Story — 5<br />
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Story — 5<br />
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81
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KOLUMNE<br />
Kein Sex mehr<br />
auf Grindr<br />
Es gibt ein neues Wort! Zumindest<br />
auf Grindr. Denn dort kann man seit kurzem<br />
einen neuen Suchbegriff wählen.<br />
Neben Chat, Verabredungen, Freunde,<br />
Vernetzung und Beziehung gibt es jetzt<br />
auch Casual Dating. Casual Dating? Kenner<br />
fragen sich: Wo ist der gute alte Sex<br />
geblieben? Warum ist er verschwunden<br />
und durch Casual Dating ersetzt worden?<br />
Vermutet werden rechtliche Hintergründe:<br />
Eventuelle Änderungen in den Appstore-Regeln<br />
und mögliche Schwierigkeiten<br />
bei der Freigabe durch Apple.<br />
Der Begriff Casual Dating ist auf<br />
vielen Ebenen interessant. Wegen der<br />
magischen Ausstrahlung des Wortes<br />
«casual«. Bisher kannte man Casual<br />
Streetwear. Casual Dining. Casual Friday.<br />
Nun auch Casual Dating.<br />
Aber was ist das? Casual Dating<br />
ist locker, unverbindlich, mal sehen, was<br />
passiert – oder auch nicht. Casual Dating<br />
ist alles und nichts zugleich. Wie eine<br />
offene Hintertür und auch eine offene<br />
Vordertür für Situationen, aus denen man<br />
rauskommen will. Vorbei ist die Zeit, in<br />
der man sich trickreich herauslügen<br />
musste.<br />
Vielleicht ist es auch nicht mehr<br />
nötig, jemanden zu ghosten? Ich kann<br />
nur jemanden ghosten, der ein bestimmtes<br />
Verhalten von mir erwartet. Und welche<br />
Erwartungen löst Casual Dating<br />
schon aus? Wenige bis gar keine. «Ich<br />
muss mich nicht mehr melden, ich habe<br />
nichts versprochen. Es war zwanglos.»<br />
Das Uneindeutige macht den Begriff so<br />
attraktiv.<br />
Das Wort strahlt auch auf einen<br />
selbst zurück. Casual Dating macht mich<br />
zum Casual Dude. So möchte ich sein.<br />
Locker und lässig – so kennen mich die<br />
Leute. Es ist ein Begriff, der mich selbst<br />
attraktiver macht. Der Philosoph Friedrich<br />
Nietzsche sagte treffend: «Was ist dir das<br />
Menschlichste? Jemandem Scham<br />
ersparen.» Und genau das tut das Konzept<br />
des Casual Dating. Es erspart<br />
Scham, die ich vielleicht empfinde, wenn<br />
das Date nicht so gelaufen ist, wie ich es<br />
mir vorgestellt hatte. Denn wer casual<br />
datet, der kann nicht zurückgewiesen<br />
werden, der kann sich nicht in seiner<br />
möglichen Selbstabwertung bestätigt<br />
fühlen – weil es ja nur casual war.<br />
In der englischen Version von<br />
Grindr wurde «Sex« übrigens nicht durch<br />
«Casual Dating« ersetzt, sondern durch<br />
den Begriff «Hookups«. Ein viel klarerer<br />
Begriff! Es wäre spannend zu erfahren,<br />
warum Hookups nicht auch in der deutschen<br />
Version verwendet wird.<br />
Für mich ist Casual Dating ein<br />
grossartiger Begriff. Denn mit einem<br />
neuen Wort kann man einen Schlussstrich<br />
unter all das ziehen, was bisher<br />
war. Casual Dating setzt die Onlinedating-Karriere<br />
auf Werkseinstellungen zurück.<br />
Wie ein Reset-Knopf für die eigene<br />
Dating-Vergangenheit. Das Blatt ist wieder<br />
weiss, das was war, ist vergessen.<br />
Einfach neu anfangen. Deshalb steckt im<br />
Casual Dating auch ein bisschen Hoffnung:<br />
Wenn es mit den Männern bisher<br />
nicht geklappt hat, vielleicht jetzt? Und<br />
wenn es trotzdem so enttäuschend weitergeht<br />
wie bisher, dann fordert einen<br />
der Begriff freundlich, aber bestimmt<br />
auf: Jetzt sei ENDLICH MAL ein bisschen<br />
locker!<br />
REDEN IST GOLD<br />
Peter Fässlacher ist<br />
Moderator und Sendungsverantwortlicher<br />
bei<br />
ORF III und Stimme des<br />
Podcasts «Reden ist Gold«<br />
über die Liebe und das<br />
Leben mit Menschen<br />
der LGBTIQ-Community.<br />
Er lebt in Wien.<br />
peter@mannschaft.com<br />
Illustration: Sascha Düvel<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
83
Story — 6<br />
6<br />
«Lasst uns<br />
trans<br />
Geschichten<br />
besser<br />
erzählen!»<br />
84 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 6<br />
Text – Kriss Rudolph<br />
Mit der Repräsentation von trans<br />
Personen in Film und Fernsehen ist<br />
es so eine Sache. Allzu oft sind in<br />
Deutschland noch Klischees und<br />
verletzende Ignoranz am Werk. Die<br />
Schauspielerin Ilonka Petruschka hat<br />
sich aufgemacht, das zu ändern.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
85
Story — 6<br />
Ilonka Petruschka war 16, ihre Transition lag noch<br />
vor ihr und bis sie ihre erste Rolle in einem Fernsehfilm<br />
spielen durfte, musste erst eine halbe<br />
Ewigkeit von 30 Jahren vergehen. Damals sah sie<br />
zum ersten Mal einen Film mit einer trans Frau.<br />
«Zweiter Aufschlag», so der Titel des US-Spielfilms<br />
basierend auf der Lebensgeschichte von Renee Richards,<br />
dargestellt von Vanessa Redgrave. Die trans<br />
Tennisspielerin schaffte es bis auf Platz 20 der Damen-Weltrangliste,<br />
später coachte sie die lesbische<br />
Legende Martina Navratilova.<br />
In einer Szene des TV-Films zeigt sich Richards als Frau in der<br />
Öffentlichkeit und wird verprügelt. Ilonka war tief erschüttert.<br />
Sie glaubte, in ihre unvermeidbare Zukunft geschaut zu haben.<br />
«Ich dachte, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich nehme<br />
mir das Leben oder ich werde immer wieder zusammengeschlagen.»<br />
Ilonka, die in West-Berlin aufwuchs, machte sich früh im Cabaret<br />
La Cage einen Namen als Drag Queen. Mit zwölf stand sie<br />
schon auf der Bühne und wurde gefeiert. «Ich wurde extrem viel<br />
gebucht damals: Ich war jung, ich war hübsch, ich war talentiert.»<br />
Schon als Teenie auf der Bühne<br />
Als Jugendliche führte sie ein klassisches Doppelleben, in der<br />
Schule durfte keiner wissen, wer sie nachts war. Aber als die Zeitungen<br />
über sie berichteten, sprach es sich natürlich herum. Und<br />
als ein Schulfest geplant wurde, fragte man sie, ob sie auftreten<br />
wolle. Sie wollte. Danach fing das Mobbing an.<br />
Aber sich unterkriegen lassen, das kam für Ilonka nicht in Frage.<br />
«Ich war wild und rebellisch, auch verzweifelt, aber es gab ja<br />
keine Alternative. Mir war klar: Ich werde mich jedem in den Weg<br />
stellen, der mich aufhalten will.»<br />
Mit Verkleiden allein war es auf Dauer nicht getan, sie wollte<br />
als Frau leben. Doch das noch recht junge Transsexuellengesetz<br />
(TSG) von 1980 sah vor, dass sie erst nach zwei Gutachten den<br />
Personenstand ändern konnte. Sich vor einem Psychologen ausziehen,<br />
nackt auf und ab gehen, das kam für sie aber überhaupt<br />
nicht in Frage. «Ich hab’ dem Gutachter gesagt: Welchen besseren<br />
Beweis braucht es, als mich dem zu verweigern? Ich ertrage meinen<br />
eigenen Körper nicht – das ist ein wesentlicher Teil meiner<br />
Transidentität.» Ihr Gegenüber war überzeugt, sie bekam ihr erstes<br />
Gutachten.<br />
«Ich entscheide<br />
ja<br />
nicht, dass<br />
ich trans bin<br />
oder eine<br />
Frau. Ich bin<br />
es einfach!»<br />
Allein gegen das TSG<br />
Das mittlerweile über 40 Jahre bestehende Transsexuellengesetz<br />
nennt Ilonka «brutal, super erniedrigend und menschenverachtend».<br />
Ursprünglich erlaubte es eine Vornamensänderung erst mit<br />
25. Eine breite politische Lobby für trans Rechte gab es damals<br />
noch nicht. «Halt die Klappe und sei dankbar» – so fasst Ilonka die<br />
damalige Haltung gegenüber ihrer Community zusammen.<br />
Dass in diesem Jahr nun endlich ein Selbstbestimmungsgesetz<br />
das alte TSG ersetzen soll, findet die 51-Jährige überfällig. Auch<br />
wenn sie den Begriff «Selbstbestimmung» nicht besonders mag:<br />
«Für mich klingt es wie: Ich entscheide jetzt, dass ich trans oder<br />
eine Frau bin. Aber ich bin es einfach.»<br />
Damals war sie mit 17 laut Gesetz zu jung, um eine Transition<br />
durchzuziehen, das fing schon bei den Hormonen an. Zum<br />
Glück kannte sie längst andere trans Frauen, die unter der Hand<br />
mit Hormonen handelten. Von ihnen hörte sie auch von einem<br />
guten Gynäkologen in der Stadt. «Da sass ich dann mit meinen<br />
rotzigen 17 und sagte: Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten – entweder<br />
du hilfst mir oder ich mache das schwarz.» Er sagte: «Ich<br />
mache mich strafbar, wenn ich dir helfe.»<br />
86 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Wie man Ärzte und Richter überzeugt<br />
Trotzdem entschloss er sich, ihren Weg zu begleiten. «Ein unglaublich<br />
mutiger, toller Arzt. Er war nie fahrlässig, er hat das<br />
ganz seriös gemacht.» Um ihn zu schützen, behält sie seinen Namen<br />
für sich.<br />
Mit ihrem Selbstbewusstsein, das sie selbst rückblickend als<br />
«Grössenwahn» bezeichnet, konnte sie später auch den Richter<br />
überzeugen. «Ich sagte: Wenn ich mir heute die Knochen breche,<br />
dann gibt es kein Gesetz, das sagt: Du darfst aber erst in ein<br />
paar Jahren zum Arzt!» Damals galt Transidentität noch als<br />
Krankheit.<br />
Bild Julia Bornkessel
Story — 6<br />
Selbstbewusst<br />
oder «grössenwahnsinnig»?<br />
Ilonka Petruschka<br />
weiss, was sie will.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
87
Story — 6<br />
«Zu fordern, dass trans Leute<br />
trans Rollen spielen, ist vielleicht<br />
etwas brachial, aber offensichtlich<br />
braucht es das.»<br />
Für die Operation ging sie ins Ausland, deutsche Chirurg*innen<br />
hatten keinen besonders guten Ruf. Es gab trans Frauen, die<br />
danach im Rollstuhl gelandet sind, erinnert sich Ilonka. Schauerliche<br />
Geschichten rankten sich um geschlechtsangleichende<br />
Eingriffe. Von einem Chirurgen hiess es: «Wenn du dich bei dem<br />
operieren lässt, musst du vorher deinen Pass abgeben, und wenn<br />
es schiefgeht, wird die Leiche samt Pass im Meer versenkt!»<br />
Mit Kredit zur OP<br />
In London wurde Ilonka ein guter Chirurg von Selbsthilfe-Gruppen<br />
empfohlen. Umgerechnet 20 000 Mark hat der Eingriff damals<br />
gekostet, so viel wie ein neuer VW Golf. Ilonka musste einen<br />
Kredit aufnehmen. «Für mich war klar: Ich wollte den besten<br />
Operateur – ich wollte glücklich werden!»<br />
Hätte ihr damals jemand gesagt, dass sie als erwachsene Frau<br />
ein selbstbestimmtes Leben führen würde – sie hätte es nicht geglaubt.<br />
«Ich bin dankbar und glücklich und möchte das auf allen<br />
Kanälen, die mir zur Verfügung stehen, unter die Leute bringen.»<br />
Als Aktivistin sieht sie sich jedoch nicht. Sie ist auch keine<br />
Freundin von forcierter politischer Überkorrektheit, auch wenn<br />
sie sprachliche Veränderung und Entwicklung für wichtig und<br />
richtig hält. »Political Correctness ist nötig, sie darf uns nur nicht<br />
stumm werden lassen.» Darum bezeichnet sie sich manchmal<br />
selbst ganz bewusst als «Transe». Mit einer gewissen Selbstironie,<br />
so wie manche Schwule von sich als «Schwuchtel» reden. Denn<br />
ab und zu spürt sie bei anderen noch eine grosse Unsicherheit,<br />
wie man ihr begegnen soll. Sie möchte Hemmschwellen abbauen.<br />
«Wenn ich ganz offensiv und mit einem Augenzwinkern daran<br />
gehe, entstehen tolle Dialoge – und diese Gespräche sind so kostbar.»<br />
Die Schauspielerin will erreichen, dass Geschichten über trans<br />
Personen anders erzählt werden, echt und authentisch. Wenn sie<br />
nicht selbst vor der Kamera steht – im ZDF-Krimi «Der Kommissar<br />
und der See» war sie im Herbst als trans Frau zu sehen, die<br />
einem Mord zum Opfer fällt –, sorgt sie dafür, dass trans Personen<br />
in Filmen oder Serien authentisch und realistisch dargestellt<br />
werden.<br />
So erzählt man authentisch<br />
Für die Amazon-Serie «Luden», die im vergangenen Jahr Premiere<br />
feierte, wurde sie als trans Consultant angeheuert, denn<br />
der Produktionsfirma Neue Super war es wichtig, so authentisch<br />
wie möglich zu erzählen. Ilonka wirkt heute noch etwas<br />
ungläubig, dass das wirklich passiert ist – so glücklich ist sie<br />
mit dem Ergebnis. Sie war schon recht früh in das Projekt<br />
involviert. Man schickte ihr die ersten Drehbücher und nach<br />
dem Lesen war sie so angefixt, dass sie es kaum abwarten konnte,<br />
weiterzulesen.<br />
Immer wieder erlebte sie Meetings, die sie als «unfassbar<br />
fruchtbar» erinnert, sei es mit den Produzenten, mit der Regie,<br />
aber auch mit der Kostümabteilung, die sie einlud, bei der Anprobe<br />
für die trans Figur Bernd/Linda dabei zu sein. Selbst beim<br />
Schnitt war sie involviert und konnte Änderungen vorschlagen.<br />
Zum Beispiel war eine Szene geplant, in der betrunkene Touristen<br />
auf der Reeperbahn der frühen 80er-Jahre die trans Frau<br />
anpöbelten. Linda, in High Heels, überragte sie alle. Dieses Bild<br />
bemängelte Ilonka als zu stereotyp.<br />
«Die trans Frauen, die ich kenne, sind früher nicht draussen in<br />
High Heels rumgelaufen, denn dann waren sie 1,90 Meter gross<br />
und fielen auf. Lieber wollten sie verblenden mit der Gesellschaft,<br />
um nicht eins auf die Schnauze zu bekommen, und trugen flache<br />
Schuhe.» Die Produzenten nahmen die Kritik an und verzichteten<br />
ganz auf die Szene.<br />
Beratung nicht bloss als Alibi<br />
So ein Einsatz als trans Consultant kommt für Ilonka ohnehin<br />
nur in Frage, wenn sie sicher sein kann, dass bei der Produktion<br />
ein ehrliches Interesse besteht, Geschichten anders zu erzählen.<br />
Bloss als Alibi herhalten, damit hinterher jemand sagen kann,<br />
es habe eine trans Person drübergeschaut – das ist ihr zu wenig.<br />
«Wenn ich höre: Wir brauchen nur den Input fürs Drehbuch, den<br />
Rest kriegen wir hin, dann weiss ich schon, die meinen es nicht<br />
ernst.»<br />
So wie es bei «Luden» lief, ist es keineswegs Usus bei deutschen<br />
Produktionen. Zu nennen wäre aber noch «Oskars Kleid»<br />
von und mit Florian David Fitz. Der Film feierte Ende 2022 seine<br />
Kino-Premiere und erzählt von den Schwierigkeiten eines Vaters,<br />
sich mit der trans Identität seines Kindes abzufinden. Bei dem<br />
Film war die trans Aktivistin Patricia Schüttler beratend tätig.<br />
Ob es in der DACH-Region weitere Beispiele für den Einsatz von<br />
trans Consultants gibt? Netflix kann uns auf Anfrage keine Produktionen<br />
nennen. Auch beim Bundesverband Schauspiel (BFFS)<br />
kommen wir nicht weiter. Man empfiehlt uns, bei der Produzentenallianz<br />
nachzufragen, aber auch dort – so sorry! – kann man<br />
uns die gewünschte Auskunft nicht geben.<br />
Offenbar findet es noch zu selten statt. Dabei stellt Ilonka einen<br />
gewissen Hype in deutschsprachigen Produktionen fest: Man<br />
wolle mit aller Macht mitnehmen, was geht, weil es Quote bringt.<br />
Oft werden dann Bilder aus einer heterosexuellen Cis-Perspektive<br />
konstruiert. «Aber ich würde gerne sehen, dass die Leute nicht<br />
Bild normankeutgen<br />
88 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 6<br />
Maren Kroymann (links) heuerte Petruschka Anfang des Jahres für ein TV-Special an.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 6<br />
Noah Tinwa (Mitte) als Bernd/Linda in der Amazon-Serie «Luden».<br />
nur über uns erzählen, sondern anfangen, konstant mit uns zu<br />
erzählen.» Denn, davon ist Ilonka überzeugt: Die Quote könnte<br />
besser werden, wenn man uns zuhört und Geschichten besser<br />
erzählt.<br />
Mit trans Personen über trans Personen erzählen<br />
Hier und da passiert es schon: So spielt sie die Hauptrolle in einer<br />
ZDFneo-Serie von Creator Kai Pieck, die noch ihrer Fertigstellung<br />
harrt. Um ihre Figur glaubhaft schreiben zu können, hatte<br />
er sich eine trans Person als Co-Autor ins Boot geholt. Eigentlich,<br />
sagt Pieck, der vor ein paar Jahren die Queer Media Society<br />
gegründet hat, eine ehrenamtlich organisierte Initiative queerer<br />
Medienschaffender – eigentlich sollte beim Erzählen von trans<br />
Geschichten bereits in der Stoffentwicklung eine trans Person involviert<br />
sein. Nicht erst nach dem Schreiben als Sensitivity Reader<br />
oder als Consultant am Set. Das müsse dann aber auch von<br />
der Produktion bezahlt werden – und das sei oft der Knackpunkt.<br />
Dazu komme: «Viele Autor*innen, die länger im Geschäft sind,<br />
glauben immer noch, es langt, ein bisschen zu recherchieren und<br />
sich mal mit einer trans Person zu unterhalten. Aber das reicht<br />
eben nicht.» Junge Autor*innen oder Filmschaffende überhaupt,<br />
so beobachtet es Pieck, seien zum Glück heute wesentlich bewusster<br />
und sensibler.<br />
Und dann stellt sich ja irgendwann die Frage der Besetzung:<br />
Wer spielt am Ende die trans Rolle? Bei «Luden» fiel die Wahl auf<br />
den cis Schauspieler Noah Tinwa, auch Ilonka setzte sich dafür<br />
ein, und Amazon war einverstanden.<br />
«Eine Transition, wie sie in der Serie Luden dargestellt wird,<br />
empfinden viele trans Personen als traumatisch und sollte nicht<br />
noch einmal durchlebt werden müssen», erklärt uns Nadja Ziegltrum<br />
von Amazon Deutschland.<br />
Der Streamingdienst hat im Jahr 2021 ein sogenanntes Playbook<br />
für den US-Markt implementiert, in dessen Vorwort es<br />
heisst: «Die Arbeit für Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion erfordert,<br />
dass wir alle diese Vorurteile sowie die langjährigen<br />
Bräuche und Praktiken in der Branche durchbrechen, um echte,<br />
dauerhafte Veränderungen herbeizuführen.» Eine Adaption des<br />
Playbooks für den deutschen Markt sei in Planung, teilt uns Amazon<br />
mit.<br />
Im Fall von «Luden» hat man sich entschieden, Tinwa für die<br />
Darstellung der Bernd/Linda-Figur beratend Ilonka Petruschka<br />
an die Seite zu stellen. Dafür war der Schauspieler auch sehr dankbar.<br />
«Ich habe es sehr genossen, dass ich da jemanden hatte, mit<br />
der ich sehr intensiv zusammenarbeiten konnte.» Er habe das als<br />
sehr hilfreich empfunden, erzählt Tinwa im Interview mit Zeitjung<br />
– Normalität sei das bei deutschen Produktionen leider nicht.<br />
Was den Einsatz vor der Kamera angeht, so ist Ilonka schon<br />
grundsätzlich dafür, dass trans Rollen mit trans Personen besetzt<br />
werden. Das Gegenargument, dass es doch ums Schauspielen gehen<br />
soll und darum auch cis Personen besetzt werden könnten,<br />
kennt sie zur Genüge. Doch am Ende führt es nur wieder dazu,<br />
dass hauptsächlich cis Personen engagiert werden, während<br />
trans Schauspieler*innen in die Röhre schauen. «Zu fordern, dass<br />
trans Leute die trans Rollen spielen, ist vielleicht etwas brachial,<br />
90 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 6<br />
Bild zVg<br />
aber offensichtlich braucht es das. Wir müssen den Fuss in die Tür<br />
bekommen!», findet Ilonka, die als junge trans Frau nicht mal zur<br />
Schauspielschule zugelassen wurde.<br />
Nach wie vor schaffen es deutschsprachige TV-Produktionen<br />
immer noch, sie verzweifeln zu lassen. Beispiel: der ORF-Krimi<br />
«Tatort: Die Amme» aus dem Jahr 2021. «Da wird Trans als Monster<br />
erzählt, und am nächsten Tag müssen trans Frauen Angst haben,<br />
U-Bahn zu fahren, zumindest wenn sie kein so gutes Passing<br />
haben.» Passing – das ist die Wahrnehmung der anderen, eine<br />
Person dem Geschlecht zugehörig zu sehen, als das sie sich fühlt<br />
und nach aussen präsentiert. Filmschaffende müssten verantwortungsvoller<br />
vorgehen, wenn sie solche Geschichten erzählen, findet<br />
Ilonka.<br />
Psychopathen in Frauenkleidern<br />
Mit ihrer Kritik ist sie nicht allein: Zu dem österreichischen Krimi,<br />
in dem ein Mann Sexarbeiterinnen tötet und dafür Frauenkleider,<br />
Perücke und Make-up trägt, erklärte der «Tatort»-Kritiker<br />
Matthias Dell im Deutschlandfunk: «Hier ist niemand fluide, will<br />
nicht-binär gelesen werden oder als Dragqueen reüssieren – das<br />
Hin und Her zwischen den Geschlechterbildern ist vielmehr die<br />
Wurzel allen Übels. Der Psychopath in Frauenkleidern ist, auch<br />
wenn das nicht explizit gesagt wird, am Ende transfeindlich.»<br />
Kritiker Dell stellt den Film in Zusammenhang mit älteren<br />
Werken wie Hitchcocks «Psycho» mit Anthony Perkins und dem<br />
Buffalo-Bill-Charakter, den Jodie Foster in «Das Schweigen der<br />
Lämmer» jagt – alles Beispiele dafür, «dass Männer, die Frauen<br />
sein wollen, aber ihren Gender-Trouble nicht gebacken kriegen,<br />
Psychopathen werden müssen».<br />
Der ORF teilte uns dazu mit, der Kritiker habe sich offenbar<br />
«von einem gelernten Krimireflex aufs Glatteis führen lassen»,<br />
denn «die Bösartigkeit der Figur stünde (eben nicht) im Zusammenhang<br />
mit Crossdressing». Auch die Antwort der Produktionsfirma<br />
Prisma Film, die lediglich auf die Aussage des ORF<br />
verweist, lässt nicht gerade erahnen, dass man bereit ist, Kritik<br />
anzunehmen.<br />
Nach oben ist also noch eine Menge Luft. Dabei gäbe es so viele<br />
schöne und positive Geschichten zu erzählen. Von älteren trans<br />
Frauen etwa, die auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Solche<br />
Geschichten fehlen Ilonka noch in Film und Fernsehen. Oder dass<br />
sie selber mal als Mutter besetzt wird, als Polizistin oder Taxifahrerin,<br />
bei der nicht explizit im Drehbuch der Hinweis trans stehen<br />
muss, damit man sie überhaupt zum Casting einlädt.<br />
Perfekt für die Rolle der Schurkin?<br />
Eher kommt es noch vor, dass man sie aus falscher Rücksichtnahme<br />
übergeht, wie sie es mal bei einer Regisseurin erlebt hat –<br />
mit der Begründung: «Du bist perfekt für die Rolle der Bösen. Ich<br />
würd’ dich so gerne besetzen, aber ich mache es nicht aus meiner<br />
Verantwortung gegenüber der trans Community. Du darfst keine<br />
bösen Rollen spielen.» Auch das ist Diskriminierung, nur in etwas<br />
hübschere Worte verpackt.<br />
Umso mehr hat sich Ilonka Petruschka gefreut, als sie angefragt<br />
wurde, in dem «Kroymann»-Special «Ist die noch gut?» mitzuspielen,<br />
das Anfang des Jahres in der ARD ausgestrahlt wurde.<br />
Den Part bekam sie unabhängig von ihrem trans Kontext. So war<br />
sie als Maskenbildnerin von Maren Kroymann zu sehen, eine<br />
kleine Rolle nur, aber Ilonka war sehr dankbar für das Engagement:<br />
«Das müsste viel mehr stattfinden.»<br />
Wenn man zurückblickt auf all das, was die Berlinerin bisher<br />
erreicht hat, kann man fast sicher sein: So wird es auch<br />
kommen.<br />
Bild Julia Bornkessel<br />
«Ich möchte<br />
gerne, dass die<br />
Leute nicht nur<br />
über uns erzählen,<br />
sondern<br />
konstant mit<br />
uns erzählen.»<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
91
Interview<br />
«Ich habe<br />
Lust auf mehr<br />
queere Rollen»<br />
Die erfolgreiche Serie «Charité» meldet sich zurück mit einer ungewöhnlichen,<br />
in der nahen Zukunft spielenden vierten Staffel (ab 9. April in der<br />
ARD). Mit dabei ist dieses Mal Joshua Seelenbinder, der uns bei einem<br />
Matcha Latte in einem Café in Berlin-Mitte unter anderem verraten hat,<br />
wie er nach #ActOut auf die queere Zukunft in der deutschsprachigen<br />
Filmbranche blickt.<br />
Interview – Patrick Heidmann<br />
92<br />
Joshua, Anlass unseres Gesprächs ist die neue «Charité»-<br />
Staffel, die eine neue, in der Zukunft angesiedelte Geschichte<br />
erzählt. Du spielst darin den Pfleger Lou. Was hat dich an<br />
dieser Rolle gereizt?<br />
Für mich war Lou beim Lesen der Drehbücher die spannendste<br />
Männerfigur in dieser Geschichte. Schon allein, weil er nicht<br />
in einer Liebesbeziehung steht, über die er definiert wird, was<br />
ich gerade für eine solche jüngere Figur interessant fand. Es gibt<br />
zwar einen möglichen Flirt mit der von Gina Haller gespielten<br />
Kollegin Marlene, aber das war’s. Und es gab auch mal einen anderen<br />
kleinen Flirt mit einer männlichen Figur. Dieses Changieren<br />
fand ich sehr schön.<br />
Die ganze Serie ist unerwartet queer: Im Zentrum steht ein<br />
lesbisches Paar, und gleich in der ersten Folge kommt eine<br />
polyamouröse Beziehung vor, was im deutschen Fernsehen<br />
geradezu revolutionär erscheint.<br />
Deswegen mussten wir bei Lou nicht konkret werden, selbst<br />
wenn für mich immer eine gewisse Queerness mitschwang. Wir<br />
haben über eine potentielle Nicht-Binarität gesprochen, doch weil<br />
ich mich nicht als nicht-binär identifiziere, wollte ich so eine Rolle<br />
nicht spielen. Die Figur Lou kann sicherlich so gelesen werden,<br />
und ich finde es schön, dass die Verbindung zu Marlene nie ganz<br />
eindeutig wird. Lou ist einfach eine gute Seele und jemand, der an<br />
der Charité ist, um Menschen zu helfen und Dinge zu verändern.<br />
Auch deswegen hatte ich grosse Lust, diese Rolle zu spielen.<br />
Du sagst dezidiert: Ich spiele keine nicht-binäre Person.<br />
Andere, gerade ältere Kolleg*innen erwidern bei dieser<br />
Thematik gerne, dass gute Schauspieler*innen alles spielen<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
können und dürfen müssen. Das sollte in einer idealen Welt,<br />
in der es gleiche Chancen für alle gibt, natürlich auch so sein.<br />
Glaubst du, dass wir jemals dahin kommen werden?<br />
Ich glaube nicht, dass das zu erreichen ist. Vieles wird sich noch<br />
ändern und bessern, aber um in dieser idealen Welt anzukommen,<br />
sind wir Menschen zu egoistisch. Niemand gibt gerne Privilegien<br />
ab. Ausserdem verschieben sich immer wieder die Themen. Für<br />
mich ist die Diskussion über queere Geschichten und Figuren in<br />
der Arbeit wichtig, aber für andere gibt es vielleicht Wichtigeres.<br />
Gegenwärtig passiert so viel, dass rein politisch andere Themen<br />
deutlich höher auf der Agenda stehen. Der Weg ist also noch weit.<br />
Wichtiger als die Frage, wer was spielt, ist die, wer überhaupt<br />
welche Geschichten mit Authentizität erzählt, oder?<br />
In dieser Diskussion wird schnell vergessen, erst einmal hinter<br />
die Kamera zu gucken. Es macht einen grossen Unterschied, wenn<br />
eine queere Person solche Geschichten schreibt. Schon wenn andere<br />
queere Menschen am Set sind, erlebe ich die Arbeit ganz<br />
anders. Ein einschneidendes Erlebnis hatte ich während meines<br />
festen Engagements am Theater in Braunschweig. Dort bestand<br />
das Team – also Regie und Ensemble – zu Dreivierteln aus queeren<br />
Personen. Das Stück drehte sich zwar nicht primär um solche<br />
Themen, aber die Arbeit fühlte sich anders an. Der Raum, in dem<br />
ich mich bewegen und ausprobieren durfte, war ein anderer, weil<br />
wir andere Gespräche führten und bestimmte Diskussionen nicht<br />
mehr führen mussten. Es hat mich fasziniert, wie viel sicherer ich<br />
mich plötzlich gefühlt habe.<br />
Bei «Charité» war das Team grösstenteils weiblich besetzt.<br />
Das macht sicherlich einen Unterschied, oder?<br />
Bild: Lily Cummings Photography
Interview<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
93
Interview<br />
Eine gute Seele: Joshua Seelenbinder als Pfleger Lou (rechts), der Menschen helfen will.<br />
Ja, das finde ich schon. Ich habe mich darauf auch richtig gefreut,<br />
denn damit setzt die Produktion ja auch ein Zeichen. Die vier<br />
grössten Rollen in der Geschichte sind zum Beispiel auch Frauen,<br />
drei davon nicht weiss, und im Zentrum steht eine lesbische Beziehung.<br />
Es wird sicherlich auch Gegenwind kommen, könnte ich<br />
mir vorstellen. Gerade deswegen finde ich das Statement toll, vor<br />
allem für eine Produktion dieser Grössenordnung, die ein breites<br />
Publikum hat, das mutmasslich zu weiten Teilen nicht aus meiner<br />
Generation kommt.<br />
Zuletzt warst du in Serien wie «1899» sowie dem Kinofilm<br />
«Stella. Ein Leben» zu sehen, und demnächst folgt der Mehrteiler<br />
«Herrhausen – Der Herr des Geldes». Verbindet all die<br />
Rollen etwas, für das du dich interessierst?<br />
Die Einladung zu Castings hängt zunächst einmal vom Glück ab.<br />
Wenn es darum geht, was ich persönlich machen möchte, müssen<br />
die Drehbücher mich ansprechen. In «1899» war meine Rolle<br />
zwar nicht besonders gross, aber die Möglichkeit, an einem aufwändigen<br />
internationalen Projekt teilzunehmen, reizte mich. Bei<br />
«Herrhausen» hat mich insbesondere die fesselnde Geschichte<br />
angesprochen. Mir ist es generell wichtig, nicht auf eine einzige<br />
Art von Rolle festgelegt zu sein, sondern verschiedene Charaktere<br />
zu verkörpern. Deshalb habe ich eine Rolle in der Reihe «Mord<br />
oder Watt?» übernommen, die eine völlig andere Richtung einschlägt,<br />
in der ich einen norddeutschen Polizisten spiele.<br />
Dass du die Sicherheit des Theater-Ensembles aufgegeben<br />
hast und zum freischaffenden Schauspieler mit Schwerpunkt<br />
Film und Fernsehen geworden bist, ist erst ein paar Jahre her<br />
und fiel in eine ähnliche Zeit wie auch #ActOut. Du hast in einem<br />
Interview mal gesagt, dass du damals gezögert habest, dich an<br />
der Aktion zu beteiligen. Welche Angst hattest du da?<br />
Da kam mehreres zusammen. Einmal war da die banale Angst,<br />
was die unmittelbaren Folgen in der Branche sein würden. Ich<br />
94 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Interview<br />
selbst ausgemacht. Meine Agentur habe ich erst informiert,<br />
nachdem ich mich entschieden hatte. Die waren zum Glück total<br />
supportive.<br />
Bild: The Walt Disney Studios<br />
Bild: ARD, Armanda Claro<br />
Joshua<br />
Seelenbinder<br />
Wurde 1990 in einer niedersächsischen<br />
Kleinstadt<br />
geboren, bevor es ihn nach<br />
der Schule in die Grossstadt<br />
zog. In Hamburg sammelte<br />
er erste Bühnen-Erfahrungen,<br />
in Berlin studierte er<br />
schliesslich Schauspielerei.<br />
Nach einem festen Theater-Engagement<br />
steht er seit<br />
einigen Jahren vor allem für<br />
diverse Filme und Serien<br />
vor der Kamera, darunter<br />
auch „Das Boot“ oder eine<br />
„Tatort“-Episode. Im Februar<br />
2021 gehörte er zu den 185<br />
Schauspieler*innen, die<br />
sich im Rahmen der Aktion<br />
#ActOut öffentlich outeten.<br />
Ab dem 5. April ist er in der<br />
vierten Staffel der Serie<br />
«Charité» zu sehen (in der<br />
ARD-Mediathek); ab 9. April<br />
sendet das Erste die neuen<br />
Folgen, die erstmals in der<br />
Zukunft spielen.<br />
hatte nie etwas verschwiegen und behauptet, ich sei heterosexuell.<br />
Aber würde ich nach so einem offiziellen Coming-Out mit meinem<br />
Namen und meinem Gesicht vielleicht nicht mehr besetzt werden?<br />
Oder spiele ich nur noch schwule Rollen? Solche Fragen haben<br />
sofort reingekickt, aber das war auch gut, weil ich mich wirklich<br />
damit auseinandergesetzt habe. Und wenn jemand nicht mehr mit<br />
mir arbeiten will, weil ich mich öffentlich geoutet habe, dann will<br />
ich vielleicht mit denjenigen auch nichts mehr zu tun haben. Zum<br />
anderen war ich unsicher, ob mir das nicht einfach zu persönlich<br />
war. Man macht sich mit so einem Schritt angreifbar, auch als Privatperson.<br />
Ich musste erst überlegen, ob sich da das Private und<br />
das Berufliche oder auch Politische zu sehr vermischten.<br />
Das Ganze ist jetzt drei Jahre her. Wie fällt dein Fazit aus?<br />
Für mich persönlich hat #ActOut ein Gefühl von Freiheit gebracht<br />
und zwar im Privaten wie auch in der Arbeit. In Gesprächen<br />
mit Kolleg*innen oder wenn es am Set um Familie geht,<br />
habe ich ein anderes Selbstbewusstsein, mit dem ich auch meinen<br />
Freund erwähne.<br />
Das hast du früher nicht gemacht?<br />
Doch, hin und wieder schon. Aber ich habe immer gemerkt, dass<br />
es mindestens einen Moment gab, in dem ich überlegte, ob ich es<br />
tun sollte. Dieses Gefühl ist inzwischen weg. Ausserdem ist es toll<br />
zu wissen, dass es diese Community gibt. Plötzlich gibt es Namen<br />
und Gesichter. Und es war emotional und berührend, wie wir uns<br />
am Anfang vernetzt haben, ohne uns eigentlich zu kennen. Da<br />
war sofort ein echter Safe Space entstanden, in dem man sich austauschen<br />
und unterstützen konnte.<br />
Und welche Konsequenzen siehst du in der Branche<br />
allgemein?<br />
Ich würde sagen, dass die Aktion einige Diskussionen und positiven<br />
Entwicklungen angestossen hat. Queere Stoffe und Themen<br />
mehren sich langsam, habe ich das Gefühl. Wobei ich lustigerweise<br />
erwartet hatte, dass ich mehr queere Rollen angeboten bekomme<br />
als es bislang der Fall ist. Da hätte ich sogar Lust auf ein<br />
bisschen mehr.<br />
«Nichtbinäre<br />
Rollen will<br />
ich nicht<br />
spielen.»<br />
Fiel die Entscheidung dafür letztlich auch durch Gespräche<br />
mit anderen?<br />
Gar nicht so sehr. Mit meinem Partner habe ich mich selbstverständlich<br />
ausgetauscht, aber letztlich habe ich das mit mir<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
95
Literatur<br />
Die guten Seiten<br />
Gerbrand Bakker<br />
Der Sohn des Friseurs<br />
Der erste Satz<br />
Igor schwimmt.<br />
Das Genre<br />
Eine berührende Vater-Sohn-Geschichte!<br />
Roland Müller-Flashar vom Buchladen<br />
Prinz Eisenherz hat «Der Sohn des Friseurs»<br />
für dich gelesen.<br />
Die Handlung<br />
Simon schneidet Männern die Haare, ungern<br />
zu viel davon. Er ist Friseur, doch von Leidenschaft<br />
kann keine Rede sein, der Beruf ist ihm<br />
in den Schoss gefallen. Simon übernahm den<br />
Friseursalon von seinem Vater, der wiederum<br />
das Geschäft von Simons Grossvater fortgeführt<br />
hatte. Simons Mutter nennt ihn «träge»<br />
und «ein grosses Kind mit einem Friseur laden».<br />
Nun kommen in seinen Laden eine Handvoll<br />
Stammkunden, die sich die Haare schneiden<br />
lassen und Monologe halten, die Simon mit<br />
«hm» oder «ah» beantwortet.<br />
Als er sich bei den wöchentlichen Schwimmausflügen<br />
einer Gruppe geistig behinderter<br />
Jugendlicher engagiert, gerät sein wechselvolles<br />
Leben auf Hochtouren. Zu seiner<br />
Schande fühlt er sich nicht nur zu einem der<br />
geistig behinderten Jugendlichen hingezogen,<br />
dessen körperliche Schönheit ihn an den<br />
Schwimmer Aleksandr Popov erinnert; zum<br />
ersten Mal in seinem Leben beginnt Simon<br />
auch, sich Fragen über seinen Vater zu stellen.<br />
Er hat ihn nie gekannt und untersucht nun die<br />
Umstände seines bizarren Todes bei einem<br />
Flugzeugabsturz auf Teneriffa.<br />
Simons Alltag, der sich hauptsächlich<br />
zwischen Friseursalon und Schwimmbad abspielt,<br />
wird zunehmend abwechslungsreicher<br />
und das Leben des Protagonisten nimmt erheblich<br />
an Fahrt auf, auch weil er sich mit dem<br />
Phänomen Flugzeugkatastrophen und mit der<br />
Geschichte seines Vaters auseinandersetzt.<br />
Das Urteil<br />
Ein warmherziger Roman über eine Vatersuche<br />
mit überraschenden Wendungen,<br />
Sehnsucht, der Suche nach Nähe und der<br />
Notwendigkeit, unbequeme Wege zu gehen.<br />
Roman, Suhrkamp, 287 Seiten<br />
96 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Literatur<br />
Kauf deine Bücher im<br />
queeren Buchladen:<br />
buchladen-erlkoenig.de<br />
loewenherz.at<br />
queerbooks.ch<br />
prinz-eisenherz.com<br />
Bist du ein Bücherwurm?<br />
Wühle dich hier<br />
weiter durch:<br />
Carina Maggar<br />
Unzählige schlaflose Nächte<br />
Carina Maggar hat 85 queere Menschen<br />
aus 16 Ländern interviewt, woraus eine<br />
bewegende Sammlung entstanden ist<br />
mit 50 Coming-out-Geschichten von Geschlechtern<br />
unterschiedlichster sexueller<br />
Orientierung: berührend, kraftvoll, traurig,<br />
überraschend und lustig. Einige Gespräche<br />
hallten bei der lesbischen Autorin aus<br />
London nach, machten sie wütend und<br />
traurig, weil sie daran erinnern, wie viele<br />
Menschen auf der Welt leiden müssen, nur<br />
weil sie jemanden lieben.<br />
Wir finden: Ein Buch für Queers, ganz<br />
gleich, ob sie sich geoutet haben oder<br />
nicht, für diejenigen, die Unterstützung<br />
brauchen oder selbst mehr unterstützen<br />
wollen, für Heterosexuelle, die besser<br />
verstehen wollen, für Eltern, die es ihren<br />
Kindern schenken möchten, wenn sie<br />
vermuten, dass sie mit ihrer Sexualität zu<br />
kämpfen haben.<br />
Sammlung, Laurence King Verlag,<br />
176 Seiten<br />
Constance Debré<br />
Love Me Tender<br />
Nach ihrem Coming-out verliert die Protagonistin<br />
in «Love Me Tender» den Zugang<br />
zu ihrem Sohn. Noch schlimmer: Ihr Ehemann<br />
bezichtigt sie der Pädophilie und beantragt<br />
das alleinige Sorgerecht. Die einst<br />
erfolgreiche Anwältin hängt ihren Job an<br />
den Nagel, um an ihrem Buch zu schreiben.<br />
Sie vertreibt ihre Zeit mit Schwimmen und<br />
wahllosem Sex mit Frauen, die ihr wenig<br />
bedeuten.<br />
Wir finden: Der autobiografische Roman<br />
der ehemaligen französischen Strafverteidigerin<br />
Constance Debré ist eines von<br />
drei Büchern, in denen sie die Drogensucht<br />
ihrer Eltern, ihr Coming-out und den<br />
Kampf um das Sorgerecht für ihren Sohn<br />
verarbeitet. In «Love Me Tender» tut sie das<br />
in einer schnörkellosen und ungefilterten<br />
Sprache, die die Leser*innen an ihrem<br />
tauben Schmerz teilhaben lässt. Eine tief<br />
bewegende Lektüre.<br />
Roman, Matthes & Seitz Berlin,<br />
152 Seiten<br />
Neuerscheinungen<br />
TITEL GATTUNG VERLAG SEITEN IN EINEM SATZ<br />
An Rändern<br />
Angelo Tijssens<br />
Leute von früher<br />
Kristin Höller<br />
Sieben Sekunden Luft<br />
Luca Mael Milsch<br />
Box Hill<br />
Adam Mars-Jones<br />
Roman Rowohlt 128 Der Drehbuchautor des für den Oscar nominierten Films<br />
«Close» erzählt in seinem Romandebüt<br />
von den Traumata und Ängsten junger Menschen, die<br />
ihre Homosexualität verstecken müssen.<br />
Roman Suhrkamp 317 Über eine Liebe auf einer nordfriesischen Insel. Vom Bewahren<br />
und Verschwinden, von Abschied und Neubeginn.<br />
Von alten Legenden und moderner Lohnarbeit, von der<br />
Suche nach einem Platz im Leben.<br />
Roman Haymon 264 Über das Abschütteln von Spuren, entstanden zwischen<br />
Mutter und Kind, gesellschaftlich geprägt von Misogynie,<br />
Heteronormativität und Klassismus.<br />
Roman Albino 144 Mehr als ein Satz zum Buch:<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
97
Comic<br />
Kind of Magic<br />
Queen, das Comic<br />
In welches Regal?<br />
Zu den (auto-)biografischen Comics über<br />
Musiker*innen wie «Heartstrings: Melissa<br />
Ethridge & Her Guitars» (Z-Comics), Tine<br />
Pesch: «Rebel Girl» (Ventil Verlag) oder<br />
Reinhard Kleists «Nick Cave», «Starman»<br />
(über David Bowie) und «Cash» (alle Carlsen-Verlag).<br />
Wie sieht es aus?<br />
Extrem vielfältig, 17 der 20 Kapitel wurden<br />
von unterschiedlichen Künstler*innen<br />
einer, laut Verlag, «neuen Generation<br />
franko-belgischer Comiczeichnenden»<br />
gestaltet. Von realitätsnahen Zeichnungen<br />
über beinahe cineastisch ausgearbeitete<br />
Panels reichen die Umsetzungen bis hin zu<br />
Karikaturhaftem und digital bearbeiteten,<br />
eher flächigen Bildern.<br />
Um was geht es?<br />
Freddy Mercury – ein Name, den alle kennen,<br />
die sich jemals mit Musikgeschichte<br />
beschäftigt haben. Weniger bekannt dagegen<br />
dürfte sein Geburtsname Farrokh<br />
98 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Bulsara sein oder aber die Umstände, wie<br />
die legendäre Band Queen eigentlich zusammenfand,<br />
welche Zufälle es bedurfte,<br />
welcher Zugeständnisse, wo feste Überzeugung<br />
und absolute Kompromisslosigkeit<br />
nötig waren. Einige dieser Lücken füllt<br />
«Queen – Das Comic».<br />
Wie finden wir es?<br />
Der Comicband reiht keine allseits bekannten<br />
Anekdoten aneinander und bemüht<br />
sich erst gar nicht um Vollständigkeit. Im<br />
Gegenteil, das hier verfolgte Konzept der<br />
geplanten Sprünge wirft zwanzig Schlaglichter<br />
auf die Geschichte einer der einflussreichsten<br />
Bands der Musikgeschichte<br />
und ihre Mitglieder. Eine historische und/<br />
oder gesellschaftliche Einordnung erhält<br />
jedes der Kapitel anhand des dazwischengeschobenen<br />
Text- und Fotomaterials.<br />
Im französischen Original des Verlages<br />
Éditions Petit à Petit gehört «Queen» zu<br />
einer Reihe gleichartig aufgebauten Biografien,<br />
die sich vornehmlich mit weissen,<br />
heterosexuellen cis Männern beschäftigt.<br />
Umso mehr freuen wir uns, dass sich<br />
der österreichische Verlag Bahoe Books<br />
dafür entschieden hat, diesen Band<br />
zu übersetzen und in ihr Programm<br />
aufzunehmen. Wenn wir uns nun noch<br />
etwas wünschen dürften, dann, dass als<br />
nächstes das einzige Buch auf deutsch<br />
erscheint, das die französischen Kolleg*innen<br />
einer Frau gewidmet haben:<br />
Nina Simone.<br />
– Simone Veenstra<br />
«Queen – Das Comic»,<br />
Szenario: Emmanuel Marie,<br />
Texte Sophie Blitman, Zeichnungen:<br />
various, Verlag:<br />
bahoe books, Hardcover,<br />
aus dem Französischen übersetzt<br />
von Yara Haidinger
Konzert<br />
und<br />
Theater<br />
St.Gallen<br />
Musical von<br />
Jonathan Larson<br />
konzertundtheater.ch<br />
Bis zum 8.6. im<br />
Grossen Haus<br />
Hauptsponsoren: Co-Sponsoren: Medienpartner:<br />
Mit grosszügiger<br />
Unterstützung:
Story — 7<br />
7<br />
blutiger,<br />
das Leben<br />
(der Tod)<br />
100 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
100 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
Blut,
Story — 7<br />
Ein Essay von Curdin Seeli<br />
Eigentlich sollte ich ein Interview<br />
mit dem kürzlich als<br />
pansexuell geouteten Torero<br />
Mario Alcalde führen. Es kam<br />
alles anders, aber ich schrieb<br />
mir dennoch die Fingerkuppen<br />
wund. Vom verpönten<br />
Stierkampf im ambivalenten<br />
Spanien, über den horrenden<br />
Fleischkonsum unserer Welt,<br />
bis zur (un)moralischen Einsicht,<br />
dass . . .<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
101
Story — 7<br />
Der Himmel über Madrid ist tiefblau, man könnte<br />
sich an diesem Januarmorgen in der spanischen<br />
Hauptstadt in den Bündner Bergen wähnen.<br />
Die Luft ist klar und frisch, auch wenn meine<br />
Wetter-App immer schrecklich schlechte Luftverschmutzungswerte<br />
für die Capital anzeigt.<br />
Ich bekomme eine Nachricht eines Freundes mit einem augenzwinkernden<br />
Emoji zu einem Link, der mich auf einen Artikel der<br />
Tageszeitung El Mundo führt. Ich lese, dass sich der Stierkämpfer<br />
Mario Alcalde als pansexuell geoutet hat. Er kann alle Geschlechter<br />
lieben. Spontan denke ich: Wie schön. Und dann: Will er fünfzehn<br />
Minuten Fame oder möchte er ein Zeichen setzen? Aber<br />
schliesslich merke ich: Stierkampf, echt jetzt?<br />
Ich rieche warmes Blut - süsslich, metallisch.<br />
Es fliesst in einem kleinen Bächlein an mir<br />
vorbei. Tiere schreien. Die Kleider der Menschenmassen<br />
um mich herum sind farbenfroh:<br />
senfgelb, orange, rot und braun. Ich bin in<br />
einem hinduistischen Tempel Nepals, Ziegen<br />
werden geopfert. Und ich wünsche mir, ich hätte<br />
nein zu diesem Ausflug gesagt.<br />
Ein selbstsicherer Mann<br />
Mario Alcalde ist 31-jährig, er arbeitet an Madrids Flughafen Barajas<br />
in der gelben Weste als Kofferträger. Er hat braune Augen,<br />
ziemlich weich gezeichnete Gesichtszüge, die Haare sind von<br />
Gel durchtränkt und schimmern schwarz. Der Zeitung El Mundo<br />
erklärt er, dass er sich sehr mit der LGBTIQ-Community identifiziere.<br />
Seine Kollegen aus der Stierkampfszene würden andere<br />
politische Ansichten haben, er selber wolle sich aber nicht zu<br />
Politik äussern. Da frage ich mich: Was ist ein öffentliches Coming-out,<br />
wenn nicht politisch? Alcalde sagt, er nehme sich als<br />
Künstler wahr und «Artistas» würden die Arena des Politischen<br />
nicht betreten. Ein Stierkämpfer ist ein Künstler? Ist Kunst auch<br />
nicht politisch? Irgendwann während des Interviews ergänzt Mario<br />
«jedem das Seine», da nicke ich für einmal meinen kritischen<br />
Kopf. Er spricht von Verschlossenheit unter LGBTIQs und einem<br />
«Fehlen an Kultur» seinem Metier gegenüber. Er fügt an, dass er<br />
niemandem etwas schuldig sei, da er seinen Lebensunterhalt anderweitig<br />
verdiene. Ob all die getöteten Stiere auch finden, dass<br />
er in keiner Schuld steht? Immerhin nimmt er diesen Tieren in<br />
einem unfairen Kampf das Leben – wieder und wieder.<br />
Ich lege mein iPhone auf den Tisch und schaue den verkratzten<br />
Screen an. Überrascht mich dieses Coming-out? Der Wunsch<br />
nach einer liberalen Öffnung innerhalb dieses erzkonservativen<br />
Miefs? Ja und nein. Spanien ist ein so schönes, aber auch so ambivalentes<br />
Land. Vor zwanzig Jahren hatte ich – Schweizer – in<br />
Barcelona ein Erasmus-Semester gemacht. Seither bin ich von der<br />
iberischen Halbinsel eigentlich nie mehr wirklich weggekommen.<br />
In der Zwischenzeit sind auch Madrid und Valencia Teil meiner<br />
Heimat; sie ist poly, nicht pan.<br />
Valencia, Altstadt: Als ich das erste Mal in<br />
Valencia war, spazierte ich vom Bahnhof weg<br />
und blieb bald darauf stehen, um mich neuerlich<br />
zu orientieren. Ich merkte, dass ich vor<br />
der Stierkampfarena stand. Ich roch die Abgase<br />
der Autos.<br />
Spanien verstehen<br />
Spanien ist weltweit eine Vorreiterin für LGBTIQ-Rechte. 2005<br />
wurde es das dritte Land, das homosexuellen Paaren die Ehe und<br />
Adoption ermöglichte. Was ist hier anders als anderswo? Als Nation<br />
ist España sehr vielseitig und vielschichtig. Es gibt vier Landessprachen,<br />
im Süden wird gebadet, im Norden Ski gefahren, in<br />
Barcelona trifft sich der LGBTIQ-Jetset jeden Sommer zum Circuit,<br />
in Pamplona werden parallel dazu Stierkämpfe inszeniert.<br />
Politisch betrachtet gibt es den historischen Konflikt zwischen<br />
den Republikaner*innen (heute Sozialist*innen) und den Nationalist*innen<br />
(die heutige Rechte), was 1936 in einen blutigen Bürgerkrieg<br />
mündete. Von 1939 bis 1975 lebte das Land unter Franco<br />
in einer faschistischen Diktatur.<br />
Hier wird es kompliziert mit der Ambivalenz: Schlussendlich<br />
litten fast alle – links wie rechts – unter dem Terrorregime, das<br />
eine grauenvolle Begrenzung von persönlichen und intellektuellen<br />
Freiheiten erzwang. Dieses Trauma eint(e) danach viele Menschen<br />
in einer liberalen Haltung, was den privaten Alltag betrifft.<br />
Die politischen Lager hingegen sind dieselben geblieben, seit Generationen<br />
wird unversöhnlich gegeneinander angekämpft. Lange<br />
waren die Diktatur und ihre Schatten noch so beängstigend<br />
präsent, dass der Wunsch nach persönlicher Freiheit in der Gesellschaft<br />
stärker war als ihre anderweitigen Differenzen. Heute<br />
sind die politischen Fronten verhärtet wie lange nicht mehr.<br />
Paris, 11. Arrondissement: Ich rieche heisses<br />
tierisches Fett. Ich spaziere der Rue Faubourg<br />
du Temple entlang, auf der Höhe der Rue Saint-<br />
Maur gibt es eine nordafrikanische Bude, die<br />
gegrillte Poulets verkauft. Die gerupften Hühner<br />
sind in Reih und Glied aufgespiesst, als<br />
wären sie Schuhe auf einem Regal. Sie drehen<br />
sich im letzten Kreis ihres Lebens um die eigene<br />
Achse. Ich halte immer die Luft an, wenn<br />
ich dort vorbei spaziere.<br />
Der sensible Torero<br />
Unsere Redaktion nimmt mit Mario Alcaldes Manager Kontakt<br />
auf. Zu einem Gespräch mit mir ist er nicht bereit, es sei alles gesagt.<br />
Dem TV-Sender Antena 3 gibt Alcalde allerdings ein Interview,<br />
was es mir ermöglicht, ihn etwas genauer zu studieren. Er<br />
wirkt sympathisch, ruhig, natürlich, attraktiv. In einem Nachtclub<br />
Madrids würde er keineswegs (negativ) auffallen, sofern er<br />
nicht in seinem traje de luces, den unglaublich kunstvoll verzierten<br />
Bild: Pepe Riofrío Herranz<br />
102 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 7<br />
Wenn Mario Alcalde<br />
nicht in der Stierkampfarena<br />
steht,<br />
arbeitet er als<br />
Kofferträger am<br />
Madrider Flughafen.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
103
Story — 7<br />
Die blutige<br />
Passion<br />
Der Stierkampf (spanisch: corrida) in seiner<br />
heutigen Form entstand im frühen 18. Jahrhundert.<br />
Die corrida etablierte sich in der<br />
spanischen Gesellschaft und wird bis heute –<br />
trotz der Existenz von Tierschutzgesetzen –<br />
landesweit durchgeführt. Die Stierkampflobby<br />
hat 2013 erreicht, dass die corrida zum nationalen<br />
Kulturgut erklärt wurde, das gesetzlich<br />
geschützt wird. Und das, obwohl die Mehrheit<br />
der spanischen Bevölkerung nicht dahinter<br />
steht – nur zirka 14 Prozent befürworten das<br />
traditionsreiche Blutvergiessen.<br />
Der Kampfstier (toro de lidia oder toro bravo)<br />
wird ausschliesslich für den Stierkampf gezüchtet.<br />
Sein Mindestgewicht beträgt 460 Kilogramm.<br />
Im Alter von fünf bis sechs Jahren,<br />
auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Kraft,<br />
wird ein toro bravo im Stierkampf eingesetzt.<br />
Es wird geschätzt, dass 2017 etwa 3,5 Millionen<br />
Personen einen Stierkampf in Spanien<br />
besuchten. Es gibt im Land aber immer mehr<br />
Orte, die sich selbst als ciudad anti-taurina<br />
(Anti-Stierkampf-Stadt) deklarieren, wo somit<br />
keine Stierkämpfe erwünscht sind. Die Befürworter*innen<br />
sagen, dass Stierkämpfe ein<br />
kulturelles und schätzenswertes Gut Spaniens<br />
darstellen, dass Arbeitsplätze dadurch<br />
gesichert und der Tourismus angekurbelt<br />
würden. Die Gegner*innen argumentieren<br />
mit dem Leid der Tiere und wollen sich auch<br />
international vom Bild eines «barbarischen»<br />
Spaniens distanzieren.<br />
Kleidern des Toreros, erscheinen würde. Zugleich spürt man, dass<br />
sein Selbstverständnis, sein scheinbar vom lieben Gott gegebenes<br />
Recht, Tiere makaber zu töten, vollkommen diskussionslos<br />
in ihm ruht. Er sagt, dass er der Community den Stierkampf näherbringen<br />
wolle, dass er sich vorstellen könne, eine peña taurina<br />
(einen «Stierkampf-Fanklub») im Gay-Viertel Chueca zu gründen.<br />
Schwule Toreros habe es immer schon gegeben, es sei einfach<br />
nicht darüber gesprochen worden. Vielleicht werde er eines Tages<br />
auch die Regenbogenflagge neben den nationalen Flaggen in die<br />
Arena tragen. Auf die Frage, was er für eine Reaktion des Kulturministers<br />
auf sein Coming-out erwarte, antwortet der in Barajas<br />
de Melo, einem 1000-Seelen-Dorf in Castilla-La Mancha, geborene<br />
Matador: «Der Kulturminister sollte Sensibilität zeigen mit<br />
allen, die in diesem Bereich [Stierkampf] aktiv sind, und alle, egal<br />
wen, respektieren.» Offizielle Statements gibt es danach von keiner<br />
Seite, aber Sensibilität scheint bei Mario Alcalde eine Qualität<br />
zu sein, die sehr selektiv verlangt und gezeigt wird.<br />
Stierkampf olé, oh je<br />
Zur Zahl der bei Stierkämpfen in Spanien getöteten Tiere liegen<br />
keine offiziellen Angaben vor. Der spanische Tierschutzverein<br />
PACMA geht von etwa 11 000 Tieren jährlich aus, der gemeinnützige<br />
Verein AVATMA (Tierärzte gegen Stierkämpfe) von 4000<br />
bis 6000. In den vergangenen fünfzehn Jahren wird von einem<br />
Rückgang an corridas (siehe Box links) im Land um die vierzig<br />
Prozent gesprochen. Für sehr traditionelle Schichten, die das<br />
Spektakel als Herzstück der hiesigen Kultur betrachten, kann das<br />
beängstigend wirken. Während der gnadenlosen Rivalität zwischen<br />
den zwei Fronten, die zum Bürgerkrieg führte, gab es ausser<br />
dem Stierkampf keinen Gegenstand gemeinsamer Begeisterung.<br />
Ich selber habe in zwanzig Jahren vor Ort nicht ein einziges Mal<br />
über das Thema gesprochen. Erst durch Alcaldes Statement habe<br />
ich Bekannte darauf angesprochen. Die Reaktionen waren immer<br />
ähnlich: Kopfschütteln, manchmal fast peinlich berührt. Mit<br />
Stierkampf haben sie nichts am Hut. Wenn sie jemanden kennen,<br />
dann ist das ein Cousin zweiten Grades oder der Grossvater der<br />
Nachbarin. Direkt folgt die Einordnung, dass das Rechte, fachas<br />
(Faschist*innen) seien, die der Tradition weiterhin frönen würden.<br />
New York, Manhatten: Ich stehe vor<br />
einer koscheren Metzgerei und frage mich, was<br />
«koscher» genau bedeutet. Die Tür geht auf<br />
und ich komme zum Schluss, dass totes Fleisch<br />
immer und überall übel riecht.<br />
Fleisch ist Fleisch, Tier ist Tier?<br />
Mir kommt eine Studie in den Sinn, die ich vor Wochen ziemlich<br />
entsetzt gelesen habe. Plötzlich fallen mir wie Schuppen von den<br />
Augen und ich denke: Wieso ist Stierkampf kollektiv derart verpönt<br />
in der Welt, in der ich lebe, der allergrösste Teil dieses Umfelds<br />
isst aber seelenruhig Fleisch? Kann man Grausamkeit messen?<br />
Leidet ein Mastschwein weniger als ein Stier, der sein Leben<br />
in der Arena lässt? Ist versteckte Grausamkeit weniger schlimm<br />
als öffentliche? Dann mache ich einen Vergleich, den man sehr<br />
wohl ziehen kann: Im Jahr 2020 wurden in Spanien 100,56 Kilogramm<br />
Fleisch pro Kopf verzehrt. Vergleicht man die geschätzten<br />
8000 Stiere, die je zirka 500 Kilogramm wiegen und pro Jahr<br />
104 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 7<br />
am Dolchstoss sterben, mit dem gesamten Fleischkonsum des<br />
Landes, kommt der Zeigefinger arg in Schieflage: 4000 Tonnen<br />
«Stier» stehen in Spanien mit seinen 47,42 Millionen Menschen<br />
jährlichen 4,5 Millionen Tonnen Fleisch, das im menschlichen<br />
Magen landet, gegenüber. Amen.<br />
Zürich, Café Casablanca: Vor vielen Jahren<br />
arbeitete ich in einem Café. Vor der Vitrine<br />
erklärte ich einem Gast, ein alter Mann,<br />
dass es keine Fleisch-Sandwiches mehr gebe.<br />
Er sagte: «Für mich bedeutet kein Fleisch so<br />
viel wie Krieg.» In Kriegszeiten habe es kaum<br />
Fleisch gegeben. Ich war in meinem überheblichen<br />
Veggie-Dasein kurz etwas relativiert.<br />
Fleisch und Umwelt<br />
Der Zusammenhang zwischen Fleischproduktion und Umwelt ist<br />
bekannt. Die Unmengen an Wasser und Land, die es für die Produktion<br />
von Tierfleisch braucht, sind besorgniserregend. Das Füttern<br />
der Tiere über Jahre hinweg verbraucht massig Ressourcen,<br />
um in Form eines Koteletts oder eines coolen Döners auf einem<br />
Teller respektive in Alufolie to go zu enden. Wir könnten dieses<br />
Futter auch einfach selber essen und kämen so zu den nötigen<br />
Kalorien, um das etwas vereinfacht zusammenzufassen. Allein in<br />
Zentralamerika wurden innerhalb der letzten vierzig Jahre vierzig<br />
Prozent des gesamten Regenwaldes geopfert, hauptsächlich<br />
um Weideland oder Futtermittel zu generieren. In Anbetracht all<br />
der Informationen im Fleischatlas 2021 (boell-hessen.de/publikation/fleischatlas-2021)<br />
fällt es mir schwer, hier einfach eindimensionales<br />
Stierkampfbashen vom Zaun zu brechen.<br />
Der Hafen von Larache, Marokko: Zig Sardinen<br />
nebeneinander aufgereiht auf einem Grill,<br />
der schöne Matrose mit den so unglaublich<br />
schmutzigen Händen verkauft fünf Stück für<br />
fünf Dirham. Ich gehe wegen ihm da runter,<br />
nicht wegen den Fischen. Das Meer in seinem<br />
Rücken, das Salz in der Luft. Der schönste<br />
Mann meines Lebens, denke ich. (Dachte ich<br />
zumindest damals.)<br />
Stierkampf<br />
und Kunst<br />
Stierkampf faszinierte in früheren Epochen<br />
auch künstlerische Zirkel. Berühmtheiten<br />
aus Literatur, Musik und bildnerischer<br />
Kunst nahmen die corrida als Stoff auf<br />
und liessen sich vom brutalen Spektakel<br />
inspirieren. Goya und Picasso sind die<br />
prominentesten Maler, die sich dem Thema<br />
annahmen. Der homosexuelle Dichter<br />
Federico García Lorca schrieb ein bewegendes<br />
Klagegedicht nach dem Tod eines<br />
berühmten Toreros. Mit der Veröffentlichung<br />
von Ernest Hemingways Buch «Tod<br />
am Nachmittag» stiegen dann ab 1932<br />
die existenzielle Deutung des Stierkampfs<br />
und seine Ästhetik zu auch international<br />
verpflichtenden Themen unter den Intellektuellen<br />
auf. In jüngster Zeit analysierte<br />
die Schottin A.L. Kennedy in «Stierkampf»<br />
(2001) ihre eigene Schaffenskrise anhand<br />
des blutrünstigen Rituals.<br />
Um diese Bewegung zu verstehen, muss<br />
der historische Kontext einbezogen<br />
werden. Die Konzentration auf den Tod<br />
als Teil der menschlichen Existenz war<br />
entstanden. Durch die Materialschlachten<br />
des Ersten Weltkriegs war dieser Teil<br />
des menschlichen Daseins auch Teil der<br />
breiten Kultur geworden. Boxen, Bergsteigen<br />
oder das Durchschwimmen des<br />
Ärmelkanals mit den jeweiligen Risiken<br />
zogen nach 1918 die Aufmerksamkeit von<br />
Millionen auf sich, als Fussball noch kein<br />
Massensport war.<br />
Wieso ist Stierkampf<br />
verpönt in der Welt, der<br />
allergrösste Teil dieser isst<br />
aber seelenruhig Fleisch?<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
105
Story — 7<br />
Mit diversen Mitteln<br />
wird der Stier in<br />
Rage gebracht und<br />
in seiner Kraft eingeschränkt<br />
(siehe Box<br />
auf Seite 108).<br />
106 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 7<br />
Bild: Pepe Riofrío Herranz<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
107
Story — 7<br />
Die anderen, ich und wir<br />
Ich kaufe nach wie vor bei H&M und Konsorten Kleider, das<br />
«Made in Bangladesh» schneide ich raus, um es nicht ansehen zu<br />
müssen, wenn ich die Shirts in die Hand nehme. Ich produziere<br />
viel Abfall. Ich esse im Lokal tortilla de patatas, obwohl die Eier,<br />
die da drinstecken, ganz sicher von misshandelten Hühnern gelegt<br />
wurden. Ich verdränge das alles. Mein Hauptproblem mit<br />
dem Klima ist aber meine Mobilität. Ich nehme zwar ab und zu<br />
die Streikgeilheit der französischen und die generelle Ungeilheit<br />
der deutschen Bahn in Kauf und versuche, mich mit ihnen fortzubewegen.<br />
Wie ich ohne Flugzeug von Spanien in die Schweiz<br />
gelange, habe ich noch nicht gelöst.<br />
Als ich mit zwanzig zum ersten Mal alleine in die Welt zog,<br />
wurde mir plötzlich klar, dass ich noch ganz anders sein konnte<br />
als der, der in Graubünden auf dem Land aufgewachsen war.<br />
Schnell hatte ich Blut geleckt; ich wollte immer mehr davon. Das<br />
Eintauchen in eine unbekannte Welt ist atemberaubend, weil man<br />
die Erfahrung macht, dass hinter der Angst vor dem Ungewissen<br />
die Freiheit wartet. Auf wessen Kosten gehen meine Erinnerungen?<br />
Muss ich sie löschen? Mich dafür entschuldigen? Es ist nicht<br />
so einfach mit der Moral (und) der Geschichte.<br />
Gran vía, Madrid, drei Uhr morgens: Grelles<br />
grünliches Licht, dicke Luft, die nach Frittiertem,<br />
Schweiss, Ketchup, Salz und warmem<br />
Karton riecht, der von Fett durchtränkt ist.<br />
Betrunken esse ich im McDonald’s Pommes.<br />
Ach<br />
Der Impuls, den Finger zu erheben und auf andere zu zeigen, ist<br />
menschlich. Vielleicht kommt man weiter, wenn man nicht alles<br />
und alle in ein Entweder-oder-Paradigma zwängt. Ich bin der<br />
erste, der gerne verallgemeinert und nur Extreme bespricht. Aber<br />
immerhin weiss ich in der Zwischenzeit, dass dieses Gebaren in<br />
Stillstand und verhärtete Fronten mündet. Vielleicht gewinnen<br />
wir schon viel, wenn wir ambivalent und widersprüchlich sein<br />
dürfen und nicht einfach eindimensional vorgeben gut (oder<br />
schlecht) zu sein. Der Torero ist pansexuell, die Fleischgaumen<br />
essen vielleicht irgendwann nur noch dreissig statt hundert<br />
Kilo Blutiges im Jahr, ich gebe der Deutschen Bahn noch viele<br />
Chancen.<br />
Auch Mario Alcaldes Coming-out kann ich nun so lesen. Eigentlich<br />
schön, dass selbst in einem derart konservativen Sektor<br />
eine diesbezügliche Öffnung möglich zu sein scheint – oder zumindest<br />
gewagt wird. Nur weil ich Stierkampf verurteile, muss<br />
ich nicht alles verneinen, was dort geschieht. Klar ist, dass die<br />
Differenzen in der Gesellschaft nicht verschwinden, weil man<br />
sich aus dem Weg geht oder gegenseitig zu verbieten versucht.<br />
RANDNOTIZ<br />
2020 wurden in China 136 kg Fleisch pro Kopf verzehrt, die USA<br />
liegen auf Rang zwei mit 127 kg. In Spanien wurden durchschnittlich<br />
101, in Deutschland 79, in Österreich 78 und in der Schweiz 66<br />
kg, was Rang 61 bedeutet, konsumiert.<br />
Quelle: «Meat supply per person», Our World in Data<br />
Der Autor unterwegs durch<br />
Spanien und die Welt.<br />
Systematisches<br />
Leid<br />
Stierkampf-Anhänger*innen behaupten<br />
immer wieder, der Kampfstier habe ein<br />
wundervolles Leben und leide nur 20<br />
Minuten. Betrachtet man allerdings, welche<br />
Torturen diese Tiere am Ende ihres<br />
Lebens erfahren, mutet diese Haltung<br />
direkt zynisch an. Viele Kampfstiere werden<br />
mit Phenylbutazon gedopt. Stressigen<br />
Tiertransporten folgen tagelanges<br />
Warten in unbekannter Umgebung. Im<br />
schlechtesten Fall werden dem Stier vor<br />
dem Kampf wochenlang schwere Gewichte<br />
um den Hals gehängt. Ihm wird<br />
die Nase tamponiert, um ihm das Atmen<br />
zu erschweren und in die Hoden werden<br />
Nadeln gesteckt, um ihn durch Schmerzen<br />
«scharfzumachen». Um seine Sicht<br />
zu verschlechtern, wird ihm Vaseline in<br />
die Augen geschmiert. Die Füsse werden<br />
ihm mit einem Farb-Verdünnungsmittel<br />
eingerieben, damit er sich durch das<br />
Brennen nicht richtig konzentrieren kann.<br />
Er wird vor der corrida stundenlang<br />
in Dunkelheit gehalten, damit er beim<br />
Einlauf in die Arena vom grellen Licht<br />
geblendet ist. Um durch einen veränderten<br />
Winkel ein zielgerechtes Zustossen<br />
der Hörner zu verhindern und somit die<br />
Gefahr für den Torero zu mindern, werden<br />
dem Stier die Hörner um mehrere Zentimeter<br />
abgeschliffen.<br />
108 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Die queere Herberge auf der Alm<br />
das erste<br />
queere Hotel<br />
österreichs<br />
www.absteige.eu
Story — 8<br />
8<br />
13 queere<br />
Tiere<br />
treiben<br />
es wild<br />
110 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 8<br />
Text – Denise Liebchen<br />
Illustration – Katarzyna Zietek<br />
Vom After-liebenden Flussdelfin<br />
bis zur penisfressenden Zwitterschnecke:<br />
Im queeren Tierreich<br />
ist ganz schön was los.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
111
Story — 8<br />
ie mikroskopisch kleinen Rädertierchen<br />
haben uns seit hunderten Millionen Jahren<br />
etwas voraus. Auch Schmetterlinge<br />
und Fruchtfliegen schweben quasi über<br />
uns. Das Tierreich wimmelt nur so von<br />
queeren Bewohner*innen, die auf Gender-<br />
Grenzen pfeifen. Je tiefer wir in ihre Welt<br />
eindringen, umso mehr entlarven sie das<br />
Wörtchen «normal» als eine Menschenerfindung.<br />
(Wobei selbst das Geschlecht<br />
des Menschen nicht mal so eindeutig<br />
ist: Weiblich und männlich stellen keine<br />
festen Kategorien dar, sondern vielmehr<br />
zwei Pole, die ein Spektrum bilden.)<br />
Der Biologe Bruce Bagemihl geht davon<br />
aus, dass homosexuelles Verhalten bei<br />
rund zehn Prozent der Tiere vorkommt.<br />
Wie spezifisch die Ausprägung bei allen<br />
Gattungen ist, bleibt schwierig zu beantworten,<br />
da sich einige Tierarten in der<br />
freien Wildbahn besser beobachten lassen<br />
als andere.<br />
Regelmässig berichten Tierparks weltweit<br />
über Beispiele wie jüngst in Berlin: Ende<br />
Januar brütete das männliche Meerespelikan-Pärchen,<br />
«Charlie Brown» und<br />
«Halle», ein kleines Fleckschnabelpelikan-<br />
Küken aus. Seither wächst es in der Obhut<br />
seiner beiden fürsorglichen Väter auf, die<br />
es adoptiert hatten, nachdem es aus dem<br />
Nest seiner Eltern gefallen war.<br />
Was Tiere uns voraus haben, ist auch der<br />
Umstand, dass sie aufgrund ihrer sexuellen<br />
Präferenzen niemals nachteilig behandelt<br />
werden, sagt Veterinärmedizinerin<br />
Pascale Wapf. Wir Menschen können also<br />
einiges von ihnen lernen.<br />
Aus ihrem illustren Reich haben wir für<br />
dich 13 wunderbar queere Tierchen ausgewählt,<br />
von denen es noch viele, viele mehr<br />
gibt, über die wir mehr oder weniger oder<br />
noch nichts wissen.<br />
Der Amazonas-<br />
Flussdelfin<br />
Homosexuelles Verhalten<br />
ist bei mehreren Delfinarten<br />
bekannt und macht<br />
bis zur Hälfte ihrer sexuellen<br />
Aktivität aus. Das Liebesspiel<br />
männlicher Amazonas-Flussdelfine<br />
kann<br />
Stunden dauern. Dabei<br />
streicheln sie sich, berühren<br />
sich zärtlich und penetrieren<br />
sich in den After,<br />
in die Geschlechtsöffnung<br />
und sogar ins Spritzloch<br />
am Kopf.<br />
112 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 8<br />
Wale:<br />
Schwuler<br />
Sexfilm<br />
Der Clownfisch<br />
Hast du gewusst, dass Nemo, der aus dem<br />
Film bekannte Clownfisch, trans ist? Er lebt als<br />
Paar oder Gruppe in Symbiose mit Seeanemonen.<br />
In einer Gruppe lebt das dominante<br />
Weibchen oft polyamorös mit einem Harem<br />
von Männchen. Doch wenn es stirbt, verwandelt<br />
sich das grösste Männchen und wird zum<br />
neuen Weibchen.<br />
Ende Februar<br />
veröffentlichte<br />
die Pacific Whale<br />
Foundation eine<br />
Sensation: Erstmals<br />
wurden zwei<br />
Buckelwale bei<br />
der Paarung gefilmt.<br />
Das Bemerkenswerte<br />
daran:<br />
Es waren zwei<br />
Männchen.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
113
Story — 8<br />
Der Albatross<br />
Albatrosse sind für ihre<br />
Treue und lebenslange<br />
Bindung bekannt. Doch<br />
so hetero wie viele meinen,<br />
läuft das bei den<br />
Vögeln nicht ab: Sie paaren<br />
sich mitunter gleichgeschlechtlich.<br />
Viele<br />
der auf Hawaii lebenden<br />
Laysan-Albatrosse etwa<br />
leben als «lesbische» Elternpaare,<br />
nachdem sich<br />
eines der Weibchen von<br />
einem Männchen begatten<br />
liess.<br />
Das Schaf<br />
Schafe sind soziale Tiere und unter solchen ist homosexuelles Verhalten<br />
gängig: Bei den Hausschafen paaren sich 6 Prozent der männlichen<br />
Hausschafe ausschliesslich mit anderen Schafböcken. Seltener<br />
beobachtet, aber bekannt, sind auch intergeschlechtliche Schafe,<br />
die weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, oder<br />
auch solche, bei denen das biologische Geschlecht nicht mit der geschlechtlichen<br />
Identität übereinstimmt. Ein Schaf kann sich in seinem<br />
Verhalten eher wie ein Tier des anderen Geschlechts verhalten.<br />
114 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 8<br />
Der Monarchfalter<br />
Bei einigen Schmetterlingsarten, wie dem Monarchfalter,<br />
können Intergeschlechtlichkeit vorkommen. Ein Individuum<br />
weist sowohl männliche als auch weibliche Merkmale<br />
auf. Dies äussert sich in genitalen Variationen – ein<br />
Schmetterling kann sowohl Hoden als auch Eierstöcke<br />
haben – bis hin zu Farben, Formen und Muster der Flügel.<br />
Die Tüpfelhyäne<br />
Tüpfelhyänen-Weibchen<br />
sind grösser als die Männchen<br />
und führen die Rudel.<br />
Da sie maskulinisierende<br />
Sexualhormone produzieren,<br />
entwickeln sie einen<br />
«Pseudopenis», bei dem die<br />
stark vergrösserte Klitoris<br />
aussieht wie ein männliches<br />
Genital. Ein Nutzen könnte<br />
sein, dass Weibchen die<br />
Paarung kontrollieren durch<br />
den erschwerten Zugang für<br />
den männlichen Penis.<br />
Die Fruchtfliege<br />
Forscher haben Verhaltensweisen beobachtet,<br />
die darauf hindeuten, dass<br />
Fruchtfliegen bisexuelle oder pansexuelle<br />
Neigungen haben könnten, indem<br />
sie sowohl männliche als auch weibliche<br />
Partner wählen oder sich nicht von<br />
den Geschlechtern ihrer Partner beeinflussen<br />
lassen.<br />
Das Rädertierchen<br />
Seit Millionen von<br />
Jahren leben die mikroskopisch<br />
kleinen<br />
Rädertierchen im<br />
Zölibat: Eine Artengruppe<br />
vermehrt sich<br />
rein parthenogenetisch,<br />
also ohne sich<br />
sexuell zu vereinigen.<br />
Dadurch können die<br />
Tiere, die in den Böden<br />
unserer Gewässer<br />
leben, ohne der<br />
Notwendigkeit von<br />
Männchen ihren Fortbestand<br />
sichern.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
115
Story — 8<br />
Der Königspinguin<br />
Männliche und weibliche<br />
Pinguine gehen<br />
sowohl lebenslang<br />
als auch kurzfristig<br />
Beziehungen mit<br />
Mitgliedern ihres eigenen<br />
Geschlechts<br />
ein. Regelmässig<br />
berichten Zoos über<br />
gleichgeschlechtliche<br />
Eltern, die sich<br />
gemeinsam um ein<br />
Küken kümmern:<br />
Buddy und Pedro<br />
aus Toronto, Skipper<br />
und Ping aus Berlin,<br />
Electra und Viola aus<br />
Valencia.<br />
Der Blob<br />
Schleimpilze sind keine Pilze, sondern mikroskopische Lebewesen.<br />
Sie lieben es feucht, leben in unseren Wäldern und<br />
Komposthaufen, und können zu einem riesigen Konglomerat<br />
verschmelzen, um gemeinsam Nahrung zu suchen. Ein einziger<br />
Blob weist schon acht Geschlechter auf – die gesamte Art<br />
sogar rund 700 Geschlechter (durch die vielfältigen Kombinationen).<br />
Übrigens: Den Weltrekord bei der Anzahl Geschlechter<br />
hält ein echter Pilz. Bei dem einheimischen Spaltblättling, der<br />
etwa auf Buchen lebt, sind 23 328 Geschlechter bekannt!<br />
<strong>116</strong> <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 8<br />
Der Tigerschnegel<br />
Tigerschnegel verdanken ihren Namen ihrer markant gestreiften Körperfärbung.<br />
Es sind Schnecken, die mit mächtigen Penissen ausgestattet sind, die<br />
bis zu einem Viertel ihrer Körperlänge erreichen können. Während des Paarungsakts<br />
verflechten sich ihre Penisse miteinander. Andere Arten von Nacktschnecken<br />
gehen noch weiter: Sie haben gigantische Geschlechtsteile, die<br />
sie während der Paarung gegenseitig verspeisen. Warum sie dies tun, ist bis<br />
heute ein Rätsel.<br />
Der Reismehlkäfer<br />
Reismehlkäfer leben gern da, wo<br />
wir Menschen Getreide, Mehl,<br />
Reis, Nüsse und Trockenfrüchte<br />
lagern. Die Männchen deponieren<br />
ihr Sperma im Genitaltrakt<br />
des anderen Männchens. Dieser<br />
überträgt das fremde Sperma,<br />
wenn er sich danach mit einem<br />
Weibchen paart.<br />
Sonderausstellung<br />
«Queer — Vielfalt ist<br />
unsere Natur»<br />
Das Naturhistorische Museum Bern erhielt für seine<br />
Sonderausstellung über das «Queerreich» einen Diversity-Award<br />
und eine Auszeichnung der Akademie der<br />
Naturwissenschaften Schweiz. Von 2021 bis 2023 bot<br />
sie eine Entdeckungsreise in die Vielfalt der Geschlechter<br />
und sexuellen Ausrichtung bei Tieren und Menschen.<br />
Hier gelangst du zum virtuellen Rundgang:<br />
Die Strumpfbandnatter<br />
Bei den nordamerikanischen<br />
Strumpfbandnattern<br />
sind die ausgewachsenen<br />
Weibchen<br />
meist deutlich grösser<br />
als die Männchen. Unter<br />
letzteren gibt es «Transvestiten»,<br />
die in ihrem<br />
Körperbau und Verhalten<br />
den Weibchen ähneln<br />
und sogar Sexuallockstoffe<br />
imitieren. Indem<br />
sie so andere Männchen<br />
verführen, können<br />
sie den eigenen Körper<br />
warmhalten.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
117
ZITIERT<br />
Gehört, gelesen, gesehen:<br />
Story — 7<br />
«Wir hatten wochenlang<br />
daran zu kauen.»<br />
Avi Jakobs im Interview<br />
auf MANNSCHAFT.com<br />
über das Aus von «Queer<br />
Eye Germany»: «Wir hoffen<br />
die ganze Zeit, dass<br />
es vielleicht doch mal<br />
noch weitergeht.»<br />
«Die Plattenfirma<br />
sagte, ich solle mich<br />
nicht in Schwulenbars<br />
blicken lassen.»<br />
Rob Halford, Sänger von Judas Priest,<br />
gegenüber MANNSCHAFT.com über sein<br />
Coming-out vor 25 Jahren.<br />
«Ich wollte<br />
einer Vielfalt<br />
von Stimmen<br />
helfen.»<br />
Comedian Hannah Gadsby<br />
über ihre neue Netflix-Show<br />
«Gender Agenda» mit sieben<br />
genderqueeren Komiker*innen.<br />
«In der lesbischen<br />
Community sind deine<br />
besten Freundinnen<br />
deine Exfreundinnen.»<br />
Jodie Foster im Interview über Freundschaften zwischen<br />
lesbischen Frauen. Im Film «Nyad» verkörpert<br />
die Schauspielerin Bonnie Stoll, die beste Freundin der<br />
Schwimmerin Diana Nyad (gespielt von Annette Benning).<br />
Die Rolle bescherte Foster eine Oscar-Nomination<br />
als beste Nebendarstellerin.<br />
Der Film erzählt die wahre Geschichte von Nyads Versuchen,<br />
die Floridastrasse zwischen Kuba und Florida<br />
zu durchqueren. Foster: «Es gibt etwas Schönes an<br />
diesen beiden Frauen, die keine Kinder hatten und keine<br />
Partnerinnen fanden, jedoch eine derartige Hingabe<br />
zueinander pflegten. Es ist wirklich wunderbar, diese<br />
Bindung auf der Leinwand zu sehen.»<br />
Bilder (im Uhrzeigersinn von oben links): Dario De Marco, Thomas Schenk/Netflix,<br />
Netflix, Priscilla Grant/Everett Collection, IMAGO<br />
118 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
KOLUMNE<br />
Knoten im<br />
Kopf<br />
Ich halte mit meinem Leben und<br />
wie ich lebe nicht (mehr) hinter dem<br />
Berg. Nicht bei meinen Freund*innen,<br />
nicht bei meiner Familie und mittlerweile<br />
auch nicht in meinem Beruf. Mein sehr<br />
queeres und abseits jeglicher Heteronormativität<br />
geführtes Leben ist ein sinnund<br />
identitätsstiftender Teil meiner Persönlichkeit.<br />
Und damit möchte ich mich<br />
vollkommen in meine sozialen Beziehungen<br />
einbringen. Nicht immer konnte ich<br />
frei darüber reden, war ausweichend oder<br />
habe es in Gänze vermieden. Aber unser<br />
Leben wird durch die Begegnung und<br />
den Austausch bestimmt. In unendlich<br />
vielen sozialen Situationen offenbaren<br />
sich Menschen einander und geben Einblicke<br />
in ihre private Welt. Im Grunde<br />
nichts Ungewöhnliches, ausser du lebst<br />
in den Augen der anderen anders oder<br />
nicht alltäglich.<br />
Das eigene Leben im Büroalltag<br />
zu verstecken und nicht darüber zu sprechen,<br />
ist keine gute Option. In einem Gespräch<br />
unter Kolleg*innen werden Fragen<br />
gestellt. Oft hatte ich das Gefühl, mich<br />
mit einer Antwort zurückhalten zu müssen,<br />
da ich sonst zu viel von mir offenbart<br />
hätte. Zum Beispiel, dass ich polygam<br />
lebe. Ich habe nicht nur die romantische<br />
Beziehung zu meiner wunderbaren Ehefrau,<br />
sondern auch romantische oder sexuelle<br />
Beziehungen zu anderen Menschen<br />
– all genders welcome. Ein Thema,<br />
das in meiner queeren Community vielseitig<br />
und gefühlt alltäglich gelebt wird.<br />
Niedlich war ein Erlebnis mit meinem<br />
Chef. Wir sprachen über Wochenendpläne<br />
und ich erwähnte, dass ich<br />
meine Partnerin treffen würde. Er fragte<br />
nur verdutzt, ob denn meine Frau schon<br />
wieder aus dem Ausland zurück sei und<br />
ich entgegnete nur «Nein, sie ist weiterhin<br />
dort.» Nach ein paar Augenblicken<br />
sickerte diese Info durch, wurde verstanden<br />
und abgespeichert. Es war eine Information,<br />
ein wichtiger Teil meines Lebens<br />
und seitdem weiss er, dass ich polygam<br />
lebe, ohne diesen Begriff jemals im Gespräch<br />
mit ihm benutzt zu haben.<br />
Schwieriger war das Gespräch mit<br />
Kollegen zu dritt bei einem gemeinsamen<br />
Abendessen. Beiläufig kamen die Fragen<br />
auf nach der Frau, dem Leben, Kind, Haus<br />
und Hund. Als ich unverblümt von meiner<br />
Partnerin erzählte, offenbarte sich mir gegenüber<br />
eine Abwehrfront. Meine beiden<br />
cis-männlichen Kollegen erklärten mir<br />
gemeinsam, dass das ja gar nicht gehen<br />
würde, spätestens dann nicht mehr, wenn<br />
Kinder im Spiel seien. Ich war verdutzt.<br />
Ich hatte nicht geahnt, dass ich damit ihren<br />
Moralvorstellungen gegen das<br />
Schienbein treten würde. Interessierte<br />
Fragen gab es keine, nur Zurückweisung<br />
und Unverständnis. Einen Einblick zu<br />
erhalten in meine Erfahrungen, daran<br />
waren sie nicht interessiert. Ich fühlte<br />
mich etwas abgewertet. Abwertung oder<br />
Geringschätzung in der Liebe zu meiner<br />
Frau oder auch in den Gefühlen zu meinen<br />
Partner*innen. Die Bastion der heteronormativen<br />
Welt wurde vor meinen<br />
Augen hochgezogen und bitter verteidigt.<br />
Egal. Ich hielt Stand. Ich verteidigte<br />
mich nicht, denn es gab nichts zu verteidigen.<br />
Ich gewähre weiterhin Einblicke<br />
in mein Leben. Verständnis darf auch<br />
langsam reifen.<br />
Über mein Leben zu sprechen, von<br />
den damit verbundenen wunderbaren<br />
Momenten wie auch unschönen oder<br />
traurigen zu erzählen, ist für mich ein weiterer<br />
Schritt, um Sichtbarkeit für Vielfalt<br />
zu schaffen. Kein «besseres» oder «schöneres»<br />
Leben zu führen, sondern einfach<br />
nur Einblicke in eine für viele doch andere<br />
Lebensweise zu geben. Horizonterweiterung<br />
und zugleich Begegnung mit<br />
etwas Neuem – einfach so. Und auch für<br />
mich die schöne Erkenntnis: teile und<br />
bereichere.<br />
DIE TRANS PERSPEKTIVE<br />
Anastasia war die erste<br />
trans Kommandeurin der<br />
deutschen Bundeswehr und<br />
Protagonistin des Films<br />
«Ich bin Anastasia». Sie<br />
wohnt in Berlin.<br />
anastasia@mannschaft.com<br />
Illustration: Sascha Düvel<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
119
mannschaft.com<br />
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<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
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News hier:<br />
120 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
KEIN MAULKORB FÜR<br />
LEHRPERSONEN IN UTAH<br />
Salt Like City – Der Bundesstaat Utah<br />
stellt sich gegen die zunehmend LGBTIQfeindliche<br />
Gesetzgebung in den USA.<br />
Ein Gesetzesvorschlag, der verhindert<br />
hätte, dass Lehrpersonen im Unterricht<br />
bestimmte politische Überzeugungen<br />
fördern oder herabwürdigen, wurde Ende<br />
Februar abgelehnt. Das von der republikanischen<br />
Partei geführte Repräsentantenhaus<br />
lehnte den Entwurf mit 39 zu 32<br />
Stimmen ab. Sowohl Demokrat*innen als<br />
auch Republikaner*innen kritisierten die<br />
vage Formulierung des Gesetzentwurfs<br />
und warnten, dass dadurch wichtige<br />
Lehren im kritischen Denken zunichte gemacht<br />
werden könnten.<br />
«Diskussionen im Klassenzimmer übermässig<br />
zu regulieren» sei nicht zielführend,<br />
erklärte Bürgerrechtlerin Ellie<br />
Menlove. «Ebenso verstösst der Gesetzentwurf<br />
gegen die Rechte der Lehrer*innen<br />
gemäss dem Ersten Verfassungszusatz,<br />
indem er Symbole wie Prideflaggen<br />
im Klassenzimmer verbietet.»<br />
GHANA VERSCHÄRFT<br />
HOMOFEINDLICHE GESETZE<br />
Accra – Ende Februar beschloss das ghanaische<br />
Parlament ein umstrittenes Gesetz<br />
mit schweren Strafen gegen Queers und<br />
deren Verbündeten. Wer sich als LGBTIQ<br />
identifiziert oder queere Aktivitäten unterstützt,<br />
riskiert mehrere Jahre Gefängnis.<br />
Präsident Nana Akufo-Addo muss das<br />
sogenannte «Gesetz über menschliche<br />
sexuelle Rechte und ghanaische Familienwerte»<br />
noch unterzeichnen, gab jedoch in<br />
einem Interview bekannt, dass er dies tun<br />
würde, wenn die Mehrheit seines Volkes<br />
dies wünsche.<br />
Bislang konnten sexuelle Handlungen<br />
zwischen Menschen des gleichen Geschlechts<br />
mit maximal drei Jahren Haft<br />
bestraft werden. Unter dem neuen Gesetz<br />
kämen Strafen von bis zu fünf Jahren<br />
für diejenigen hinzu, die der Förderung,<br />
Finanzierung oder Unterstützung von<br />
LGBTIQ-Aktivitäten verurteilt würden.<br />
Ehe für alle könnte<br />
am 1. Januar 2025<br />
Realität werden in<br />
Liechtenstein.<br />
LIECHTENSTEIN BERÄT<br />
EHE FÜR ALLE<br />
Vaduz – Am 8. März behandelte der Liechtensteiner<br />
Landtag erstmals die Gesetzesvorlage<br />
zur Ehe für alle. Dies sei «ein grosser<br />
Schritt» für Liechtenstein, das nun als<br />
letztes deutschsprachiges Land die Ehe<br />
für alle einführen könnte, sagte der Landtagsabgeordnete<br />
Daniel Seger, der einst<br />
Vorsitzender des Vereins «FLay – Schwule<br />
und Lesben Liechtenstein und Rheintal»<br />
war. Die zweite Lesung könnte noch vor<br />
der Sommerpause folgen – gemäss Vorlage<br />
soll das Gesetz am 1. Januar 2025<br />
in Kraft treten. Ob es danach zu einem<br />
Referendum kommt, hänge davon ab, ob<br />
der Landtag die Vorlage von sich aus dem<br />
Volk vorlegt oder ob 1000 Personen ein<br />
Referendum ergreifen.<br />
EHE FÜR ALLE SCHEITERT<br />
IN TSCHECHIEN<br />
Prag – Ende Februar konnte ein Vorstoss<br />
zur Ehe für alle im tschechischen Abgeordnetenhaus<br />
keine Mehrheit finden.<br />
Stattdessen entschieden die Abgeordneten,<br />
eingetragene Lebenspartnerschaften<br />
stärker der Ehe anzugleichen. Dafür gab es<br />
123 Ja-Stimmen bei 36 Nein-Stimmen und<br />
17 Enthaltungen. Der Gesetzesentwurf<br />
geht nun weiter an den Senat, das Oberhaus<br />
des Parlaments. Die Initiative «Wir<br />
sind fair», die sich seit Jahren für die Ehe<br />
für alle einsetzt, sprach von einem «traurigen<br />
Tag für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung».<br />
Auch rund 70 Firmen hatten<br />
die Eheöffnung gefordert: Die Ungleichbehandlung<br />
von Homosexuellen koste die<br />
Wirtschaft jährlich viel Geld.<br />
POLIZEI STELLT AIRLINE-<br />
MANAGER EINE GRINDR-FALLE<br />
Doha – Anfang März geriet die Inhaftierung<br />
von Manuel Guerrero Aviña an die<br />
Öffentlichkeit. Die katarische Polizei hatte<br />
den 43-Jährigen, der als Manager bei<br />
Qatar Airways arbeitet, Anfang Februar<br />
verhaftet, nachdem sie ihn mit einem<br />
Fakeprofil auf Grindr geködert haben soll.<br />
Guerrero Aviñas Familie machte den Fall<br />
öffentlich, da ihm im Gefängnis angeblich<br />
wichtige HIV-Medikamente verwehrt<br />
werden. Des Weiteren habe die Polizei<br />
ihm zunächst einen Rechtsbeistand verwehrt<br />
und ihn dazu gezwungen, für ihn<br />
unleserliche Dokumente auf Arabisch zu<br />
unterschreiben. Ebenfalls habe die Polizei<br />
ihn mit Gewaltandrohungen dazu bringen<br />
wollen, Namen von LGBTIQ-Personen zu<br />
verraten. Für den mexikanisch-britischen<br />
Doppelbürger haben sich nun beide<br />
Botschaften eingeschaltet, online fordern<br />
Unterstützer*innen mit dem Hashtag<br />
#QatarMustFreeManuel seine Freilassung.<br />
Die Polizei in Katar<br />
verweigert Guerrero<br />
Aviña notwendige<br />
HIV-Medikamente.<br />
POLIZIST ERSCHIESST<br />
EXFR<strong>EU</strong>ND UND DESSEN<br />
PARTNER<br />
Sydney – Ein Beziehungsdrama erschüttert<br />
Australien. Der Polizeibeamte<br />
Beaumont Lamarre-Condon soll angeblich<br />
seinen Exfreund, TV-Moderator<br />
Jesse Baird, und dessen neuen Partner<br />
erschossen haben. Die Polizei konnte die<br />
beiden Leichen auf einer abgelegenen<br />
Farm bergen, nachdem sich Lamarre-<br />
Condon in Untersuchungshaft kooperativ<br />
gezeigt hatte.<br />
Der Mord soll am 19. Februar in Bairds<br />
Haus in Paddington, einem Vorort von<br />
Sydney, stattgefunden haben. Die Polizei<br />
von New South Wales teilte mit, dass eine<br />
Menge Blut und eine Kugel, die aus der<br />
Dienstwaffe von Lamarre-Condon stammte,<br />
am Tatort gefunden worden seien.<br />
Bevor er in den Polizeidienst trat, war Lamarre-Condon<br />
als Celebrity-Blogger tätig<br />
und soll viele Prominente interviewt haben.<br />
Fotos bei den Golden-Globe-Awards<br />
zeigen ihn mit Prominenten wie Taylor<br />
Swift, Miley Cyrus oder Harry Styles.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
121
Story — 9<br />
9<br />
Dragkings:<br />
Raus aus<br />
der Nische<br />
122 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 9<br />
Text – Bo Wehrheim<br />
Im Mai findet erstmals das internationale<br />
Festival «go drag! munich» statt.<br />
Es feiert den Drag von weiblichen, trans<br />
und nicht-binären Performer*innen –<br />
ausgerechnet in München, wo Drags<br />
von Rechten zum Feindbild erklärt<br />
wurden, weil sie in der Stadtbücherei<br />
Kindern Geschichten vorlasen.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
123
Story — 9<br />
Sommer 2023: Im Münchner Nobelviertel<br />
Bogenhausen herrscht<br />
Ausnahmezustand. Vor der Stadtbibliothek<br />
entlädt sich die Queerfeindlichkeit<br />
von rund 200 AfD-<br />
Anhänger*innen und anderen<br />
Rechtsextremen. Sie sind gekommen,<br />
weil ein Dragking und eine<br />
Dragqueen eine Lesung für Kinder<br />
anbieten. Mehr als doppelt so viele Menschen solidarisieren<br />
sich lautstark mit dem Bündnis «München ist<br />
bunt» und den Drag-Künstler*innen.<br />
Die Aufregung draussen scheint in keinem Verhältnis<br />
zu stehen zu der Szene, die sich drinnen abspielt:<br />
Hier sitzen Prinzessin Vicky und Prinz Eric in<br />
fantasievollen Gewändern und lesen Märchen vor.<br />
Die Kinder im Publikum lauschen gespannt und bekommen<br />
durch die dicken Bibliothekswände hoffentlich<br />
nicht mit, welche Aufregung die Lesung in der<br />
Stadt und darüber hinaus auslöst. Mitten im Wahlkampf<br />
greifen die AfD und ihre Verbündeten zu allen<br />
Mitteln, um unter dem Deckmantel des angeblichen<br />
«Kinderschutzes» gegen queere Kultur zu hetzen: Sie<br />
kleben Hassplakate, beschmieren die Fassade der Bibliothek,<br />
schicken sogar Morddrohungen und planen,<br />
die Lesung zu stürmen.<br />
Die Idee entstand an einem Filmset<br />
Ein Jahr später, im Mai <strong>2024</strong>, wird München erneut im<br />
Zeichen des Drag stehen. Das Festival «go drag! munich»<br />
bringt internationale Performer auf bayrische<br />
Bühnen. «Wir wollen Drag als vielfältige Kunstform<br />
zeigen», sagt der Münchner Dragking Ruby Tuesday.<br />
Gemeinsam mit der Berliner Künstlerin Bridge Markland<br />
kuratiert er das Festival. An sieben Standorten<br />
wird ein buntes Programm geboten, mit Shows, Konzerten,<br />
Theaterstücken, Kabarett, Workshops, Vorträgen,<br />
Podiumsdiskussionen und einer grossen Party.<br />
Die Idee für das Festival entstand im Jahr 2000<br />
am Set von «Venus Boyz», einem Kinofilm über fluide<br />
Geschlechtsidentitäten, der auch auf dem Festival<br />
gezeigt wird. Dort traf Bridge Markland auf die Genderaktivistin<br />
Diane Torr, deren legendäre «Man for a<br />
Day»-Workshops die Dragkingszene nachhaltig geprägt<br />
haben. In einem New Yorker Diner tauschten<br />
sich die Künstler*innen über die wachsende internationale<br />
Dragszene aus und stellten fest: «Queens sind<br />
schon überall, aber die Aufmerksamkeit für die Kings<br />
ist immer noch zu klein». Als Gegenoffensive organisierten<br />
sie das erste «go drag!»-Festival, das 2002 in<br />
Berlin stattfand und einen ganzen Monat lang dauerte.<br />
«Das würde ich so heute nicht mehr machen – und<br />
es ist dann leider auch nicht weitergegangen», erinnert<br />
sich Bridge Markland. Doch als 20 Jahre später<br />
zwei junge Berliner Dragartists anregten, das Festival<br />
wieder aufleben zu lassen, war die rund 60-Jährige<br />
sofort dabei. Und so fand 2022 die zweite Ausgabe<br />
von «go drag!» statt, präsentiert vom queeren Stadtmagazin<br />
Siegessäule, in Kooperation mit der Tageszeitung<br />
taz.<br />
Raus aus der Nische, rein ins Kulturzentrum<br />
Auch heute noch ist das «go drag!» ein seltenes Festival<br />
weltweit, das explizit den Drag von Frauen, nichtbinären<br />
und trans Künstler*innen aller Altersgruppen<br />
und Styles feiert. Diese sind ebenso wie Kings und<br />
Queens of Colour, Quings (genderneutraler Drag) mit<br />
(sichtbaren) Behinderungen und Plus-size-Queens<br />
immer noch deutlich unterrepräsentiert.<br />
Das Münchner Festival «go drag! munich» bleibt<br />
diesem Konzept treu, bindet aber die lokale Dragkingszene<br />
und Münchner Institutionen wie das NS-<br />
Dokumentations-Zentrum und den Gasteig ein. Bridge<br />
Markland hofft, dass diese Orte auch «Publikum anziehen,<br />
das sich bisher noch nicht mit Drag beschäftigt<br />
hat.» Der Gasteig ist eines der grössten Kulturzentren<br />
Europas, wenn die Dragkings dort auftreten, sind sie<br />
auch in München kein Nischenact mehr.<br />
Für wen ist Drag?<br />
Nicht nur in München wird Drag immer sichtbarer.<br />
Mit der Castingshow «Drag Race Germany» bekam<br />
Deutschland vergangenes Jahr endlich eine Adaption<br />
des «Ru Pauls Drag Race». Diese war für eine deutsche<br />
Casting-Show erstaunlich wenig cringe, unerwartet<br />
politisch und absolut bereichernd für die queere<br />
Kultur im deutschsprachigen Raum. Doch als mit der<br />
Wienerin Pandora Nox die einzige cis Frau im Cast<br />
zur Gewinnerin der ersten Staffel gekürt wurde, ging<br />
das einigen zu weit. In den Kommentarspalten meinten<br />
einige, es sei für eine cis Frau keine Kunst, eine<br />
Queen darzustellen, und andere behaupteten, Drag sei<br />
schwulen Männern vorbehalten. Ruby Tuesday hält<br />
nichts von der Diskussion, wer Drag machen darf:<br />
«Drag ist für alle», stellt er klar. «Wenn jemand sagt,<br />
Drag ist nur für Queers oder nur für Männer oder nur<br />
für dies und das, dann stellt er Regeln auf. Dabei geht<br />
es bei Drag genau darum, diese Regeln zu brechen.»<br />
Pandora Nox ist die erste cis Frau, die eine Ausgabe<br />
des internationalen «Drag Race»-Franchise gewonnen<br />
hat. Sie ist gut vernetzt in der Münchner Szene und<br />
wird auch bei «go drag! munich» auftreten.<br />
Das Line-up: lokale Kings und internationale Stars<br />
Das weitere Line-Up ist eine Mischung aus lokalen<br />
Kings und internationalen Stars und umfasst Acts<br />
wie Martwa aus Polen, Majic Dyke aus Kenia und<br />
Don One aus Birmingham. Aus London kommen das<br />
Neo-Burlesque-Talent Lolo Brow, und die 68-jährige<br />
Solokünstlerin Claire Dowie, die seit Jahrzehnten<br />
Theaterstücke schreibt. Mieze McCripple, eine aktivistische<br />
Queen aus Düsseldorf trägt empowernde<br />
Texte über das «Be_hindert-werden und Dicksein in<br />
einer fettfeindlichen Gesellschaft» vor. Die Berliner<br />
Bild: Manuela Schneider<br />
124 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 9<br />
Dragking Buba<br />
Sababa zeigt<br />
Interessierten,<br />
wie sie sich<br />
in Dragquings<br />
verwandeln<br />
können.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
125
Story — 9<br />
Dragking-Legenden Alexander Cameltoe und Buba<br />
Sababa bieten Workshops an, in denen sich die Teilnehmenden<br />
zu Dragquings verwandeln können mittels<br />
Schminke, Outfit und Walk-Technik. Und natürlich<br />
gibt es auch jede Menge Shows, ein Rockkonzert<br />
von Macho-King Peter Frost und ein lustvolles Spektakel<br />
aus Tanz, Schauspiel und Musik vom Cuma-<br />
Kollektiv aus Nordrhein-Westfalen. Gastgeberin der<br />
Podiumsdiskussion wird die Münchner Lokalgruppe<br />
von «The Magdalena Project», einem internationalen<br />
Netzwerk, das sich für Frauen in der freien Theaterund<br />
Performance-Szene einsetzt. Im Theater Drehleier<br />
zeigen die «Kings and Quings of Munich», wie<br />
eindrucksvoll sich die Münchner Dragszene in den<br />
letzten Jahren entwickelt hat. Diese Show hat eine besondere<br />
Bedeutung für die Münchner Szene, die lange<br />
sehr klein und eher von Dragqueens geprägt war.<br />
Das Festival<br />
Die Berliner Gender-Künstlerin Bridge<br />
Markland und der Münchner Dragking<br />
Ruby Tuesday bringen als Kurator*innen<br />
des 3. «go drag!»-Festivals den<br />
Drag weiblicher, trans und nichtbinärer<br />
Künstler*innen erstmalig nach<br />
München. «go drag! munich» findet<br />
vom 1. bis 5. Mai an sieben Spielorten<br />
in München statt, darunter der Gasteig,<br />
das Pathos Theater, die Kunsthalle und<br />
das NS-Dokumentationszentrum.<br />
Rubys Drag-Sohn Perry Stroika<br />
Um nicht mehr der einzige Dragking der Stadt zu sein,<br />
hat Ruby Tuesday 2021 begonnen, Workshops anzubieten.<br />
Hier konnten sich schon viele Interessierte<br />
ausprobieren und einige haben ihren Zugang zu Drag<br />
entdeckt. Am Ende der Workshops sammelten die Baby-Quings<br />
und -Kings bei einer Abschlussshow erste<br />
Bühnenerfahrungen. Daraus entstand die «Kings of<br />
Munich»-Show, die sich im Laufe der Zeit zu einer<br />
Open Stage für die neu entstehende Szene entwickelte.<br />
Heute ist die «Kings of Munich» eine professionelle<br />
Dragshow, die von Ruby zusammen mit seinem Drag-<br />
Sohn Perry Stroika veranstaltet wird.<br />
Perry Stroika kam durch einen Workshop von<br />
Ruby zum Drag und hat vor nicht allzu langer Zeit<br />
selbst sein Debüt in der Show gegeben. Zuvor hatte<br />
er Drag für sich zu Hause ausprobiert, aber keine Gelegenheit<br />
gehabt, auf einer Bühne zu stehen oder mit<br />
der Szene in Kontakt zu kommen. Mit der Show will<br />
er die Sichtbarkeit der Kings erhöhen: «Wenn mehr<br />
Leute wüssten, dass es Dragkings gibt, gäbe es auch<br />
viel mehr», sagt er in der ZDF-Doku «Drag Kings – Auf<br />
der Bühne Mann». Als queeres Kind, das aus Russland<br />
nach Deutschland migriert ist, hat Perry schon früh<br />
Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht: «Ich wurde<br />
für alles Mögliche gemobbt und musste meinen Charakter<br />
herunterschrauben, um akzeptiert zu werden.<br />
Durch Drag habe ich endlich meinen Weg gefunden.»<br />
Heute gehört er neben Ruby Tuesday zu den bekanntesten<br />
Kings der Stadt.<br />
Weiter Weg zur diversen Szene<br />
Auch die katalanische Dragqueen Janisha Jones ist<br />
eine feste Grösse in der Münchner Szene. Sie veranstaltet<br />
Events wie eine Dinnershow, einen Brunch<br />
und verschiedene Partys, bei denen Drags auftreten<br />
Bild: Manuela Schneider<br />
126 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 9<br />
Bridge<br />
Markland<br />
Die Berlinerin Bridge Markland<br />
ist Tanz-, Theater-,<br />
Kabarett- und Performance-<br />
Künstlerin mit den Schwerpunkten<br />
Rollenspiel und Verwandlung.<br />
Gemeinsam mit<br />
Genderaktivistin Diane Torr<br />
hatte sie im Jahr 2000 die<br />
Idee zum Festival «go drag!»<br />
und kuratiert es in diesem<br />
Jahr zum dritten Mal.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
127
Story — 9<br />
Ruby<br />
Tuesday<br />
Ruby Tuesday ist Dragking<br />
und Neo-Burlesque-Performer<br />
aus München und<br />
bietet seit 2021 regelmässig<br />
Workshops an. Als Co-Host<br />
der Show «Kings of Munich»<br />
gilt er als eine der zentralen<br />
Figuren der wachsenden<br />
Münchner Dragkingszene.<br />
Bei «go drag! munich» ist er<br />
zum ersten Mal als Kurator*in<br />
dabei.<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
Story — 9<br />
Bild: Verena Gremmer<br />
können. Newcomer können sich bei monatlichen<br />
Lip-Sync-Battles ausprobieren, die vom queer-inklusiven<br />
Kollektiv «Lovers» organisiert werden. «Seit<br />
Corona ist hier endlich mehr los», freut sich Ruby<br />
Tuesday, «aber bis die Szene wirklich divers sein wird,<br />
ist es noch ein weiter Weg.»<br />
Einmal im Jahr, vor dem Münchner CSD, veranstaltet<br />
sie mit ihrer Draqueen-Kollegin Vicky Voyage<br />
gemeinsam die Drag Royalty Show. Dabei achten sie<br />
«auf einen möglichst diversen Cast, um Queens, Kings<br />
und verschiedene Arten von Dragpersonen zusammenzubringen».<br />
Vicky Voyage und der nicht-binäre King Eric<br />
BigCl!t (bezeichnet sich selbst als Dragking-Monster)<br />
standen im vergangenen Jahr im Zentrum der rechten<br />
Hasskampagne. Doch die noch junge Dragkingszene<br />
will sich von der rechten Hetze nicht einschüchtern<br />
lassen: Im Februar veranstalteten Ruby und Eric gemeinsam<br />
«Frau kann Mann», eine Dragshow mit<br />
Bildungsauftrag, die den Zuschauenden Berührungsängste<br />
vor dem Spiel mit verschiedenen Geschlechtern<br />
nehmen soll. «Wenn Frauen auf der Bühne<br />
Männlichkeit darstellen, ist das für viele Leute immer<br />
noch erschreckend», sagt Bridge Markland. Sie glaubt<br />
aber nicht, dass das «go drag! munich» gefährdet sei:<br />
«Damals haben rechte Parteien mit Queerfeindlichkeit<br />
Wahlkampf gemacht. Wir gehen eher davon aus,<br />
dass die Hetze diesmal online stattfindet.» Tatsächlich<br />
hat die AfD bereits versucht, das Festival mit Falschbehauptungen<br />
zu diskreditieren. Deshalb wollen sich<br />
die Veranstalter*innen mit einem Coaching auf mögliche<br />
Shitstorms vorbereiten.<br />
Schönheit ohne Schranken<br />
Das «go drag! munich» bietet die Chance, Drag in<br />
seinen unterschiedlichen Facetten einem breiten Publikum<br />
näher zu bringen. Es zeigt, welches Potenzial<br />
darin steckt, Geschlechternormen spielerisch zu hinterfragen<br />
und enge Rollenvorstellungen, unter denen<br />
viele Menschen leiden, zu überwinden. Gleichzeitig<br />
kann die Veranstaltung dazu beitragen, Vorurteile<br />
gegenüber queerer Kultur abzubauen und reaktionärer<br />
Hetze den Nährboden zu entziehen. Wenn Drag-<br />
Performer wieder Zielscheibe rechter Angriffe werden,<br />
kann eine aufgeklärte Öffentlichkeit für Schutz<br />
sorgen.<br />
Für die Münchner Szene kann das Festival ein<br />
weiterer Anschub sein, der zukünftige Dragbabys empowert,<br />
sich auf die Bühne zu trauen und die Münchner<br />
Dragfamilie um einen schwarzen, dicken, behinderten<br />
oder gender-fluiden Artist zu bereichern. Denn<br />
die unterschiedlichen Acts zeigen die Schönheit von<br />
Drag als Kunstform, die sich auch nicht von bestimmten<br />
Vorstellungen innerhalb der queeren Community<br />
einschränken lässt. Die Diskussion darüber, wie Dragquings<br />
auszusehen haben und wer darstellen darf, erübrigt<br />
sich – «go drag! munich» zeigt, was uns sonst<br />
entgeht.<br />
Die Berliner Dragking-Legende<br />
Alexander Cameltoe<br />
bietet Workshops<br />
an.<br />
Kings,<br />
Queens,<br />
Quings<br />
und Babys<br />
Dragkings und -queens: Künstler*innen,<br />
die sich durch Outfit,<br />
Make-up und Performance mit<br />
Gendernormen auseinandersetzen<br />
und dabei oft überspitzt<br />
feminin oder maskulin auftreten.<br />
Dragquing, -thing und Creature<br />
Drag: Spielarten des Drag, die<br />
über männliche und weibliche<br />
Identitäten hinaus gehen. Tiere,<br />
Monster oder Gegenstände können<br />
als Inspiration dienen.<br />
Qu*ings: Eine inklusive Bezeichnung,<br />
mit der alle unterschiedlichen<br />
Dragartists gemeint sind.<br />
Cis-Frau: Eine Person, der bei<br />
der Geburt das weibliche Geschlecht<br />
zugewiesen wurde und<br />
die sich mit diesem Geschlecht<br />
identifiziert.<br />
Lip-Sync-Battle: Dragartists<br />
treten gegeneinander an, indem<br />
sie möglichst überzeugend zu<br />
einem Song performen.<br />
Dragbaby: Ein*e Künstler*in,<br />
die*der neu in der Dragszene ist.<br />
Dragsohn, -tochter, -kind: Eine<br />
Person, die von einer*m erfahrenen<br />
Dragperformer*in unterstützt<br />
wird.<br />
Bild: Manuela Schneider<br />
<strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong><br />
129
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Mannschaft Magazin <strong>Nr</strong>. <strong>116</strong>, <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>, Ausgabe für die Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein<br />
Auflage 22 000 Ex. Abo service Mannschaft Magazin ist im Abo (CHF 79/<strong>EU</strong>R 59 Jahr) sowie im Spezialabo für Studierende/<br />
Lernende und Menschen ab 65 (CHF 49/<strong>EU</strong>R 39 Jahr) erhältlich, mannschaft.com/shop, kontakt@mannschaft.com<br />
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Greg Zwygart Art Direction Sandro Soncin Bildredaktion Raffi p.n. Falchi Korrektorat Curdin Seeli, Schaumkino<br />
Anzeigenverkauf Christina Kipshoven, Fabian Simon, medien@lauteshaus.com Druck Radin Print Rechtschreibung<br />
Mannschaft Magazin nimmt die Schweizer Rechtschreibung als Vorlage. Urheberrecht Jegliche Wiedergabe und<br />
Vervielfältigung von Artikeln und Bildern ist nur mit ausdrück licher Genehmigung des Verlags gestattet. Mannschaft<br />
Magazin erscheint quartalsweise. Die nächste Ausgabe ist ab 5. Juni <strong>2024</strong> erhältlich.<br />
130 <strong>Frühling</strong> <strong>2024</strong>
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