MEDIAkompakt Ausgabe 36
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
Das Zeitungsprojekt im 7.Semester Mediapublishing beinhaltet alle Aufgaben einer Zeitungsredaktion: vom Recherchieren, Interviews führen, Artikel verfassen, Bildmotive selektieren und natürlich dem Akquirieren von Anzeigenkunden ist alles dabei.
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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART AUSGABE 02/2024 04.07.2024 Cover_7.indd 8 20.05.24 16:39
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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />
DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />
AUSGABE 02/2024 04.07.2024<br />
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02/ 2024 ZEITGEIST<br />
3<br />
Was<br />
ist<br />
Zeitgeist?<br />
Bild: Sarah Karkutsch<br />
Nicht nur in Deutschland steht das Wort Zeitgeist für all das, was sich eine Gesellschaft aktuell unter<br />
einem gelingenden Leben vorstellt. Denn das Wort Zeitgeist gibt es auch im englischsprachigen<br />
Raum als sogenanntes Lehnwort. Doch was verbirgt sich hinter diesem schwer fassbaren Konzept?<br />
Zeitgeist-Forscherin Kirstine Fratz bringt es auf den Punkt: „Wir wissen viel über Trends, aber kaum<br />
etwas über den Zeitgeist.“<br />
VON SARAH KARKUTSCH<br />
Frau Fratz, was genau ist Zeitgeist und warum ist er für<br />
unser Verständnis von Kultur und Gesellschaft wichtig?<br />
Wir wissen viel über Trends, aber kaum etwas über<br />
den Zeitgeist. Die Kraft, die kulturellen Wandel im<br />
Hintergrund antreibt. Während Trends meist klar<br />
erkennbar sind, gibt der Zeitgeist Zugang zum kulturellen<br />
Unterbewusstsein. Ein subtiler Riss in der<br />
gesellschaftlichen Matrix kann ausreichen, um<br />
neues kulturelles Potenzial zu erkennen und eine<br />
Anziehungskraft zu schaffen, die unserer Kultur<br />
unvorstellbare Dinge hinzufügt.<br />
In diesem Bereich autonomer kultureller Veränderungen,<br />
jenseits von Institutionen und Interessen,<br />
ist die Zeitgeist-Forschung aktiv. Ein Forschungsfeld,<br />
das vor über 100 Jahren begann und<br />
durch seinen interdisziplinären Ansatz derzeit zu<br />
einem tieferen Verständnis von Kreativität und<br />
Wandel beiträgt.<br />
eine neue Auffassung von Leben auf. Also wenn<br />
immer mehr Menschen eine kulturelle Aufbruchstimmung<br />
spüren.<br />
Ich bin immer auf der Suche nach diesen Rissen.<br />
Dann schaue ich, welche Transformation<br />
sich von dort aus abzeichnet.<br />
Welche Rolle spielt Technologie, insbesondere KI und<br />
Digitalisierung, bei der Erfassung und Interpretation des<br />
Zeitgeistes?<br />
In Bezug auf Zeitgeist-Kompetenz und Sehnsuchtserkennung<br />
ermöglichen KI und Digitalisierung<br />
Zeitgeist-Machern, tiefer in das Verständnis<br />
gesellschaftlicher Sehnsüchte und Aspirationen<br />
einzutauchen. Indem sie KI die Frage stellen „Was<br />
will entstehen?“, anstatt „Wie sollte es sein?“, ermöglichen<br />
diese Technologien Einzelpersonen<br />
und Organisationen, verborgene Potenziale innerhalb<br />
gesellschaftlicher Strukturen aufzudecken.<br />
Dieses Verständnis könnte dann genutzt<br />
werden, um neue kulturelle Heimatstätten zu<br />
schaffen und die allgemeine Lebensqualität zu<br />
verbessern.<br />
Kann Künstliche Intelligenz Zeitgeist-Forschung?<br />
In allen zukünftigen Szenarien, die KI und das<br />
Metaverse involvieren, bleibt es entscheidend zu<br />
beobachten, wie Technologie tatsächlich mit der<br />
menschlichen Erfahrung interagiert.<br />
Von dort aus werden völlig neue Erkenntnisse<br />
und Bedürfnisse entstehen, auf die wir kontinuierlich<br />
reagieren und uns anpassen müssen, solange<br />
hoffentlich Menschen im Mittelpunkt dieser<br />
Entwicklung stehen.<br />
Was genau macht eigentlich eine Zeitgeist-Forscherin?<br />
Als Zeitgeist-Forscherin besteht meine Rolle darin,<br />
in die kollektive Psyche der Gesellschaft einzutauchen,<br />
ihre zugrunde liegenden Sehnsüchte,<br />
Aspirationen und Trends aufzudecken, die verschiedene<br />
Lebensbereiche wie Kultur, Wirtschaft<br />
und Politik prägen.<br />
Wie schaffen Sie es, dem gesellschaftlichen Wandel<br />
auf der Spur zu bleiben?<br />
Zeitgeist-Forschung hat sehr viel mit der Wahrnehmung<br />
in der Gegenwart zu tun. Zeitgeist wird<br />
immer dann sichtbar, wenn die bekannten gesellschaftlichen<br />
Vorstellungen aufhören zu funktionieren.<br />
Ich nenne das den Riss in der Matrix. Das<br />
ist der Moment, wo jemand merkt: Hier kommt<br />
Bild: Kirstine Fratz<br />
Kirstine Fratz<br />
ist Kulturwissenschaftlerin, Buchautorin<br />
und Zeitgeist-Expertin. Seit einigen Jahren<br />
erforscht die Halbdänin wie die Macht des<br />
Zeitgeistes stetig Denken, Handeln und<br />
Fühlen verändert und den Takt in Kultur<br />
und Gesellschaft vorgibt. Mit ihrer Expertise<br />
berät sie erfolgreich Unternehmen wie<br />
Gucci, Escada, Beiersdorf und Google. Dazu<br />
spricht sie als internationale Speakerin darüber,<br />
warum nichts bleibt wie es ist und<br />
warum Sehnsucht, und nicht Vernunft, der<br />
Treiber der Zukunft ist.<br />
Bild: Felix Herder
4 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
„Tiere raus aus der Manege“<br />
Plakate und laute Parolen: Vor<br />
dem Zirkus Krone in Tübingen<br />
demonstriert das Peta Streetteam<br />
gegen die Haltung von<br />
Wildtieren im Zirkus. Mediakompakt<br />
war mit dabei.<br />
VON SARAH GÖKELER<br />
Es ist ein graues Aprilwochenende,<br />
12.45 Uhr. Das Peta Streetteam macht<br />
sich voller Entschlossenheit bereit. Anspannung<br />
liegt in der Luft. Wo der bekannte<br />
Zirkus Krone seine Zelte aufgeschlagen<br />
hat, will sich das Streetteam keine fröhliche<br />
Unterhaltungsshow ansehen. Im Gegenteil:<br />
Sie wollen gegen das Auftreten von Tieren im Zirkus<br />
demonstrieren. Die Szenerie ist durchdrungen<br />
von einer Mischung aus kämpferischer Entschlossenheit<br />
und nervöser Anspannung. Die Mitglieder<br />
des Streetteams rüsten sich, um ihre Stimmen<br />
für die Tiere zu erheben.<br />
Zuerst erklären die drei fachkundigen Leiterinnen,<br />
darunter Marlene Teufel, den Ablauf der Demonstration.<br />
„Wir demonstrieren friedlich und<br />
aufklärend. Wir gehen aller Aggression aus dem<br />
Weg und versuchen alle Interessierten zu informieren.“<br />
Neben Plakaten soll mit einem auffällig<br />
inszenierten Rollenspiel Aufmerksamkeit erregt<br />
werden. Eine Dompteurin lässt dabei zwei Personen<br />
in Tiger- und Löwenkostümen mit schwarzweißer<br />
Sträflingskleidung Kunststücke aufführen.<br />
Währenddessen schallt das Megafon zusammen<br />
mit dem Chor an Demonstrierenden: „Tiere raus!<br />
Raus aus der Manege!“ Diese und weitere Parolen<br />
sind auch auf den Plakaten der restlichen Demonstrierenden<br />
abgebildet. Zudem werden Flyer,<br />
sowohl für Erwachsene als auch für Kinder, bereitgestellt.<br />
Kunststücke im Zirkus aufzuführen entspricht<br />
nicht dem natürlichen Verhalten von<br />
Wildtieren lauten die Erklärungen auf den Flyern.<br />
Marlene Teufel ist bereits seit 2016 freiwillig<br />
beim Peta Streetteam dabei. Seit diesem Jahr arbeitet<br />
sie Vollzeit bei Peta. „Wenn man Veränderungen<br />
herbeiführen und Ungerechtigkeiten aus der<br />
Welt schaffen will, kann man nicht nur warten,<br />
bis was passiert – man muss auch was dafür tun!“,<br />
sagt die 25-Jährige. Die Passant:innen zeigen sich<br />
eher ablehnend gegenüber der Demonstration.<br />
Der Großteil der Besucher:innen ignoriert die<br />
Plakate und Parolen vom Gehweg gegenüber des<br />
Zirkusgeländes. Ein Mann mit zwei Kindern<br />
nimmt einen Flyer entgegen, wirft ihn jedoch direkt<br />
auf den Boden, bevor er eilig davon stapft. Einige<br />
vorbeifahrende Autos hupen. Manche Fahrer:innen<br />
bremsen ab und zeigen einen Vogel<br />
oder den Mittelfinger. Die Demonstrierenden<br />
werden mit Gegenrufen wie „Ruhe!“ und „Müsst<br />
ihr nicht arbeiten?“ konfrontiert.<br />
Jedoch fühlen sich auch manche Leute angesprochen<br />
und sind interessiert. „Haben die nichts<br />
Besseres zu tun?“, murmeln zwei Teenager. Doch<br />
dann werden sie neugierig und suchen das Gespräch.<br />
Marlene Teufel erklärt ihnen: „Die Tiere<br />
werden nicht artgerecht gehalten und stehen unter<br />
enormen Stress.“ Die beiden hören interessiert<br />
zu und nehmen sich anschließend einen Flyer<br />
mit. Innerhalb des Zirkus selbst gibt es gemischte<br />
Meinungen. „Ich bin generell dafür, dass alle frei<br />
ihre Meinung äußern dürfen, aber dass die da<br />
draußen auch Kinder mit ihren Megafonen direkt<br />
anschreien, ist schon fast aggressiv“, äußert sich<br />
ein Mitarbeiter am Merchandising-Stand des Zirkus.<br />
Ein anonym bleibender Mitarbeiter eines anderen<br />
Zirkus betont, dass Zirkus Krone eine herausragende<br />
Tierhaltung habe und die Demonstrierenden<br />
keine Ahnung hätten.<br />
Trotz der kontroversen Reaktionen ist eines<br />
klar: Deutschland ist das einzige EU-Land ohne<br />
nationales Verbot von Tieren im Zirkus. Durch die<br />
leidenschaftlichen Proteste wird deutlich, dass<br />
diese Debatte die Gemüter bewegt und eine breite<br />
Palette von Meinungen hervorruft. Letztendlich<br />
bleibt die wichtige Frage offen, wie die Zukunft<br />
des Zirkus aussehen wird und welche bedeutende<br />
Rolle der Tierschutz dabei spielen wird.<br />
Was ist Peta?<br />
Peta, People for the Ethical Treatment of<br />
Animals, ist eine weltweit agierende Organisation,<br />
die sich für die Rechte aller Tiere<br />
einsetzt. Sie fordern eine moralische Berücksichtigung<br />
von Tieren in allen Belangen<br />
und einer Anerkennung ihrer subjektiven<br />
Rechte.<br />
Dies realisieren sie durch Recherche, Aufklärung,<br />
und Konfrontation. Peta Streetteams<br />
gehen freiwillig landesweit für Tierrechte<br />
auf die Straße.<br />
Bild: Bild: Sarah Pexels Gökeler
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
5<br />
Bienenrevolution:<br />
Jetzt!<br />
Quelle: Adobe Stock<br />
Wer durch den Schrebergarten<br />
am Rande von Magstadt<br />
spaziert, hört ein beständiges<br />
Summen und Brummen. Es<br />
erinnert an Sonnenstrahlen,<br />
Sommer und Schwimmbad.<br />
Doch hinter dem Summen<br />
verbirgt sich mehr als nur ein<br />
Bienenschwarm.<br />
VON MICHELLE VOIGT<br />
Ganz unerwartet beginnt seine Geschichte<br />
nicht in der ländlichen<br />
Idylle, sondern im geschäftigen Treiben<br />
der Werbebranche. „Mit 50<br />
dachte ich über den Sinn meines Lebens<br />
nach“, erklärt Frank Geggus. Sein Hobby, die<br />
Imkerei, entpuppt sich als Antwort. Was klein beginnt<br />
entwickelt sich schnell zu einer Leidenschaft,<br />
die seine berufliche Laufbahn völlig verändert.<br />
Nach drei Jahrzehnten in der pulsierenden<br />
Werbewelt möchte er etwas Bedeutungsvolleres<br />
tun und gründet Bee Life, eine Firma, die Bienen<br />
an Unternehmen vermietet. Heute kümmert er<br />
sich um 120 Bienenvölker, davon sind 80 an Unternehmen<br />
vermietet die restlichen 40 bewirtschaftet<br />
er selbst. Als Berufsimker gehört er zu den<br />
zwei Prozent, die tatsächlich ihre Berufung in der<br />
Imkerei ausleben. Die Mehrheit arbeitet als Hobbyimker.<br />
Bee Life startet mit einer simplen Idee: Bienenvölker<br />
an Firmen zu vermieten, die ihre Grünflächen<br />
nutzen möchten, um die lokale Biodiversität<br />
zu fördern und gleichzeitig natürlichen Honig zu<br />
produzieren. Der Ansatz ist so einfach wie genial:<br />
Unternehmen wählen einen Platz, Geggus prüft<br />
die Eignung, und schon bald summt das Leben<br />
auf dem Firmengelände. Die Firmen selbst müssen<br />
sich kaum kümmern, erhalten aber ein Produkt<br />
ihrer ökologischen Investition – personalisierten<br />
Honig, der an Kund:innen und Mitarbeitende<br />
verschenkt werden kann.<br />
„Es geht nicht nur um Profit, sondern um das<br />
Erschaffen nachhaltiger Werte und das Vergnügen,<br />
mit den Bienen zu arbeiten“, sagt Geggus.<br />
Diese Philosophie zieht immer mehr umweltbewusste<br />
Unternehmen an, die nicht nur ihren grünen<br />
Fußabdruck verbessern wollen, sondern auch<br />
aktiv zur ökologischen Vielfalt ihrer Region beitragen<br />
möchten.<br />
Das ist aber noch lange nicht alles, was Geggus<br />
macht. Neben Bee Life betreibt er das Bienenzentrum<br />
in Magstadt, besitzt einen Imkereibedarf<br />
und Honigladen, unterstützt im Jugendforschungszentrum<br />
in Sindelfingen und arbeitet im<br />
Bund der Selbstständigen in Magstadt mit. Besonders<br />
das Jugendforschungszentrum liegt ihm am<br />
Herzen. Dort betreut er das Naturhabitat und bietet<br />
Schulklassen und Kindergärten an, unser Ökosystem<br />
besser kennenzulernen. Das neueste Projekt<br />
ist die Pflanzung eines Tiny Forest auf dem<br />
Gelände des Jugendforschungszentrums in Sindelfingen.<br />
Die Arbeit mit den Bienen ist für Geggus<br />
mehr als nur eine Beschäftigung, sie ist eine<br />
Leidenschaft. Darüber hinaus erkennt Geggus die<br />
Bildungskomponente seiner Arbeit. Er öffnet seine<br />
Bienenstöcke für Schulklassen und Kindergärten,<br />
um den Kindern die faszinierende Welt der<br />
Bienen näherzubringen. Diese Besuche sind nicht<br />
nur lehrreich, sondern prägen auch eine neue Generation,<br />
die den Wert der Biodiversität versteht<br />
und schätzt. „Den Kindern kann man es beibringen,<br />
bei den Erwachsenen ist das deutlich schwieriger“,<br />
sagt Geggus. In diesen Veranstaltungen lernen<br />
die Kinder alles über den Lebenszyklus der<br />
Bienen und die Wichtigkeit der Bestäubung für<br />
das Ökosystem.<br />
Frank Geggus zeigt, dass es nie zu spät ist, einen<br />
neuen Weg einzuschlagen. Sein Weg führte<br />
ihn von der kreativen Werbewelt in die nachhaltige<br />
Imkerei, wo er nun sowohl die Umwelt als auch<br />
die Gemeinschaft bereichert. Sein Beispiel inspiriert<br />
andere, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen<br />
und mutige Schritte zu wagen, um die<br />
Welt ein Stück besser zu machen.<br />
Bild: Michelle Voigt
6 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Im Herzen der Strafverfolgung<br />
Die Zahl der Angriffe auf die Polizei steigt. Gleichzeitig gibt es neue Formen der Kriminalität.<br />
Kriminalkommissar Felix Leiter gibt Einblicke in seinen herausfordernden Alltag.<br />
VON SEAN HONORÉ<br />
Bild: Adobe Stock<br />
Das laute Klopfen an einer Wohnungstür<br />
hallt durch den Flur, während<br />
zwei Beamte vor der verschlossenen<br />
Tür stehen. Sie wurden gerufen, weil<br />
sich die anderen Bewohner über einen<br />
unangenehmen Geruch beschwert haben.<br />
Die Beamten halten einen Durchsuchungsbefehl<br />
fest in der Hand, bereit, ihre Pflicht zu erfüllen.<br />
Die Tür wird geöffnet und die Dunkelheit der<br />
Wohnung empfängt sie. Ein intensiver Geruch<br />
von Moder, verrottendem Fleisch und faulendem<br />
Obst schlägt ihnen entgegen.<br />
Im Wohnzimmer enthüllt der Lichtkegel der<br />
Taschenlampen das Bild eines altmodisch eingerichteten<br />
Zimmers, in dessen Mitte ein Mann regungslos<br />
auf dem Boden liegt. Der Mann scheint<br />
eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Nun<br />
steht die unschöne Aufgabe bevor, den Leichnam<br />
zu untersuchen. Es ist einer der ersten Einsätze<br />
von Kriminalkommissar Felix Leiter*, ein Ereignis,<br />
das seine Erinnerung an die Herausforderungen<br />
und Realitäten seines Berufs geprägt hat.<br />
Der Weg zum LKA beginnt oft in jungen Jahren,<br />
gewoben aus dem Wunsch, das Gute in der<br />
Welt zu fördern. „Ich erkannte früh, dass mir das<br />
Arbeiten mit Menschen Spaß macht und liebäugelte<br />
mit dem Gedanken etwas Positives zur Beeinflussung<br />
der Gesellschaft beizutragen“, sagt<br />
Leiter. Doch es sind nicht nur die großen Erfolge,<br />
die den Alltag ausmachen: „Herausfordernd ist<br />
natürlich immer die direkte Konfrontation mit<br />
kriminellen Taten. Um solche Erfahrungen zu<br />
verarbeiten, ist insbesondere der harmonische<br />
und kollegiale Zusammenschluss innerhalb der<br />
Polizei von großer Bedeutung.“<br />
Immer wieder hört man von gewaltsamen<br />
Übergriffen und Attacken auf Polizeibeamte. Zu<br />
der Frage, ob er selbst schon mal die Erfahrung mit<br />
Gewalt gegen Polizisten gemacht hat, antwortet<br />
Leiter: „Glücklicherweise noch nicht. Dieses Ge-<br />
waltphänomen betrifft vor allem Polizeibeamte<br />
der Schutzpolizei, welche tagtäglich in Kontakt<br />
mit den Bürgern auf Straßen stehen. In den vergangenen<br />
Jahren sank der Respekt gegenüber der<br />
Polizei und damit auch die Hemmschwelle für Gewalt<br />
gegen Polizeibeamte. Die Ursache für diese<br />
Entwicklung lässt sich auch für uns nicht vollkommen<br />
schlüssig erklären. Viele einzelne Faktoren<br />
beeinflussen diese Entwicklung.“<br />
Internationale Kooperationen, technologische<br />
Innovationen und präventive Maßnahmen<br />
sind entscheidende Instrumente im Kampf gegen<br />
neue Formen der Kriminalität. So sagt Felix Leiter:<br />
„Insbesondere durch die Zusammenarbeit über<br />
die Landesgrenze hinweg kann effektiver gegen<br />
grenzüberschreitende Kriminalität vorgegangen<br />
werden. Wichtig dabei ist meiner Meinung nach,<br />
kulturelle Unterschiede zu respektieren und zu<br />
verstehen, um gemeinsame Ziele zu erreichen.“<br />
Doch nicht nur der respektvolle Umgang mit Kolleg:innen<br />
aus anderen Ländern ist wichtig. Auch<br />
die Vertrauensbasis mit der Bevölkerung sei beizubehalten.<br />
Auch meint Leiter: „Im Spannungsverhältnis<br />
zwischen der strengen Durchsetzung des Gesetzes<br />
und dem Bedürfnis nach Empathie und Verständnis<br />
für die Menschen, mit denen ich in Kontakt<br />
komme, ist es wichtig, einen ausgewogenen Ansatz<br />
zu finden. Deshalb lege ich Wert darauf respektvoll<br />
und empathisch mit den Menschen umzugehen.<br />
Das Vertrauen der Bevölkerung in die<br />
Polizeiarbeit spielt eine große Rolle hinsichtlich<br />
der Sicherheitsentwicklung im Land und wirkt<br />
sich maßgeblich auf das Hellfeld aus.“<br />
Die jüngste Polizeiliche Kriminalstatistik 2023<br />
zeigt einen Anstieg von Straftaten. Die zunehmende<br />
Ausländerkriminalität, vor allem im Zusammenhang<br />
mit den aktuellen Flüchtlingsströmen,<br />
spiegelt sich ebenfalls in den Zahlen wider.<br />
„Dabei muss man allerdings beachten, dass Ausländer<br />
Taten begehen, die von der Öffentlichkeit<br />
und den Medien eher wahrgenommen werden,<br />
wie zum Beispiel Gewalttaten oder Körperverletzung.<br />
Außerdem sind der Großteil der Straftaten ausländerrechtliche<br />
Verstöße wie unerlaubte Einreise<br />
und unerlaubter Aufenthalt. Deutsche hingegen<br />
begehen eher Taten, die nicht so sehr in der Öffentlichkeit<br />
stehen. Wie zum Beispiel sexueller<br />
Missbrauch von Kindern und der Besitz, die Verbreitung<br />
und die Erstellung von Kinderpornografischen<br />
Inhalten“, meint Leiter.<br />
Diese Einschätzung beruht nicht nur auf den<br />
Erfahrungen des Beamten, sondern schlagen sich<br />
auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik nieder.<br />
*Name von der Redaktion geändert
Bild: Privat<br />
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
7<br />
Wer widerspricht, ist ein Verräter<br />
AfD, FPÖ, PiS – Rechte Parteien<br />
sind europaweit auf dem<br />
Vormarsch, rechtsextremes<br />
Gedankengut auch in Deutschland<br />
wieder Teil des Zeitgeists.<br />
Doch was ist, wenn diese Entwicklungen<br />
ihre Schatten auf<br />
Spezialeinheiten der Polizei<br />
und Bundeswehr werfen?<br />
VON ANNIKA LOSCH<br />
Hitlergrüße, Rechtsrock und fliegende<br />
Schweineköpfe – in der Vergangenheit<br />
hat die eigentliche Eliteeinheit<br />
Kommando Spezialkräfte (KSK)<br />
der Bundeswehr wiederholt Schlagzeilen<br />
durch Extremismus-Vorfälle gemacht, wie<br />
bei der geschilderten Abschiedsfeier für Oberstleutnant<br />
Pascal D. Auch Polizisten des Frankfurter<br />
Spezialeinsatzkommandos (SEK) sollen in Chats<br />
rechtsextreme Beiträge geteilt haben. Ermittelt<br />
wurde gegen 20 Beamte, darunter drei Vorgesetzte,<br />
die trotz Kenntnis der Vorgänge nicht eingeschritten<br />
seien. Hessens Innenminister Peter<br />
Beuth spricht von einem „inakzeptablen Fehlverhalten“<br />
und löst das Kommando nach Bekanntwerden<br />
der Vorwürfe auf.<br />
Rechtsextremismus als gesellschaftliches Problem<br />
rückt zunehmend in den Fokus. Besonders<br />
alarmierend wird diese Entwicklung, wenn sie in<br />
den Reihen von Behörden zutage tritt. Beamt:innen<br />
sind den im Grundgesetz verankerten freiheitlich-demokratischen<br />
Werten durch ein Treuebekenntnis<br />
besonders verpflichtet. Umso problematischer<br />
ist es, wenn Angehörige von Spezialeinheiten<br />
der Polizei und Bundeswehr Zweifel an ihrer<br />
Verfassungstreue aufkommen lassen.<br />
Doch wie kommt es zur Entwicklung rechter<br />
Gesinnungen? „Die Lebenswelt, in der wir uns bewegen,<br />
ist entscheidend. Unsere alltäglichen Erfahrungen<br />
beeinflussen uns stark in der Art und<br />
Weise, wie wir die Welt interpretieren“, erklärt Dr.<br />
Rolf Frankenberger, Geschäftsführer des Instituts<br />
für Rechtsextremismusforschung (IRex) der Universität<br />
Tübingen. Ausschlaggebend seien dabei<br />
das Gefühl politischer Entfremdung und persönliche<br />
Kränkungsmomente. Andersrum spielen<br />
auch Erfolgsmomente eine Rolle, wenn man eine<br />
rechte Position äußere und Zuspruch erfahre.<br />
In den Fällen des SEK und KSK wurden rechtsextreme<br />
Einstellungen bis in die Führungsebene<br />
geduldet oder gar vertreten. In hierarchischen<br />
Umfeldern, in denen man sich an Vorgesetzten<br />
orientiert und von ihnen abhängig ist, ist dies besonders<br />
kritisch. Behörden können dabei laut<br />
Frankenberger die eigenen Strukturen zum Verhängnis<br />
werden: „Was sie einfach zum Funktionieren<br />
brauchen, sind klare Befehlsketten, in denen<br />
jeder weiß, was zu tun ist, wenn der entsprechende<br />
Befehl kommt. Das widerspricht einem<br />
Stück weit einer kritischen, reflexiven Kultur.“<br />
Anonyme Meldesysteme oder aufmerksame Vorgesetzte,<br />
die entsprechende Entwicklungen wahrnehmen,<br />
könnten so etwas verhindern. „Das ist<br />
immer auch eine Frage von guter Führung.“<br />
Spezialeinheiten verfügen über ein ausgeprägtes<br />
Elitedenken. Der daraus resultierende Korpsgeist<br />
ist einerseits erwünscht, andererseits bietet<br />
er einen Nährboden für die Entstehung rechtsextremer<br />
Gesinnungen. „Korpsgeist ist ein histo-<br />
risch belasteter Begriff, der vor allem auf Kameradschaft<br />
abzielt“, ordnet der Experte ein. Diese ist<br />
bei Spezialkräften essenziell, da man sich in den<br />
gefährlichen Situationen, für die man ausgebildet<br />
ist, aufeinander verlassen muss. Es können sich jedoch<br />
auch negative Mechanismen der Gruppenbildung<br />
verselbstständigen. „Wenn in einer<br />
Gruppe ein bestimmtes Weltbild überwiegt, wird<br />
nicht mehr hinterfragt, ob das falsch ist oder<br />
nicht.“ Das könne sich hochschaukeln, bis Vorurteile<br />
zum guten Ton gehören und sie kollektiv toleriert<br />
werden. „Widerspruch ist zwar möglich,<br />
aber nicht wahrscheinlich und wird ab einem gewissen<br />
Grad mit Ausschluss aus der Gruppe sanktioniert.<br />
Wer widerspricht, ist eigentlich ein Verräter“,<br />
erklärt Frankenberger.<br />
Was wird zur Extremismusprävention getan?<br />
Eine offene Fehlerkultur sei wichtig, genauso wie<br />
psychologische Betreuung. Frankenberger betont<br />
außerdem: „Es gibt nirgends einen so selektiven<br />
Umgang mit der Gesellschaft wie bei der Polizei.<br />
Sie haben meist mit denen zu tun, die in irgendeiner<br />
Weise Ärger machen.“ Das könne die Wahrnehmung<br />
über bestimmte Gruppen verzerren<br />
und Vorurteile oder Stereotype verdichten. „Das<br />
muss immer wieder aufgebrochen werden durch<br />
beispielsweise Fortbildungsprogramme und Exkursionen.“<br />
Mehr Austausch, mehr Demokratisierung.<br />
Insgesamt ist die Zahl von rechten Vorfällen<br />
in Behörden laut eines Lageberichts des Bundesamt<br />
für Verfassungsschutz sehr gering. Die große<br />
Mehrheit der Polizist:innen und Soldat:innen ist<br />
verfassungstreu und erfährt Unrecht, wenn sie<br />
pauschal Extremismusvorwürfen ausgesetzt werden.<br />
Trotzdem darf sich nicht nur an quantitativen<br />
Aspekten orientiert werden. Denn jeder einzelne<br />
Fall ist geeignet, das Vertrauen in den Staat<br />
zu erschüttern.
8 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Zwischen<br />
Multikulti<br />
und<br />
Rassismus<br />
Bild: Privat<br />
Mit türkisen Lagunen und weißen Sandstränden zählt die Insel<br />
Mauritius im Indischen Ozean zu den beliebtesten Urlaubsdestinationen.<br />
Blickt man jedoch hinter die Fassaden der Trauminsel,<br />
dominieren veraltete Strukturen und Werte das soziale Leben.<br />
VON DÈSIRÈE VOGT<br />
Von ausländischen Personen hört man<br />
immer, Mauritius sei ein wunderschönes,<br />
multikulturelles Land, in dem alle<br />
friedlich zusammenleben. Aber als Einheimische<br />
merke ich immer wieder wie<br />
rassistisch und ausgrenzend dieses Land ist“, bemerkt<br />
die 24-jährige Elodie Souroop.<br />
Sie selbst lebt in Beau Bassin, im Westen der<br />
Insel, und ist gebürtige Mauritierin. Auf ihren Namen<br />
reagieren ihre Mitmenschen allerdings oft<br />
verwundert. Sie können nicht glauben, dass Souroop<br />
einen indischen Nachnamen hat, obwohl sie<br />
optisch sehr kreolisch aussieht. Viele Einheimische<br />
lassen mit solchen Vorurteilen jedoch die<br />
Geschichte des Landes außer Acht.<br />
Die Kreolen sind nach Definition die Nachkommen<br />
weißer Europäer und schwarzer Afrikaner<br />
in ehemaligen Kolonialgebieten. Mauritius<br />
war zuerst französische, dann britische Kolonie.<br />
Beide Kolonialmächte nutzten das Land vor allem<br />
für den Zuckerrohranbau. Dazu verschleppten sie<br />
zunächst Versklavte aus Afrika zur Arbeit auf den<br />
Plantagen. Als die Sklaverei 1835 abgeschafft wurde,<br />
übernahmen indische Arbeitskräfte die Pflanzungsarbeiten.<br />
Darauffolgende Generationen<br />
blieben auf der Insel und mit der Zeit vermischten<br />
sich die verschiedenen Einwanderergruppen. Aus<br />
diesem Grund möchte sich die Social Media-Managerin<br />
auch nicht einzig als kreolisch labeln. Sie<br />
selbst hat französische, westafrikanische und indische<br />
Wurzeln und bezeichnet sich lieber einfach<br />
als Mauritierin. Denn ihrer Auffassung nach<br />
hat jede:r denselben kreolischen Kern, da alle aus<br />
einem vielfältigen Mix verschiedener Ethnien<br />
stammen. Doch nur wenige Mauritier:innen sind<br />
so aufgeschlossen. Im Jahr 1968 erlangte Mauritius<br />
seine Unabhängigkeit von Großbritannien.<br />
Bild: Privat<br />
Die Engländer gingen – die rassistischen Strukturen<br />
blieben. Elodie Souroop schildert, dass ähnlich<br />
wie früher ein heller Teint immer noch das<br />
gesellschaftliche Ideal sei. Es gilt: Je heller die<br />
Haut, umso höher die wirtschaftlichen und sozialen<br />
Vorteile. Deswegen sei das Konstrukt des sogenannten<br />
„Colourism“ stark in der Gesellschaft<br />
verankert. „So werden ‚People of Colour‘ auf<br />
Grund ihres helleren Hauttons vorteilhafter behandelt<br />
als Personen derselben Gruppe, die eine<br />
dunklere Haut haben“, erklärt sie.<br />
Abgesehen von der Hautfarbe bestimmen<br />
auch andere Faktoren die Unterschiede innerhalb<br />
der Gesellschaft, sowie beispielsweise die Religion.<br />
Die Christin kritisiert: „Die Hindus genießen<br />
die meisten Vorteile.“ Ein Grund hierfür sei, dass<br />
sie den Großteil der Bevölkerung mit über 50 Prozent<br />
widerspiegeln. Als anderen Grund nennt sie<br />
die enge Verbindung zwischen der mauritischen<br />
und der indischen Regierung. Indien finanziere<br />
fast alle Neuerungen im Bereich der Wirtschaft<br />
und der Infrastruktur. Demzufolge hänge an vielen<br />
öffentlichen Orten des Landes die indische<br />
Flagge, neben der mauritischen. „Man fühlt sich<br />
dadurch als konvertiertes Mauritius zu einem<br />
‚Little India‘“, gesteht sie. Durch die genannten<br />
Strukturen bestünde auf Mauritius ein unausgesprochenes<br />
Klassensystem, das einzig auf der<br />
Hautfarbe und der Religion der einzelnen Gruppen<br />
beruhe. Auch Themen wie Feminismus, Rassismus<br />
oder Sexismus werden auf Mauritius kaum<br />
öffentlich diskutiert, während sie in Europa regelmäßig<br />
Teil des gesellschaftlichen Diskurses sind.<br />
Die Mauritierin sieht den Grund hierfür unter anderem<br />
in der immer älter werdenden Bevölkerung<br />
des Landes, die für Veränderungen dieser Art<br />
kaum Verständnis aufbringe. „Widerspruch wird<br />
hier immer noch als Respektlosigkeit gedeutet“,<br />
bemängelt sie.<br />
Abschließend prangert die Insulanerin aber<br />
vor allem das Bildungssystem dafür an, dass Veränderungen<br />
und Diskurse ausbleiben. Dabei kritisiert<br />
sie in erster Linie die Unterschiede zwischen<br />
den privaten und öffentlichen Schulen: „In den<br />
privaten Schulen wird kritisches Denken stark gefördert.<br />
Jedoch sind sie auch für die meisten Familien<br />
unbezahlbar.“ Die öffentlichen Schulen seien<br />
dadurch stark überfüllt und es gäbe kaum Kapazitäten,<br />
um sich mit Dingen außerhalb des Lehrplans<br />
zu beschäftigen. Souroop zieht das Fazit:<br />
„Die Kinder lernen dadurch oft nur die konservativen<br />
und strengen Ansichten, die sie zuhause beigebracht<br />
bekommen und reproduzieren damit die<br />
veralteten Strukturen und Denkweisen.“
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
9<br />
„Trans ist keine Entscheidung”<br />
Mit Mitte 30 erkennt Alex Häfner, dass er trans* ist. Heute leitet<br />
er zusammen mit Tanja Gemeinhardt die Mission Trans* e.V. und<br />
teilt seine persönliche Geschichte sowie die Herausforderungen,<br />
denen trans* Personen gegenüberstehen.<br />
VON STEPHANIE POPOW<br />
Was ist trans*?<br />
Trans* bedeutet, dass eine Person sich<br />
nicht oder nicht komplett mit dem<br />
Geschlecht identifiziert, das ihr bei der<br />
Geburt zugewiesen wurde, sondern sich als<br />
ein anderes Geschlecht identifiziert.<br />
Wer bin ich eigentlich?“, eine Frage,<br />
die sich Alex Häfner mit Mitte<br />
30 stellt. In seiner Jugend interessieren<br />
ihn typische Geschlechterrollen<br />
wenig. Er bevorzugt männliche<br />
Vorbilder, Kurzhaarfrisuren und maskuline<br />
Kleidung. Nach seinem Studium 2007 chattet er<br />
mit einer trans* Person und erfährt vom Begriff<br />
„trans*“. Das inspiriert ihn, über das Thema zu recherchieren<br />
und seine Geschlechtsidentität zu<br />
hinterfragen. Doch bis zur Selbstakzeptanz vergehen<br />
zehn Jahre, die fast in einem Burnout gipfeln.<br />
Ein entscheidender Moment vor dem Spiegel<br />
führt zur Erkenntnis: Verdrängen ist keine Option<br />
mehr. „Entweder ich informiere mich jetzt tiefer,<br />
suche Kontakt zu trans* Personen oder irgendwas<br />
geht in eine ganz falsche Richtung mit mir“, erzählt<br />
er. Die Suche nach Gleichgesinnten und<br />
Selbsthilfegruppen sind Meilensteine auf dem<br />
Weg zur Akzeptanz. Trotz seiner Angst vor Ablehnung<br />
erfährt der Vereinsleiter in seinem persönlichen<br />
Umfeld Unterstützung und Zustimmung.<br />
„Trans* zu sein ist keine Entscheidung, weil<br />
man trans* geboren wird“, sagt der 42-Jährige. Die<br />
Geschlechtsidentität wird durch verschiedene<br />
Faktoren geprägt, darunter biologische und psychologische<br />
Aspekte. Dadurch kann es vorkommen,<br />
dass bei der Geburt das falsche Geschlecht<br />
zugewiesen wird, obwohl die körperlichen Merkmale<br />
übereinstimmen. Jeder kann selbst entscheiden,<br />
ob er eine Transition machen möchte, um<br />
sein Aussehen, seine Identität und seine Dokumente<br />
zu ändern. Bisher war es ein aufwendiger<br />
Prozess, den Geschlechtseintrag und den Vornamen<br />
zu ändern. Ein mühsames Gerichtsverfahren<br />
mit teuren Gutachten. Das wird sich ändern,<br />
Bild: Julian Rettig<br />
wenn am 1. November 2024 das Selbstbestimmungsgesetz<br />
in Kraft tritt. Ein Termin beim Standesamt<br />
genügt, um beide Daten ohne Gutachten<br />
oder Gericht zu ändern. Trotz dieses Fortschritts<br />
bestehen weiterhin viele Probleme, vor allem im<br />
Gesundheitswesen. Der Vereinsleiter kritisiert alte<br />
Methoden und fordert eine bessere Behandlung<br />
für trans* Personen. Transsexualität wird im<br />
ICD-11, einer Klassifikation von Krankheiten, als<br />
körperliche Erkrankung eingestuft. Ärzt:innen<br />
können ihn nicht verwenden, da er noch übersetzt<br />
und angepasst wird. Deshalb wird weiterhin<br />
der ICD-10 verwendet, wo Transsexualität als psychische<br />
Krankheit gilt. Das wirkt sich auf trans*<br />
Personen aus. Der Vereinsgründer hat selbst ge-<br />
merkt, wie schwierig es ist, bestimmte Versicherungen<br />
abzuschließen. Arbeitsunfähigkeitsversicherung?<br />
Lebensversicherung? Sein Steuerberater<br />
sagt ihm, dass könne er mit dieser Diagnose knicken.<br />
Die Liste der Missstände ist lang, weswegen<br />
sich der 42-Jährige in der trans* Community beteiligt,<br />
um etwas zu verändern.<br />
Mission Trans* e.V. in Stuttgart engagiert sich<br />
leidenschaftlich für die Unterstützung und Vernetzung<br />
der trans* Community. Sie strebt danach,<br />
eine einladende Gemeinschaft für trans* Menschen<br />
zu schaffen, indem sie ihre Anliegen in der<br />
Öffentlichkeit vorantreiben. Neben Freizeitaktivitäten<br />
und Informationsveranstaltungen setzt sich<br />
die Organisation auch politisch ein, indem sie in<br />
verschiedenen Gremien und Netzwerken präsent<br />
ist. Zudem trägt sie zur Sichtbarkeit bei, indem sie<br />
an Ereignissen wie dem CSD teilnimmt.<br />
Als leitender Kopf des gemeinnützigen Vereins<br />
jongliert der 42-Jährige täglich zwischen verschiedenen<br />
Welten. Nach einem langen Arbeitstag<br />
erwarten ihn nicht nur seine Katzen, sondern<br />
auch eine lange Liste an Aufgaben. Trotz knapper<br />
Zeit ist sein Engagement nicht nur Verpflichtung,<br />
sondern Leidenschaft. Seine Antwort auf die Frage<br />
nach seinem Hobby lautet stets: „Mein Hobby ist<br />
Mission Trans*“. Der Vereinsgründer träumt von<br />
einer Welt, in der jeder nach seinen eigenen Vorstellungen<br />
leben kann. Doch dazu müssen patriarchale<br />
Strukturen und das Geschlechtersystem<br />
überwunden werden. Es ist wichtig, dass jeder,<br />
egal ob trans* oder nicht, an Veranstaltungen teilnimmt<br />
und sie unterstützt. Alex Häfner hofft auf<br />
eine Zukunft, in der der Verein nicht mehr gebraucht<br />
wird, weil Gleichberechtigung und Akzeptanz<br />
zum Standard geworden sind.<br />
Bild: Tanja Gemeinhardt
10 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
„Überall stinkt es nach Kiffe!”<br />
Seit dem ersten April 2024 ist der<br />
Besitz von kleinen Mengen Cannabis<br />
zum Eigengebrauch sowie der<br />
private Anbau im kleinen Rahmen<br />
für Personen über 18 Jahren in<br />
Deutschland erlaubt. Apothekerin<br />
Julia Graser über die brisante<br />
Thematik im Interview.<br />
VON ANDRE MALKOC<br />
Haben Sie im Berufsalltag bereits Veränderungen bemerkt?<br />
Wir bekommen aktuell Anfragen von diversen Telemedizin-Portalen,<br />
aber auch Besucher der Apotheke<br />
haben bereits danach gefragt. Außerdem<br />
stinkt es überall nach Kiffe!<br />
Wie stehen Sie zur medizinischen Behandlung mit Cannabis?<br />
In einigen wenigen Einzelfällen halte ich es für<br />
sinnvoll, jedoch gibt es viele gute und erprobte<br />
Präparate, die man in den meisten Fällen und<br />
Krankheitsbildern anstatt von Cannabis verwenden<br />
sollte. Aktuell ist der Bedarf an medizinischem<br />
Cannabis in unserer Apotheke nicht wirklich<br />
hoch.<br />
Wie stehen Sie zum Freizeitkonsum von Cannabis?<br />
Wenn ältere Menschen verantwortungsbewusst<br />
damit umgehen, ist es erst mal kein Problem. Es<br />
wird jedoch viel zu wenig für den Jugendschutz<br />
getan. Ich finde, das neue Gesetz ist schlecht gemacht<br />
und sollte hinsichtlich dessen verbessert<br />
werden. Außerdem empfinde ich es, als würden<br />
die neuen Regeln aktuell nicht befolgt werden,<br />
und meiner Meinung nach sollte man die Regeln<br />
befolgen. Aus medizinischer Sicht wird stark verharmlost.<br />
Warum eine weitere Droge? Es sollte<br />
mehr präventive Arbeit im Jugendschutz geleistet<br />
werden.<br />
Wie ist Ihre Meinung zur Legalisierung?<br />
Klare Stellungnahme dagegen, vor allem auf dem<br />
aktuellen Weg.<br />
Wo sehen Sie die Möglichkeiten und Gefahren, Pros<br />
und Contras?<br />
Es ist stark gesundheitsschädlich, vor allem im<br />
Hinblick auf psychische Erkrankungen. Dies sollte<br />
bekannt sein. Zudem sieht man eine starke Zunahme<br />
im Konsumverhalten in Ländern, die bereits<br />
eine legale Situation haben.<br />
Haben Sie einen Zeitgeist in dieser Thematik wahrgenommen?<br />
Nicht wirklich anders als sonst. Meiner Meinung<br />
nach sollte die Politik handeln. Man hätte das<br />
nicht gebraucht, es hat weder in meinem beruflichen<br />
Leben noch im Privatleben etwas besser gemacht.<br />
Konkret gefällt mir die Art der Umsetzung<br />
nicht. Man hätte die Abgabe kontrolliert, wie vom<br />
Apothekerverband vorgeschlagen, über die Apotheken<br />
abwickeln können, samt Register und<br />
kontrollierter Abgabe. Das wurde aber vom Bund<br />
abgelehnt. Ich finde das schlecht, da ein klares<br />
Suchtpotenzial besteht und dies verharmlost<br />
wird. Meines Wissens nach sollen nur acht Millionen<br />
Euro für den Jugendschutz geplant sein, was<br />
viel zu wenig ist, wenn man betrachtet, wie die<br />
Zahlen von psychischen Erkrankungen bei jungen<br />
Menschen seit Corona angestiegen sind. Warum<br />
sollte man dann noch das Kiffen erlauben?<br />
Man sollte mehr dafür tun, den Konsum einzudämmen!<br />
Cannabislegalisierung Info<br />
Gesetz: Cannabis Gesetz (CanG)<br />
Datum des Inkrafttretens: 1. April 2024<br />
Erlaubt: Besitz von 25 Gramm Cannabis<br />
zum Eigengebrauch in der Öffentlichkeit,<br />
Besitz von bis zu 50 Gramm und drei Bild: lebenden<br />
Pflanzen am<br />
unsplash<br />
Wohnort.<br />
Besondere Regelungen: Zeitlich und lokal<br />
gebundene Konsum-Verbote, allgemeines<br />
Werbe-/Sponsoringverbot, Ausbau der Präventionsangebote<br />
durch BZgA.<br />
Kontroversen: Umsetzung des Jugendschutzes,<br />
Suchtprävention, Allgemeine Gesetzeslage.<br />
BILD: PEXELS
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
11<br />
Das<br />
stille<br />
Echo<br />
des<br />
Ghostings<br />
Bild: iStock<br />
Es geschieht plötzlich und ohne<br />
Vorwarnung. Selbst Personen,<br />
zu denen man einen vermeintlich<br />
engen Kontakt hatte,<br />
verschwinden von heute auf<br />
morgen. Keine Erklärung, kein<br />
Abschied, nur Stille. Wie gehen<br />
Betroffene damit um?<br />
VON JENNIFER HOHN<br />
Ihr Schweigen war schon Antwort genug“,<br />
berichtet die 28-jährige Gina Schneider*, die<br />
plötzlich von ihrer langjährigen Freundin<br />
geghostet und blockiert wurde. Doch für viele<br />
ist die plötzliche Stille eine größere Belastung<br />
als ein klarer und deutlicher Schlussstrich.<br />
„Ghosting verursacht nicht nur bei den Geghosteten<br />
emotionalen Stress, sondern beeinträchtigt<br />
auch das Wohlbefinden derjenigen, die ghosten“,<br />
sagt Dr. Michaela Forrai von der Universität Wien<br />
in ihrer aktuellen Studie „Short-sighted ghosts“<br />
aus 2023.<br />
Die beiden Betroffenen Gina Schneider und<br />
Max Bauer* erzählen von langjährigen Freundschaften,<br />
die plötzlich von einem Tag auf den anderen<br />
zugrunde gingen. In beiden Fällen gab es<br />
vor dem Kontaktabbruch Streitigkeiten, die nicht<br />
geklärt wurden. Beide berichten, dass ihnen die<br />
Chance genommen wurde, sich zu erklären. Gina<br />
behauptet, dass ihre damalige Freundin ihr mitt-<br />
lerweile egal sei. In ihren Augen ist Ghosting der<br />
letzte Weg, den man geht, wenn alles davor nicht<br />
funktioniert. Zeitgleich werden die eigenen Fragen<br />
nie beantwortet und Probleme nie geklärt.<br />
„Wie soll ich mich bessern, wenn ich nicht weiß,<br />
was ich falsch getan habe?“, so die Worte des<br />
29-jährigen Max Bauer, der während eines Streits<br />
plötzlich ignoriert wurde und bis heute keine Antwort<br />
mehr von diesem Freund erhalten hat. „In<br />
einem richtigen Gespräch kannst du dich auch<br />
nicht einfach umdrehen und gehen.“ Seiner Meinung<br />
nach sollten auch digitale Gespräche und<br />
Beziehungen wie solche behandelt werden, die im<br />
persönlichen Kontakt entstehen.<br />
Doch das sehen nicht alle gleich. Sarah Müller*<br />
und Bianca Töpfer* haben selbst geghostet<br />
und ihre guten Gründe dafür: „Manchmal wird<br />
deutlich, dass ein Gespräch zu nichts führt und eine<br />
weitere Kommunikation nur weitere Nerven<br />
und Frust beschert“, berichtet die 26-jährige Sarah<br />
Müller. Sie hat den Kontakt zu einem Freund, den<br />
sie seit mehreren Jahren kannte, bewusst abgebrochen.<br />
Sie hat bemerkt, dass eine Freundschaft zu<br />
dieser Person nicht länger funktioniert und ihre<br />
Worte nicht angenommen werden.<br />
„Ich habe meine Probleme in der Freundschaft<br />
geäußert, die nur mit Gegenangriffen gerechtfertigt<br />
wurden“, schildert Sarah Müller. Dr. Michaela<br />
Forrai erklärt in ihrer Studie, dass das Ghosting<br />
von Freund:innen mit dem Selbstwertgefühl der<br />
Person zusammen hängt. Menschen mit höherem<br />
Selbstwertgefühl neigen eher dazu, Freund:innen<br />
zu ghosten. Die 26-jährige Studentin Bianca Töpfer<br />
wiederum berichtet, dass sie den Kontaktabbruch<br />
aus eigenem Schutz initiiert hat. Als Antwort<br />
auf einen aus Missverständnissen entstandenen<br />
Streit hat sie sich dazu entschlossen, ihre ehemalige<br />
Freundin auf WhatsApp zu blockieren.<br />
„Das Blockieren war nicht, um sie zu verletzten,<br />
sondern um mir selbst den Herzschmerz zu ersparen,“<br />
sagt sie. Sie gibt zu, dass es selbstsüchtig war,<br />
hoffte aber, dass die Freundin sich über andere<br />
Plattformen oder sogar persönlich bei ihr meldet.<br />
Doch nicht nur im privaten Alltag, sondern<br />
auch an Hochschulen kommt es dazu, dass eingeschriebene<br />
Student:innen plötzlich nicht mehr<br />
auftauchen oder gar nie erscheinen. Der 25-jährige<br />
Student Kai Fischer* erzählt, aus seiner Sicht. Er<br />
wollte ein Studium in Österreich absolvieren,<br />
musste jedoch am ersten Tag schon feststellen,<br />
dass er dazu noch nicht bereit war. Noch am selben<br />
Tag fuhr er wieder nach Hause, ohne sich offiziell<br />
abzumelden. Heute studiert er erfolgreich im<br />
dritten Semester in Deutschland. „In so einer Situation<br />
denkt man nicht daran sich abzumelden,“<br />
sagt er.<br />
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich,<br />
dass Ghosting als gesellschaftliches Problem ernst<br />
zu nehmen sei. Dr. Michaela Forrai legt nahe, dass<br />
Maßnahmen ergriffen werden müssen, um eine<br />
bessere Kommunikation zu ermöglichen. Gina<br />
fasst es treffend zusammen: „ So funktioniert leben<br />
nicht. Man kann sich nicht immer den leichtesten<br />
Weg aussuchen, weil ein Gespräch unangenehm<br />
ist“. Es ist wichtig, dass wir lernen, auch in<br />
schwierigen Situationen den Dialog zu suchen,<br />
um langfristig gesündere und respektvollere Beziehungen<br />
zu führen.<br />
*Namen wurden von der Redaktion geändert
Bild: Adobe Stock<br />
12 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Therapie-to-go<br />
Flexibel, diskret und sofort zugänglich<br />
– wie effektiv ist eine<br />
Therapie-to-go im Vergleich<br />
zu traditionellen Therapien?<br />
VON THERESA NEHER<br />
Die Behandlung psychischer Probleme<br />
erfolgt bei Anbietern wie „Minddoc“<br />
oder „Instahelp“ online: Ohne<br />
Wartezeiten, vertraulich und anonym<br />
– ein Konzept, das bei den Plattformen<br />
zu funktionieren scheint. Die neuen Möglichkeiten<br />
der psychischen Gesundheitsversorgung<br />
werden von immer mehr Menschen genutzt<br />
und bieten schnelle Hilfe bei einer Vielzahl psychischer<br />
Probleme, darunter Angststörungen, Depressionen<br />
oder Beziehungsstreits.<br />
Häufig wird die psychologische Online-Beratung<br />
auch in Anspruch genommen, um lange<br />
Wartezeiten auf einen Therapieplatz in der eigenen<br />
Stadt zu überbrücken. Über die Plattform<br />
„Instahelp“ sind 260 Psychotherapeut:innen angestellt,<br />
die alles daran richten, ihre Klient:innen<br />
bestmöglich zu betreuen. So auch die Diplom-<br />
Weitere Plattformen<br />
• MindDoc<br />
• Selfapy<br />
• Betterhelp<br />
• Therapy Lift<br />
• Talkspace<br />
• Online-Therapy.com<br />
Psychologin Kathrin Hähne: Eine Therapeutin,<br />
die bereits langjährige Erfahrungen in einer Praxis<br />
in Mannheim gesammelt hat und ihre Expertise<br />
seit März dieses Jahres auch auf „Instahelp“ teilt.<br />
„Das gute Marketing macht die Plattform auch<br />
für Therapeut:innen attraktiv“, erzählt die Verhaltenstherapeutin,<br />
die auf der Suche nach einem<br />
zweiten Standbein auf „Instahelp“ gestoßen ist.<br />
Da ständig neue Therapeut:innen für den Online-<br />
Bereich gesucht werden, war der Einstieg recht<br />
einfach. Und auch für Patient:innen ist der Weg<br />
zur Plattform unkompliziert: Die benutzerfreundliche<br />
Anmeldung und einfache Gestaltung der<br />
Webseite erleichtern den Einstieg erheblich. Mittels<br />
verschiedener Selbsttests erhalten Hilfesuchende<br />
eine erste Selbsteinschätzung. Anschließend<br />
können sie aus einer Datenbank aus über<br />
260 erfahrenen Psycholog:innen jemand passenden<br />
auswählen. Drei Jahre Erfahrung im Beruf ist<br />
die Grundvoraussetzung für Psycholog:innen, um<br />
auf „Instahelp“ arbeiten zu können.<br />
„Eine besonders attraktive Möglichkeit ist die<br />
Flexibilität und Mobilität, die eine Online-Beratung<br />
bietet“, sagt die Psychotherapeutin, die sich<br />
zum Zeitpunkt des Interviews in Memphis, Tennessee<br />
aufhält. Durch die Online-Beratung ist sie<br />
als Therapeutin mobil und nicht an einen festen<br />
Standort gebunden. Ebenso können auch Patient:innen<br />
aus ländlichen Gebieten erreicht werden,<br />
wo herkömmliche Therapiepraxen möglicherweise<br />
weniger verfügbar sind. Eine Online-<br />
Beratung über „Instahelp“ bietet zudem den Vorteil,<br />
schnell mit Psycholog:innen in Kontakt treten<br />
zu können. Während man bei Praxen in der<br />
eigenen Stadt auch einmal mehrere Monate auf<br />
das Erstgespräch wartet, ist die erste Kontaktaufnahme<br />
über „Instahelp“ innerhalb von 24 Stunden<br />
garantiert. Der rasche Zugang zur professio-<br />
nellen Unterstützung kann für Menschen mit<br />
dringendem Beratungsbedarf oder in akuten Krisensituationen<br />
entscheidend sein. Durch die<br />
Chatfunktion ist es sogar möglich, vollkommen<br />
anonym in Kontakt zu treten. Laut der Therapeutin<br />
kann dies Vor- und Nachteile mit sich bringen.<br />
„Eine Online-Beratung bietet Distanz – ein<br />
großer Vorteil für die Menschen, die Anonymität<br />
wünschen. Distanz beim Helfen ist jedoch nicht<br />
immer gut“, erklärt die Verhaltenstherapeutin.<br />
Gerade bei Fällen mit akuten Psychose-Symptomen<br />
und Eigen- oder Fremdgefährdung, sei eine<br />
Vor-Ort-Behandlung notwendig. „Doch generell<br />
sind der Kreativität bei einer Beratung im digitalen<br />
Bereich keine Grenzen gesetzt – auch wenn bestimmte<br />
Techniken, zum Beispiel Stuhltechniken<br />
aus dem schematherapeutischen Bereich, vor Ort<br />
nochmal besser anwendbar sind.“ Beratungseinheiten<br />
können auf „Instahelp“ flexibel genutzt<br />
werden – mehrmals pro Woche, wöchentlich oder<br />
in größeren Abständen.<br />
„Je nach Schweregrad der Problematik kann es<br />
länger dauern, sodass man es auf Selbstzahlerbasis<br />
manchmal gar nicht stemmen kann“, erklärt<br />
Hähne. Eine Abrechnung über die Krankenkassen<br />
ist bisher nicht möglich. Dafür gibt es Angebote<br />
für Firmen, um den Mitarbeitenden eine professionelle<br />
Beratung zu ermöglichen und ihre Stress-<br />
Resilienz zu stärken sowie die Motivation zu steigern.<br />
Die Flexibilität, örtliche Unabhängigkeit<br />
und zeitliche Verfügbarkeit der Therapeut:innen<br />
ist also ein großes Plus für eine Therapie-to-go, beziehungsweise<br />
Beratungsstunde im Online-Setting.<br />
Therapeut:innen können mobil sein, ebenso<br />
wie Patient:innen bei der Beratung. Daher stellen<br />
Online-Beratungen in vielen Fällen eine gute<br />
Möglichkeit dar, um die Wartezeit zu überbrücken.
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
13<br />
Eine Welt aus Einsen und Nullen<br />
Mediensucht: Immer mehr<br />
Menschen verlieren Kontrolle<br />
über ihre Nutzung von Onlinespielen<br />
und Social Media. Aber<br />
wie findet man zurück ins reale<br />
Leben? Ex-Gamer Ronald Stolz<br />
erzählt.<br />
VON ELELTA FESSEHAIE<br />
Corona 2020. Überall im Netz kursieren<br />
Videos von Covid-Toten, Polizeigewalt,<br />
Rassismus und Protesten. Die<br />
21-jährige Studentin Sarah Schneider*<br />
scrollt stundenlang durch eine<br />
schlechte Nachricht nach der anderen, auch<br />
wenn sie weiß, dass es ihr damit nicht gut geht.<br />
„Jeden Tag war ich schlecht gelaunt deswegen,<br />
das hat mich einfach fertig gemacht“, erzählt Sarah<br />
Schneider. Sie musste schließlich die App für<br />
ihre mentale Gesundheit löschen. Warum die Studentin<br />
so lange nicht vom Bildschirm wegsehen<br />
konnte, erklärt Vorstandsvorsitzender Ronald<br />
Stolz des Vereins „Aktiv gegen Mediensucht“:<br />
„Unser Dopaminausstoß im Kopf passiert natürlich<br />
bei positiven wie auch negativen Sachen.“<br />
Der 40-Jährige weiß, wie schwer es ist, Medienabhängigkeit<br />
zu überwinden. Stolz selbst war jahrelang<br />
süchtig nach Online-Gaming und Social<br />
Media, das Online-Sein wurde zum Mittelpunkt<br />
seines Lebens: Ehe, Stiefkinder und Arbeit rückten<br />
immer weiter weg. Der Druck, seine Online-<br />
Freunde nicht hängen zu lassen, stieg und Stolz<br />
entwickelte eine soziale Abhängigkeit. Erst als der<br />
Leidensdruck schon zu groß war, besann sich der<br />
damals 30-Jährige. „Ich habe mich von meiner<br />
Ex-Frau damals getrennt, hatte Geldschulden, ja,<br />
hatte eigentlich nichts mehr am Leben. Und dann<br />
habe ich einen Reset gemacht“, sagt Stolz. Er bekam<br />
die Möglichkeit auf einen Neuanfang, zog in<br />
eine WG, machte eine Umschulung und begann<br />
sein reales Leben zu leben. Zu seiner Zeit gab es<br />
kaum Therapiemöglichkeiten, er musste es selbst<br />
schaffen über die nächsten zwei Jahre Schritt für<br />
Schritt aus der Mediensucht zu kommen und<br />
schnell wurde ihm klar: „Wenn ich nicht online<br />
gehe, dann geht jemand anderes online. Man ist<br />
nur eine Figur in der Online-Welt, die ganz<br />
schnell durch eine andere Figur ersetzt werden<br />
kann.“<br />
Nach der Abstinenz machte die Online-Welt<br />
Stolz nicht mehr so Spaß wie vorher, er habe gelernt,<br />
dass Medien einfach nur aus Einsen und<br />
Nullen bestehen. Der Ex-Gamer gründete seine eigene<br />
Selbsthilfe-Gruppe, und verbringt viel Zeit<br />
damit, Onlinespielsucht-Betroffenen zu helfen.<br />
Vor drei Jahren übernahm Stolz dann den Verein<br />
„Aktiv Gegen Mediensucht“, der Selbsthilfegruppen<br />
und Vorträge anbietet. Ronald Stolz möchte<br />
mit seiner ehrenamtlichen Arbeit eine erste Anlaufstelle<br />
für Betroffene bieten, um sie aufzuklären<br />
und weiter zu vermitteln. Laut Stolz haben in<br />
seinen Selbsthilfe-Gruppen nämlich nur zwanzig<br />
Prozent der Mitglieder eine Diagnose. Vor allem<br />
betroffen sind Studenten, die mit Überforderung<br />
und Prokrastination zu kämpfen haben und infolgedessen<br />
eine problematische Social Media-Nutzung<br />
entwickeln. Für viele ist die Onlinewelt ein<br />
Zufluchtsort. „Sobald du die Medien einschaltest,<br />
musst du nicht mehr denken, bist du zufrieden,<br />
bist du ausgeglichen”, erklärt Stolz.<br />
Vergessen solle man aber dabei nicht wie Tiktok<br />
und Instagram sich auf die Emotionalität der<br />
Nutzer auswirken. Im Sekundentakt scrollt man<br />
durch Videos, die verschiedenste Emotionen auslösen.<br />
Der ständige Wechsel zwischen positiven<br />
und negativen Emotionen führe dazu, dass der<br />
User schließlich emotional abstumpft.<br />
Tipps von Medienbetroffenen<br />
Für einen gesunden Umgang mit Medien sei es<br />
dem 40-Jährigen zufolge wichtig, sich erst einmal<br />
selbst über die eigene Mediennutzung bewusst zu<br />
werden und zu reflektieren. Das ist heute mit verschiedenen<br />
Mitteln wie Bildschirmzeit-Tracker<br />
auf dem Smartphone möglich oder man stellt einen<br />
komplizierten Code zum Entsperren des<br />
Handys ein, weil man nicht merkt, wie oft man<br />
am Tag das Handy eigentlich entsperrt. Als nächstes<br />
solle man sich Medienregeln aufstellen, Verzicht<br />
lernen und das Smartphone auf dem Tisch<br />
liegen lassen, wenn man es gerade nicht braucht:<br />
sei es auf dem Klo, beim Einkaufen oder beim Treffen<br />
mit Freunden.<br />
Ziel ist und soll nicht sein, die Medienwelt<br />
komplett abzuschreiben, sondern eine gesunde<br />
Balance zu finden. Die junge Studentin Sarah<br />
Schneider hat für sich das Journaling als Mittel gegen<br />
ihre Prokrastination und Overthinking entdeckt:<br />
Statt endlos auf Social Media zu scrollen,<br />
schreibt sie einfach ihre Gedanken frei auf.<br />
*Name von der Redaktion geändert<br />
Bild: Cottonbro Studio auf Pexels
14 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Bild: Chau Pham<br />
Memes sagen mehr als Worte<br />
In einer Zeit, in der Aufmerksamkeit eine Währung ist, sind Memes ein mächtiges Kommunikationsmittel<br />
geworden – eine Stimme, die besonders laut spricht. Moritz Klug – Inhaber der Memes-<br />
Agentur „Marketing für Lokalhelden“ – veranschaulicht die Erfolgsformel der Memekreation.<br />
VON CHAU PHAM<br />
Oft sieht man dieses Bild: Junge Menschen<br />
sitzen grinsend vor ihren<br />
Smartphones und andere fragen sich<br />
mit ratlosen Gesichtern, was denn so<br />
lustig sei. Höchstwahrscheinlich haben<br />
sie gerade ein Meme in den sozialen Medien<br />
gesehen, mit dem sie sich voll identifizieren können.<br />
Die Inhalte von Memes reichen von lustigen<br />
Katzen bis hin zu politischen Karikaturen und lösen<br />
in Sekundenschnelle eine Vielzahl von Emotionen<br />
und Gedanken aus. Sie regen Diskurse und<br />
Engagement an und definieren damit kulturelle<br />
Trends im Netz. Doch was macht diese digitalen<br />
Werke so mächtig und ist es mehr als ein Internetphänomen?<br />
Memes + Generation Z = Zeitgeist<br />
„Für die Generation Z sind Memes eine angeborene<br />
Sprache, die sie verstehen und beherrschen“,<br />
sagt Moritz Klug. Die Generation Z (kurz: Gen Z)<br />
ist die demografische Gruppe, die zwischen 1997<br />
und 2012 geboren wurde. Diese Generation zeichnet<br />
sich durch eine besonders schnelle Nutzungsbereitschaft<br />
von Smartphones, sozialen Medien<br />
und Internet aus. Und genau in dieser schnelllebigen,<br />
digitalen Welt sind Memes zu Hause und finden<br />
ihre Hauptzielgruppe. Memes ermöglichen es<br />
ihnen, ihre Identität zu definieren, sich selbst und<br />
ihre Gefühle auszudrücken. „Sie dienen als Werkzeug<br />
für soziale Interaktionen, da sie den Humor<br />
und die kulturellen Bezüge der Jugendlichen widerspiegeln,<br />
sogar ihre politischen und sozialen<br />
Überzeugungen“, betont der Jungunternehmer.<br />
Er fügt zudem hinzu: „Was Elon Musk einmal<br />
schrieb: ‘Who controls the memes, controls the<br />
universe’ ist einerseits witzig, hat aber andererseits<br />
eine Wahrheit, die in diesen Zeiten besonders<br />
zutrifft.“ Deshalb versuchen sowohl Unternehmen<br />
als auch politische Organisationen, mithilfe<br />
von Memes junge Leute auf Augenhöhe zu<br />
erreichen und Themen zu platzieren.<br />
„Who controls the memes,<br />
controls the universe.“<br />
Daher entsteht auch der Begriff „Corporate Memes“<br />
oder „Memes Marketing“, der diesen Zielen<br />
entspricht. Memes sind auch deshalb ein lukratives<br />
Geschäftsmodell, „weil nicht jeder ein Händchen<br />
für die Memeskreation hat“, stellt Klug fest.<br />
Nur wenige seien in der Lage, mit ihrem Humor<br />
ein großes Publikum zu erreichen und die Viralität<br />
und Umlaufdauer dieses Mediums zu gewährleisten.<br />
Seit 2020 hat sich Klug mit seiner Agentur<br />
auf Meme-Marketing spezialisiert und vermittelt<br />
zwischen Werbetreibenden und Meme-Seiten-Admins,<br />
um erfolgreiche Marketingkampagnen zu<br />
gestalten. Zum Agenturportfolio gehört der Account<br />
„stuttgarter.meme“ mit 163.000 Follower:innen<br />
und mehreren Werbekooperationen<br />
mit Unternehmen und Persönlichkeiten. Besonders<br />
erfolgreich war die Kampagne mit der Stuttgarter<br />
Straßenbahnen AG, bei der 17 Meme-Posts<br />
über eine Million User-Accounts und 61.000 Likes<br />
auf Instagram erzielt haben.<br />
Sozial ansteckend – heute und weiter in der Zukunft<br />
„Relevanz und Sarkasmus sorgen für den Erfolg<br />
und die Reichweite eines Memes, da die Inhalte einen<br />
starken Bezug zum Zeitgeschehen, zu Charakteren,<br />
zu aktuellen Stimmungen und Gedanken<br />
haben“, sagt der Agenturinhaber. Außerdem empfiehlt<br />
er, Memes format- und plattformspezifisch<br />
zu gestalten, da der Algorithmus auf jeder Plattform<br />
anders ist und sich ständig ändert. Aktuell<br />
beobachtet Klug eine Weiterentwicklung der Formate<br />
in Richtung User-Generated-Content und<br />
Karussell-Postings, vor allem auf Instagram und<br />
TikTok. Wichtig sei auch, dass Unternehmen im<br />
Rahmen des Urheberrechts vorausschauend handeln,<br />
wenn Memes kommerziell genutzt werden.<br />
Der Humor und die Internetkultur entwickeln<br />
sich weiter. Eines sei aber sicher, Memes sind<br />
mehr denn je ein Kommunikationsmittel, das die<br />
jungen Menschen effektiv anspreche. Wenn wir<br />
also das nächste Mal über ein Meme stolpern,<br />
denken wir daran: Memes sind längst mehr als ein<br />
Internetphänomen, sie sind der Zeitgeist.<br />
Schon gewusst?<br />
• Der Begriff Meme leitet sich vom<br />
griechischen Wort „mimema“ ab<br />
und bedeutet „nachgeahmt“.<br />
• Während einige vielleicht denken,<br />
dass es „mi-mi“ ausgesprochen<br />
wird, wird es tatsächlich „miem“<br />
ausgesprochen.<br />
• Einige Historiker glauben, dass sogar<br />
Höhlenmenschen ihre eigenen<br />
prähistorischen Memes hatten.
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
15<br />
Zeitlose Ästhetik<br />
Retro-Design ist nicht nur ein Look, sondern eine zeitlose Rückkehr<br />
zu vergangenen Ästhetiken. Im Interview erklärt HdM-<br />
Professor Stefan Schmid, was es mit der Sehnsucht nach simpleren<br />
Zeiten auf sich hat.<br />
VON THOMAS MÜLLER<br />
Retro-Design ist mehr als nur ein vorübergehender<br />
Trend, es ist eine kulturelle<br />
Reise in die Vergangenheit,<br />
die eine tiefe Faszination für vergangene<br />
Ästhetik und Stile weckt“, sagt<br />
Professor Stefan Schmid, der an der Hochschule<br />
der Medien Grafik-Design lehrt und mehrfach<br />
ausgezeichnet wurde. „Retro-Design besitzt eine<br />
zeitlose Anziehungskraft, die weit über Modeerscheinungen<br />
hinausgeht“, erklärt Schmid.<br />
Die Anziehungskraft von Retro-Design liege in<br />
seiner Fähigkeit, Emotionen und Erinnerungen zu<br />
wecken. Schwarz-Weiß-Fotografie, handgeschriebene<br />
Schriften und geometrische Muster sind einige<br />
Beispiele, die Schmid nennt. Es gibt eine reiche<br />
Palette retro-inspirierter Designelemente, die<br />
in verschiedenen Bereichen auftauchen. „Diese<br />
visuellen Stile erinnern oft an vergangene Epochen<br />
wie die opulente Eleganz der 50er, die kühne<br />
Experimentalität der 60er oder die farbenfrohe Lebendigkeit<br />
der 70er Jahre”, betont Schmid und ergänzt:<br />
„Diese Elemente der vergangenen Ästhetik,<br />
in der Gegenwart, verleihen den Produkten und<br />
Marken eine zeitlose nostalgische Note.”<br />
Doch Retro-Design sei mehr als nur eine Wiederbelebung<br />
vergangener Trends. Schmid meint:<br />
„Es verkörpert eine gewisse Einfachheit und Eleganz,<br />
die in der heutigen schnelllebigen Welt oft<br />
vermisst wird.” In einer Zeit, in der Technologie<br />
und Innovationen das Leben zunehmend komplexer<br />
machen, sehnen sich laut Schmid viele<br />
Menschen nach einer Rückkehr zu einer vermeintlich<br />
einfacheren Zeit.<br />
Besonders interessant sind die Auswirkungen<br />
des Designs auf Markenidentitäten und Branding.<br />
„Während einige Unternehmen bewusst einen<br />
Retro-Look wählen, um eine Verbindung zur Vergangenheit<br />
herzustellen, streben immer noch<br />
mehr nach einem modernen und minimalistischen<br />
Image”, erzählt Professor Schmid.<br />
Wie mehrere Studien aus den Bereichen Marketing<br />
und Wirtschaft zeigen, kann Retro-Design<br />
aber auch als eine Form der kulturellen Wertschätzung<br />
und des Rückgriffs auf vergangene Ästhetik<br />
dienen, was dazu beitragen kann, ein Gefühl<br />
der Verbundenheit oder Gemeinschaft zu<br />
schaffen. In einer weiteren Studie, die in der Zeitschrift<br />
„Personality and Social Psychology Bulletin“<br />
im Jahr 2006 veröffentlicht wurde, untersuchten<br />
Forscher:innen den Einfluss von Nostalgie<br />
auf das Wohlbefinden und fanden heraus,<br />
dass nostalgische Erinnerungen positive Emotionen<br />
auslösen können und sogar dazu beitragen<br />
können, Einsamkeit zu verringern.<br />
Die Vielseitigkeit von Retro-Design ist laut<br />
Schmid ein äußerst anpassungsfähiges Konzept.<br />
Es könne in verschiedenen Bereichen eingesetzt<br />
werden, von Grafikdesign und Werbung bis hin<br />
zu Mode und Inneneinrichtung. Die Rückkehr zu<br />
Handwerkskunst und traditionellen Herstellungsverfahren<br />
sei ein weiterer Aspekt des Retro-Designs,<br />
der seine Attraktivität in einer Welt voller<br />
Massenproduktion und Einheit Designs unterstreiche.<br />
„Es gibt nicht den Trend, der sich durchzieht“,<br />
betont Schmid. Es sei das Hauptmerkmal, dass<br />
Bild: Pexels<br />
viele maßgeschneiderte Stile nebeneinander existieren.<br />
Designer:innen und Kreative schöpfen aus<br />
vergangenen Epochen, um neue und innovative<br />
Designs zu schaffen, die die Grenzen zwischen<br />
Vergangenheit und Zukunft verschwimmen lassen.<br />
Durch die Kombination von Retro-Elementen<br />
mit modernen Techniken, entstehen laut<br />
Schmid einzigartige und ansprechende Ästhetiken,<br />
die die Zeit überdauern.<br />
Die Präsenz von Retro-Design in der heutigen<br />
Gesellschaft sei ein Beweis dafür,dass Vergangenheit<br />
und Gegenwart oft miteinander verwoben<br />
sind. So meint Schmid: „Retro-Design existiert neben<br />
dem modernen Design.”<br />
Es zeige, dass Design zeitlos sein kann und<br />
dass die Ästhetik vergangener Epochen auch in<br />
der modernen Welt eine starke Anziehungskraft<br />
ausüben könne.<br />
Retro-Design erinnere oft daran, dass die Geschichte<br />
nicht nur in Büchern existiere, sondern<br />
auch in den visuellen Erzählungen, die weit über<br />
die Grenzen der Zeit hinausgehen.
16 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Sex sells<br />
Seit der Corona Pandemie ist<br />
Ju* unter dem Namen „Jucci”<br />
Content Creator auf der Plattform<br />
Only Fans. Hier postet er<br />
pornografische Inhalte für seine<br />
Follower:innen. Wie kommt<br />
man zu dieser Tätigkeit, wie<br />
viel Arbeit steckt dahinter und<br />
mit welchen Risiken muss man<br />
rechnen?<br />
VON MILENA STARCENKO<br />
Man muss sich vorstellen: du bist<br />
Netflix, du bist Spotify, du bist<br />
Disney+, du bietest ein Abo an.<br />
Was bringt Leute dazu, ständig<br />
wieder aufs Neue zu dir zu<br />
kommen?“<br />
Diese und viele weitere Fragen stellt sich der<br />
25-Jährige täglich, denn er ist Content Creator auf<br />
Only Fans. Only Fans ist, ähnlich wie Patreon,<br />
eine Plattform, auf der Content jeglicher Art hinter<br />
einem Abonnement hochgeladen wird. Neben<br />
Fitnessvideos werden auf Only Fans vor allem pornografische<br />
Inhalte hochgeladen. Auch Jucci postet<br />
solche expliziten Inhalte regelmäßig.<br />
Aber was genau stellt Ju ins Netz? Zu Beginn<br />
waren es lediglich nackte Spiegel-Selfies, die er<br />
hochgeladen hat. Doch dies schien seinen Abonnent:innen<br />
nicht zu reichen, denn: „Leute wollen<br />
mehr, Leute stehen auf das Abstrakte, auf das Extreme”,<br />
betont Ju. Nach zwei Jahren entschied er<br />
sich dazu, auf die Wünsche seiner Fans einzugehen.<br />
Somit entstehen Videos mit Sextoys, personalisierte<br />
Videos, in denen beispielsweise Namen<br />
gewisser Personen gestöhnt werden oder Beiträge,<br />
in denen er feminin kostümiert ist.<br />
Ju ist ein 1,90 Meter großer, schlanker Mann<br />
mit einem maskulinen Gesicht und einem femini-<br />
Wie funktioniert Only Fans?<br />
Bild: privat<br />
• Zuschauer:innen müssen mindestens 18<br />
Jahre als sein (eine Prüfung erfolgt bei der<br />
Anmeldung jedoch nicht)<br />
• Creator:innen müssen einen gültigen<br />
Ausweis vorzeigen (ab 18)<br />
• Man kann mit Kreditkarte oder<br />
Googlepay zahlen<br />
• Als Zuschauer:in ist man komplett<br />
anonym<br />
• Die Preisspanne für ein Abo variiert<br />
zwischen 5 und 50 US Dollar.
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
17<br />
nen Körper. Sein Ziel ist es, der Androgynität nahe<br />
zu kommen, um diese zu verkaufen. Er posiert vor<br />
der Kamera, dabei kommen wahlweise verschiedene<br />
Kostümierungen zum Einsatz: lange<br />
Perücken, High Heels und weibliche Kleidung,<br />
wie beispielsweise Miniröcke.<br />
Was ist seine Motivation hinter diesem außergewöhnlichen<br />
Job? Seine Priorität ist das Geld. Es<br />
motiviert ihn dazu, seine Arbeit weiter auszuführen<br />
und ist somit die größte Belohnung. Neben<br />
dem Profit sei es der Ego-Push, der ihn motiviere.<br />
Als einst unsicherer Mensch ist ihm bewusst geworden,<br />
wie positive Reaktionen den Selbstwert<br />
steigern. Er meint: „Es sind oberflächliche Gründe,<br />
die einen tiefgründig befriedigen.” Doch wie<br />
hat alles angefangen? Es ist 2020 und das Abi ist<br />
geschafft. Was jetzt?<br />
Die Welt stand aufgrund der Pandemie auf<br />
dem Kopf und viele junge Erwachsene, einschließlich<br />
Jucci, waren planlos: „Ich fühlte mich<br />
so antriebslos”, also informiert er sich online weiter.<br />
Er präsentiert sich schon immer gerne im Internet.<br />
Dahingehend war Only Fans eine von vielen<br />
Plattformen, die er sich zu seinen Gunsten<br />
macht. Rein nach dem Motto: „Wenn ich mich<br />
daran monetarisieren kann, warum nicht?“ Er unterscheidet<br />
klar zwischen liebevollem Sex im echten<br />
Leben und dem Angebot einer illusionären<br />
Welt im Internet. Laut Ju ist es dennoch schwierig,<br />
zwischen der Persona zu unterscheiden, die<br />
man online darstellt und der Person, die man im<br />
realen Leben ist.<br />
Aber das Posten auf Only Fans alleine reiche<br />
nicht aus, um Reichweite zu bekommen: Um sich<br />
gut vermarkten zu können, muss man Werbung<br />
für sich machen. Das gelinge am besten in dem<br />
man seinen Profillink unter bekannten Beiträgen<br />
mit vielen Likes und Aufrufen auf Plattformen,<br />
wie beispielsweise Reddit, kommentiere. Immer<br />
und immer wieder. In dieser Branche benötige<br />
man eine gewisse Reichweite, sonst gehe man in<br />
der großen Auswahl an Content Creator:innen<br />
unter. Man sei schnell auswechselbar und der<br />
Konkurrenzkampf sei groß. Jedoch müsse man<br />
sich immer bewusst sein, wen man eigentlich erreichen<br />
möchte. Man könne schnell an falsche<br />
Menschen geraten. So komme es vor, dass Follower:innen<br />
aus Unzufriedenheit anfangen, sich zu<br />
beschweren oder Hasskommentare schreiben.<br />
Um seinen Abonnent:innen gegenüber kulant zu<br />
bleiben, geht Ju auf konstruktive Kritik und Unzufriedenheit<br />
ein. Hass habe jedoch keinen Platz auf<br />
seinem Profil. Solche Kommentare werden direkt<br />
von ihm gelöscht. Er könne von Glück reden, dass<br />
dies kein Alltag bei ihm ist. Die Angst vor Hassangriffen<br />
oder parasozialen Beziehungen ist trotzdem<br />
vorhanden. So kam es schon mal vor, dass<br />
Menschen Bilder von ihm nutzten, um Fake-Accounts<br />
zu erstellen. Ebenso bleibt Ju von Anfeindungen<br />
im realen Leben nicht verschont. Diese<br />
kommen, unabhängig von seiner Arbeit bei Only<br />
Fans und im Bezug auf seiner Homosexualität,<br />
häufig vor. Vor allem hasserfüllte Kommentare<br />
gegenüber seinem Aussehen und Verhalten müsse<br />
sich der 25-Jährige anhören.<br />
Wer weiß jedoch von seinem Doppelleben? Er<br />
geht offen damit um, jedoch muss er aus kulturellen<br />
Gründen diese Seite seiner Persönlichkeit vor<br />
seinen Eltern geheim halten. Als ein Heranwachsender<br />
in einer muslimischen Gemeinde, habe er<br />
schon früh feststellen müssen, dass sein Weltbild<br />
schon immer anders war.<br />
Da Ju als schwuler Mann bei seinem Outing zu<br />
kämpfen hatte und er mit seiner Familie noch in<br />
einem Haushalt wohnt, wäre es ihm zu riskant,<br />
offen damit umzugehen. Da seine Eltern sowieso<br />
keine sozialen Medien besitzen, ist das Risiko<br />
gering, dass sie davon Wind bekommen würden.<br />
Als Person des öffentlichen Lebens ist ihm seine<br />
Sicherheit sowie die seiner Familie am wichtigsten.<br />
Seine Freund:innen hingegen gehen sehr locker<br />
mit dem Thema um und unterstützen Ju dabei.<br />
Er erzählt jedoch von einer ehemaligen Liebesbeziehung,<br />
die auf Grund von Only Fans nicht<br />
geklappt hat. Eifersucht habe hier eine große Rolle<br />
gespielt, denn der Gedanke, dass fremde Menschen,<br />
Ju so im Internet sehen können, war<br />
seinem Ex-Partner ein Dorn im Auge.<br />
Als Content Creator auf Only Fans arbeite<br />
man in einem Risikogebiet. Man zeige sich in seiner<br />
verletzlichsten Form und jeder Mensch könne<br />
einem dabei zusehen. Ju ist froh, seine Arbeit auf<br />
Only Fans machen zu können. Er ist stolz auf seinen<br />
Körper und mit dem, was er mit ihm macht.<br />
Er findet, erwachsene Menschen sollen sich in ihrem<br />
Körper wohl fühlen.<br />
„Wenn ich erst mit 50 Jahren sagen kann, dass<br />
ich selbstbewusst bin, dann ist das viel zu spät!“<br />
Was einen aber trotzdem nicht davon abhalten<br />
soll, das zu tun, worauf man Bock hat.<br />
*Möchte seinen vollen Namen nicht nennen.<br />
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18 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Stirbt das Internet?<br />
Verschwörungstheorie oder Wahrheit – was steckt hinter<br />
der Dead Internet Theory?<br />
VON THERESA HEUGEL<br />
Die Dead Internet Theory besagt, dass<br />
das Internet zunehmend von Algorithmen<br />
und KI-generierten Inhalten<br />
dominiert wird. Ihren Ursprung<br />
hat die Theorie im Jahr 2016, doch<br />
richtig populär wurde sie 2021 als der User „Illuminati<br />
Pirate“ die Sache ins Rollen bringt.<br />
In einem ausführlichen Beitrag auf einem Forum<br />
erklärt er die Theorie. Er behauptet, dass das<br />
Internet im Jahr 2016 oder Anfang 2017 „gestorben“<br />
sei und nun „leer und menschenfrei“ sowie<br />
„völlig steril“ wirke. Er argumentiert, dass ein<br />
Großteil der Inhalte, die online als von Menschen<br />
produziert erscheinen, tatsächlich von KI erstellt<br />
und von Bots verbreitet werden. Diese Bots sollen<br />
laut Theorie von einer Gruppe von Influencern<br />
Bild: istockphoto<br />
unterstützt werden, die von verschiedenen Unternehmen<br />
finanziert und möglicherweise Verbindungen<br />
zur Regierung haben.<br />
Warum übt nun diese Theorie eine derartige<br />
Faszination aus? Dafür sollte verstanden werden,<br />
was Algorithmen sind und wie diese im Internet<br />
genutzt werden. „Algorithmen kommen auf Social<br />
Media-Plattformen zum Einsatz, um den<br />
Newsfeed eines Nutzers zu personalisieren und Inhalte<br />
zu zeigen, die seinen Interessen und Vorlieben<br />
entsprechen“, erläutert der IT-Bachelor-Absolvent<br />
Tobias Jäger, zu dessen Fachgebiet Algorithmen<br />
zählen. Er erklärt: „Bestimmte Inhalte<br />
können dadurch priorisiert und andere möglicherweise<br />
weniger sichtbar sein.“ Eine Studie der<br />
Oxford University aus dem Jahr 2016 mit dem Titel<br />
„Filter Bubbles, Echo Chambers, and Online<br />
News Consumption“ untersuchte diese Auswirkung.<br />
Die Forscher:innen stellten fest, dass die<br />
Personalisierung von Inhalten dazu führen könne,<br />
dass Nutzer:innen in sogenannten Filterblasen<br />
gefangen werden. Dies verstärke eine verzerrte<br />
Wahrnehmung der Welt. Dazu erzählt Jäger, dass<br />
Algorithmen missbraucht werden könnten, um<br />
falsche oder irreführende Inhalte zu verbreiten<br />
oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen.<br />
Er betont: „Insbesondere während politischer<br />
Ereignisse oder kontroverser Themen können Algorithmen<br />
verwendet werden, um falsche Nachrichten<br />
oder manipulierte Inhalte zu verbreiten.“<br />
Ein Beispiel hierfür sei die US-Präsidentschaftswahl<br />
von 2016, bei der Algorithmen in sozialen<br />
Medien verwendet wurden, um die öffentliche<br />
Wahrnehmung bestimmter Kandidat:innen zu<br />
beeinflussen. So könnte das Meinungsbild der<br />
Wähler:innen manipuliert worden sein.<br />
Laut Jäger sei die Zukunft der Algorithmen im<br />
Internet vielversprechend. „Jedoch sollte die Entwicklung<br />
zur Personalisierung von Inhalten, die<br />
dazu führt, dass Nutzer in Filterblasen gefangen<br />
werden, im Auge behalten werden. Sonst könnte<br />
das Internet seine Vielfalt und Offenheit verlieren.“<br />
Des Weiteren betont er: „Die rasante Entwicklung<br />
von KI ist zweifellos beeindruckend.“ Neben<br />
der Personalisierung von Inhalten kann die<br />
Künstliche Intelligenz in sozialen Medien Texte,<br />
Bilder und Videos automatisiert erstellen. „Obwohl<br />
es keine offiziellen Zahlen gibt, die den genauen<br />
Anteil von mit KI generierten Inhalten in<br />
sozialen Medien quantifizieren, ist es sicherlich<br />
ein wachsender Trend“, erklärt Jäger. Dies könnte<br />
das Gefühl verstärken, dass das Internet von Bots<br />
dominiert werde. „Die undurchsichtige Natur der<br />
KI-generierten Inhalte kann dazu führen, dass<br />
Nutzer Schwierigkeiten haben, die Echtheit und<br />
Authentizität der Inhalte zu beurteilen“, warnt Jäger.<br />
Nutzer:innen könnten möglicherweise unwissentlich<br />
mit KI-generierten Inhalten interagieren,<br />
was die Vorstellung der Theorie unterstreichen<br />
würde.<br />
Die „Dead Internet Theory“ mag laut Jäger zunächst<br />
wie eine abwegige Verschwörungstheorie<br />
erscheinen, aber sie werfe wichtige Fragen auf und<br />
rege zum Nachdenken an. Es sei wichtig, dass man<br />
sich bewusst macht, wie Algorithmen das Online-<br />
Erlebnis beeinflussen. Jäger empfiehlt: „Eine kritische<br />
Auseinandersetzung mit der Rolle von Algorithmen<br />
und KI im Internet sind entscheidend,<br />
um sicherzustellen, dass das Internet ein Ort<br />
bleibt, der von allen genutzt und geschätzt werden<br />
kann.“<br />
Was sind Bots?<br />
„Bots“ sind Computerprogramme, die im<br />
Internet arbeiten, ohne dass Menschen sie<br />
direkt steuern. Sie können Informationen<br />
sammeln, Inhalte auf sozialen Medien teilen<br />
oder mit Nutzer:innen interagieren
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
19<br />
In der Verlagsbranche findet<br />
eine markante Veränderung<br />
statt: Künstliche Intelligenz<br />
und Automatisierung beeinflussen<br />
zunehmend die Arbeit.<br />
Aber was bedeutet das genau?<br />
KI-Experte Johannes Woehler<br />
gibt Antworten.<br />
VON CONSTANCIA OERTEL<br />
Im Zuge der rasanten Entwicklungen im<br />
Bereich der künstlichen Intelligenz tauchen<br />
bei immer mehr Menschen Fragen auf:<br />
„Steht mein Job auf dem Spiel?“, „Werde ich<br />
bald durch Maschinen ersetzt“?<br />
„KI verändert zwei Themen. Das eine ist Produktivität<br />
und das andere ist das Thema Demokratisierung<br />
von speziellen Fähigkeiten“, weiß der<br />
KI-Experte aus der Publishing-Branche Johannes<br />
Woehler. Mit diesen beiden Aspekten verdeutlicht<br />
er die Auswirkungen von KI auf die Arbeitswelt<br />
und die individuellen Fähigkeiten.<br />
„Ich kriege Sachen eigentlich viel schneller gelöst<br />
als vorher in einigen Bereichen“, betont Woehler.<br />
Diese Beschleunigung von Arbeitsprozessen<br />
ist ein deutlicher Vorteil, den KI bieten kann.<br />
Der 44-Jährige stellt außerdem klar: „Ich als Person<br />
habe die Möglichkeit, viele Dinge zu tun, für<br />
die ich vorher einen Spezialisten gebraucht habe.“<br />
Diese Demokratisierung von Fähigkeiten ermöglicht<br />
es Einzelpersonen, kreative Inhalte zu erstellen<br />
und komplexe Aufgaben zu bewältigen, für<br />
die früher ein Team von Fachleuten erforderlich<br />
war. „KI-Technologien werden zunehmend in alltägliche<br />
Tools integriert und die Interaktion mit<br />
ihnen wird immer intuitiver“, prognostiziert der<br />
Experte.<br />
Ein faszinierender Aspekt ist die Diskrepanz<br />
zwischen der Wahrnehmung von KI innerhalb<br />
und außerhalb bestimmter Kreise. „Viele haben<br />
davon gehört, viele haben nichts davon gehört,<br />
was sehr überraschend ist“, bemerkt Woehler.<br />
„Ich habe das Gefühl, man befindet sich in so einer<br />
Blase, wenn man sich damit beschäftigt“, erklärt<br />
er. Diese „Blase“ reflektiert eine Wahrnehmungsdifferenz<br />
zwischen Personen, die aktiv mit<br />
KI arbeiten oder sich damit beschäftigen, und jenen,<br />
die nur begrenzte Berührungspunkte mit dieser<br />
Technologie haben. Diese Beobachtung verdeutlicht,<br />
dass das Bewusstsein für KI sich stark in<br />
bestimmten Branchen oder sozialen Kreisen konzentriert.<br />
Ob KI künftig die Arbeit in der Publishing<br />
Branche vollständig übernehmen wird, kann der<br />
Experte nicht beantworten. „Was in 50 Jahren<br />
passiert, ich kann es mir momentan nicht vorstellen“,<br />
sagt Woehler und betont die dynamische<br />
Natur der KI-Entwicklung. „Die Menschen sollten<br />
keine Angst vor KI haben, sondern sie als Werkzeug<br />
betrachten, das die Produktivität steigern<br />
und neue Möglichkeiten erschließen kann“, ermutigt<br />
er die Leser:innen. Trotz der Chancen gibt<br />
Sie klauen<br />
uns unsere Jobs<br />
es auch Verlierer im Kontext der KI-Entwicklung.<br />
„Ich befürchte so ein bisschen, das sind die Personen,<br />
die sich weigern, sich damit zu beschäftigen.<br />
Sie sind tendenziell am ehesten die, die dann auch<br />
davon abgehängt werden“, warnt Woehler. Er ergänzt:<br />
„Zum Beispiel jemand, der Illustrator:in ist.<br />
Auch diese Personen können von diesen Tools<br />
profitieren, um ihre Produktivität zu steigern.“<br />
Um Mitarbeiter:innen auf die Veränderungen<br />
durch KI vorzubereiten, empfiehlt der Karlsruher<br />
klare Regeln für den Umgang mit KI festzulegen,<br />
einschließlich der Definition von Bereichen, in<br />
denen KI eingesetzt werden darf und wo nicht. Er<br />
betont, dass die Verantwortung für den Output<br />
immer beim Menschen liegen solle, unabhängig<br />
davon, welches Tool verwendet werde. Darüber<br />
hinaus sei es wichtig, Schulungen anzubieten und<br />
den Mitarbeiter:innen die Möglichkeit zu geben,<br />
mit KI-Tools zu experimentieren, um Ängste abzubauen<br />
und ihr Verständnis für die Technologie<br />
zu vertiefen.<br />
Am Ende hat der Experte noch einen Appell:<br />
„Habe keine Angst und beschäftige dich mit dem<br />
Thema einfach selbst“, sagt er. Der KI-Experte betont,<br />
dass Menschen sich für neue Chancen öf<br />
nen sollten und darüber nachdenken müssen, wie<br />
sie ihre Fähigkeiten und Ideen mithilfe von KI<br />
weiterentwickeln können. Er erklärt, dass man anstatt<br />
Angst vor den Auswirkungen von KI zu haben,<br />
diese als Chance betrachten sollte. Die Zukunft<br />
der Zusammenarbeit von Mensch und KI<br />
verspreche viele spannende Entwicklungen, die es<br />
zu nutzen gelte.<br />
Was ist künstliche<br />
Intelligenz (KI)?<br />
Bild: Midjourney AI<br />
Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet die<br />
Fähigkeit von Computern oder computergesteuerten<br />
Systemen, Aufgaben auszuführen,<br />
die normalerweise menschliche Intelligenz<br />
erfordern würden. Dies umfasst unter<br />
anderem das Lernen, das Problemlösen, die<br />
Spracherkennung, die Entscheidungsfindung<br />
und die visuelle Wahrnehmung. KI-<br />
Systeme werden durch Algorithmen und<br />
Daten trainiert, um Muster zu erkennen,<br />
Vorhersagen zu treffen und selbstständig<br />
Entscheidungen zu treffen.
20 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Bis zum Abi war er Atheist<br />
Kirche: alt, eingefahren, unattraktiv. Vor allem für junge Leute.<br />
Unter dem Namen Pfarrer aus Plastik räumt Nicolai Opifanti in<br />
den sozialen Medien mit diesen Vorurteilen auf.<br />
VON LISA GRUM<br />
Bilder: Instagram Pfarrer aus Plastik<br />
Heute begeistert der Pfarrer aus Dettingen<br />
unter Teck Menschen digital<br />
und analog für Religion. Mit 15 ist<br />
Opifanti noch weit davon entfernt<br />
als Pfarrer auf einer Kanzel zu stehen.<br />
Damals ist er Atheist und will mit seinen<br />
Freunden aus dem System ausbrechen. Insbesondere<br />
Marihuana wird zum Standard. „Dieses Gefühl<br />
nicht normal zu sein, wurde für mich irgendwann<br />
zur Sucht“, erzählt er im Gespräch bei Talkwerk.<br />
Der Weckruf kommt erst, als er wegen seines<br />
Marihuanakonsums zwei Panikattacken erleidet<br />
und in der elften Klasse sitzen bleibt. „Ich<br />
fühlte mich wie der schlimmste Mensch“, erinnert<br />
sich der Pfarrer. Das ändert sich, als er sich<br />
mit seiner damaligen Sitznachbarin, einer Christin,<br />
anfreundet. Zunächst versucht Opifanti sie<br />
von ihrem Glauben abzubringen. Doch schließlich<br />
sind sie und ihre Familie es, die den damals<br />
17-Jährigen zum Nachdenken bringen: „Sie haben<br />
mir gezeigt, dass es reicht, gemütlich auf sich<br />
zu schauen und mit dem zufrieden zu sein, was<br />
gerade ist.“ Das Gefühl, selbst Christ zu sein, bekommt<br />
Opifanti erst später als er die Bibel liest.<br />
Dabei merkt er: „Das macht für mich Sinn“, und<br />
so studiert er Theologie. Seine Ausbildung zum<br />
Pfarrer beendet er 2018. Zeitgleich startet er seinen<br />
Instagram-Kanal Pfarrer aus Plastik ehrenamtlich.<br />
Als ein Jahr später der SWR auf den Pfarrer aufmerksam<br />
wird, steigt die Zahl seiner Follower:innen<br />
auf über 1000 an. Mit der wachsenden Community<br />
bemüht sich Opifanti mit seiner Kollegin<br />
Sarah Schindler um Unterstützung durch die Kirche.<br />
„Wir haben ganz viele Anträge geschrieben,<br />
gewartet, gebetet und gehofft.“ 2021 bewilligt die<br />
Evangelische Landeskirche in Baden-Württemberg<br />
zwei 50 Prozent Projektstellen mit dem Titel:<br />
Pfarrdienst in digitalen Räumen. Nach einem Bewerbungsverfahren<br />
treten der damals 34-Jährige<br />
und Schindler die Stellen an. So widmet der Pfarrer<br />
50 Prozent seiner Zeit der Gemeindearbeit und<br />
leitet einen Kindergarten. Die anderen 50 Prozent<br />
ist er Online-Pfarrer und produziert Inhalte für<br />
Instagram. „Ich versuche, die Kirche in einem<br />
möglichst guten Licht darzustellen, ohne etwas zu<br />
beschönigen“, beschreibt Opifanti seine digitale<br />
Arbeit.<br />
Ihm geht es vor allem darum mit den Menschen<br />
in Beziehung zu treten. Seine Community<br />
nimmt das Angebot an, denn er erhält täglich 20<br />
bis 30 private Nachrichten. Seelsorge ist dort ein<br />
großes Thema. „Mein Anspruch ist es, dass ich innerhalb<br />
von einem Tag antworte und wenn ich<br />
bei Nachrichten merke, das ist jetzt ernst, dann<br />
haben die Priorität.“ Auch seine Community<br />
selbst ist im Austausch. „In den Kommentaren<br />
geht es gut rund.“ Vor allem durch weitere Accounts<br />
von Pfarrer:innen, hat sich für Opifanti eine<br />
eigene Blase gebildet, in der sich Menschen gegenseitig<br />
Mut machen und kritisch diskutieren.<br />
„Manchmal ein bisschen zu kritisch oder böse.<br />
Wenn es richtig bodenlos wird, dann lösche ich<br />
Kommentare.“<br />
„Kinderschänder“, „Pädophiler“, „Hoffentlich<br />
verliert ihr alle euren Job“. Seit 2023 nehmen<br />
die Hasskommentare zu. „Die ersten Jahre waren<br />
total positiv. Aber jetzt merke ich voll den Switch,<br />
so einen Hass.“ Der Grund ist für Opifanti klar:<br />
„Das hat natürlich mit den Missbrauchsskandalen<br />
zu tun. Gerade als Mann, wird man schnell in eine<br />
komische Ecke gerückt.“ Um mit den Kommentaren<br />
umzugehen, teilt er alles auf Instagram.<br />
„Die Leute müssen wissen, wenn sie Hasskommentare<br />
bei mir, einem öffentlichen Account,<br />
hinterlassen, dann sieht das jeder.“ Gleichzeitig<br />
betont er, dass Hasskommentare den kleinsten<br />
Teil seiner Community ausmachen: „Zu 99,9<br />
Prozent sind die Leute extrem höflich und megafreundlich.“<br />
Darum nutzt er seine Plattform, um<br />
mit Vorurteilen gegenüber gläubigen Personen<br />
aufzuräumen: „Ich glaube, wenn transparent<br />
wird, dass Christen und religiöse Menschen ganz<br />
normal sind und nur in ihrem Herzen eine Hoffnung<br />
und einen Glauben tragen, dann ist das<br />
ganz viel wert.“<br />
Wie bekommt man<br />
Anschluss an die eigene<br />
Gemeinde?<br />
• Über die Website Gemeindesuche den/die<br />
zuständige Pfarrer:in finden. Pfarrer:in anschreiben<br />
oder anrufen.<br />
Oder<br />
• Auf Social Media nach dem/der eigenen<br />
Pfarrer:in suchen beziehungsweise einem/<br />
einer christlichen Influencer:in schreiben.
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
21<br />
Glücklich bis ans Lebensende?<br />
Es scheint alles perfekt zu<br />
sein, wenn man den Partner<br />
fürs Leben bereits in jungem<br />
Alter trifft. Doch was ist, wenn<br />
sich herausstellt, dass so früh<br />
zu heiraten ein Riesenfehler<br />
war?<br />
VON NADINE DETING<br />
Ja ich will<br />
...die Scheidung!<br />
Bild: Pexels<br />
Er war gewalttätig und psychisch manipulierend.<br />
Er hat mich aufs Tiefste<br />
beleidigt, wenn ihm irgendwas nicht<br />
in den Kram gepasst hat“, erzählt Anna<br />
Müller* mit Tränen in den Augen.<br />
Nach zwei Jahren Ehe, hat sie 2020 die Scheidung<br />
eingereicht. „Ich habe das richtig körperlich<br />
gespürt, dass ich aus dieser Situation raus muss“,<br />
beschreibt Müller.<br />
Anna Müller war 15 Jahre alt, als sie mit ihrem<br />
zehn Jahre älteren Freund zusammengekommen<br />
ist, den sie als ihre erste große Liebe beschreibt.<br />
Ihre Beziehung entwickelt sich sehr schnell.<br />
Innerhalb von ein paar Monaten ist ihr Partner<br />
mit in ihr Kinderzimmer eingezogen und auch<br />
das Thema Zukunftsplanung inklusive heiraten,<br />
Kinder kriegen und Haus bauen war direkt präsent.<br />
Im Alter von 17 Jahren bekommt Anna Müller<br />
den Antrag. Rund ein Jahr später hatten Müller<br />
und ihr Partner geheiratet.<br />
„Aber vielleicht hatte ich dann Angst, dass er<br />
mich verlässt, wenn ich den Antrag ablehne“,<br />
offenbart Müller. Die emotionale Abhängigkeit<br />
von ihrem Partner hat sie glauben lassen, dass sie<br />
nie wieder jemanden finden wird, der sie so auf<br />
Händen trägt. Somit hat sie sich entschieden sich<br />
auf die Ehe einzulassen. Bereits während der dreijährigen<br />
Beziehung wurde Anna Müller von ihrem<br />
Partner stark isoliert. Sie durfte weder tanzen<br />
gehen, noch sich mit ihren langjährigen Freunden<br />
und Freundinnen treffen. Über die Jahre<br />
hatte sich die Situation so zugespitzt, dass Müller<br />
keinen Freundeskreis mehr hatte. Ihre einzigen<br />
sozialen Kontakte, abgesehen von ihrer Familie,<br />
waren die Freunde und Familie ihres damaligen<br />
Mannes.<br />
Die Probleme in der Beziehung, sowie die<br />
übergriffigen Handlungen, von Seiten ihres Ex-<br />
Mannes hat Anna Müller nicht erst nach der Eheschließung<br />
erlebt. „Ich würde sagen, die Beziehung<br />
hat sich nicht verändert, aber ich habe mich<br />
verändert. Ich habe angefangen Dinge klarer zu<br />
sehen und Dinge zu sehen, die nicht in Ordnung<br />
sind“, erklärt Müller.<br />
Der Beginn ihres Studiums und der Kontakt zu<br />
anderen Gleichaltrigen öffnete ihr die Augen. In<br />
ihrem neuen Umfeld konnte sie wieder zu sich<br />
finden und sehen, dass sie auch einen anderen<br />
Weg einschlagen kann. Nachdem sie den Gedanken<br />
hatte, sich trennen zu wollen, dauert es knapp<br />
sechs Monate bis sie bereit war den Schritt zu<br />
gehen. „Gerade wenn man in gewalttätigen Beziehungen<br />
ist, da ist es so schwer rauszukommen,<br />
weil man oft sich selber die Schuld gibt oder irgendwie<br />
auch gar nicht so krass die Problematik<br />
sieht. Ich habe da echt ewig für gebraucht, um zu<br />
sehen, dass es nicht gesund ist“, betont Anna Müller.<br />
Ist eine Ehe in jungem Alter also grundsätzlich zum<br />
Scheitern verurteilt?<br />
Johanna Shaomian hat in Bezug auf die Ehe und<br />
die Hochzeit in jungem Alter eine völlig gegensätzliche<br />
Erfahrung gemacht. Vor ihrer Ehe war<br />
ihr Dating weniger erfolgreich und sie hatte mit<br />
Bekanntschaften zu kämpfen, die nicht dieselben<br />
Werte und Ziele vertreten wie sie selbst. Als sie<br />
dann im Alter von 21 Jahren ihren zwei Jahre älteren<br />
Partner kennenlernt, war für sie klar, dass er<br />
der Richtige ist. Endlich hat sie einen Mann kennengelernt,<br />
der sich um sie bemüht und die gleichen<br />
Vorstellungen für die Zukunft hat. Etwas<br />
über ein Jahr später folgt die Hochzeit der beiden<br />
im Alter von 22 und 24 Jahren. Sowohl ihr, als<br />
auch ihrem Mann war es schon immer wichtig<br />
früh zu heiraten. Dennoch war der Antrag für Johanna<br />
Shaomian zu dem Zeitpunkt noch sehr<br />
überraschend. Trotz der kurzen Beziehungsdauer<br />
hatte die junge Frau keine Zweifel und nahm den<br />
Antrag an.<br />
„Also wenn man sich unsicher ist, ob man heiraten<br />
will oder nicht, dann würde ich lieber noch<br />
warten, nicht, dass man es dann am Ende extrem<br />
bereut“, rät Shaomian anderen jungen Menschen<br />
in ihrer Situation.<br />
Anna Müller und Johanna Shaomian sind sich<br />
trotz ihrer unterschiedlichen Erfahrungen bei<br />
einer Sache einig. Wer vor der Entscheidung steht<br />
zu heiraten, sollte auf das eigene Herz und den<br />
Körper hören, da sie immer wissen, ob es die richtige<br />
oder falsche Entscheidung ist.<br />
*Name wurde von der Redaktion geändert
22 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
„Frauen gehören<br />
an den Herd“<br />
Bild: Pixabay/hobim, KI generiert
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
23<br />
Früher war es üblich, dass die<br />
Frau, sobald Kinder da waren,<br />
zu Hause blieb. Wie ergeht es<br />
Frauen, die in Männerdomänen<br />
arbeiten? Ein Doppelinterview<br />
wirft einen Blick auf<br />
die Vergangenheit und in die<br />
Gegenwart.<br />
VON JASMIN LIEB UND LISA-MARIE MARX<br />
Anna* (26) und Karin* (83) sind<br />
bestimmt nicht die einzigen Frauen,<br />
die einen nicht typisch weiblichen<br />
Beruf gewählt haben. Heutzutage<br />
haben Mädchen und Frauen eine<br />
größere Auswahl an Berufen als früher. Ein höherer<br />
Schulabschluss ist jetzt durch verschiedene<br />
Wege möglich. Damals hat oft das nötige Kleingeld<br />
gefehlt. So wie bei Karin, die eigentlich Lehrerin<br />
werden wollte. Ihre Eltern konnten den benötigten<br />
Internatsbesuch nicht bezahlen. Die Familie<br />
ist aus Schlesien vertrieben worden und kam<br />
1953 nach Stuttgart. Die 83-Jährige erinnert sich:<br />
„Wir mussten mit null Komma null ein neues Leben<br />
schaffen.“ Die einzige Option war eine Ausbildung,<br />
Karin wurde Versicherungskauffrau. Da<br />
sie eine gute Schülerin war, empfiehlt die Schule<br />
ihr diesen Beruf.<br />
Anna dagegen wächst in einem guten Elternhaus<br />
auf und erfährt viel Unterstützung. So kann<br />
die 26-Jährige den Realschulabschluss und<br />
im Anschluss eine Ausbildung zur Fahrzeuglackiererin<br />
machen. Den Beruf findet Anna durch<br />
eine Recherche im Internet. Dadurch entdeckt sie,<br />
dass sie etwas praktisches mit Farben und Lacken<br />
machen möchte.<br />
Beide erfahren in den männerdominierten<br />
Berufen Diskriminierung. Manchmal hört Anna<br />
von ihren Kollegen frauenfeindliche Witze.<br />
„Frauen gehören an den Herd”, sagt ein Kollege<br />
scherzhaft. Kleidervorschriften gehörten bei den<br />
Frauen in Karins Betrieb zur Tagesordnung. Sie<br />
durften im Betrieb keine Hosen tragen. „Wer sich<br />
eine Dauerwelle machen ließ oder Lippenstift<br />
trug, kam auf die rote Liste”, berichtet Karin. Damals<br />
wurden Männer im Bewerbungsverfahren<br />
weiblichen Bewerberinnen gegenüber bevorzugt.<br />
Selbst wenn sie schlechter qualifiziert waren. In<br />
den Köpfen der Betriebsleiter herrschte noch das<br />
Bild, dass Frauen heiraten, Kinder bekommen und<br />
die Firma verlassen. Frauen wurden nach ihrer Familienplanung<br />
gefragt, Männer nicht. Neben ihrem<br />
Beruf führten die meisten Frauen den Großteil<br />
des Haushalts und waren für die Kindererziehung<br />
zuständig.<br />
Flexible Arbeitszeiten gab es nicht<br />
Während Karins Ausbildung gilt die 48-Stunden-<br />
Woche als normal. Erst im Laufe ihrer Karriere<br />
reduziert sich die wöchentliche Arbeitszeit auf 45<br />
und später 40 Stunden. Auf Pünktlichkeit wurde<br />
großen Wert gelegt. Die Mitarbeiter:innen sollen<br />
mindestens fünf Minuten vor Arbeitsbeginn im<br />
Büro sein. Annas Arbeitsplan sieht anders aus, die<br />
26-Jährige schichtet. Sie findet: „Es ist anstrengend,<br />
abwechselnd in der Früh- oder Spätschicht<br />
zu arbeiten.” Heutzutage können viele Arbeitnehmer:innen<br />
ihre Arbeitsstunden flexibel aufteilen.<br />
Dies ist insbesondere für Familien vorteilhaft.<br />
Als Karins Kinder auf die Welt kamen, war sie<br />
gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. Im Alter von<br />
40 Jahren stieg sie wieder in die Versicherungsbranche<br />
ein. Falls Anna Kinder bekommt, steht<br />
ihr Mutterschutz und Elternzeit zu. Während der<br />
Schwangerschaft, wird sie manche Arbeiten nicht<br />
ausführen dürfen, da sie mit Schadstoffen zu tun<br />
hat. Deshalb trägt Anna Schutzkleidung. Weiterhin<br />
findet zweimal im Jahr eine Arbeitsschutzunterweisung<br />
für die Mitarbeiter:innen statt.<br />
„Ich habe das meiste zu Hause erarbeitet”<br />
Im Gegensatz zu Anna gab es für Karin wenig Weiterbildungsmöglichkeiten.<br />
Um auf dem neuesten<br />
Wissensstand zu sein, opferte sie ihre Freizeit.<br />
„Ich habe das meiste zu Hause erarbeitet”, sagt<br />
Karin. Sie wünschte sich mehr Unterstützung<br />
ihres Arbeitgebers. Flexible Arbeitszeiten und eine<br />
betriebsinterne Kinderbetreuung hätten Karin<br />
sehr geholfen. Dadurch wäre es ihr möglich gewesen,<br />
früher wieder in den Beruf einzusteigen.<br />
„Ich hätte gerne gearbeitet”, äußert die 83-Jährige.<br />
Knapp 20 Jahre lang zog sie ihre Kinder groß<br />
und jobbte nebenher. Karins Ehemann musste<br />
seinen Beruf nicht aufgeben und sorgte für den<br />
Lebensunterhalt der Familie.<br />
Bild: Pixabay/GrumpyBeere, KI generiert<br />
Frauen in der Führungsebene undenkbar<br />
In vielen Berufen dominieren Männer noch immer<br />
in Führungspositionen. Für Frauen ist es<br />
schwieriger, so eine Stelle zu bekommen. Bei<br />
Karins Wiedereinstieg war sie die einzige Frau in<br />
der Abteilung. Sie stieg bis zur Sachbearbeiterin<br />
auf, damals der höchste Posten für eine Frau.<br />
Karin erzählt: „Die meisten Frauen, jedenfalls in<br />
meinem Betrieb, waren Schreibkräfte im Schreibbüro<br />
und die Chefsekretärin war eben die<br />
Schreibkraft vom obersten Chef”. Bis zu Karins<br />
Renteneinstieg im Jahr 1998 arbeiteten nur Männer<br />
in der Führungsebene.<br />
Anna und eine Kollegin arbeiten als einzige<br />
Frauen in einer Abteilung mit 40 Personen.<br />
Männer dominieren ebenso in der Chefetage. Die<br />
Aufstiegschancen für Anna sind besser als es die<br />
von Karin damals waren. Wer aufsteigen will, benötigt<br />
die Weiterbildung zum Techniker und<br />
Kontakte. Zusätzlich muss eine Arbeitsstelle verfügbar<br />
sein. Heute ist es für Frauen einfacher in einen<br />
männerdominierten Beruf zu kommen, trotzdem<br />
werden sie oft mit Vorurteilen konfrontiert.<br />
„Ich finde es gut, dass Frauen auch in Männerberufen<br />
arbeiten können”, meint Anna. Entgegen<br />
allen Widrigkeiten würden Anna und Karin sich<br />
noch mal für einen nicht typisch weiblichen Beruf<br />
entscheiden.<br />
* Namen von der Redaktion geändert
24 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Vom Salon zum<br />
Nacktbaden<br />
Bild: Privat<br />
Wie war der Zeitgeist in Stuttgart vor 200 Jahren? Eine Ausstellung<br />
im Stadtpalais zeigt Stuttgarter Stadtgeschichte aus zwei<br />
Jahrhunderten. Die stellvertretende Direktorin und Sammlungsleiterin<br />
Dr. Edith Neumann erzählt, wo man hier den Zeitgeist der<br />
Vergangenheit findet.<br />
VON PAULINA BRONNER<br />
Wer ist eigentlich Stuttgarter:in?“ –<br />
mit dieser Frage wird man in der<br />
Ausstellung „Stuttgarter Stadtgeschichte(n)“<br />
im Stadtpalais begrüßt.<br />
Schnell regen die Objekte<br />
auf dem schwarzen Ausstellungstisch zum Nachdenken<br />
über diese Identitätsfrage an. Weiter darüber<br />
nachdenken kann man im nächsten Raum, in<br />
dem zentral ein riesiges, dreidimensionales Modell<br />
der Stadt steht. Auf das weiße Relief werden<br />
verschiedene, farbige Kartenanimationen zur Geschichte<br />
Stuttgarts projiziert.<br />
Mit Dr. Edith Neumann startet hier die Suche<br />
nach dem Zeitgeist in der Stuttgarter Vergangenheit.<br />
Zeitgeist ist für die Sammlungsleiterin etwas,<br />
das freiwillig passiert, von innen, und nicht aus einer<br />
Notwendigkeit heraus: „Wenn jemand neue<br />
Denkweisen ins Gespräch bringt und sich dann<br />
freiwillige Anhänger finden, die diese Eigenarten<br />
und Verhaltensweisen ebenfalls vertreten.“<br />
Salonkultur im Bürgertum<br />
„Residenzstadt, Industriestadt, Grossstadt“ steht<br />
in Leuchtschrift in dem Raum, der der Stadtgeschichte<br />
bis 1905 gewidmet ist. „Salonkultur“, erzählt<br />
die stellvertretende Direktorin, „ist ein Stuttgarter<br />
Spezifikum, das typisch ist für jene Zeit.“ Ab<br />
Ende des 18. Jahrhunderts trifft sich das Bürgertum<br />
in Stuttgart in privaten Häusern, um über all<br />
das zu sprechen, was aktuell passiert und Zeitgeist<br />
ist. Es werden Neuigkeiten ausgetauscht, Gedichte<br />
vorgetragen, musiziert und über Politik gesprochen.<br />
Industrielle aus der Klavier- und Textilindustrie<br />
und Verleger prägen zu dieser Zeit das Bürgertum<br />
und pflegen enge Verbindungen. Von<br />
dem Künstler Jan Hooss aus Draht gebogene, miteinander<br />
verbundene Gesichter der Bürger stellen<br />
das im Stadtpalais dar.<br />
Um 1900 verdeutlicht der Bau eines großen, historisch<br />
anmutenden Rathauses als Gegenstück<br />
zum Neuen Schloss der Monarchie die Bedeutung<br />
des Bürgertums in Stuttgart. Die neue Vereinskultur<br />
löst zu dieser Zeit bereits die Salonkultur ab:<br />
„Es treffen sich immer mehr Menschen, sie passen<br />
nicht mehr ins Wohnzimmer“, erklärt Neumann.<br />
Lebensreform und Körperkultur<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Stuttgart ist nun<br />
eine reiche Großstadt – bilden sich auch auf anderer<br />
Ebene Veränderungen in Stuttgart heraus: „Es<br />
herrscht in der Stadt ein Zeitgeist, der Neuerungen<br />
gegenüber offen ist“, beschreibt die Kurato-<br />
rin. Die Schafwollwäsche des Stuttgarters Gustav<br />
Jäger ist ein Beispiel dafür. Der Biologe lässt Kleidung<br />
aus Schafwolle produzieren und vertritt die<br />
Theorie, dass diese die gesündeste für den Menschen<br />
sei. Diese Vorstellung wird angenommen:<br />
„Vorher sind die Menschen froh, dass sie essen<br />
können, was es gibt und, dass sie Kleidung haben,<br />
die sie sich leisten können. Dass man gezielt nach<br />
einer gesunden Wäsche sucht ist eine andere Idee,<br />
eine Idee der Lebensreformbewegung und Körperkultur,<br />
die Stuttgart verschiedentlich erfasst“, erläutert<br />
Neumann die Entwicklung.<br />
Weitere Beispiele, der neuen, auf den Menschen<br />
und Körper fokussierten Reformbewegung<br />
sind im Raum zur „Modernen Stadt“ ab 1905 zu<br />
sehen: Ein Foto zeigt das Rikli-Bad am Neckar mit<br />
Menschen, die nackt baden. Seinen Körper Licht<br />
und Luft auszusetzen, ist Teil der Reformbewegung,<br />
genau wie die Homöopathie und Reformschulen.<br />
In der Ausstellung symbolisieren die Reiseapotheke<br />
eines Stuttgarter Apothekers mit 60<br />
verschiedenen homöopathischen Mitteln und ein<br />
Bauklötzchenspiel für Kinder den neuen Zeitgeist.<br />
Wie diese Objekte, haben alle Ausstellungsstücke<br />
einen direkten Bezug zu Stuttgart. Die Ausstellung<br />
fokussiert sich auf Stuttgart-spezifische Entwicklungen:<br />
„Nur so kann man den Blick für die Stadt<br />
schärfen“, erklärt die Sammlungsleiterin.<br />
Mit dem Blick auf das Stadtmodell endet die<br />
Suche nach dem Zeitgeist in den „Stuttgarter<br />
Stadtgeschichte(n)“. Ausgehend von der Frage<br />
„Wer ist eigentlich Stuttgarter:in?“, lädt die Ausstellung<br />
Besucher:innen ein, selbst Antworten zu<br />
finden. Salonkultur und Lebensreformbewegung<br />
stehen beispielhaft dafür, wie sich die Stuttgarter<br />
Gesellschaft entwickelt und stetig wandelt.
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
25<br />
In einer Zeit digitaler Echokammern<br />
und rasanter Veränderungen<br />
sucht die junge Generation<br />
nach Identität und<br />
neuen Perspektiven.<br />
Das Internationale Trickfilmfestival<br />
Stuttgart (ITFS) zeigt, wie<br />
Animation neue Wege eröffnet<br />
und kreative Vielfalt fördert.<br />
VON DAYNA TSCHARNKE<br />
Bubbles und Zeitgeist<br />
Das Festival fängt den Zeitgeist ein,<br />
indem es Filme wie „Belle“ von Mamoru<br />
Hosoda und „Flee“ von Jonas<br />
Poher Rasmussen zeigt, die wichtige<br />
Themen wie Social Media und Flucht<br />
beleuchten und zur Diskussion anregen.<br />
„Wir kuratieren jedes Jahr über 700 Filme, die<br />
den aktuellen Zeitgeist widerspiegeln“, erklärt<br />
Johanna Vollmar, Mitglied des Organisationskomitees<br />
des ITFS. Das Festivalgelände pulsiert vor<br />
Energie. Junge Menschen drängen sich vor den<br />
Leinwänden und diskutieren angeregt über die<br />
neuesten Animationstrends. Vollmar betont:<br />
„Wir sprechen vor allem die Animationsbranche<br />
an, aber das Ganze ist auch für die breite Masse interessant,<br />
da alle den aktuellen Zeitgeist mittragen.“<br />
„Wir brechen<br />
Tabus auf und behandeln<br />
Themen,<br />
die oft gemieden<br />
werden.“<br />
Hier, inmitten der bunten Vielfalt des ITFS, wird<br />
deutlich, wie wichtig es ist, digitale Filterblasen zu<br />
durchbrechen und sich mit neuen Ideen zu vernetzen.<br />
Besucher:innen jeden Alters können an<br />
Filmvorführungen, Diskussionen und Workshops<br />
teilnehmen. Junge Menschen tauschen sich mit<br />
erfahrenen Filmemacher:innen aus und entwickeln<br />
gemeinsam neue Projekte.<br />
Vollmar unterstreicht die Bedeutung des Festivals:<br />
„Wir bekommen Filme aus aller Welt, von<br />
verschiedenen Menschen und zu unterschiedlichen<br />
Themen. Das spiegelt die heterogene Szene<br />
wider und deckt den vielseitigen Zeitgeist ab.“<br />
Das Festival wolle den Zeitgeist nicht nur<br />
reflektieren, sondern ihn auch aktiv mitgestalten.<br />
„Wir brechen Tabus auf und behandeln Themen,<br />
die oft gemieden werden“, erklärt Vollmar.<br />
Eine Podiumsdiskussion, in der junge Filmemacher:innen<br />
über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung<br />
und Ausgrenzung in der Branche<br />
sprechen, sei für Vollmar ein bewegender<br />
Moment, der zeige, wie das ITFS dazu beitrage,<br />
wichtige gesellschaftliche Debatten anzustoßen.<br />
Bild: Dayna Tscharnke<br />
In einer Zeit, in der digitale Filterblasen und ein<br />
sich ständig wandelnder Zeitgeist den Alltag<br />
prägen, ist es wichtiger denn je, die Balance<br />
zwischen persönlicher Identität und gesellschaftlicher<br />
Perspektive zu finden. Das ITFS zeigt, wie<br />
man die Grenzen der digitalen Isolation überwinden<br />
und sich für kreative Vielfalt und alternative<br />
Ansichten öffnen kann. Es regt Besucher:innen<br />
an, sich aktiv mit verschiedenen Perspektiven<br />
auseinanderzusetzen und digitale Filterblasen zu<br />
durchbrechen, um zu einer vielfältigeren und<br />
inklusiveren Gesellschaft beizutragen, die den<br />
Herausforderungen der Zeit gerecht wird.<br />
Das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart<br />
lädt dazu ein, die Welt mit offenen Augen zu<br />
betrachten.
26 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Das Clubbing von Morgen?<br />
Das Nachtleben genießen auf möglichst sichere und diskriminierungsfreie Weise? Der Stuttgarter<br />
Daniel Pranjic erzählt, wie er dieses Vorhaben mit seinem Sunny High Club umsetzen will.<br />
VON SELINA TIPOLD<br />
Eine facettenreiche Welt voller pulsierender<br />
Energie, lauter Musik und<br />
schillernder Lichter – das Nachtleben.<br />
Von überfüllten Tanzflächen in Diskotheken<br />
bis hin zu gemütlichen Ecken<br />
in Bars hat das nächtliche Leben seit Jahrzehnten<br />
die Menschen angezogen und fasziniert. Doch<br />
während das Wesen des Nachtlebens im Kern<br />
unverändert bleibt – ein Ort der sozialen Interaktion,<br />
des Feierns und der Entspannung – hat es sich<br />
im Laufe der Zeit stetig gewandelt und angepasst.<br />
Doch wie kann das heutige Nachtleben die<br />
Strömungen und Veränderungen der Gesellschaft<br />
widerspiegeln und sich den Werten einer neuen<br />
Generation anpassen? Für diese Herausforderung<br />
will der gemeinnützige Verein Sunny High eine<br />
Lösung bieten. Die Veranstaltungen in den<br />
Räumen der alten Schwabenbräu-Passage beim<br />
Bad Cannstatter Bahnhof stehen ganz im Zeichen<br />
der Inklusion und Gleichberechtigung.<br />
Im Gespräch mit dem Vorstand des Vereins<br />
Daniel Pranjic betont er: „Einen komplett sicheren<br />
Raum gibt es nicht”, jedoch versucht das<br />
Sunny High diesem möglichst nahe zu kommen.<br />
Hierfür werden verschiedene Maßnahmen getroffen.<br />
Eine dieser Maßnahmen ist der Verhaltenskodex.<br />
Besucher:innen werden direkt am Einlass<br />
über diesen aufgeklärt: Werte wie Konsens, ein<br />
respektvolles Miteinander und die Gleichbehandlung<br />
aller, bilden die Stützpfeiler. Um diese<br />
Regeln zu wahren, ist bei jedem Event ein geschultes<br />
Awareness-Team vor Ort. Dieses ist für die<br />
Sicherheit, Notfallintervention und Konfliktlösung<br />
zuständig. Die Gäste bekommen so konkrete<br />
Ansprechpartner:innen für ihre Anliegen zur Verfügung<br />
gestellt.<br />
Aufklären statt Vorschreiben<br />
Ein Trend, der sich in den letzten drei Jahren<br />
bemerkbar gemacht habe, sei, dass oftmals nur<br />
Wasser getrunken werde. Der Drogenkonsum,<br />
besonders im Bereich Techno, sei dabei in den<br />
Vordergrund gerückt.<br />
„Ein wichtiger Grundsatz der Sozialen Arbeit<br />
ist, dass jeder selbstbestimmt entscheidet”, sagt<br />
Pranjic. Aus diesem Grund werde das Konsumverhalten<br />
der Feiernden nicht kontrolliert. Stattdessen<br />
regt das Personal zum Wassertrinken und<br />
Nutzung der Ruheorte an. Hochprozentige Spirituosen<br />
schenkt das dortige Barpersonal nicht aus.<br />
In der Zukunft kann Pranjic sich auch sogenannte<br />
„take”-Stände auf den Veranstaltungen des Sunny<br />
High vorstellen. Dieses Stuttgarter Projekt dient<br />
der sachlichen Information und Aufklärung rund<br />
um das Thema Drogen. „Wir wollen Lücken im<br />
Stuttgarter Nachtleben füllen”, erklärt Pranjic, als<br />
er über seine Motivationen spricht. Dazu gehört<br />
auch ein weiterer wichtiger Grundgedanke des<br />
Sunny High: Die Veranstaltungen sind unkommerziell.<br />
Die meisten Events können auf Spendenbasis<br />
besucht werden. Ausnahmen bilden hier<br />
bestimmte Konzerte. Hier müsse eine Eintrittsgebühr<br />
verlangt werden, um die Gagen der auftretenden<br />
Künstler:innen zu finanzieren. Der Rest<br />
der anfallenden Kosten werde über Förderungen<br />
und die Einnahmen der Getränke gedeckt.<br />
Ein Raum für Subgenre<br />
Auch das Musikangebot des Sunny High weist<br />
einige Besonderheiten auf: Es beherbergt eine<br />
Vielzahl kleiner, im Nachtleben eher selten vertretenen,<br />
Stile und variiert je nach Veranstaltung.<br />
Von Drum and Bass bis zu Trance oder House sind<br />
sämtliche Musikrichtungen zu finden. Ein Anliegen<br />
ist dem Verein die Unterstützung und Förderung<br />
von Einzelpersonen und Kollektiven, die im<br />
heutigen Nachtleben wenig Sichtbarkeit erfahren.<br />
Damit wird klar, auch das Programm untersteht<br />
hier dem Grundsatz der Inklusion. Blickt man in<br />
die Zukunft des Nachtlebens, stellt sich die Frage,<br />
ob Konzepte, wie die des Sunny High, als eine<br />
Inspiration für eine zeitgemäße Clubkultur dienen<br />
können.<br />
Bild: pixabay
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
27<br />
Alles für die Tonne?<br />
Elf Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel werden jedes Jahr in Deutschland weggeworfen.<br />
Aber kann eine einzelne Person wirklich etwas dagegen tun? Der Verein Foodsharing zeigt, dass<br />
gemeinsames Engagement einen Unterschied machen kann.<br />
VON NINA JUPPE<br />
Es ist kurz vor halb acht abends in einem<br />
Supermarkt in Stuttgart. Während einzelne<br />
Kunden noch durch die Gänge<br />
hasten, um die letzten Dinge für ihren<br />
Einkauf zu besorgen, wartet bereits die<br />
Lebensmittelabholerin Kathrin Schweben vor der<br />
Türe des Ladens. Nachdem der Laden betreten<br />
und die Foodsaver-Ausweise vorgezeigt wurden,<br />
führt ein Mitarbeiter in einen kleinen<br />
Lagerraum im hinteren Teil des Supermarktes.<br />
Dort haben Mitarbeitende des Marktes schon<br />
alle Lebensmittel bereitgestellt, die mitgenommen<br />
werden können. Die Gründe, aus denen<br />
Lebensmittel aussortiert werden, sind vielfältig.<br />
Oft ist das Mindesthaltbarkeitsdatum bald<br />
erreicht oder überschritten. Andere Gründe sind<br />
beschädigte Verpackungen oder unschöne<br />
Stellen. Bei den Abholungen variieren die<br />
Mengen. Heute gibt es viel Salat, Kürbis, Wurst,<br />
saure Sahne, Joghurt und sehr viele Eierkartons.<br />
Die Lebensmittel werden fair aufgeteilt,<br />
Unbrauchbares wird aussortiert und Handschuhe<br />
werden getragen, um die Backwaren aufzuteilen.<br />
Kühltaschen, Beutel und Dosen werden verwendet,<br />
um die Lebensmittel zu verstauen.<br />
Pro Person sind es am Ende der Abholung etwa<br />
zwei große Einkaufstaschen und einen Rucksack<br />
voller Lebensmittel. Kathrin Schweben erzählt,<br />
dass sie heute schon eine Abholung bei einem Bäcker<br />
hatte. Sie verteilt die Lebensmittel in ihrem<br />
Haus an die Nachbar:innen. „Ich finde es schade.<br />
Andere Menschen haben wenig Nahrung, und<br />
hier werfen wir Dinge weg, die noch gut sind“, erklärt<br />
sie. Eine wichtige Rolle im Verein übernimmt<br />
auch Charlotte Hiller. Als Betriebsverantwortliche<br />
liegt ihre Aufgabe darin, die Kooperationspartner<br />
zu betreuen – Betriebe, die ihren Lebensmittelüberschuss<br />
von Foodsharing abholen<br />
lassen. Der Verein Foodsharing wurde 2012 gegründet.<br />
Charlotte Hiller ist durch ihre Nichte auf<br />
den Verein aufmerksam geworden. Zu ihren Intentionen<br />
sagt sie: „Ich mache es aus dem Grund,<br />
dass wir die Überproduktion von Lebensmitteln<br />
wahrscheinlich nicht stoppen können, aber wir<br />
können den Lebensmittelabfall sicherlich reduzieren.“<br />
Ihr geht es auch um die Wertschätzung:<br />
INFO<br />
Bild: Midjourney/weihaw, mit KI generiert<br />
„Es wurde Ressourceneinsatz betrieben, Menschen<br />
haben dafür gearbeitet. Die Lebensmittel<br />
sind möglicherweise weit gereist. Es wäre schade,<br />
wenn sie weggeworfen würden.“ Der Verein organisiert<br />
sich überwiegend digital. Nach Schulungen<br />
und Einführungsabholungen können sich die<br />
Mitglieder online organisieren und bei Kooperationspartnern<br />
eine Abholung durchführen.<br />
Übrige Lebensmittel können anschließend<br />
online über sogenannte Lebensmittelkörbe oder<br />
in lokalen „Fairteilern“ weitergegeben werden.<br />
Der Verein ist auch mit Infoständen in der Region<br />
Wer aktiv gegen Lebensmittelverschwendung vorgehen und sich als Foodsaver:in engagieren<br />
möchte, findet auf der Webseite des Vereins unter www.foodsharing.de alle nötigen Informationen.<br />
Zusätzlich zu den Angeboten des Vereins bieten die „Fairteiler“ in der Umgebung die<br />
Möglichkeit, geretteten Lebensmitteln eine zweite Chance zu geben. Informationen über den<br />
nächstgelegenen „Fairteiler“ sind auf www.foodsharing.de/karte verfügbar.<br />
vertreten. Dort erlebt Charlotte Hiller häufig, dass<br />
die Besucher:innen entsetzt darüber sind, wie viel<br />
weggeworfen wird. Veränderungen finden auch<br />
im Verein statt. Nicht nur die Mitgliederanzahl<br />
steigt, sondern auch die Menge an<br />
Lebensmitteln, die der Verein rettet. Sie erklärt:<br />
„Es gibt neue Herausforderungen, weil wir teilweise<br />
Großrettungen haben, die eine sehr große<br />
Rettungskapazität erfordern.“ Der Verein hat sich<br />
bundesweit etabliert, daher kommen nun neben<br />
bekannten Kooperationspartnern wie Supermärkten<br />
und Bäckereien auch Krankenhäuser und<br />
Großveranstaltungen auf den Verein zu. Charlotte<br />
Hiller hofft darauf, dass Deutschland ein Gesetz<br />
zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung<br />
einführt, das dem in Frankreich ähnelt. In<br />
Deutschland wird das Durchwühlen von Müllcontainern<br />
von Großhändlern bestraft, während<br />
in Frankreich Supermärkte mit einer Geldstrafe<br />
von bis zu 0,1 Prozent ihres Umsatzes belangt werden,<br />
wenn sie unverkaufte Lebensmittel unbrauchbar<br />
machen.
28 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Die<br />
Welle<br />
des<br />
Hypes<br />
Bild: Franziska Schäfer<br />
In der Ära der digitalen Ästhetik und des Abenteuers steht derzeit<br />
eine Aktivität im Mittelpunkt: das Surfen. Der Profisurfer Lance<br />
Krüger verrät im Interview, warum der Boom der Sportart Segen<br />
und Fluch zugleich ist.<br />
VON LARA WAGNER<br />
Das goldene Licht der Sonne reflektiert<br />
im glasklaren Wasser, die Luft<br />
schmeckt nach Salz. Seine Hände<br />
gleiten durch das Wasser, seine Augen<br />
fixieren den Horizont. Lance<br />
Krüger spürt den Adrenalinschub, als er sich der<br />
Welle nähert. Mit einer fließenden Bewegung<br />
wirft er sich auf sein Brett und fährt auf der steigenden<br />
Welle. Dabei wird er eins mit der Naturgewalt<br />
unter ihm. „Das Surfen gibt einem extrem<br />
viel. Man ist im Moment, es ist einfach ein Gefühl<br />
von Freude“, erklärt der 23-Jährige.<br />
Mit einem strahlenden Lächeln erzählt Krüger<br />
von seinen Anfängen im Surfen, der Extremsportart,<br />
die er vor 18 Jahren für sich entdeckt hat.<br />
„Mein Papa hat mich und meinen Bruder schon<br />
früh in die Wellen geschoben“, erinnert er sich.<br />
Geboren und aufgewachsen auf der norddeutschen<br />
Insel Sylt, ist seine Verbindung zum<br />
Wasser von Kindheit an stark geprägt. Sein Vater,<br />
selbst ein passionierter Surfer, führt ihn früh in<br />
die Welt des Wellenreitens ein.<br />
Nachdem er seinen Bachelor in BWL mit<br />
Schwerpunkt Sportmanagement abgeschlossen<br />
hat, entscheidet sich der Sylter, seinem Herzen zu<br />
folgen. Er arbeitet nun in einem Surfcamp in<br />
Portugal. Seine Surfreisen haben ihn nicht nur<br />
durch Europa, sondern bereits nach Sri Lanka,<br />
Südafrika und Kalifornien geführt. Während eines<br />
Auslandssemesters in San Diego trainiert er im<br />
amerikanischen Surfteam. „Durch das Coaching<br />
und die Videoanalysen habe ich damals viel<br />
gelernt“, erinnert sich der braun gebrannte Sportler.<br />
Die gewonnene Erfahrung bringt ihn bis zu<br />
den deutschen Meisterschaften in Frankreich in<br />
Hossegor. Das Highlight seiner Karriere.<br />
Neben den persönlichen Erfahrungen ist<br />
Krüger Zeuge des wachsenden Interesses seines<br />
Sports. „Ein Grund dafür ist definitiv die Kommerzialisierung<br />
des Surfens“, erklärt er. Schon<br />
früh sorgte die Verbreitung von Filmen und Fotos<br />
für viele neue Anhänger:innen. Der Wellenreiter<br />
konnte in den letzten Jahren beobachten, dass<br />
tausende Marken den Surf-Lifestyle verkaufen.<br />
Soziale Medien, Serien, Musik und Werbungen<br />
sind bis heute Treiber des Booms.<br />
Auch in der Entwicklung der Surfschulen und<br />
Camps sieht der Profi einen rasanten Anstieg.<br />
„Das liegt einfach daran, dass Surfen mittlerweile<br />
eine Hype-Sportart ist und viele diesen Lifestyle<br />
leben möchten“, sagt er.<br />
Wenn Krüger über die Gefahren des Sports<br />
spricht, schließt er die Welle des Hypes als Auslöser<br />
für diese mit ein. Mit dem Boom kommen<br />
auch Herausforderungen – überfüllte Strände,<br />
unerfahrene Surfer und der ständige Druck, sich<br />
zu behaupten. „Ich wurde selber schon zweimal<br />
beim Surfen überfahren. Zum Glück hatte ich nur<br />
zwei Schnittwunden, aber das kann natürlich<br />
auch schlimmer ausgehen“, warnt der Experte.<br />
Auch konnte er beobachten, dass Einheimische,<br />
übergriffig werden. Besonders, wenn sich<br />
Tourist:innen im Wasser nicht regelkonform<br />
verhalten. „Da kann man schon mal schnell ange-<br />
schrien werden“, versichert der Surfer. Laut ihm<br />
sollte man Verständnis zeigen und den Platz<br />
verlassen.<br />
Ein Tipp, den der Norddeutsche Anfänger:innen<br />
auf den Weg gibt ist, sich beim Betreten des<br />
Wassers immer vorsichtig heranzutasten. Er vergleicht<br />
das Surfen gerne mit dem Besuch einer<br />
Party: „Man geht auch nicht auf eine Party von<br />
einer fremden Person und schnappt sich direkt<br />
ein Bier aus dem Kühlschrank. Genau so ist das<br />
auf dem Wasser auch. Ist man rücksichtsvoll, bekommt<br />
man meist eine Welle, die übrig bleibt.“<br />
Surfinteressierten empfiehlt Krüger zu Beginn eine<br />
Surfschule zu besuchen. Dort werden einem<br />
die Basics und Verhaltensregeln beigebracht.<br />
Der Sylter sieht auch positive Seiten im<br />
Aufschwung. Er erlebt aktuell hautnah, wie der<br />
Surftourismus Menschen eine Lebensgrundlage<br />
bietet. Surfschulen, Hostels oder Surfcoaches sind<br />
von der Szene abhängig und froh über das steigende<br />
Interesse. Krüger freut sich darüber, seine Leidenschaft<br />
im Camp mit anderen teilen zu können.<br />
Lance Krüger ist sich bewusst, wie der Zeitgeist<br />
den Sport beeinflusst. Trotz aller Schwierigkeiten<br />
bleibt der junge Sportler optimistisch und sieht in<br />
der wachsenden Beliebtheit auch Chancen für die<br />
Zukunft. „Surfen ist mehr als nur ein Sport, es ist<br />
ein Lifestyle“, betont er mit einem Schmunzeln,<br />
„und ich hoffe, dass immer mehr Menschen die<br />
Möglichkeit haben, die Freiheit und die Schönheit<br />
des Surfens zu erleben.“
02/ 2024 ZEITGEIST<br />
29<br />
E-Sport als Wohlfühlort<br />
Patrick Engelmann spielt seit 13 Jahren täglich League of Legends.<br />
Inzwischen ist er so gut darin, dass er als professioneller<br />
E-Sportler gut davon leben kann. Doch für ihn geht es beim Spiel<br />
um mehr als Geld.<br />
VON LENA RIXINGER<br />
HHeute wirkt der 26-Jährige offen,<br />
selbstbewusst und vor allem eins:<br />
glücklich. Denn er hat geschafft,<br />
wovon viele träumen. Unter dem<br />
Spielernamen „Obsess“ streamt Patrick<br />
Engelmann täglich für seine mehr als 24.000<br />
Twitch-Follower:innen. Daneben hostet er verschiedene<br />
E-Sport-Events. Einige reisen von weit<br />
her an, um ihn zu sehen. Doch so selbstsicher wie<br />
heute war er nicht immer.<br />
Im Jahr 2017 spielt er erstmals professionell<br />
für das League-of-Legends-Team des spanischen<br />
E-Sport-Clubs „Movistar Riders“. In der „realen<br />
Welt“ ist der damals 19-Jährige introvertiert, hat<br />
Probleme mit Augenkontakt und tut sich schwer<br />
mit Gesprächsthemen. Grund dafür ist seine Leidenschaft<br />
für den E-Sport, die damals wenige in<br />
seinem Umfeld teilen. Als er zu seinem Team nach<br />
Berlin zieht, ändert sich das schlagartig. Er denkt<br />
sich: „Geil, du lebst hier mit sechs Leuten zusammen,<br />
die dasselbe machen wie du. Du musst dich<br />
hier nicht verstellen.“<br />
Doch der Alltag in Berlin besteht nicht nur aus<br />
Spaß, sondern ist streng getaktet. Pro Tag werden<br />
sechs Trainingsblöcke absolviert, zuzüglich Office-Zeit,<br />
Team-Meetings und One-on-One-Gesprächen.<br />
Freizeit hat das Team erst nach 20 Uhr, aber<br />
die meisten Mitglieder spielen bis in die Nacht hinein.<br />
„Es sind acht Stunden auf dem Papier, aber<br />
in der Realität sind es um einiges mehr“, sagt „Obsess“<br />
rückblickend.<br />
Das harte Training lohnt sich. Er reist zu verschiedenen<br />
Turnierstandorten, teilweise ins Ausland.<br />
In England spielt er erstmals vor 400 Zuschauer:innen.<br />
Trotz Noise-Cancelling-Kopfhörern<br />
erinnert er sich gut an den Jubel und die<br />
Emotionen der Fans. An Standorten, die coronabedingt<br />
keine Fans vor Ort zuließen, warten diese<br />
vor dem Studio auf ihre Helden. „Das sind Leute,<br />
die alle die gleiche Passion haben“, sagt der<br />
E-Sportler und ergänzt: „Ob es jetzt auf dem Event<br />
selbst ist oder daheim vor dem Monitor – es gibt<br />
ganz vielen Leuten einfach so einen Wohlfühlort.”<br />
Heute spielt Engelmann nicht mehr im Team.<br />
Stattdessen streamt er – bis zu zwölf Stunden täglich.<br />
Das Streamer-Dasein ist gegenüber dem<br />
Teamtraining deutlich entspannter, meint er. Es<br />
gebe weniger Drucksituationen und er kann sich<br />
seinen Alltag selbst gestalten. Außerdem kann er<br />
über die Chat-Funktion direkt mit seinen Fans interagieren.<br />
„Oftmals sagen Menschen bei mir im<br />
Stream, wie dankbar sie für meine Streams oder<br />
für das Spiel generell sind, weil es ihnen auch in<br />
schlechteren Zeiten die nötige Ablenkung bietet.”<br />
Während sein ungewöhnlicher Job bei der<br />
jüngeren Generation überwiegend gut ankommt,<br />
muss er sich vor Älteren oft erklären – oder eine<br />
Notlüge erfinden. „Wenn mich eine Person auf<br />
der Straße fragt, oder mich jemand fragt, den ich<br />
nicht so gut kenne, dann mache ich einen ganz<br />
normalen, langweiligen Office-Job“, lacht er. Nur<br />
Bild: Privat<br />
der engere Familienkreis ist eingeweiht. Und auch<br />
die Eltern des Streamers waren anfangs nicht begeistert<br />
von dem Berufswunsch ihres Sohnes.<br />
Doch mit dem Erfolg seines Kanals steigt auch deren<br />
Akzeptanz für seine Branche. Inzwischen<br />
schaut seine Mutter jede Übertragung seiner Spiele.<br />
„Meine Mama hat keine Ahnung von dem<br />
Spiel, aber sie ist sehr enthusiastisch. Also sie versucht<br />
es sehr“, meint er schmunzelnd.<br />
Auf seine Zukunftspläne angesprochen meint<br />
„Obsess“, dass er ein Studium nicht ausschließe.<br />
Doch im Moment macht er sich keine Gedanken<br />
darüber. Auf die Frage, ob er vom Streaming gut<br />
leben könne, antwortet er lächelnd: „Ich bin sehr<br />
glücklich.“<br />
League of Legends ist ein teambasiertes Strategiespiel,<br />
bei dem zwei Teams mit je fünf<br />
Spielern gegeneinander antreten. Jeder<br />
Spieler wählt einen Champion aus einem<br />
Pool von über 140 Charakteren mit unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten. Ziel des Spiels ist<br />
es, die gegnerische Basis zu zerstören, indem<br />
die Champions Verteidigungen durchbrechen,<br />
Türme zerschlagen und letztendlich<br />
den „Nexus”, das Herzstück der Basis,<br />
erobern.<br />
Weltweit ist League of Legends das beliebteste<br />
Spiel unter E-Sport-Anhängern und<br />
eins der meistgeschauten Spiele auf Twitch.<br />
Bild: obs/Gillette Deutschland/Stephanie Wunderlich<br />
Twitch ist ein Live-Streaming-Videoportal.<br />
Vorrangig wird es zur Übertragung von Videospielen<br />
und zur Interaktion mit Zuschauer:innen<br />
im Chat genutzt.
30 ZEITGEIST<br />
mediakompakt<br />
Neues aus dem All<br />
Zum Mond, zum Mars und darüber<br />
hinaus? Die Zukunft der<br />
Raumfahrt ist in den Sternen –<br />
und sie beginnt jetzt. Mediakompakt<br />
gibt einen Einblick in<br />
aktuelle Missionen, neue Technologien<br />
und den Fortschritt<br />
im Weltraum.<br />
VON CHIARA HERMANNS<br />
Bild: pixabay<br />
Die Menschheit war schon immer fasziniert<br />
von den unendlichen Weiten<br />
des Weltraums. Der erste Mensch im<br />
All im Jahr 1961 und die legendäre<br />
Mondlandung 1969 sind dabei Meilensteine,<br />
von denen die ganze Welt gehört hat.<br />
Doch was passiert eigentlich gerade in der Raumfahrtindustrie?<br />
Mario Butscher, ein 24-jähriger<br />
Student aus der Luft- und Raumfahrttechnik, hat<br />
Antworten.<br />
Aktuelle Missionen – Was passiert gerade im All?<br />
Eine große Mission, an der gerade gearbeitet wird,<br />
ist der sogenannte „Lunar Gateway“. Dabei handelt<br />
es sich um ein großes Projekt der Nasa (National<br />
Aeronautics and Space Administration). Das<br />
„Lunar Gateway“ wird eine Raumstation, die in<br />
einer Umlaufbahn um den Mond positioniert<br />
werden soll. Somit wird ein permanenter, bemannter<br />
Posten um den Mond geschaffen. Das ist<br />
vor allem spannend in Hinsicht auf Langzeit-<br />
Weltraummissionen: „Das Gateway könnte unter<br />
anderem als Haltestelle dienen, um vor Langzeitmissionen,<br />
beispielsweise zum Mars, einen Zwischenstopp<br />
für die Astronaut:innen einzubauen.<br />
Diese Art von Sicherheit gab es früher nicht – die<br />
Astronauten der Apollo 11 Mission waren damals<br />
auf das Szenario vorbereitet, nicht mehr zurück<br />
zur Erde kommen zu können“, wie der Student<br />
der Universität Stuttgart erzählt.<br />
Auch in Europa steht die Industrie alles andere<br />
als still. Das europäische Pendant zur Nasa, die<br />
Esa, hat momentan die „BepiColombo”-Mission<br />
im Fokus. Bei dieser Kooperation mit Jaxa, also der<br />
japanischen Weltraumbehörde, handelt es sich<br />
um eine Raumsonde, die seit 2018 unterwegs ist,<br />
um den Planeten Merkur zu erkunden. Planmäßig<br />
soll die Sonde im Dezember 2025 ankommen.<br />
Ein weiteres laufendes Projekt ist die Mission<br />
„dearMoon“ des privaten Raumfahrtunternehmens<br />
SpaceX. „dearMoon“ ist ein touristischer<br />
Raumflug, bei dem Künstler:innen auf Kosten des<br />
japanischen Milliardärs Yusaku Maezawa sechs<br />
Tage im All verbringen. Sie sollen, wie der Name<br />
vermuten lässt, am Mond vorbeifliegen, bevor sie<br />
zur Erde zurückkommen. Die Künstler:innen und<br />
Maezawa selbst sollen von dem Flug für ihre<br />
Kunst inspiriert werden. Damit ist diese Reise ins<br />
All die erste ihrer Art.<br />
Butscher weiß: „Generell hat sich die Industrie<br />
in den vergangenen Jahren verändert. Nicht nur<br />
das künstlerische Interesse ist größer geworden,<br />
sondern das Interesse an der Raumfahrt steigt allgemein.<br />
Die sinkenden Kosten eines Raketenstarts<br />
sorgen gerade dafür, dass die Raumfahrt auch zugänglicher<br />
für touristische Flüge wird. Firmen wie<br />
Blue Origin und Virgin Galactic bieten diese jetzt<br />
schon an, für zwischen 250.000 bis 500.000 US-<br />
Dollar pro Sitz für suborbitale Flüge.” Des Weiteren<br />
erklärt der Stuttgarter: „Dazu kommt, dass private<br />
Unternehmen eine stetig größer werdende<br />
Rolle in der Weltraumerkundung übernehmen.<br />
Früher waren diese nur Teil der Herstellung von<br />
Teilen für die Raumfahrt, heute sind sie an der gesamten<br />
Entwicklung beteiligt und schießen selbst<br />
Raketen ins All.“<br />
Es gibt zusätzlich zahlreiche private Firmen,<br />
die an Ressourcen aus dem All, beispielsweise von<br />
Asteroiden, interessiert sind. Der fachliche Begriff<br />
dafür ist „Space Resource Utilization”. So sollen<br />
Ressourcen von Himmelskörpern gesammelt und<br />
verwendet werden, die im Gegenzug nicht der Erde<br />
entnommen werden müssen. Das hat den großen<br />
Vorteil, dass diese Materialien für (Erkundungs-)Missionen<br />
nicht von der Erde ins All geschickt<br />
werden müssen – sondern dort direkt verwendet<br />
werden können. Wasser zum Beispiel auf<br />
eine Weltraummission mitzuschicken sei unglaublich<br />
teuer und könne durch die Ressourcenentnahme<br />
im All vermieden werden, wie Butscher<br />
erklärt. Der Bachelorand verrät weiter: „In der<br />
Raumfahrtindustrie zeichnen sich dieselben<br />
Trends ab, wie in der generellen Ökonomie. Entrepreneurship<br />
und die Tendenz zur Nachhaltigkeit.<br />
Man erkennt den Generationenwechsel daran,<br />
dass der Fokus der Industrie auf anderen Werten<br />
liegt.“<br />
Nachhaltigkeit – inwiefern kann die Raumfahrtindustrie<br />
dazu beitragen?<br />
Es gibt viele Technologien, die durch und für die<br />
Raumfahrt (weiter-)entwickelt wurden. Darunter<br />
einige, von denen man es kaum erwarten würde:<br />
Mikrowellen, Wärmedecken, Feuermelder, Prothesen<br />
und Klettverschlüsse. Eine dieser Entwick-
02/ 2024<br />
ZEITGEIST<br />
31<br />
lungen ist auch das „Carbon Capturing“. Butscher<br />
erklärt die Technik dahinter: „Carbon Capturing<br />
ist ein Prozess, bei dem Kohlenstoffverbindungen,<br />
meist CO 2<br />
, einem weiteren Nutzungszyklus<br />
zugeführt werden. Dabei wird das O 2<br />
aus dem CO 2<br />
entnommen, was auf Raumfahrtmissionen CO-<br />
Vergiftungen verhindert. Dieser Prozess ist sehr<br />
langsam, kann aber trotzdem dabei helfen, das<br />
überschüssige CO 2<br />
auf der Erde aus der Luft zu bekommen.“<br />
Das Problem dabei sei, dass der Klimawandel<br />
zu schnell vorangehe, als dass dies als alleinige<br />
Lösung dafür fungieren könne. „Dennoch<br />
arbeiten Raumfahrtingenieure an weiteren Ansätzen,<br />
um die Erhitzung der Erde auszubalancieren.”<br />
Ein weiteres Projekt, an dem laut Butscher gerade<br />
von verschiedenen Gruppen gearbeitet wird,<br />
ist das planetare Sonnenschild. Dieses Konzept,<br />
das auf einem Schwarm aus Sonnenschirmen mit<br />
einer Gesamtfläche von einer Million Quadratkilometern<br />
im Weltraum basiert, würde der<br />
Menschheit Zeit geben, um den CO 2<br />
-Haushalt zu<br />
balancieren. Durch die Sonnenschilder im All<br />
könnte die Strahlung, welche die Erde trifft, verringert<br />
werden, um den weiteren Temperaturanstieg<br />
zu bremsen. Mario Butscher selbst arbeitet<br />
im Rahmen seiner Bachelorarbeit an einem solchen<br />
Sonnenschild-Konzept. Die Arbeit daran, als<br />
einer mehrerer Faktoren, hat ihm viele Einsichten<br />
in das Thema Nachhaltigkeit gegeben.<br />
„Wir Menschen auf der Erde sollten uns generell<br />
mehr von der Raumfahrtindustrie abschauen.<br />
Nicht nur die Technologien, auch die Zusammenarbeit<br />
und das ressourcenschonende Leben im All,<br />
was für Astronaut:innen überlebenswichtig ist. In<br />
der Raumfahrt arbeiten Menschen aus verschiedenen<br />
Nationen zusammen, weil der Weltraum keiner<br />
Nation gehört, sondern der Menschheit. Davon<br />
können wir viel lernen.”<br />
Butscher selbst möchte nach dem Studium<br />
kein Astronaut werden, sondern Ingenieur bleiben.<br />
„Ich will ein Teil der Entwicklungen im Weltraum<br />
sein und Dinge bauen, die dazu beitragen”,<br />
antwortet er auf die Frage nach seiner eigenen Zukunft.<br />
Zu guter letzt – leben alle Menschen irgendwann auf<br />
anderen Himmelskörpern?<br />
Voraussichtlich nicht, wenn man Butscher<br />
glaubt. Dafür seien die Transportkosten zu hoch<br />
und die Ressourcen zu knapp. Die gesamte<br />
Menschheit umzusiedeln wäre also ein zu schweres<br />
Vorhaben, zumindest in den nächsten Jahrzehnten.<br />
Einen kleinen Lichtblick gibt er aber<br />
trotzdem:<br />
„Ich glaube daran, dass in 100 Jahren die Menschen<br />
auf der Erde zum Mond aufschauen und<br />
Lichter sehen werden. Vielleicht kein Licht von<br />
einer riesigen Stadt, aber von einer kleinen Kolonie<br />
mit 10 bis 20 Menschen. Und vielen Robotern!”<br />
I M P R E S S U M<br />
mediakompakt<br />
Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />
Hochschule der Medien Stuttgart<br />
HERAUSGEBER<br />
Professor Christof Seeger<br />
Hochschule der Medien<br />
Nobelstraße 10, 70569 Stuttgart<br />
REDAKTION<br />
Bianca Menzel, Corinna Pehar (v.i.S.d.P.)<br />
menzelb@hdm-stuttgart.de, pehar@hdm-stuttgart.de<br />
Nicole Fröhlich (CvD) froehlich@hdm-stuttgart.de<br />
TITELSEITE<br />
Constancia Oertel, Chau Pham, Stephanie Popow, Nina<br />
Juppe, Milena Starcenko, Thomas Müller, Sarah Gökeler<br />
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Désirée Vogt, Chiara Hermanns, Lara Wagner,<br />
Theresa Neher, Jennifer Hohn<br />
BLATTKRITIK<br />
Paulina Bronner, Annika Losch, Lena Rixinger,<br />
Sarah Karkutsch, Michelle Voigt<br />
MEDIA NIGHT<br />
Andre Malkoc, Elelta Fessehaie, Nadine Deting,<br />
Dayna Tscharnke, Selina Tipold<br />
LEKTORAT<br />
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Theresa Heugel<br />
DRUCK<br />
Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />
Böblinger Straße 70, 71065 Sindelfingen<br />
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