focus_2024-21_Sport
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AUSGABE <strong>21</strong> 17. Mai <strong>2024</strong> € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2024</strong> FOCUS STYLE /// INFOGRAPHIC<br />
Die Tränen<br />
von Rafah<br />
Israels Angriff<br />
auf die letzte<br />
Bastion der Hamas<br />
Beethovens<br />
Götterfunken<br />
Daniel Barenboim<br />
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DER VIZEKANZLER<br />
IM FOCUS-GESPRÄCH<br />
RUINIERT<br />
DIE AMPEL<br />
UNSEREN<br />
WOHLSTAND,<br />
HERR HABECK?
LEBEN<br />
Gebete. Gewummer. Gegrätsche<br />
Leverkusens Abwehrchef Jonathan Tah spielt die Saison seines Lebens.<br />
Ein Gespräch über Rückschläge, Glaubenskraft und mitreißende Zweikämpfe<br />
INTERVIEW VON AXEL WOLFSGRUBER<br />
Die 97. Minute im Halbfinal-<br />
Rückspiel der Europa League<br />
Leverkusen gegen Rom vergangenen<br />
Donnerstag. Noch<br />
einmal starten die Italiener<br />
einen Angriff: ein Pass nach<br />
vorne, aber Jonathan Tah,<br />
Leverkusens Kapitän an diesem Abend,<br />
wirft sich dazwischen und verhindert möglicherweise<br />
die Verlängerung. Im Gegenzug<br />
schießt Josip Stanisic das 2:2 und<br />
sichert seiner Mannschaft nicht nur den<br />
Einzug ins Finale, sondern rettet auch ihre<br />
schier unfassbare Siegesserie. Wieder einmal<br />
so kurz vor Schluss.<br />
Mit dem 5:0 drei Tage später gegen<br />
den VfL Bochum in der Bundesliga ist die<br />
Werkself seit nun 50 Spielen ungeschlagen.<br />
Zudem trifft sie immer wieder in den<br />
letzten Minuten einer Partie, so oft, dass es<br />
schon nicht mehr Glück ist, sondern einfach<br />
unbändiger Erfolgswille. Deutscher<br />
Meister sind die Leverkusener schon seit<br />
Wochen, nun folgen die Endspiele in der<br />
Europa League gegen Bergamo und um<br />
den DFB-Pokal gegen Kaiserslautern.<br />
Großen Anteil an der Gigantensaison<br />
hat Abwehrchef Tah, der Mentalitätsspieler.<br />
Während Trainer Xabi Alonso<br />
die anderen Stars immer wieder schont,<br />
um die Belastung zu steuern, spielt Tah<br />
fast regelmäßig durch, es sei denn, eine<br />
Begegnung ist früh entschieden. Seine<br />
Beständigkeit hat auch Bundestrainer<br />
Julian Nagelsmann längst überzeugt, bei<br />
der Europameisterschaft in diesem Sommer<br />
ist Tah für die Startelf vorgesehen.<br />
Herr Tah, Sie lächeln öfter als früher.<br />
Ist diese neue Fröhlichkeit Ausdruck<br />
einer perfekten Saison?<br />
(Lacht) Ist das so? Ich selbst habe da<br />
noch gar keinen gravierenden Unterschied<br />
bemerkt. Aber ja, ich erlebe derzeit<br />
sehr viele schöne Momente und genieße<br />
es einfach, dass es so viele Gründe zur<br />
Freude gibt.<br />
Merken Sie schon etwas von Ihrer sportlichen<br />
Unsterblichkeit, die Sie nach der<br />
ersten gewonnenen Meisterschaft von<br />
Bayer 04 nun in Leverkusen umgibt?<br />
Ich persönlich habe die Bedeutung dieses<br />
Titels noch gar nicht richtig begriffen,<br />
und allen meinen Mitspielern geht<br />
es wohl ähnlich. Wir hatten einfach noch<br />
keinen Moment, um mal herunterzu0fahren,<br />
unsere Erfolge wirklich zu begreifen.<br />
Es geht immer weiter. Die Saison ist<br />
für uns noch voller Möglichkeiten. Erst<br />
nach der Europameisterschaft, wenn ich<br />
im Urlaub am Strand liege, wird der Zeitpunkt<br />
kommen, an dem ich alles realisiere<br />
und all das verarbeite, was Großartiges<br />
in dieser Saison passiert ist.<br />
Die Gemütslage hat sich in Leverkusen<br />
gänzlich verändert. Der Klub kann in der<br />
kommenden Woche auch noch die Europa<br />
League und zum zweiten Mal in seiner<br />
Geschichte den DFB-Pokal gewinnen. Wäre<br />
alles andere als ein Pokalsieg gegen den<br />
1. FC Kaiserslautern eine Enttäuschung?<br />
Absolut. Wir sind nicht bis ins Finale<br />
gekommen, um das entscheidende Spiel<br />
zu verlieren. Sicher wären wir enttäuscht.<br />
Aber das ist der falsche Gedanke, der falsche<br />
Ansatz. Ich sehe die Dinge stets positiv.<br />
Wir sollten lieber daran denken, wie<br />
stolz wir sein werden, wenn wir den Pokal<br />
erringen. Dafür werden wir alles tun. Und<br />
wenn es uns außerdem auch noch gelingt,<br />
den Titel in der Europa League zu holen,<br />
dann wäre es sicherlich eine unvergessliche<br />
Saison.<br />
Xabi Alonso kam als Trainer, als die Werkself<br />
im unteren Tabellendrittel taumelte und hat<br />
mit dem Team eine Rekordserie ohne Niederlage<br />
hingelegt. Können Sie benennen, was<br />
er besser macht als andere? Ist es beispielsweise<br />
ein Vorteil, dass er bis zuletzt noch<br />
als Fußballer aktiv war und auf dem Rasen<br />
seine Wünsche selbst vorführen kann?<br />
(Lacht) Das stimmt, es ist ein Vorteil,<br />
dass er alles selbst vormachen kann. Das<br />
macht die Sache anschaulich und authentisch.<br />
Besonders an Xabi Alonso ist auch,<br />
dass er im richtigen Augenblick die richtigen<br />
Worte wählt. So stößt er auch in<br />
unschönen Momenten auf Gehör bei der<br />
Mannschaft. Wir haben eine großartige<br />
Energie in der Kabine. Gleichzeitig verlangt<br />
er von uns, dass wir auf dem Platz<br />
total fokussiert sind und hart arbeiten. Als<br />
Team diese Balance zu halten, ist nicht<br />
leicht, aber Xabi hat das mit uns hinbekommen.<br />
Das macht am Ende eine erfolgreiche<br />
Mannschaft aus. Wir haben Spaß<br />
und arbeiten trotzdem jeden Tag hart. Er<br />
weiß einfach, wie Fußballer ticken.<br />
Zwischenzeitlich hatten Sie in<br />
Leverkusen Ihren Stammplatz verloren<br />
und zählten auch in der Nationalmannschaft<br />
nicht zu den gesetzten<br />
Spielern. Hatten Sie mal Angst,<br />
dass Ihre Karriere gänzlich in die<br />
falsche Richtung läuft?<br />
Absolut nicht. Ich glaube, dass alles<br />
im Leben ein Prozess ist. Es gibt immer<br />
Momente, in denen man Rückschläge<br />
erlebt. Aber diese Rückschläge braucht<br />
ein Fußballer, um daran zu wachsen, übrigens<br />
wie jeder Mensch, egal was er tut.<br />
Wenn ich an mir arbeite, ganz unabhängig<br />
von den jeweiligen Umständen, entwickele<br />
ich mich auch weiter. Deshalb<br />
hatte ich nie Angst.<br />
Es heißt, Sie kommen nach Spielen, selbst<br />
nach erfolgreichen, nicht zur Ruhe, weil<br />
Sie noch bis tief in die Nacht Szenen<br />
mit kleinsten Fehlern analysieren. Sind<br />
Sie chronisch unzufrieden?<br />
(Lacht) Nein, ich bin chronisch dankbar,<br />
dass ich jeden Tag auf den Rasen gehen<br />
darf, um das zu tun, was ich am liebsten<br />
mache. Deshalb lege ich meinen vollen<br />
Fokus darauf, mich in dem, was ich liebe,<br />
ständig weiterzuentwickeln. Ich versuche,<br />
alle kleinen Tricks und alle Werkzeuge,<br />
die es in dem Umfeld gibt, zu nutzen, um<br />
am Ende der beste Fußballer Jonathan<br />
Tah zu sein. Ich liebe es, jeden Tag zum<br />
Training zu gehen.<br />
Foto: Marcus Simaitis/DIE ZEIT/laif<br />
96 FOCUS <strong>21</strong>/<strong>2024</strong>
SPORT<br />
Große Bühne<br />
Tah, 28, ist bei Bayer<br />
zum Führungsspieler<br />
gereift. Vergangenes<br />
Wochenende hat er<br />
sein 350. Pflichtspiel<br />
für den Klub<br />
bestritten<br />
97
LEBEN<br />
SPORT<br />
Ihre Mutter ist Deutsche, Ihr<br />
Vater stammt von der Elfenbeinküste.<br />
Viermal haben Sie<br />
dessen weitgehend vom Krieg<br />
zerstörtes Heimatdorf besucht,<br />
zuletzt mit 14 Jahren. Welche<br />
Eindrücke haben Sie von dort?<br />
Das waren prägende Erfahrungen<br />
für mich, aus denen ich viel<br />
mitgenommen habe. Ich bin überaus<br />
dankbar, dass ich in Hamburg<br />
und Deutschland aufwachsen durfte. Es<br />
hat mich sehr geerdet, in der Heimat meines<br />
Vaters Menschen kennengelernt zu<br />
haben, die wenig Materielles besitzen,<br />
aber so viel menschliche Wärme ausstrahlen.<br />
Ich selbst bemühe mich, demütig und<br />
bescheiden zu bleiben.<br />
Ihr bereits verstorbener afrikanischer<br />
Großvater soll nicht viel mehr als<br />
eine Bibel besessen haben. Er sagte:<br />
„Da steht alles drin, was man wissen<br />
muss“. Hat der Großvater recht?<br />
Ja, meine Großeltern und mein Vater<br />
haben mir gezeigt, wie man aus einem<br />
starken Glauben sehr viel Kraft für das<br />
Leben ziehen kann. Ich habe mich viel<br />
mit Gott beschäftigt und bin diesem Weg<br />
gefolgt. Am Ende macht es für mich<br />
aber keinen Unterschied, welcher Religion<br />
man angehört. Es geht um die Werte,<br />
für die ein Mensch steht, und diese<br />
Werte sind in jeder Religion grundsätzlich<br />
ähnlich.<br />
Sie sind unlängst im Bayer-04-TV gefragt<br />
worden, was das „Unsinnigste“ gewesen<br />
sei, was Sie sich je gewünscht hätten,<br />
und haben darauf geantwortet „eine sehr<br />
teure Hose“. Offenbar empfinden Sie<br />
noch heute Scham darüber, dass Ihre<br />
alleinerziehende Mutter damals den<br />
letzten Cent dafür ausgeben musste.<br />
Ich war Teenager und mir war damals<br />
offenbar das Äußere – wie solche Klamotten<br />
– zu wichtig. Für unsere damaligen<br />
Verhältnisse war die Hose, die ich mir zum<br />
Geburtstag gewünscht hatte, extrem teuer.<br />
Ich finde es nicht oberflächlich, schöne<br />
Kleidung zu tragen, aber ich bezweifle,<br />
dass teure Sachen und viel Geld jemanden<br />
glücklicher machen. Es ist schön, die<br />
Freiheit zu haben, heute Dinge kaufen<br />
und tun zu können, die ich mir in meiner<br />
Jugend noch nicht leisten konnte, etwa<br />
einen schönen Urlaub. Aber das wahre<br />
Glück ist nicht käuflich.<br />
Sie haben vergangenen Sommer Ihre<br />
Freundin Luisa am Comer See geheiratet,<br />
das war sehr geräuschlos. Mögen Sie<br />
kein öffentliches Tamtam?<br />
Harte Gangart Bayers Kapitän setzt sich im<br />
Europa-League-Halbfinale gegen Roms<br />
belgischen Angreifer Romelu Lukaku durch<br />
Mir ist es wichtig, das zu schützen,<br />
was mir etwas bedeutet. Natürlich kann<br />
man eine Hochzeit nicht gänzlich aus der<br />
Öffentlichkeit heraushalten. Ich möchte<br />
das auch gar nicht verstecken, weil ich<br />
stolz auf meine Frau und unsere Ehe bin.<br />
Es war ein großer, wichtiger Schritt für<br />
mich. Aber übergroßes Tamtam im Privaten<br />
mag ich nicht.<br />
Sie bekommen im Schnitt nur alle fünf<br />
Spiele eine Gelbe Karte, wirken auf dem<br />
Platz wenig aggressiv und kaum angestrengt.<br />
Trotzdem beklagen Gegenspieler<br />
Ihre Härte. Wie passt das zusammen?<br />
Das passt super zusammen. Meine Art<br />
zu verteidigen, besteht nicht darin, die<br />
Gegner sinnlos umzugrätschen. Aber ich<br />
stelle schon kompromisslos meinen Körper<br />
rein. Der Infight ist eine meiner größten<br />
Stärken. Im Nahkampf ist meine Körperlichkeit<br />
gefragt. Ich bin nicht unfair,<br />
aber sicher auch nicht angenehm für den<br />
Gegner.<br />
Überträgt sich der Kampfeswille von<br />
Verteidigern auf die gesamte Mannschaft,<br />
wenn es hinten robust und kompromisslos<br />
zur Sache geht?<br />
Auf jeden Fall. Verteidiger haben einen<br />
sehr großen Einfluss auf die Mannschaft.<br />
Je nachdem, wie aktiv man ist, wie man<br />
in Zweikämpfe reingeht, kann das der<br />
Mannschaft sehr viel Energie geben. Xabi<br />
Alonso sagt immer: Je besser wir verteidigen,<br />
desto besser greifen wir auch an.<br />
Enthemmte Party Feuchtfröhliche Meisterfeier<br />
am 29. Spieltag mit Trainer Xabi Alonso<br />
Wenn es stimmt, was Ihre Teamkollegen<br />
sagen, läuft Ihre standardisierte<br />
Vorbereitung auf ein Spiel<br />
ungefähr so ab: Am Abend zuvor<br />
schauen Sie kein Fernsehen und<br />
nutzen das Handy nur minimal. Sie<br />
gehen früh ins Bett und schlafen<br />
lang. Dann meditieren und beten Sie<br />
und hören im Teambus auf dem Weg<br />
ins Stadion, um sich heißzumachen,<br />
wummernden Rap. Richtig?<br />
(Lacht) Ja, so ungefähr. Wobei es nicht<br />
immer harter Rap sein muss. Es ist wichtig,<br />
gewisse Rituale und Abläufe zu haben.<br />
Aber man darf sie nicht zu stoisch verfolgen<br />
und sie als ausschlaggebend für den<br />
sportlichen Erfolg werten. Denn läuft<br />
etwas schief, sind etwa die Kopfhörer mal<br />
nicht geladen, wird man schnell nervös. Es<br />
ist gut, Abläufe zu haben, man darf damit<br />
aber nicht zu verbissen sein.<br />
2006 standen Sie als Zehnjähriger<br />
beim Public Viewing in Hamburg und<br />
haben die Deutschlandspiele bei der<br />
Heim-WM verfolgt. Wie war das?<br />
Ich war damals mit meiner Mutter, meiner<br />
jüngeren Schwester Deborah und<br />
anderen Familienmitgliedern in der Fanzone<br />
in Hamburg. An einzelne Spielszenen<br />
kann ich mich kaum erinnern. Was als<br />
Eindruck geblieben ist, ist diese unglaubliche<br />
Atmosphäre und Energie, die dort zu<br />
spüren war. Das hat mich bei der Heim-<br />
WM begeistert. Ich hoffe, dass es bei der<br />
EM in diesem Jahr genauso wird.<br />
Glauben Sie, dass die gegnerischen<br />
Teams nach den jüngsten Siegen gegen<br />
Frankreich und die Niederlande wieder<br />
Respekt vor dem DFB-Team haben?<br />
Der Respekt war nie weg. Das hat man<br />
auf dem Platz immer gespürt. Wichtiger<br />
aber ist, dass jeder deutsche Spieler verstanden<br />
hat, wo unser Weg hinführt und<br />
welchen Anspruch wir an uns selbst haben.<br />
Der Prozess ist angelaufen, und wir sind auf<br />
dem richtigen Weg. Ich mag es auch nicht,<br />
wenn alles immer gleich entweder als<br />
supergut oder als total schlecht bewertet<br />
wird. Solche extremen Sichtweisen sind für<br />
eine Mannschaft in der Entwicklung Gift.<br />
Ist die deutsche Mannschaft<br />
reif für den EM-Titel?<br />
Der Verband und die Mannschaft sind<br />
sich einig: Wenn wir eine Europameisterschaft<br />
spielen, wollen wir auch gewinnen.<br />
Sonst brauchen wir nicht zum Stadion zu<br />
fahren, sonst brauchen wir nicht auf den<br />
Platz zu gehen und alles reinzuhauen.<br />
Das muss unser Selbstverständnis sein.<br />
Gerade bei einer Heim-EM. 7<br />
Fotos: Isabella Bonotto/ddp images, IMAGO/Kirchner-Media/TH<br />
98 FOCUS <strong>21</strong>/<strong>2024</strong>