Verelendungstheorie – die hilflose Kapitalismuskritik

II. Die Rolle der Verelendungstheorie in der Geschichte der deutschen Arbei-
terbewegung
Die kritische Interpretation der Verelendungstheorie im Rahmen des Gesamtwerkes und die Un-
tersuchung auf ihren Stellenwert innerhalb der gesamten Theorie der materialistischen
.Geschichtsbetrachtung (als Bedingungsanalyse der Entwicklung der materiellen Reproduktion)
werde ich im folgenden Kapitel vornehmen. Für dieses Kapitel hier ist allein wichtig, ob sich für
die Zeitgenossen von Marx und Engels eine Verelendungstheorie als plausibel darstellen konnte
und ob bei der späteren Lektüre von Marx-Texten die Verelendungstheorie als zentral wichtiger
und konstitutiver Teil des Marxismus durch diese Texte belegt werden konnte.
So werden denn auch in den Programmschriften der SPD nach dein >Manifest der Kommunisti-
schen Partei< bis zur Jahrhundertwende die Thesen der Verelendungstheorie aufgenommen; im
>Gothaer Programm< von 1875 noch vermischt mit dem Lassallianischen Malthusianismus: An
der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch
bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in
allen Formen.« Gefordert - und Marx rügt diese Forderung heftig - wird »,die Zerbrechung des
ehernen Lohngesetzes« 18
Im >Erfurter Programm< von 1891 ist dann die Formulierung über die »geschichtliche Tendenz
der kapitalistischen Akkumulation« vom Ende des ersten Bandes des >Kapital< beinahe wörtlich
übernommen. Die Verelendungstheorie als strategische Einschätzung der Entwicklung des Kapi-
talismus und der unausweichlichen revolutionären Reaktion des Proletariats auf diese Entwick-
lung ist damit zur programmatisch festgelegten Doktrin der deutschen Arbeiterbewegung gewor-
den.
In der Revisionismusdebatte wurde diese Doktrin und die entsprechende Passage im Erfurter
Programm zu einem der zentralen Punkte der Auseinandersetzung.
1. Revisionismusstreit und Verelendungstheorie
Die Revisionismusdebatte erreichte ihren ersten Höhepunkt, als Eduard Bernstein eine Zuschrift
an den vom 3. bis 8. Ok-
18 Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (Gothaer Programm), in: Revolutionäre deutsche Par-
teiprogramme, Berlin (DDR-Dietz) 1967,S. 47, und K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S.15f.
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