D A S K U L T U R M A G A Z I N - Strandgut
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Film<br />
Ein filmischer Albtraum<br />
»Die Summe meiner einzelnen Teile« von Hans Weingartner p<br />
Doch um Martins psychische Stabilität<br />
ist es gar nicht gut bestellt.<br />
Nach einer Szene im Wald, in der er<br />
mit nacktem Oberkörper dasteht,<br />
schwer atmet und sich nach hinten<br />
fallen läßt, während die Kamera um<br />
ihn kreist, sehen wir ihn in einem<br />
Gefangenentransporter auf dem<br />
Weg in die Psychiatrie.<br />
Nach der Entlassung beginnt für<br />
ihn der gesellschaftliche Abstieg.<br />
Seinen Job als Mathematiker bekommt<br />
er nicht zurück, die Vorgesetzten<br />
befürchten einen Rückfall.<br />
Seine Freundin hat eine neue Beziehung.<br />
Sie läßt Martin im Keller seine<br />
Sachen zusammensuchen und<br />
abholen. Das Sozialamt hat dem<br />
jungen Mann eine kleine Wohnung<br />
im Plattenbau zugewiesen, doch<br />
bald steht der Gerichtsvollzieher<br />
mit einem Räumungsbescheid vor<br />
der Tür.<br />
Statt in die Unterkunft für Wohnungslose<br />
zu gehen, treibt Martin<br />
sich in Berlin herum, schläft in<br />
einem Abbruchhaus, murmelt auf<br />
der Straße, im Supermarkt, in dunklen<br />
Unterführungen Zahlen vor sich<br />
hin und betäubt sich mit immer<br />
mehr Alkohol auf der Suche nach<br />
Halt. Bei seinem Vater findet er ihn<br />
nicht. Erst ein kleiner Junge aus<br />
der Ukraine, der 10-jährige Viktor,<br />
dessen Mutter an einer Überdosis<br />
Heroin gestorben ist, schenkt ihm<br />
die Anerkennung, die er braucht.<br />
Martin hat den Jungen vor ein paar<br />
aggressiven Halbstarken beschützt,<br />
und fortan sind die beiden Weggefährten.<br />
Sie sammeln Flaschen<br />
und verstehen sich auch ohne<br />
viele Worte, Viktor spricht nur rus-<br />
4 | <strong>Strandgut</strong> 02/2012<br />
Martin Blunt ist ein Zahlenmensch. Einer Frau in der S-Bahn<br />
nimmt er, nachdem er sie eine Weile bei ihren fruchtlosen<br />
Bemühungen beobachtet hat, ihr Sudoku aus der Hand und<br />
löst es komplett in wenigen Sekunden. Wäre das Leben ein<br />
Zahlenrätsel, hätte er keine Probleme.<br />
sisch, Martin kann gerade ein paar<br />
Brocken. In einem abgelegenen<br />
Waldstück bei Berlin bauen sich die<br />
beiden eine Hütte und genießen<br />
ihre persönliche Freiheit wie Henry<br />
David Thoreau einst in den amerikanischen<br />
Wäldern.<br />
Durch einen Brief, den sie beim<br />
Flaschensammeln finden, lernt<br />
Martin Lena kennen. Lena macht<br />
eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin,<br />
tut dies aber vor allem ihren<br />
Eltern zuliebe und ist mit ihrem<br />
Leben unzufrieden. Das könne sie<br />
ändern, meint Martin, sie brauche<br />
keine Angst zu haben, Angst sei<br />
unnötig. Ein Neubeginn in Portugal<br />
für sie, Martin und Viktor scheint<br />
möglich ...<br />
Seit seinem Erstling »Das weiße<br />
Rauschen« interessiert sich Regisseur<br />
Hans Weingartner für verhaltensauffällige<br />
Filmfiguren. Sind sie<br />
ein Produkt der Gesellschaft, wie es<br />
sein erfolgreichster Film »Die fetten<br />
Jahre sind vorbei« nahelegt? Ist der<br />
Grund für eine psychische Erkrankung<br />
im persönlichen Schicksal<br />
zu suchen? Oder trifft beides zu?<br />
Weingartner, der Hirnforschung<br />
studiert hat, ist intelligent genug,<br />
einfache Lösungen zu verweigern.<br />
Stress am Arbeitsplatz, vor allem<br />
an einem mit hoher Verantwortung,<br />
könnte ein Grund für Martins<br />
Psychose sein. »Die moderne<br />
Neuropsychologie weiß längst, daß<br />
zwischen Stress und psychischer<br />
Erkrankung ein direkter neurologischer,<br />
also biochemischer Zusammenhang<br />
besteht«, hat Weingartner<br />
in einem Interview gesagt.<br />
Sein Stilmittel ist es, die Zuschauer<br />
zu irritieren. In realistischen Bilder<br />
erzählt er vom Realitätsverlust<br />
seiner Hauptfigur. »Die Summe<br />
meiner einzelner Teile« (was für<br />
ein poetischer Titel!) fasziniert auf<br />
eine eigentümliche Art, denn Weingartner<br />
verknüpft geschickt die<br />
Realität mit Martins Vorstellungswelt<br />
zu einem filmischen Traum<br />
bzw. Albtraum. Dazu braucht er<br />
glaubwürdige Schauspieler, die er<br />
in Peter Schneider, der in der Rolle<br />
des Martin völlig aufgeht, dem<br />
kleinen Timur Massold als zutraulichem<br />
Viktor und Henrike von Kuick<br />
als schüchtern-charmanter Lena<br />
gefunden hat. Auch deren Spiel ist<br />
es zu verdanken, daß uns der Film<br />
unter die Haut geht.<br />
Claus Wecker<br />
DIE SUMME MEINER EINZELNEN TEILE<br />
von Hans Weingartner, D 2011, 120 Min.<br />
mit Peter Schneider, Henrike von Kuick,<br />
Timur Massold, Andreas Leupold, Julia<br />
Jentsch, Eleonore Weisgerber<br />
Psychodrama<br />
Start: 02.02.2012<br />
★★★★✩<br />
Maulwurf<br />
im<br />
Trenchcoat<br />
»Dame, König, As, Spion«<br />
von Tomas Alfredson<br />
»Smiley« Gary Oldman jagt im<br />
stilsicheren Remake von John<br />
le Carrés Kalter-Krieg-Klassiker<br />
in den nikotinbraunen<br />
Amtsstuben des Secret Service<br />
einen Sowjet-Maulwurf: ein<br />
nostalgischer Agententhriller<br />
für ausgeschlafene Zuschauer.<br />
Heute erscheint der Kalte Krieg fast<br />
schon wie ein Märchen aus böser<br />
alter Zeit. Zwei gegensätzliche<br />
Romanautoren und Ex-Agenten<br />
haben der Epoche literarische<br />
Denkmäler gesetzt: Ian Fleming<br />
mit Agent 007 und John Le Carré<br />
mit George Smiley, einem vertrockneten<br />
Abwehrspezialisten im<br />
Londoner Secret Service, auch »Circus«<br />
genannt. Während der ewig<br />
jugendliche Außendienstler James<br />
Bond mit Körper- und Waffeneinsatz<br />
den Sowjetrussen und ihren<br />
Satelliten Feuer unterm Hintern<br />
machte, bekämpfte Bürohengst<br />
Smiley mit Intellekt und Instinkt<br />
den Feind im Inneren der Festung.<br />
Mit Action ist es in Amtsstuben<br />
nun mal nicht weit her. Und in der<br />
berühmten Verfilmung von Le Carrés<br />
Romanklassiker »Dame, König,<br />
As, Spion«, der BBC-Serie »Tinker<br />
Tailor Soldier Spy« von 1979, hatte<br />
»Smiley« Sir Alec Guinness sieben<br />
Folgen Zeit, um den KPD-Maulwurf<br />
unter den fünf »Old Boys« an der