Leben mit neurologischen Erkrankungen

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22.07.2024 Aufrufe

www.lebenmit.de Leben mit ... NEUROLOGISCHEN ERKRANKUNGEN Seite 4 NMOSD – Julia war 23 Jahre alt, als sie die Kontrolle über ihren Körper verlor Seite 6 hATTR-Amyloidose – Polyneuropathien können ein Symptom sein Seite 8 Clusterkopfschmerz – Frank erzählt über sein Leben mit „glühenden Nadeln im Auge“ Seite 14 Schlaganfall – Dagmar spricht über die schwerste Zeit ihres Lebens Seite 18 Demenz beim Vater – Schauspielerin Katy Karrenbauer im Interview (K)ein neues Leben Jack ist Anfang 20, will die Welt erobern und jeden Tag ein neues Abenteuer erleben. Doch plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Ein heftiger Schub und schließlich die Diagnose Multiple Sklerose stellen sein Leben auf den Kopf – und alles infrage.

www.leben<strong>mit</strong>.de<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> ...<br />

NEUROLOGISCHEN<br />

ERKRANKUNGEN<br />

Seite 4<br />

NMOSD – Julia war<br />

23 Jahre alt, als sie<br />

die Kontrolle über<br />

ihren Körper verlor<br />

Seite 6<br />

hATTR-Amyloidose –<br />

Polyneuropathien können<br />

ein Symptom sein<br />

Seite 8<br />

Clusterkopfschmerz –<br />

Frank erzählt über sein<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> „glühenden<br />

Nadeln im Auge“<br />

Seite 14<br />

Schlaganfall – Dagmar<br />

spricht über die schwerste<br />

Zeit ihres <strong>Leben</strong>s<br />

Seite 18<br />

Demenz beim Vater –<br />

Schauspielerin Katy<br />

Karrenbauer im Interview<br />

(K)ein neues <strong>Leben</strong><br />

Jack ist Anfang 20, will die Welt erobern und jeden<br />

Tag ein neues Abenteuer erleben. Doch plötzlich<br />

ist nichts mehr, wie es war. Ein heftiger Schub und<br />

schließlich die Diagnose Multiple Sklerose stellen<br />

sein <strong>Leben</strong> auf den Kopf – und alles infrage.


2<br />

Vorwort<br />

Wissen Sie, was einer der größten Stressfaktoren im <strong>Leben</strong> eines Menschen ist?<br />

Es ist die Ungewissheit! Menschen können schlechte Ereignisse, die vielleicht<br />

eintreten, weniger gut ertragen als jene, die es definitiv tun werden.<br />

Diagnosen geben Sicherheit<br />

Prof. Dr. Volker Busch<br />

Neurologe, Psychiater<br />

und Wissenschaftler<br />

BUCHTIPP<br />

Was können wir tun, um uns in<br />

schwierigen Zeiten im <strong>Leben</strong><br />

sicher zu fühlen und Zuversicht<br />

zu gewinnen? Prof. Dr. Volker<br />

Busch erläutert in „Kopf hoch!“<br />

die Funktionsweise unseres<br />

mentalen Immunsystems. Er<br />

zeigt, welche Strategien uns<br />

psychisch stark machen und<br />

gesund halten.<br />

ISBN-10: 3426279169<br />

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Eine Diagnosestellung dient da<strong>mit</strong><br />

nicht nur als Grundlage für<br />

die medizinische Abrechnung<br />

oder die Rechtfertigung für<br />

die Gabe bestimmter Medikamente.<br />

Sie hat auch eine große<br />

Bedeutung für die Auseinandersetzung Betroffener<br />

<strong>mit</strong> ihren Beschwerden: Diagnosen<br />

geben eine Form von Sicherheit, weil sie<br />

den Stress der Ungewissheit reduzieren. Das<br />

kann sehr entlastend sein („Endlich habe ich<br />

es schwarz auf weiß“). Darüber hinaus können<br />

sie psychisch stabilisieren, denn Diagnosen<br />

legitimieren das Leid.<br />

Auf diese Weise ist <strong>mit</strong><br />

der offiziellen Bestätigung<br />

intrapsychisch auch eine<br />

Berechtigung verbunden<br />

(„Ich darf das so empfinden;<br />

ich bin krank, aber<br />

nicht unnormal“). Das gilt<br />

insbesondere für Symptome,<br />

die vorher niemand<br />

adäquat einordnen konnte<br />

oder ggf. nicht mal ernst<br />

nahm. Gute Beispiele hierfür<br />

sind Migräne und Clusterkopfschmerzen,<br />

auf<br />

denen in der Allgemeinbevölkerung<br />

nach wie vor<br />

das Odium einer banalen<br />

Befindlichkeitsstörung<br />

ruht („Nimm halt eine Aspirin und schlaf<br />

dich mal aus“).<br />

Je länger ein Patient unter unklaren Beschwerden<br />

leidet, desto größer wird sein<br />

Wunsch im Laufe der Zeit, gesehen und verstanden<br />

zu werden. Bei seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />

kann die lange Zeitspanne des Kampfes<br />

um Legitimation psychisch stark belasten.<br />

Denken Sie an (zerebelläre) Ataxien, die<br />

in der Bevölkerung oft <strong>mit</strong> der impliziten<br />

Wahrnehmung einer Trunkenheit assoziiert<br />

werden. Oder denken Sie an chronische Erschöpfungssyndrome<br />

im Rahmen postviraler<br />

<strong>Erkrankungen</strong>, die Betroffene oft dem Vorwurf<br />

aussetzen, Drückeberger zu sein und<br />

nicht arbeiten zu wollen. Diagnosen entlasten,<br />

weil sie das Gewicht einer hypochondrischen<br />

Störung von den Schultern nehmen<br />

(„Ich habe die Bestätigung, dass ich kein Psycho<br />

bin“).<br />

Nichtsdestotrotz, auch dies gehört zur Wahrheit,<br />

kann der Wunsch nach Gewissheit<br />

durch eine eindeutige Diagnose auch eine<br />

Kehrseite haben: Manchmal sind Menschen<br />

<strong>mit</strong> <strong>neurologischen</strong> Symptomen nämlich bereit,<br />

äußerst abstruse Krankheitsnarrative für<br />

sich in Anspruch zu nehmen. Das Bedürfnis<br />

nach Sicherheit wird größer als jenes nach<br />

Wahrheit. Nicht jeder<br />

Rückenschmerz, der<br />

sich bis in den Nacken<br />

zieht, ist gleich eine Fibromyalgie.<br />

Im Fahr-<br />

Je länger ein Patient<br />

unter unklaren<br />

Beschwerden leidet,<br />

desto größer wird<br />

sein Wunsch im<br />

Laufe der Zeit, gesehen<br />

und verstanden<br />

zu werden.<br />

wasser vorschneller<br />

Diagnosen können<br />

dann unsinnige oder<br />

gar gefährliche Therapien<br />

hinterherreisen.<br />

Daher bleiben für uns<br />

Ärzte die weitere Forschung<br />

und die sorgfältige<br />

Beobachtung<br />

von Menschen <strong>mit</strong><br />

„seltsamen“ Symptomen<br />

essenziell!<br />

Stellen Sie sich Krankheitskonzepte<br />

wie Eisberge vor, die im Wasser<br />

treiben. „Bekannt“ ist jeweils nur die<br />

kleine Spitze oberhalb der Wasseroberfläche;<br />

der Rest darunter entzieht sich unserer Wahrnehmung.<br />

Wissenschaftliche Forschung<br />

senkt den Wasserspiegel. Dadurch werden<br />

Abschnitte der Eisberge sichtbar, die vorher<br />

noch unsichtbar waren. Wenn wir aufdecken,<br />

was von unseren Patienten vorher nur unspezifisch<br />

beschrieben und ggf. verbal mühsam<br />

verteidigt werden musste, leisten wir ihnen<br />

einen unschätzbaren Dienst. Nicht nur, weil<br />

wir dann aus unseren Erkenntnissen sinnvolle<br />

Therapien ableiten können, sondern<br />

auch, weil wir da<strong>mit</strong> eines der stärksten psychischen<br />

Bedürfnisse erfüllen, die Menschen<br />

haben: das Bedürfnis nach Gewissheit..<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> ... Magazin Healthcare Mediapartner GmbH | Pariser Platz 6a | 10117 Berlin | www.healthcare-mediapartner.de<br />

Herausgeberin Franziska Manske Redaktionsleitung Benjamin Pank Design Elias Karberg Coverbild privat<br />

Druck BNN Badendruck GmbH Kontakt redaktion@leben<strong>mit</strong>.de | www.leben<strong>mit</strong>.de<br />

Alle Artikel, die <strong>mit</strong> „In Zusammenarbeit <strong>mit</strong>“ gekennzeichnet sind, sind gesponserte Beiträge.<br />

Alle Artikel der Ausgabe schließen alle Geschlechter <strong>mit</strong> ein. Zur besseren Lesbarkeit wird jedoch nur eine Geschlechtsform verwendet.


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4<br />

NMOSD<br />

„Eine Krankheit kann<br />

unsichtbar sein – und<br />

trotzdem ist sie da“<br />

Julia ist 23 Jahre alt, als sie das Gefühl hat, die<br />

Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Sie<br />

hat starke Schmerzen, dauerhaften Schluckauf,<br />

ist chronisch müde und leidet unter motorischen<br />

Ausfällen. Was sie damals noch nicht<br />

weiß: Julia hat NMOSD, eine Autoimmunerkrankung<br />

des zentralen Nervensystems.<br />

Doch die Erkrankung ist selten und für Außenstehende<br />

häufig zunächst kaum sichtbar.<br />

instagram.com/<br />

nmosdfighter<br />

Foto: privat<br />

Julia, wann haben Sie gemerkt, dass etwas<br />

nicht stimmt?<br />

Ich wachte eines Morgens <strong>mit</strong> starken Nackenschmerzen<br />

auf und dachte an eine Verspannung.<br />

Die Schmerzen wurden jedoch so<br />

schlimm, dass ich nach ein paar Tagen zum<br />

Hausarzt ging. Er verschrieb mir Schmerztabletten<br />

und Physiotherapie, aber mein Gesundheitszustand<br />

verschlechterte sich. Ich<br />

bekam einen anhaltenden Schluckauf, der<br />

von Erbrechen begleitet wurde; ich war auch<br />

sehr müde und hatte das Gefühl, die Kontrolle<br />

über meinen eigenen Körper zu verlieren.<br />

Meine Mutter verständigte schließlich den<br />

Bereitschaftsdienst, nachdem wir telefoniert<br />

hatten.<br />

Die Ärzte gingen zunächst von einer Magenschleimhautentzündung<br />

aus, verursacht<br />

durch die Schmerzmedikamente. Ich bekam<br />

andere Medikamente und meine Mutter<br />

nahm mich <strong>mit</strong> zu sich nach Hause. Mir ging<br />

es immer schlechter. Ich war kraftlos, konnte<br />

nichts bei mir behalten und erbrach ständig.<br />

Aufstehen und gehen – selbst trinken war<br />

unmöglich. Ich hatte unvorstellbare Schmerzen.<br />

Nach etwa einer Woche brachten mich<br />

meine Eltern ins Krankenhaus, wo ich eine<br />

Infusion bekam. Da nichts gefunden wurde<br />

und mein Zustand stabil zu sein schien,<br />

wurde ich noch am selben Abend entlassen.<br />

Am nächsten Tag begleitete mich eine Bekannte<br />

zu meinem Hausarzt, der sofort den<br />

Notruf wählte und mich <strong>mit</strong> Verdacht auf<br />

einen Schlaganfall ins Krankenhaus einliefern<br />

ließ. Eine Gesichtshälfte hing herunter<br />

und der Handdrucktest war sehr schwach.<br />

Bei den ersten Untersuchungen stellte man<br />

fest, dass mein linkes Auge im zentralen<br />

Sehfeld einen schwarzen Fleck hatte und ich<br />

nicht mehr richtig sehen konnte. Die Ärzte<br />

diagnostizierten eine starke Dehydrierung,<br />

Gehirnentzündung, Rückenmarksentzündung<br />

und eine Sehnerventzündung. Nach<br />

zahlreichen Tests erhielt ich schließlich die<br />

Diagnose Neuromyelitis-optica-Spektrum-<br />

Erkrankung, NMOSD. Es handelt sich dabei<br />

um eine Autoimmunerkrankung, das heißt,<br />

der Körper bildet Antikörper gegen körpereigenes<br />

Gewebe.<br />

Wie haben Sie auf die Diagnose reagiert?<br />

Ich war im ersten Moment erleichtert, weil<br />

ich nun endlich wusste, was ich habe. Meine<br />

Eltern, besonders meine Mutter, haben sich<br />

anfangs große Sorgen gemacht und viele Informationen<br />

über die Krankheit recherchiert.<br />

Wie ging es dann weiter?<br />

Ich erhielt eine Weile alle zwei Wochen Immunglobuline<br />

über eine Infusion; auch Physiotherapie<br />

und Ergotherapie haben sehr geholfen.<br />

Man muss sich vorstellen, ich musste<br />

vieles wieder lernen, das Gehen zum Beispiel<br />

musste ich neu üben! Aktuell erhalte ich keine<br />

spezifische Therapie, möchte sie aber in<br />

naher Zukunft wieder aufnehmen. Seit ein<br />

paar Jahren bin ich darüber hinaus wegen<br />

meiner Nervenschmerzen in einer Schmerzklinik<br />

ambulant in Behandlung. All das hat<br />

dazu geführt, dass ich meinen Alltag heute<br />

wieder bewältigen kann.<br />

Was hat sich für Sie verändert?<br />

Mein <strong>Leben</strong> hat sich komplett gewandelt. Es<br />

gibt gute und schlechte Tage, doch seit der Diagnose<br />

setze ich andere Prioritäten. Ich habe<br />

gelernt, was wirklich wichtig ist, und schätze<br />

die kleinen Momente des Glücks und die Zeit<br />

<strong>mit</strong> meiner Familie viel mehr. Die NMOSD<br />

hat mir gezeigt, wie kostbar das <strong>Leben</strong> und<br />

die gemeinsame Zeit <strong>mit</strong> den Liebsten sind.<br />

Sie schreiben auf Instagram über Ihren Alltag<br />

<strong>mit</strong> NMOSD. Was hat Sie dazu bewogen?<br />

Als ich die Diagnose erhielt, fühlte ich mich<br />

anfangs oft allein da<strong>mit</strong>. Ich habe mich dafür<br />

entschieden, meine Erfahrungen zu teilen, um<br />

auch anderen Menschen zu zeigen, wie ein <strong>Leben</strong><br />

<strong>mit</strong> einer seltenen Erkrankung aussehen<br />

kann. Durch meine Beiträge möchte ich zeigen,<br />

dass man trotz der Herausforderungen ein erfülltes<br />

<strong>Leben</strong> führen kann. Ich hoffe, dadurch<br />

anderen Betroffenen Mut zu machen und mehr<br />

Verständnis und Bewusstsein für seltene Krankheiten<br />

in der Gesellschaft zu schaffen. Außerdem<br />

wollte ich eine Plattform schaffen, auf der<br />

sich Betroffene austauschen und gegenseitig<br />

unterstützen können. Die positive Resonanz<br />

und die Geschichten anderer Betroffener bestärken<br />

mich immer wieder darin, diesen Weg<br />

weiterzugehen.<br />

Wie geht es Ihnen heute, und welchen Rat<br />

haben Sie für andere Betroffene?<br />

Ich habe gelernt, <strong>mit</strong> meiner Krankheit zu leben<br />

und die positiven Momente mehr zu schätzen<br />

als früher. Es war ein langer Weg, aber ich bin<br />

dankbar für die Unterstützung meiner Familie<br />

und meiner Freunde.<br />

Anderen Betroffenen möchte ich raten, niemals<br />

die Hoffnung zu verlieren und nicht allein <strong>mit</strong><br />

seinen Sorgen zu bleiben. Sucht euch Hilfe – sei<br />

es durch Ärzte, Familie oder Freunde. Informiert<br />

euch gut über eure Krankheit und seid offen für<br />

verschiedene Therapien und Behandlungsmöglichkeiten.<br />

Wichtig ist auch, auf den eigenen<br />

Körper zu hören und sich die Ruhe und die Pausen<br />

zu gönnen, die man braucht. Und vor allem:<br />

Lasst euch nicht entmutigen! Jeder Tag ist eine<br />

neue Chance, und auch kleine Fortschritte sind<br />

wertvoll..<br />

Redaktion Emma Howe


5<br />

Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 5<br />

„NMOSD muss wie ein Schlaganfall<br />

in unseren Köpfen präsent sein“<br />

Neuromyelitis-optica-Spektrum-<strong>Erkrankungen</strong> (NMOSD) umfassen eine Gruppe von seltenen<br />

Autoimmunerkrankungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sich Entzündungen im zentralen Nervensystem<br />

bilden – also in Gehirn und Rückenmark. In Deutschland sind gerade einmal rund 2.000<br />

Patienten betroffen. Zum Vergleich: An einer Multiplen Sklerose (MS) leiden etwa 250.000. Doch<br />

da die NMOSD in Schüben verläuft, wird sie häufig als MS diagnostiziert – <strong>mit</strong> oft fatalen Folgen.<br />

Dieses Interview wurde in Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />

umgesetzt.<br />

DEU-335-0624-80026<br />

Herr Prof. Pul, was ist NMOSD genau, und<br />

was belastet Ihre Patienten am meisten?<br />

Die NMOSD ist eine schwere entzündliche<br />

Erkrankung des Zentralnervensystems, die<br />

bei einem Teil der Betroffenen <strong>mit</strong> der Bildung<br />

von Antikörpern gegen das sogenannte<br />

Aquaporin-4, ein Eiweiß in der Zellmembran,<br />

das den Wasseraustausch der Zelle <strong>mit</strong> ihrer<br />

Umgebung kontrolliert, einhergeht. Diese<br />

Antikörper führen zu einer starken Aktivierung<br />

des Entzündungssystems. Anders als bei<br />

der MS benötigt diese Erkrankung nur ein bis<br />

zwei Schübe, bis schwerste Einschränkungen<br />

vorliegen. Deshalb ist das Timing bei der Therapie<br />

von NMOSD viel entscheidender als bei<br />

der MS, wo wir doch etwas mehr Zeit haben.<br />

Wie ist die psychologische Krankheitslast<br />

einzuschätzen?<br />

Die in der Regel sehr schweren Krankheitsverläufe,<br />

oft <strong>mit</strong> Erblindung, Spastiken und<br />

massiven Schmerzen, enden häufig <strong>mit</strong> starken<br />

Behinderungen. Das ist für die Betroffenen<br />

auch psychologisch sehr belastend. Sie<br />

müssen lernen, <strong>mit</strong> den Einschränkungen<br />

umzugehen, und sich an die neuen <strong>Leben</strong>sumstände,<br />

teilweise <strong>mit</strong> der Notwendigkeit<br />

von Hilfs<strong>mit</strong>teln, anpassen. Diese Diagnose<br />

verändert das <strong>Leben</strong> doch nachhaltig.<br />

Mit welchen „unsichtbaren“ Symptomen<br />

sind Betroffene konfrontiert, und wie stark<br />

beeinträchtigen sie die <strong>Leben</strong>squalität?<br />

Die bleierne Müdigkeit und Erschöpfung<br />

(Fatigue) ist eine nicht zu unterschätzende<br />

Begleitsymptomatik, weil sie zu erheblichen<br />

<strong>Leben</strong>squalitätseinbußen führt und sich nicht<br />

gut therapieren lässt. Und wer eine Myelitis,<br />

also eine Entzündung des Rückenmarks, hat,<br />

hat fast immer eine Blasenstörung. Die kann<br />

unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche<br />

haben nur einen starken Harndrang, andere<br />

auch eine Dranginkontinenz, oder es liegt eine<br />

Kombination aus einer gestörten Blasenentleerung<br />

und einem erhöhten Harndrang vor.<br />

Welche Rolle spielen Schmerzen, selbst<br />

wenn sie behandelt werden?<br />

Schmerz ist ein großes Problem. Dabei gibt es<br />

verschiedene Formen: Zur Behandlung spastikassoziierter<br />

Schmerzen stehen durchaus einige<br />

effektive Behandlungsoptionen zur Verfügung.<br />

Zur Behandlung einer umschriebenen Spastik<br />

Univ.-Prof. Dr. Refik Pul<br />

Leiter des Schwerpunkts Multiple<br />

Sklerose am Universitätsklinikum<br />

Essen und Professor für translationale<br />

Neuroimmunologie<br />

des Arms oder Beins kann Botulinumtoxin eingesetzt<br />

werden, sofern die Kosten von der Krankenkasse<br />

getragen werden. Auch bei Patienten<br />

<strong>mit</strong> neuropathischen Schmerzen, also Schmerzen,<br />

die durch die Schädigung des Nervensystems<br />

verursacht werden, versuchen wir, über die<br />

herkömmliche Schmerztherapie hinaus noch<br />

weitere Schmerztherapien einzuleiten. Das führt<br />

zumindest zu einem Anstieg der <strong>Leben</strong>squalität.<br />

Es gibt aber auch andere Arten von Schmerzen<br />

oder Engegefühle im Brust- oder Bauchbereich.<br />

Das kann auch an den Beinen auftreten. Hier besteht<br />

noch Bedarf an neuen Therapien, um <strong>mit</strong><br />

diesen Schmerzen besser umzugehen.<br />

Was lässt sich <strong>mit</strong> ergänzenden Behandlungsverfahren<br />

erreichen?<br />

Physiotherapie ist ein elementarer Bestandteil<br />

der Behandlung, vor allem bei einer Spastik oder<br />

einer Lähmung. Sie kann zum Aufbau von Kraft<br />

hilfreich sein, aber auch bei Schmerzen. Auch<br />

die rehabilitationsmedizinische Behandlung zur<br />

Wiederherstellung der physischen und psychischen<br />

Fähigkeiten ist ein wichtiger Punkt, keine<br />

Option, sondern eine wichtige Maßnahme.<br />

Wie groß ist das Risiko falscher Diagnosen,<br />

und was bedeutet das für den Leidensweg<br />

der Betroffenen?<br />

Ich hatte einen Patienten, der 2014 die Diagnose<br />

MS erhalten hat. Ich habe mir das MRT-<br />

Bild des Gehirns angesehen und hätte mich<br />

<strong>mit</strong> der Diagnose auch abfinden können. Es<br />

war aber schon sehr auffällig, dass der Patient<br />

relativ schnell Lähmungserscheinungen entwickelt<br />

hat. Er wurde dann weiter <strong>mit</strong> MS-Medikamenten<br />

behandelt. Ein Problem war, dass<br />

der Patient Angst vor MRT-Untersuchungen<br />

hatte und der Rückenmarkskanal deshalb nie<br />

untersucht worden war. Vermutlich hätte man<br />

dabei schwere Schädigungen gesehen, die eher<br />

auf eine NMOSD hingedeutet hätten, und die<br />

MS-Diagnose hinterfragt. Ich habe dann einen<br />

Test auf Antikörper gegen das bereits erwähnte<br />

Aquaporin-4 durchgeführt, was dann zur richtigen<br />

Diagnose geführt hat. Manchmal ist die Unterscheidung<br />

auf den ersten Blick nicht einfach,<br />

weil MS ein ähnliches Bild wie NMOSD zeigen<br />

kann.<br />

Wie ließe sich diese Zeit verkürzen, da<strong>mit</strong><br />

Betroffene möglichst früh eine Diagnose<br />

und Therapie erhalten?<br />

Die Diagnosekriterien sind inzwischen etwas<br />

bekannter als früher, sodass Ärzte schon öfter an<br />

eine NMOSD denken. Trotzdem ist die Erkrankung<br />

noch immer weitgehend unbekannt. Hier<br />

kommt es entscheidend auf die Ausbildung der<br />

jungen Kollegen an, wir müssen immer wieder<br />

Bilder der Erkrankung präsentieren.<br />

Eine andere Schwierigkeit ist, dass die Patienten<br />

natürlich nicht direkt in eine Uniklinik<br />

gehen. Viele warten geduldig auf ihren Termin<br />

vier Monate später beim Neurologen. Ich glaube,<br />

hier wäre erst mal Öffentlichkeitsarbeit<br />

nötig, um die Erkrankung der Bevölkerung<br />

vorzustellen, auch wenn sie selten ist. Und wir<br />

dürfen die Hausärzte nicht vergessen, denn<br />

sie sind eine entscheidende Schnittstelle.<br />

Was ist Ihr Fazit?<br />

Eine sehr, sehr frühe Diagnosestellung ist so<br />

entscheidend, da<strong>mit</strong> Invalidität vermieden<br />

werden kann. Deshalb muss die NMOSD wie<br />

ein Notfall, wie ein Schlaganfall, in unseren<br />

Köpfen präsent sein. Es ist weniger gravierend,<br />

eine MS ein bisschen später zu diagnostizieren<br />

– aber eine NMOSD darf nicht später<br />

diagnostiziert werden..<br />

!<br />

Für weitere Informationen<br />

zur Erkrankung und Diagnose<br />

von NMOSD sowie eine<br />

Übersicht über Anlaufstellen<br />

für Betroffene scannen<br />

Sie den QR-Code oder besuchen Sie die<br />

Website www.nmosd-in-focus.com/de.


Hereditäre Transthyretin-Amyloidose<br />

Wann kann Kribbeln in den<br />

Füßen auf eine rasch fortschreitende<br />

erbliche Erkrankung hinweisen?<br />

Polyneuropathien können unter anderem durch <strong>Erkrankungen</strong> wie Diabetes, bestimmte<br />

Arznei<strong>mit</strong>tel oder Alkoholkonsum ausgelöst werden. Eine weitere mögliche Ursache ist<br />

die seltene genetisch bedingte hereditäre Transthyretin-Amyloidose. Das Tückische an der<br />

Erkrankung ist, dass sie <strong>mit</strong> ganz unterschiedlichen Beschwerden verbunden sein kann.<br />

Diese reichen von Missempfindungen in den Füßen und Händen über Magen-Darm-<br />

Beschwerden bis zu Symptomen am Herzen. Daher stellt die Diagnose Ärzte vor große<br />

Herausforderungen. Dabei sind bei dieser fortschreitenden Erkrankung eine frühe<br />

Diagnose und Behandlung zum Erhalt der <strong>Leben</strong>squalität wichtig.<br />

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />

M<br />

al kribbelt es nur in Fingern<br />

und Zehen, bei anderen<br />

fühlen sich Füße und<br />

Hände taub an oder sind<br />

kalt. Es kann aber auch<br />

zu brennenden Schmerzen<br />

kommen oder das Empfinden für Kälte<br />

und Wärme in Händen und Füßen ist gestört.<br />

Gemeinsam ist diesen Symptomen, dass sie typisch<br />

für eine Polyneuropathie – eine Störung<br />

der Reizweiterleitung in den Nerven – sind. Bei<br />

der hereditären (erblichen) Transthyretin-Amyloidose<br />

beginnen die Nervenschädigungen zumeist<br />

in den Füßen und Beinen. Sie können im<br />

Krankheitsverlauf zu Muskelschwund und Muskelschwäche<br />

sowie zu Gangunsicherheit führen.<br />

Auch die Hände können betroffen sein. Ein weiteres<br />

Anzeichen der Erkrankung kann zudem ein<br />

Karpaltunnelsyndrom – eine Einengung eines<br />

Handnervs – sein, vor allem, wenn beide Hände<br />

betroffen sind.<br />

Die erbliche Form der Transthyretin-Amyloidose<br />

beruht auf Veränderungen (Mutationen) in<br />

umgesetzt.<br />

dem Gen, das den Bauplan für Transthyretin<br />

trägt. Transthyretin ist ein Eiweiß, das natürlich<br />

im Körper vorkommt. Es ist vor allem für den<br />

Transport von Vitamin A und Schilddrüsenhormonen<br />

im Blut verantwortlich.<br />

Eiweißablagerungen können verschiedene<br />

Organe beeinträchtigen<br />

Durch die Genmutationen kann das aus vier<br />

Bausteinen aufgebaute Transthyretin instabil<br />

werden und zerfallen. Die Zerfallsprodukte<br />

bilden mikroskopisch kleine Fasern, die soge-


nannten Amyloidfibrillen. Diese können sich<br />

in verschiedenen Organen wie Nerven, dem<br />

Herzen, den Nieren oder den Augen ablagern.<br />

Sammeln sich zu viele dieser Fasern an, kann<br />

dies die Funktion der betroffenen Organe einschränken.<br />

Typische Symptome<br />

Meist treten die ersten Beschwerden bei der<br />

erblichen Form der Transthyretin-Amyloidose<br />

im Alter von Mitte 20 bis Mitte 60 auf. Dabei<br />

sind die Symptome individuell verschieden.<br />

Oft sind die peripheren Nerven bereits<br />

zu Beginn der Erkrankung betroffen und es<br />

kommt zu einer Polyneuropathie <strong>mit</strong> ihren<br />

unterschiedlichen Ausprägungen. Beeinträchtigen<br />

die Amyloid-Ablagerungen Nerven,<br />

die die Körperfunktionen steuern (autonomes<br />

Nervensystem), sind unter anderem<br />

Beschwerden im Magen-Darm-Bereich wie<br />

Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung<br />

möglich, aber auch eine unbeabsichtigte<br />

Gewichtsabnahme, Schwindel, sexuelle Dysfunktion<br />

oder übermäßiges Schwitzen zählen<br />

zu den Symptomen.<br />

Beschwerden wie beispielsweise rasche Erschöpfung,<br />

Kurzatmigkeit, Schwindelgefühl<br />

beim Aufstehen, geschwollene Beine (Ödeme)<br />

und unregelmäßiger Herzrhythmus (Vorhofflimmern)<br />

können hingegen darauf hindeuten,<br />

dass es im Herzen zu Ablagerungen<br />

von Amyloidfibrillen gekommen ist. Bei der<br />

Mehrheit der Patienten in Deutschland sind<br />

sowohl die Nerven als auch das Herz betroffen.<br />

Das muss der Arzt wissen<br />

Aufgrund der verschiedenen betroffenen Organe<br />

wird die hereditäre Transthyretin-Amyloidose<br />

auch als multisystemische Erkrankung<br />

bezeichnet. Im Gespräch <strong>mit</strong><br />

dem Arzt ist es daher wichtig,<br />

alle Beschwerden anzusprechen,<br />

auch wenn sie auf den<br />

ersten Blick nichts <strong>mit</strong>einander<br />

zu tun haben. Hier ist<br />

eine Symptom-Checkliste<br />

(siehe Abbildung) hilfreich.<br />

Ebenso wichtig ist der Blick<br />

auf die Familie, da es eine<br />

autosomal-dominant vererbbare<br />

Erkrankung ist. Die<br />

Wahrscheinlichkeit ist hoch,<br />

dass in der engeren Familie<br />

oder in der Verwandtschaft<br />

weitere Personen erkrankt<br />

sind. Für den Arzt ist das ein<br />

wichtiger Hinweis bei der Diagnose.<br />

Aufgrund der vielfältigen<br />

Beschwerden kann es sein, dass<br />

eine Überweisung an fachärztliche<br />

Praxen erfolgt. Besteht der Verdacht<br />

auf eine erbliche Form der Transthyretin-<br />

Amyloidose, bringt ein Gentest, bei dem die<br />

genaue Mutation bestimmt wird, Gewissheit.<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> der Erkrankung<br />

Ohne Behandlung schreitet die hereditäre<br />

Transthyretin-Amyloidose immer weiter fort,<br />

wodurch der Alltag und die <strong>Leben</strong>squalität<br />

eingeschränkt werden. Einmal bestehende<br />

Amyloid-Ablagerungen lassen sich nur in<br />

begrenztem Rahmen und nur bei sehr stark<br />

reduziertem Transthyretinspiegel rückgängig<br />

machen. Daher ist eine möglichst frühe<br />

Therapie wichtig. Zur Behandlung der hereditären<br />

Transthyretin-Amyloidose stehen verschiedene<br />

Medikamente zur Verfügung. Welche<br />

Therapie zum Einsatz kommt, entscheidet<br />

der behandelnde Arzt. Oberstes Ziel ist es, die<br />

<strong>Leben</strong>squalität der Patienten so lange wie<br />

möglich zu<br />

erhalten. Entscheidend<br />

ist daher eine frühe Diagnose, um möglichst<br />

frühzeitig <strong>mit</strong> einer passenden Therapie der<br />

Transthyretin-Amyloidose beginnen zu können..<br />

Für weitere Informationen zur<br />

Diagnose einer hereditären<br />

Transthyretin-Amyloidose und<br />

Tipps zum <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> der Erkrankung<br />

scannen Sie den QR-<br />

Code, um zur Patientenbroschüre zu gelangen,<br />

oder besuchen Sie die Internetseite<br />

www.hattrbridge.de.<br />

7<br />

Typische Symptome der hereditären<br />

Transthyretin-Amyloidose<br />

Symptome im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> den autonomen Nerven<br />

• Schwere Verstopfung<br />

und Durchfall im Wechsel<br />

• Schwindel beim Aufstehen<br />

• Sexuelle Dysfunktion<br />

• Störung des Schwitzens<br />

• Blasenentleerungsstörung<br />

Symptome im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> dem Herzen<br />

(Kardiomyopathie)<br />

• Atemnot<br />

• Geschwollene Beine (Ödeme)<br />

• Unregelmäßiger Herzrhythmus<br />

(Vorhofflimmern)<br />

• Rasche Erschöpfung<br />

• Schwindelgefühl<br />

Weitere Symptome<br />

• Verschwommenes Sehen<br />

oder Fleckensehen<br />

• Nierenfunktionsstörung<br />

TTR-DEU-00149 - 6/2024<br />

Symptome im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> den peripheren Nerven<br />

(Polyneuropathie)<br />

• Kribbeln oder Brennen<br />

• Taubheitsgefühl<br />

• Gangunsicherheit<br />

• Muskelschwäche und<br />

Muskelschwund<br />

• Beidseitiges<br />

Karpaltunnelsyndrom<br />

!<br />

Die Symptome sind von Person<br />

zu Person sehr unterschiedlich.<br />

So können einige der hier genannten<br />

Symptome in mehr oder<br />

weniger starker Ausprägung auftreten<br />

– andere wiederum gar<br />

nicht. Zudem können Symptome<br />

im Laufe der Zeit zunehmen<br />

oder sich verändern. Deshalb ist<br />

es wichtig, alle Beschwerden <strong>mit</strong><br />

dem Arzt zu besprechen.


8<br />

Clusterkopfschmerz<br />

Pfeile im<br />

Kopf<br />

Clusterkopfschmerz zählt zu den seltenen<br />

Krankheiten und ist bislang wenig bekannt. Es<br />

ist eine der schwersten Kopfschmerzerkrankungen<br />

überhaupt. Der durch die Krankheit<br />

ausgelöste Schmerz kann in den schlimmsten<br />

Momenten unaushaltbar stark werden.<br />

In Deutschland sind schätzungsweise etwa<br />

120.000 bis 200.000 Menschen daran erkrankt.<br />

Einer von ihnen ist Frank Paulus. Mit<br />

48 Jahren bekam er seine erste Attacke.<br />

Redaktion Emma Howe<br />

Foto: privat<br />

Herr Paulus, wann hatten Sie Ihre erste Attacke?<br />

Ich erinnere mich noch genau daran. Es war im<br />

Frühling 2012. Ich spürte plötzlich einen starken,<br />

stechenden Schmerz um mein linkes Auge<br />

herum. Mein Gesicht verzerrte sich, das Auge<br />

begann zu tränen, die Nase zu laufen, das linke<br />

Augenlid hing leicht herunter und Schweiß<br />

bildete sich auf meiner Stirn. Der Schmerz war<br />

unerträglich. Ich begann unruhig in der Wohnung<br />

umherzulaufen und wusste nicht, wie<br />

mir geschieht, was ich machen sollte. Nach<br />

rund 15 Minuten war es wieder vorbei.<br />

Können Sie versuchen, den Schmerz genauer<br />

zu beschreiben?<br />

Es fühlte sich an, als würden mir glühende<br />

Nadeln oder Messer durch das linke Auge gestoßen,<br />

bevor sich dieses Stechen langsam in<br />

Richtung Stirn und Schläfen ausbreitete – als<br />

würden sich Pfeile langsam durch meinen<br />

Schädel bohren.<br />

Wie ging es weiter?<br />

Als ich am nächsten und übernächsten Tag<br />

wieder eine Attacke bekam, ging ich auf Drängen<br />

meiner Frau zum Hausarzt. Bei ihm im<br />

Sprechzimmer bekam ich erneut eine Attacke<br />

und der Arzt schaute mich völlig entsetzt an.<br />

Er sagte, dass er so etwas noch nie zuvor gesehen<br />

hatte, und wies mich sofort <strong>mit</strong> Verdacht<br />

auf Hirntumor ins Krankenhaus ein. Als ich<br />

meine Frau anrief, um ihr davon zu erzählen,<br />

zitterte ich am ganzen Körper. Ich stand unter<br />

Schock und hatte panische<br />

Angst vor dem, was<br />

kommt. Ich war gerade<br />

Opa geworden, und statt<br />

mich auf die gemeinsame<br />

Zeit <strong>mit</strong> meinem<br />

Enkel zu freuen, hatte<br />

ich nun Angst davor, zu<br />

sterben und ihn nicht<br />

aufwachsen zu sehen. Dieser Gedanke brach<br />

mir das Herz.<br />

Im Krankenhaus wurden körperliche Untersuchungen,<br />

Laboruntersuchungen und ein<br />

CT gemacht. Danach gaben die Ärzte Entwarnung<br />

und schickten mich nach Hause. Da ich<br />

auch im Krankenhaus mehrere Attacken hatte,<br />

wurde mir noch geraten, zum Neurologen zu<br />

gehen.<br />

Wie fühlten Sie sich in diesem Moment?<br />

Sehr alleingelassen. Ich wusste zwar, dass ich<br />

nicht an einer lebensbedrohlichen Krankheit<br />

litt, was mich sehr erleichterte. Doch die Frage<br />

„Was habe ich dann?“ konnte mir niemand beantworten.<br />

Wusste der Neurologe weiter?<br />

Leider nein. Er empfahl mir, mehr zu trinken,<br />

an der frischen Luft spazieren zu gehen<br />

und, wenn es gar nicht anders geht, eine<br />

Schmerztablette zu nehmen. Er verschrieb<br />

mir Schmerz<strong>mit</strong>tel und schickte mich nach<br />

Hause. Ich befolgte seinen Rat, und nach zwei<br />

Monaten waren die Attacken wieder weg.<br />

Durch die Erkrankung zog ich<br />

mich immer mehr zurück und<br />

verlor meine <strong>Leben</strong>sfreude.<br />

Doch sie kamen wieder.<br />

Ein halbes Jahr hatte ich keinerlei Probleme,<br />

doch im Herbst waren sie wieder da. Von da<br />

an suchte mich der Schmerz jedes Jahr um<br />

die Zeitumstellung auf. Bis zu sechs Wochen<br />

litt ich täglich unter den qualvollen Attacken,<br />

die bei mir bis zu 50 Minuten andauerten<br />

und teilweise achtmal am Tag auftraten.<br />

Ich habe viele Wartezimmer von innen<br />

gesehen, doch kein Arzt konnte mir helfen.<br />

Irgendwann habe ich resigniert und bin wegen<br />

meiner Schmerzen zu keinem Arzt mehr<br />

gegangen. Damals war ich mir sicher, dass<br />

ich den Rest meines <strong>Leben</strong>s unter diesen<br />

Höllenqualen leiden muss.<br />

Wie hat die Erkrankung Ihr <strong>Leben</strong> verändert?<br />

Ich erkannte mich oft selbst nicht wieder.<br />

Ich war immer ein sehr kontaktfreudiger<br />

Mensch, der gern in Gesellschaft war, und<br />

liebte es, Ausflüge <strong>mit</strong> meiner Familie zu unternehmen.<br />

Durch die Attacken veränderte<br />

ich mich. Ich zog mich immer mehr zurück,<br />

meine <strong>Leben</strong>sfreude und das Familienleben


Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 9<br />

litten sehr darunter. Ich konnte nicht mehr<br />

der Vater, Opa und Ehemann sein, der ich<br />

sein wollte. Wenn mein Enkel während einer<br />

Attacke zu mir kam, ich ihn wegschicken<br />

musste und die Enttäuschung und<br />

Traurigkeit in seinem Gesicht sah, brach<br />

es mir fast das Herz. Auch beruflich war es<br />

schwer. In den Attackenwochen musste ich<br />

mich oft krankschreiben lassen. Mein Chef<br />

hatte zum Glück Verständnis dafür, aber ich<br />

hatte das Gefühl, meine Kollegen im Stich<br />

zu lassen. Hinzu kam, dass ich immer mehr<br />

resignierte, weil kein Arzt mir helfen konnte.<br />

Teilweise fühlte ich mich wie ein Simulant.<br />

Wann bekamen Sie endlich die Diagnose?<br />

Die Diagnose erhielt ich neun Jahre nach<br />

meiner ersten Attacke. Mein Enkelsohn war<br />

im Kindergarten vom Klettergerüst gefallen<br />

und lag <strong>mit</strong> einer Gehirnerschütterung im<br />

Krankenhaus. Als ich ihn besuchte, bekam<br />

ich eine Attacke. Dies sah der Stationsarzt<br />

und bat mich in sein Sprechzimmer. Er zog<br />

eine Kollegin aus der Neurologie hinzu und<br />

beide stellten mir Fragen. Danach bekam<br />

ich die Diagnose Clusterkopfschmerzen.<br />

Als sie mir sagten, dass es Behandlungsmöglichkeiten<br />

gibt, war ich so glücklich<br />

wie schon lange nicht mehr. Dass ich vor<br />

drei Jahren zur richtigen Zeit am richtigen<br />

Ort eine Attacke hatte, war ein Segen. Sonst<br />

wüsste ich vielleicht heute noch nicht, was<br />

ich habe.<br />

Wie wurden Sie dann therapiert?<br />

Anfangs <strong>mit</strong> Tabletten. Doch leider wirkten<br />

diese nicht so, wie ich gehofft hatte. Wenn<br />

eine Attacke begann und ich die Tablette<br />

nahm, wirkte diese scheinbar erst, als die<br />

Attacke am Abklingen war. Das frustrierte<br />

mich sehr. Jetzt hatte mein Leiden zwar einen<br />

Namen, doch es änderte nicht wirklich<br />

etwas an meiner Situation. Zum Glück hat<br />

sich in den letzten Jahren viel getan.<br />

Bitte gehen Sie näher darauf ein.<br />

Leider ist die Erkrankung bisher nicht heilbar,<br />

aber die heute gängigen Behandlungsmethoden<br />

bieten eine gute Linderung der<br />

Schmerzen. Mit den Möglichkeiten lässt<br />

sich die Anzahl, aber auch die Heftigkeit<br />

der Schmerzattacken senken. In Akutsituationen<br />

nutze ich Sauerstoff und eine Behandlung<br />

via Injektion oder Nasenspray –<br />

je nach Situation und Schwere der Attacke.<br />

Besonders die Möglichkeit der Injektion hat<br />

mein Leiden stark verbessert, da die Wirkung<br />

schnell einsetzt und ich sie überall<br />

nutzen kann. Es gibt auch prophylaktische<br />

Möglichkeiten, doch diese haben bei mir<br />

leider keine Wirkung gezeigt.<br />

Nur weil ich vor<br />

drei Jahren zur<br />

richtigen Zeit<br />

am richtigen Ort<br />

eine Attacke hatte,<br />

kenne ich heute<br />

meine Diagnose.<br />

Wie geht es Ihnen heute?<br />

Deutlich besser. Ich habe gelernt, <strong>mit</strong> meiner<br />

Erkrankung zu leben, führe Schmerztagebuch,<br />

bin in regelmäßigem Austausch<br />

<strong>mit</strong> meinem Neurologen und habe dank<br />

der Therapie meine <strong>Leben</strong>sfreude größtenteils<br />

zurückgewonnen. Natürlich gibt<br />

es auch schlechte Tage, aber die vergehen<br />

schnell wieder. Dafür bin ich sehr dankbar..<br />

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<strong>mit</strong> dem Herzen<br />

(Kardiomyopathie)<br />

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• Geschwollene Beine (Ödeme)<br />

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(Vorhofflimmern)<br />

• Rasche Erschöpfung<br />

• Schwindelgefühl<br />

Weitere Symptome<br />

• Verschwommenes Sehen<br />

oder Fleckensehen<br />

• Nierenfunktionsstörung<br />

Die Symptome sind von Person<br />

zu Person sehr unterschiedlich.<br />

So können einige der hier genannten<br />

Symptome in mehr oder<br />

weniger starker Ausprägung auftreten<br />

– andere wiederum gar<br />

nicht. Zudem können Symptome<br />

im Laufe der Zeit zunehmen<br />

oder sich verändern. Deshalb ist<br />

es wichtig, alle Beschwerden <strong>mit</strong><br />

dem Arzt zu besprechen.


10<br />

Migräne<br />

„Migräne ist so<br />

viel mehr als nur<br />

Kopfschmerzen“<br />

Rund 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung<br />

leiden an Migräne. Eine von ihnen ist Wiara.<br />

Im Interview spricht sie über ihr <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong><br />

chronischer Migräne und den langen Weg,<br />

ihre Krankheit zu akzeptieren.<br />

Redaktion Leonie Zell<br />

instagram.com/<br />

headache.heroes<br />

Foto: privat<br />

Wiara, seit wann haben Sie Migräne und wie<br />

fing es bei Ihnen an?<br />

Ich habe meine Migräne, seit ich ungefähr<br />

acht Jahre alt bin. Ich und meine Familie wussten<br />

damals noch nichts von meiner Migräne.<br />

Wir dachten einfach, ich hätte normale Kopfschmerzen.<br />

Wenn diese auftraten, habe ich<br />

mich in mein abgedunkeltes Zimmer gelegt<br />

und gewartet, bis es vorbei war. Damals traten<br />

die Attacken noch nicht so oft auf, eher selten.<br />

Heute habe ich sie leider chronisch.<br />

Bitte beschreiben Sie den Schmerz.<br />

Der Schmerz ist bei mir meist einseitig im<br />

Kopf und zieht vom Nacken bis zum Auge. Jeder<br />

Schritt, jede noch so kleine Bewegung tut<br />

mir im Kopf weh. Dazu bin sehr licht-, lärmund<br />

geruchsempfindlich. Oft wird mir sehr<br />

schlecht und ich muss mich übergeben vor<br />

Schmerzen. Der Schmerz ist pochend, pulsierend<br />

und hämmernd. Und die Kopfhaut ist<br />

sehr empfindlich.<br />

Wie haben Sie gelernt, <strong>mit</strong> den Schmerzen<br />

umzugehen?<br />

Ich denke, ich lerne bis heute noch, <strong>mit</strong> dieser<br />

chronischen Krankheit umzugehen. Mal fällt<br />

es mir leichter, doch dann gibt es auch wieder<br />

die Momente, in denen ich diese Krankheit<br />

und meinen Kopf verfluche und hasse. Doch<br />

in der Regel versuche ich, die Krankheit anzunehmen<br />

und zu akzeptieren. Ich versuche,<br />

mir Gutes zu tun in den Momenten, in denen<br />

es mir sehr schlecht geht. Ich versuche, die<br />

schmerzfreien Momente umso mehr zu genießen<br />

und dankbar dafür zu sein, da ich nie<br />

weiß, wie lange sie bleiben.<br />

Ich glaube, am meisten musste ich lernen, auf<br />

meinen Körper zu hören. Dass ich nicht mehr<br />

so viel ertrage und aushalte wie früher. Daher<br />

habe ich meinen Alltag auf die Hälfte reduziert.<br />

Wir müssen unsere Energie jeden Tag gut einteilen,<br />

denn viel haben wir davon nicht. Das<br />

war für mich besonders schwer, da ich früher<br />

immer gerne mehr als 100 Prozent gegeben<br />

habe und immer mehr gemacht habe als andere.<br />

Jetzt darf ich nicht das tun und machen,<br />

was ich möchte, sondern muss immer zuerst<br />

auf meinen Körper achten, was er noch kann.<br />

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen<br />

Ernährung und Migräne?<br />

Da Migräne eine Reizverarbeitungsstörung<br />

des Gehirns ist, fehlt uns oft die notwendige<br />

Energie, die unser Gehirn aber bräuchte. Daher<br />

ist eine regelmäßige Ernährung sehr wichtig<br />

für uns. Wir sollten alle drei bis vier Stunden<br />

komplexe Kohlenhydrate zu uns nehmen, da<br />

diese die nötige Energie für unser Gehirn liefern.<br />

Also lieber kleinere Portionen, aber dafür<br />

öfter am Tag.<br />

Kann man Migräne vorbeugen?<br />

Die Migräne liebt Regelmäßigkeiten. Durch einen<br />

gleichmäßigen Alltag, wie einen gleichen<br />

Schlaf-Wach-Rhythmus oder regelmäßige Essenszeiten,<br />

kann man einer Migräneattacke<br />

vorbeugen. Es gibt dennoch viele Trigger für<br />

uns. Wie zum Beispiel Stress, unregelmäßige<br />

Essenszeiten, unregelmäßiger Schlaf-Wach-<br />

Rhythmus, Wetterwechsel, zu viel Lärm usw.<br />

Aber oft ist ein Trigger allein nicht Auslöser für<br />

eine Attacke, sondern eher die Summe vieler<br />

Trigger. Daher sind Ruhephasen sehr wichtig<br />

für uns. Wir sollten niemals in ein Energiedefizit<br />

kommen.<br />

Wie geht Ihr Umfeld <strong>mit</strong> der Erkrankung<br />

um?<br />

Mein Umfeld geht <strong>mit</strong>tlerweile sehr verständnisvoll<br />

<strong>mit</strong> meiner Krankheit um. Anfangs war<br />

ihnen nicht bewusst, dass die Krankheit nicht<br />

nur während einer Attacke eine Rolle spielt,<br />

sondern eigentlich jeden Tag, jede Stunde.<br />

Aber Grund dafür war, dass es mir selbst noch<br />

nicht bewusst war und ich diese Krankheit<br />

nicht ernst genommen habe bzw. nicht wusste,<br />

dass Migräne so viel mehr als nur Kopfschmerz<br />

ist. Seitdem ich mehr für mich und meinen<br />

Körper einstehe, tun es die anderen auch. Vor<br />

allem meine Familie. Sie baut mich immer<br />

wieder auf und macht mir immer wieder Mut,<br />

nicht aufzugeben. Sie war und ist immer an<br />

meiner Seite, egal was kommt. Das gibt mir einen<br />

Grund, nicht aufzugeben und immer weiterzumachen.<br />

Sie teilen Ihre Hochs und Tiefs <strong>mit</strong> der Erkrankung<br />

auf Instagram. Wie kam es dazu<br />

und was ist Ihr Ziel?<br />

Ich wurde oft auf meine Migräne angesprochen<br />

und nach Rat gefragt. Da dachte ich mir:<br />

Wieso starte ich nicht einfach einen Instagramkanal<br />

und teile meine täglichen Herausforderungen<br />

<strong>mit</strong> der Migräne? Teile mein Wissen<br />

und meine Erfahrungen? Ich teile aber nicht<br />

nur, sondern sammle auch jede Menge Tipps<br />

und Ratschläge. Es ist <strong>mit</strong>tlerweile wirklich ein<br />

toller Austausch geworden zwischen mir und<br />

vielen weiteren Migränebetroffenen. Mit einer<br />

Person habe ich mich sogar schon getroffen,<br />

und es ist so schön, dass man sich <strong>mit</strong> Leidensgenossen<br />

austauschen kann. Dadurch fühlt<br />

man sich sehr verstanden und nicht so alleine<br />

<strong>mit</strong> dieser Krankheit.<br />

Welche Tipps möchten Sie Betroffenen geben?<br />

Neben all den Regeln und Möglichkeiten, irgendwie<br />

einer Attacke vorzubeugen, möchte<br />

ich lieber allen Migränebetroffenen <strong>mit</strong>teilen,<br />

dass sie da<strong>mit</strong> nicht alleine sind und nicht<br />

aufgeben sollen zu kämpfen. Ich weiß, es ist<br />

oft sehr schwer, positiv zu bleiben, vor allem,<br />

wenn man eine Phase hat, in der die Schmerzen<br />

nicht aufhören wollen. Aber es kommen<br />

wieder bessere Momente und Tage, an denen<br />

wir dann verstehen und spüren, warum wir<br />

immer weiterkämpfen. Wir sollten niemals die<br />

Hoffnung aufgeben, dass eines Tages vielleicht<br />

doch etwas dazu führt, dass es uns endlich besser<br />

geht. Ich glaube ganz fest daran! .


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12<br />

Multiple Sklerose wird die Erkrankung <strong>mit</strong> den tausend Gesichtern<br />

genannt. Jede MS ist anders und dennoch irgendwie<br />

gleich. Körperliche Kämpfe sind die eine Sache, doch<br />

wie der Kopf da<strong>mit</strong> fertig wird, verstehen viele nicht ...<br />

Ich kann dir nicht beschreiben, wie es sich anfühlt,<br />

wenn meine Freundin mir über den Kopf streichelt und<br />

ich ihre Berührungen kaum spüren kann. Ich kann<br />

dir nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, <strong>mit</strong> meinen<br />

Freunden oft nicht <strong>mit</strong>halten zu können. Ich kann dir<br />

nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, beim Arzt zu sitzen<br />

und Angst zu haben, nicht ernst genommen zu werden.<br />

Ich kann dir nur sagen, was dadurch in meinem<br />

Kopf passiert. Die Multiple Sklerose hat mich anfangs<br />

kaputt gemacht, mich gebrochen und innerlich zerrissen.<br />

In meinem Kopf herrschte eine Leere, die für mich<br />

unerträglich war. Ich fühlte mich allein – trotz Freunden,<br />

Familie und geliebten Menschen um mich herum.<br />

Doch ich habe etwas gelernt: Es gibt immer Menschen,<br />

die dir beistehen. Vielleicht siehst du sie für einen kurzen<br />

Moment nicht, doch sie sind da, nehmen dich so, wie<br />

du bist, und werden immer alles ihnen<br />

Mögliche tun, um aus einem ALLEIN<br />

ein GEMEINSAM zu machen. Wahre<br />

Liebe und Freundschaft geht über jegliche<br />

Krankheit hinaus. Verlasse dich<br />

darauf, wenn du dich allein fühlst!


Coverstory<br />

Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 13<br />

„Ein MS-Schub half mir<br />

aus der Abwärtsspirale“<br />

Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Müdigkeit, Lähmungen, Mobilitätsverlust:<br />

Multiple Sklerose, kurz MS, hat viele Gesichter. Jeder der etwa 2,8 Millionen Betroffenen<br />

weltweit erlebt die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems<br />

anders. Auf der linken Seite teilt unser Covergesicht Jack seine Gedanken dazu, und im<br />

Interview spricht er über die Diagnose, seine Ängste und den Alltag <strong>mit</strong> MS.<br />

Jack, wann haben Sie die Diagnose Multiple<br />

Sklerose erhalten und wie hat sich die Erkrankung<br />

bei Ihnen geäußert?<br />

Rückblickend kann ich sagen, dass die MS<br />

sich bei mir schon in der Kindheit bemerkbar<br />

gemacht hat. Schon <strong>mit</strong> 13, 14 Jahren wurden<br />

meine Beine immer wieder taub und es kam<br />

vor, dass ich nicht laufen konnte. Der Kinderarzt<br />

schob das auf den Rücken, einen eingeklemmten<br />

Nerv oder tat es als Wachstumsschub<br />

ab. 2012 ging dann gar nichts mehr.<br />

Es war so schlimm, dass meine Mutter mir<br />

aus der Dusche helfen musste, weil ich allein<br />

nicht mehr dazu in der Lage war. Daraufhin<br />

gingen wir zu einem Bekannten meiner Mutter,<br />

der auch Neurologe war. Er schickte mich<br />

direkt ins Krankenhaus, weil er den Verdacht<br />

Schlaganfall hatte. Dort wurden einige Tests<br />

durchgeführt und nach zwei Wochen wurde<br />

mir <strong>mit</strong>geteilt, dass ich Multiple Sklerose habe.<br />

Das war sicher erst mal ein Schock. Wie sind<br />

Sie da<strong>mit</strong> umgegangen?<br />

Diese Visite, morgens um 7 Uhr, werde ich nie<br />

vergessen. Ich lag noch sehr verschlafen im<br />

Bett, als die Ärzte sagten: „Sie haben Multiple<br />

Sklerose. Wir wünschen Ihnen alles Gute“, und<br />

das Zimmer wieder verließen. Das war schon<br />

hart. Ich war Anfang 20, hatte in meinem <strong>Leben</strong><br />

noch nie etwas von Multipler Sklerose gehört<br />

und niemand machte sich die Mühe, mir<br />

zu erklären, was diese Diagnose bedeutet. Ich<br />

hätte mir in dem Moment mehr Menschlichkeit<br />

gewünscht.<br />

Redaktion Emma Howe Foto privat<br />

Ich hatte das Glück, dass meine Mutter aus<br />

der Medizin kommt. Sie hat mich aufgefangen<br />

und mir erklärt, dass ich eine chronisch-entzündliche,<br />

nicht ansteckende Erkrankung des<br />

zentralen Nervensystems habe, was schwerwiegende<br />

Folgen haben kann. Diese Informationen<br />

rissen mir den Boden unter den Füßen<br />

weg. Ich war jung, wollte die Welt erobern und<br />

plötzlich hieß es, das geht alles nicht mehr.<br />

Für mich fühlte es sich an, als sei mein <strong>Leben</strong><br />

vorbei, und das suggerierte mir auch mein<br />

Umfeld. Alle waren sehr bestürzt über die Diagnose<br />

und ver<strong>mit</strong>telten mir, dass ab jetzt gar<br />

nichts mehr geht.<br />

Hatten sie recht?<br />

Das erste Jahr nach der Diagnose war eine Katastrophe.<br />

Ich war nur noch zu Hause, habe<br />

mich nicht mehr <strong>mit</strong> Freunden getroffen,<br />

wollte einfach allein sein. Zu akzeptieren, dass<br />

mein <strong>Leben</strong> jetzt so anders sein sollte, da<strong>mit</strong><br />

kam ich nicht zurecht. Ein neuer Schub half<br />

mir dann aus der Abwärtsspirale heraus.<br />

Ein Schub hat Ihnen aus Ihrem mentalen<br />

Tief geholfen?<br />

Ja, genau ein Jahr nach meinem ersten Schub<br />

bekam ich den nächsten. Dieser war so heftig,<br />

dass ich im Rollstuhl und schließlich auch<br />

wieder im Krankenhaus landete. Dort war ein<br />

junger Arzt, der mich nachts, als ich vor Sorgen<br />

nicht schlafen konnte, zur Seite genommen<br />

hat. Er erklärte mir ausführlich alles zum Thema<br />

MS. Aus dem Krankenhaus ging es direkt<br />

in eine sechswöchige Reha. Der Austausch <strong>mit</strong><br />

anderen Betroffenen hat mir sehr geholfen. Zu<br />

sehen, dass das <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> der Diagnose MS<br />

nicht vorbei ist und sogar schön sein kann, hat<br />

mir die Kraft gegeben, mein <strong>Leben</strong> nach der<br />

Diagnose zu beginnen.<br />

Bitte erzählen Sie uns von Ihrem neuen <strong>Leben</strong>.<br />

Ich höre wesentlich mehr auf meinen Körper<br />

und kenne meine Grenzen. Ich habe auch gelernt<br />

zuzugeben, wenn ich gewisse Dinge einfach<br />

nicht schaffe. Das war nicht leicht. Durch<br />

den Rückhalt von Freunden und Familie habe<br />

ich aber auch das geschafft.<br />

Was ist Ihr größter Verlust durch die MS?<br />

Ein Stück <strong>Leben</strong>squalität, aber ich habe mich<br />

größtenteils da<strong>mit</strong> arrangiert, mein <strong>Leben</strong> anders<br />

zu genießen – <strong>mit</strong> Höhen und Tiefen.<br />

Was wünschen Sie sich im Umgang <strong>mit</strong> MS?<br />

Mehr Aufklärung! Ich erwarte nicht, dass die<br />

Menschen alles über die Erkrankung wissen,<br />

doch ein bisschen mehr Wissen diesbezüglich<br />

würde ich mir sehr wünschen. Es gibt weltweit<br />

so viele Millionen Betroffene und doch weiß<br />

die Öffentlichkeit so wenig darüber. Ich merke<br />

so oft, wie wenig Verständnis dafür herrscht.<br />

Beispielsweise war ich <strong>mit</strong> meiner Freundin<br />

letztens im Museum und habe an der Kasse<br />

meinen Schwerbehindertenausweis gezeigt.<br />

Ich sehe nicht behindert aus und die Frau<br />

kannte MS nicht. Daraufhin unterstellte sie<br />

mir, dass ich nichts hätte und mir den Eintritt<br />

ermogeln möchte. Solche Situationen passieren<br />

leider recht häufig. Das macht mich traurig<br />

und wütend zugleich – ich habe mir nicht<br />

ausgesucht, schwerbehindert zu sein.<br />

Haben Sie Angst vor der Zukunft?<br />

Ja, denn man weiß bei MS nie, was als Nächstes<br />

kommt. Auch wenn ich derzeit medikamentös<br />

gut eingestellt bin und sich die Erkrankung ruhig<br />

verhält, weiß man nie, was morgen ist. Ich<br />

habe am eigenen Leib erfahren, wie schnell<br />

sich das ändern kann: Gerade ist noch alles in<br />

Ordnung und plötzlich sitzt man im Rollstuhl.<br />

Und die Schäden, die ich bereits habe, sind für<br />

mich schon extrem hart.<br />

Welche Schäden sind das?<br />

Meine gesamte linke Körperhälfte ist so gut<br />

wie taub. Wenn man mich anfasst, spüre ich<br />

nicht, ob ich gekratzt oder gestreichelt werde.<br />

Meine Hand-Augen-Koordination ist stark<br />

eingeschränkt und auf dem rechten Auge bin<br />

ich so gut wie blind – und ich bin erst 33. Wer<br />

weiß, was da noch alles kommt.<br />

Was möchten Sie anderen Betroffenen raten?<br />

Scheut euch nicht, Hilfe zu ersuchen. Es ist<br />

nichts Beschämendes dabei, sich hinzustellen<br />

und um Hilfe zu bitten. Sprecht offen <strong>mit</strong> der<br />

Familie und <strong>mit</strong> Freunden über eure Erkrankung,<br />

aber auch über eure Ängste und Sorgen.<br />

Das <strong>mit</strong> sich selbst ausmachen zu wollen,<br />

bringt nichts, und aus dieser Abwärtsspirale<br />

wieder herauszukommen, ist unglaublich<br />

schwer. Glaubt mir, ich habe es erlebt und<br />

weiß, wovon ich spreche. .


14<br />

Schlaganfall<br />

Als ich aus dem<br />

Koma erwacht bin,<br />

konnte ich mich nicht<br />

mehr bewegen. Ich dachte,<br />

mein <strong>Leben</strong> ist zu Ende.<br />

Foto: Ipsen<br />

Vom Schlag getroffen<br />

Rund 270.000 Menschen erleiden pro Jahr in Deutschland einen Schlaganfall, davon sind<br />

etwa 14.000 unter 50 Jahre alt. So wie Dagmar. Sie erlitt einen Schlaganfall, der ihr <strong>Leben</strong><br />

auf den Kopf stellte. Von einem Moment auf den anderen war nichts mehr, wie es war. Im<br />

Interview spricht die heute 77-Jährige über ihren Kampf zurück ins <strong>Leben</strong>, den Rückhalt<br />

ihrer Familie und den Umgang <strong>mit</strong> der Spastik.<br />

Dieses Interview wurde in Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />

umgesetzt.<br />

Liebe Dagmar, bitte erzählen Sie uns von<br />

dem Tag, an dem Sie einen Schlaganfall erlitten<br />

haben.<br />

Ich war nie krank, ich war immer gesund. Aber<br />

an diesem Tag hatte ich wahnsinnige Kopfschmerzen.<br />

Ich habe gedacht, mir platzt der<br />

Kopf auseinander. Mein Mann sagte zu mir:<br />

„Setz dich hin, ruh dich aus, nimm mal eine<br />

Tablette.“ Aber es half nichts. Ich hatte dann<br />

die Augen zugemacht, und als ich sie wieder<br />

öffnete, sah ich nichts mehr – ich war blind.<br />

In der Notaufnahme wurde eine Angiografie<br />

gemacht und die Ärzte haben festgestellt, dass<br />

ich einen Thrombus in der Carotis, also in der<br />

großen Hauptschlagader des Halses, hatte.<br />

Danach bin ich ins Koma gefallen und habe<br />

vier Tage nichts gemerkt.<br />

Wann haben Sie von der Diagnose erfahren<br />

und wie haben Sie darauf reagiert?<br />

Als ich erwacht bin, konnte ich mich nicht<br />

mehr bewegen. Meine gesamte linke Körperseite<br />

war von oben bis unten gelähmt. Dann<br />

haben die Ärzte zu mir gesagt, dass ich einen<br />

schweren Schlaganfall erlitten habe. Ich habe<br />

dann erst mal nur geheult und dachte, mein<br />

<strong>Leben</strong> ist zu Ende.<br />

Wie ging es weiter?<br />

Nach einem Vierteljahr bin ich das erste Mal<br />

zu Hause gewesen. Ich hatte die Pflegestufe<br />

3, musste rund um die Uhr betreut und versorgt<br />

werden: Ich wusste nicht, was ein Kugelschreiber<br />

ist. Ich wusste nicht, was eine<br />

Zahnbürste ist. Ich wusste nicht, was ein Glas<br />

ist. Ich musste alles wieder neu lernen und<br />

kennenlernen. Ich habe in dieser Zeit sehr viel<br />

geweint. Ich habe gedacht, dass ich das nicht<br />

mehr schaffe. Mein Mann hat dann immer zu<br />

mir gesagt: „Zerfleisch dich nur.“ Das waren<br />

seine Worte. Er hat mich so sehr angetrieben,<br />

sodass sogar Freunde von uns gesagt haben,<br />

dass er zu viel von mir verlangt. Aber das war<br />

genau das Richtige. Er hat mich immer wieder<br />

gereizt, sodass der Punkt kam, an dem ich ihm


eweisen wollte, dass ich es schaffe – und ich<br />

habe es geschafft.<br />

Was hat Ihnen in dieser Zeit am meisten geholfen?<br />

Mein Mann. Seine Art, <strong>mit</strong> der Krankheit umzugehen,<br />

war das, was mir am allermeisten<br />

geholfen hat. Und natürlich meine Kinder. Die<br />

standen immer hinter mir, die haben alles <strong>mit</strong><br />

mir gemacht. Sie sind <strong>mit</strong> mir in den Urlaub<br />

gefahren, haben mir immer wieder Rätsel aufgegeben,<br />

haben immer versucht, <strong>mit</strong> mir zu arbeiten.<br />

Das alles hat mich motiviert. Ich wollte<br />

einfach wieder normal und die Mutti sein, die<br />

von anderen gebraucht wird – so wie das vor<br />

dem Schlaganfall war. Das habe ich und das<br />

haben wir gemeinsam als Familie geschafft.<br />

Hatten Sie neuropsychologische Hilfe?<br />

Ja, und die Unterstützung vom Psychologen<br />

hat mir auch sehr geholfen. Er hat viele Übungen<br />

<strong>mit</strong> mir gemacht und er hat sich an meine<br />

Wünsche angelehnt. Mein Ziel war es, wieder<br />

für andere da zu sein, und ich wollte auch die<br />

Krankheit richtig erforschen. Er hat mich dabei<br />

unterstützt.<br />

20 bis 40 Prozent leiden nach einem Schlaganfall<br />

unter spastischen Bewegungsstörungen.<br />

Die meisten Spastiken machen sich<br />

spätestens drei bis sechs Monate nach dem<br />

Schlaganfall bemerkbar. Wie ist das bei Ihnen?<br />

Vor 13 Jahren bekam ich Spastikerscheinungen<br />

in meinem linken Bein. Das war ganz schön<br />

heftig. Das Bein zitterte und es krampfte. Schon<br />

bei einer kleinen Unebenheit auf der Straße<br />

und kurzer Unkonzentriertheit fiel ich hin. Daraufhin<br />

habe ich mich <strong>mit</strong> meinem Neuropsychologen<br />

zusammengesetzt. Seitdem bekomme<br />

ich alle Vierteljahre Spritzen – und das hilft<br />

wirklich. Ich habe deutliche Verbesserungen<br />

und ich merke, kurz bevor das Vierteljahr abläuft,<br />

dass die Spastiken wiederkommen. Nicht<br />

so heftig wie vorher, aber der Körper signalisiert,<br />

dass es wieder Zeit für die Spritze ist. Angenehm<br />

ist die Spritzerei nicht, muss ich sagen.<br />

Es tut schon weh. In den ersten Tagen nach der<br />

Spritze fühlt sich das Bein komisch an, aber<br />

nach einer Woche ist alles weg und dann kann<br />

ich das Bein ganz ruhig bewegen und normal<br />

laufen, ohne dass das Knie nach hinten ausschlägt.<br />

Das ist einfach toll.<br />

Was möchten Sie anderen Betroffenen raten?<br />

Ich habe viel gearbeitet, bevor ich den Schlaganfall<br />

hatte. Ich war immer fleißig und habe<br />

auch viel ehrenamtlich gemacht. Als ich dann<br />

aus meinem ganz tiefen Tief raus war, habe<br />

ich beschlossen, dass mein Körper jetzt meine<br />

Arbeit ist. Ich kann allen nur raten, niemals<br />

aufzugeben und zu kämpfen. Jedes Erfolgserlebnis,<br />

was du <strong>mit</strong> deinem Körper schaffst, ist<br />

wie ein Arbeitserfolgserlebnis..<br />

Scannen Sie den QR-<br />

Code, um das bewegende<br />

Interview <strong>mit</strong> Dagmar in<br />

voller Länge anzusehen.<br />

DRSC-DE-000303<br />

Arm- und Beinspastik<br />

Spastik – eine Definition<br />

Als Spastik wird eine Bewegungsstörung bezeichnet, die <strong>mit</strong> einer Erhöhung<br />

der Muskelspannung (Steifigkeit) einhergeht. Man unterscheidet Für weitere Infos<br />

zwischen einer fokalen Spastik, die z. B. nur einen Arm oder ein Gelenk zur Spastik nach<br />

einem Schlaganfall<br />

scannen Sie<br />

betrifft, und einer regionalen oder generalisierten Spastik, bei der mehrere<br />

Körperregionen oder auch der ganze Körper betroffen sind. !den QR-Code.<br />

Typische Symptome einer Spastik<br />

Bei einer Schädigung des Nervensystems,<br />

die zu einer Spastik führt, treten<br />

neben der Spannungszunahme der<br />

Muskulatur typischerweise weitere<br />

Beschwerden auf. Wie z. B.:<br />

• verminderte Kraft<br />

• eine Einschränkung der aktiven<br />

und passiven Beweglichkeit<br />

• ungewollte, rhythmische Kontraktionen<br />

der Muskeln (Klonus)<br />

• schmerzhafte, plötzliche Muskelkrämpfe<br />

und plötzlich zuckende/<br />

ruckartige unwillkürliche<br />

Bewegungen<br />

• Schmerzen<br />

• eine Einschränkung der<br />

Koordination und Feinmotorik<br />

• eine Störung der Wahrnehmung<br />

Durch diese Beschwerden sind Menschen<br />

sehr unterschiedlich stark eingeschränkt.<br />

Manche Menschen <strong>mit</strong> einer<br />

Arm- oder Beinspastik sind nur leicht<br />

bewegungseingeschränkt, während<br />

andere erhebliche Schwierigkeiten bei<br />

der Bewältigung selbst kleiner, alltäglicher<br />

Aufgaben haben.<br />

So kann eine Spastik am Arm aussehen:<br />

Durch die Spastik in bestimmten Muskeln bzw. Muskelgruppen entstehen typische<br />

sogenannte Spastikmuster. Das Haltungs- und Bewegungsmuster bei einer spastischen<br />

Lähmung des Armes oder Beines lässt sich bei den meisten Betroffenen einem<br />

der folgenden Muster zuordnen, wobei die Übergänge fließend sind:<br />

So kann sich eine Beinspastik äußern:<br />

15<br />

Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 15<br />

Ein guter Weg der „Selbst-Hilfe“<br />

Eine spastische Bewegungsstörung und die da<strong>mit</strong> verbundenen Einschränkungen im<br />

Alltag oder im sozialen Umfeld sind nicht immer leicht zu bewältigen. Ein erster Schritt<br />

ist, wie bei allen anderen chronischen <strong>Erkrankungen</strong> auch, sich zu informieren, da<strong>mit</strong> Sie<br />

auf Augenhöhe <strong>mit</strong> Ihren behandelnden Ärzten oder weiteren Therapeuten kommunizieren<br />

können.<br />

Weitere Informationen unter:<br />

www.schlaganfall-hilfe.de und www.ipsen.com/germany


16<br />

Parkinson<br />

„Es war nicht<br />

nur ein Zittern“<br />

Parkinson ist die zweithäufigste neurodegenerative<br />

Erkrankung – gleich nach der Alzheimer-Krankheit.<br />

Schätzungen zufolge gibt es<br />

in Deutschland mindestens 200.000 Betroffene.<br />

Die große Mehrzahl der Betroffenen ist<br />

mindestens 60 Jahre alt. Doch zehn Prozent<br />

aller Parkinson-Patienten erkranken schon vor<br />

dem 50. <strong>Leben</strong>sjahr. Wie Britta Schmidt.<br />

Redaktion Emma Howe<br />

Frau Schmidt, wie hat sich die Erkrankung<br />

bemerkbar gemacht?<br />

Daran kann ich mich noch genau erinnern.<br />

Ich saß in einem Meeting, es gab eine hitzige<br />

Diskussion, und plötzlich fingen meine<br />

Hände an zu zittern. Meine Kollegen schauten<br />

mich verdutzt an, sagten aber nichts. Ich<br />

hatte die Nächte davor nicht gut geschlafen<br />

und schob das Zittern auf die Meetingsituation<br />

und das Schlafdefizit. Das Zittern verschwand<br />

dann auch wieder. Im Nachhinein<br />

weiß ich, dass das die ersten Anzeichen für<br />

Parkinson waren. Damals war ich 39 Jahre alt.<br />

Wie ging es weiter?<br />

Sechs Jahre später durchlebte ich eine sehr<br />

schwierige <strong>Leben</strong>sphase, und das Zittern<br />

kam zurück. Ich schob das auf meine Psyche<br />

und hoffte, dass es wieder weggehen würde,<br />

wenn ich zur Ruhe komme.<br />

Doch dem war nicht so?<br />

Leider nein. Sobald ich etwas unter Druck<br />

stand, fingen meine Hände an zu zittern.<br />

Wann erhielten Sie die Diagnose?<br />

Erst zehn Jahre nach meinen ersten Anzeichen.<br />

Eine Bekannte von mir hatte den Verdacht<br />

und schickte mich zu einem Experten,<br />

der in der Ambulanz für Bewegungsstörungen<br />

am Uniklinikum arbeitete. Ich wollte dort<br />

erst gar nicht hingehen, weil ich mir sicher<br />

war, dass ich so etwas nicht haben kann. Ich<br />

dachte, nur ältere Menschen können Parkinson<br />

bekommen. Auf Drängen meines Mannes<br />

bin ich dann aber doch zu dem Experten<br />

gefahren. Nach mehreren Untersuchungen<br />

stand fest, dass ich Parkinson habe.<br />

Anfangs konnte ich da<strong>mit</strong> überhaupt nicht<br />

umgehen. Immer wieder hatte ich Bilder<br />

Foto: privat<br />

von bekannten Persönlichkeiten im Kopf,<br />

die zitternd auf der Bühne stehen. Ich habe<br />

mich dann sehr intensiv <strong>mit</strong> der Erkrankung<br />

auseinandergesetzt, Erfahrungsberichte von<br />

anderen Betroffenen gelesen und Dokumentationen<br />

angeschaut. Doch die Angst blieb.<br />

Wie geht es Ihnen heute?<br />

Parkinson ist eine sehr unangenehme Krankheit<br />

<strong>mit</strong> vielfältigen Beschwerden. Der Umgang<br />

<strong>mit</strong> den physischen und psychischen<br />

Symptomen stellt mich täglich vor neue Herausforderungen.<br />

Hinzu kommt, dass ich oft<br />

Probleme beim Laufen habe und oft stürze<br />

– das belastet mich sehr. Doch ich versuche,<br />

so selbstständig wie möglich zu sein. Und in<br />

meiner Familie reden wir viel <strong>mit</strong>einander:<br />

Wenn es mir nicht so gut geht, dann sage ich<br />

das und alle wissen Bescheid. Noch gibt es<br />

aber mehr gute als schlechte Tage. .<br />

Hilfe für Parkinson-Betroffene<br />

<strong>mit</strong> Freezing-Syndrom<br />

Bewegung ist wichtig – das gilt für jeden. Doch für Menschen, die von Parkinson betroffen<br />

sind, gilt dieser Grundsatz umso mehr.<br />

Herr Prof. Dr. Woitalla, Sie haben täglich <strong>mit</strong><br />

Parkinson-Patienten zu tun. Wie äußert sich<br />

diese Erkrankung?<br />

Parkinson wird in erster Linie durch eine Störung<br />

der Bewegung charakterisiert. Das betrifft<br />

sowohl die Feinmotorik als auch ein Zittern,<br />

das oft prominent in den Vordergrund tritt.<br />

Die Betroffenen werden langsamer und entwickeln<br />

Gangstörungen. Das wiederum führt sie<br />

meist zum Arzt, der dann die Diagnose stellt.<br />

Kann man dem entgegenwirken?<br />

Sportliche Aktivität kann den Leidensdruck<br />

der Betroffenen ein wenig hinauszögern,<br />

aber es gibt keine Hinweise darauf, dass Nahrungsgewohnheiten<br />

oder der Verzicht auf<br />

Nikotin und Alkohol einen Einfluss haben.<br />

Parkinson ist in gewisser Weise schicksalhaft.<br />

Wenn die Symptome auftreten, bedingt<br />

durch einen Dopaminmangel im Gehirn,<br />

muss dieser Mangel substituiert werden. Das<br />

geschieht entweder durch die Gabe von Levodopa,<br />

einer Vorstufe des Dopamins, oder<br />

durch Medikamente, die die dopaminergen<br />

Zellen im Gehirn stimulieren. Diese Therapien<br />

verbessern die Beweglichkeit der Patienten<br />

zu Beginn oft so gut, dass die Symptome<br />

zunächst nicht mehr wahrgenommen werden.<br />

Mit der Zeit wird es allerdings schwieriger,<br />

die Symptome medikamentös zu beeinflussen.


Als einer der ersten Ärzte in Deutschland<br />

führen Sie aktuell ein neues Gerät als Behandlungsoption<br />

ein. Können Sie uns mehr<br />

darüber erzählen?<br />

Bei einer kleinen Gruppe von Patienten entwickelt<br />

sich eine Komplikation in der Beweglichkeit,<br />

die man als Freezing-Phänomen bezeichnet.<br />

Patienten, die davon betroffen sind,<br />

können wie angefroren wirken, sie können das<br />

Gehen nicht initiieren. Manchmal kann dieses<br />

Phänomen durch eine Optimierung der dopaminergen<br />

Therapie behandelt werden, aber<br />

nicht immer gelingt dies.<br />

Das Cue2walk-Gerät erkennt, wenn der Patient<br />

sich in einem Freezing-Zustand befindet, und<br />

gibt dann einen Vibrationsreiz an das Bein.<br />

Dieser Reiz ermöglicht es dem Patienten, das<br />

Bein zu bewegen und zu gehen. Anfangs war<br />

ich skeptisch, aber nach Tests bei fünf Patienten<br />

waren vier so begeistert, dass sie das Gerät<br />

sofort haben wollten. Es hatte bei ihnen<br />

zu einer deutlichen Besserung des Freezing-<br />

Phänomens geführt. Beim fünften war eine<br />

Medikamentenpumpe installiert, welche die<br />

Gangstörungen abklingen ließ, sodass er vorerst<br />

kein Cue2walk benötigte.<br />

Prof. Dr. Dirk Woitalla<br />

Chefarzt der Klinik für Neurologie,<br />

Katholische Kliniken<br />

Ruhrhalbinsel GmbH<br />

Was ist aus Ihrer Sicht der größte Nutzen für<br />

Betroffene?<br />

Sie können ihre Beweglichkeit trotz der Freezing-Komplikation<br />

länger erhalten. Dadurch<br />

können sie schwerwiegende motorische Probleme<br />

überwinden und sind weniger in ihren<br />

Alltagsaktivitäten beeinträchtigt. Viele Patienten<br />

haben Angst, sich in der Öffentlichkeit<br />

zu bewegen, weil das Freezing plötzlich und<br />

unvorhersehbar auftritt. Einer unserer Patienten<br />

beispielsweise konnte nicht in einen Zug<br />

einsteigen, obwohl die Tür direkt vor ihm war.<br />

Mit Cue2walk lassen sich solche Situationen<br />

vermeiden, was die <strong>Leben</strong>squalität erheblich<br />

verbessert, sowohl körperlich als auch auf sozialer<br />

und psychischer Ebene.<br />

Ist der Effekt von Dauer?<br />

Wir setzen das Gerät seit etwa vier Monaten<br />

bei unseren Patienten ein und haben die Erfahrung<br />

gemacht, dass die Patienten weiterhin<br />

17<br />

Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 17<br />

von dem Gerät profitierten. Der Effekt ließ in<br />

dieser Zeit nicht nach. Wir können aber noch<br />

nicht sagen, ob das von Dauer ist und auch<br />

über Zeiträume von mehreren Jahren anhält.<br />

Wie genau funktioniert es, wenn sich jemand<br />

für Cue2walk interessiert – kann man das<br />

Gerät überall in Deutschland bekommen?<br />

Momentan ist der Einsatz noch auf bestimmte<br />

Regionen beschränkt; wir sind eine von zwei<br />

Kliniken, die es nutzen. Wenn wir Patienten<br />

stationär aufnehmen, die unter dem Freezing-<br />

Phänomen leiden, testen wir alle Möglichkeiten,<br />

einschließlich medikamentöser Maßnahmen<br />

und Physiotherapie. Das Cue2walk-Gerät<br />

wird dann im Rahmen des Aufenthalts angepasst<br />

und ausprobiert. Wenn es dem Patienten<br />

hilft, kann er es käuflich erwerben. Leider wird<br />

es derzeit noch nicht von den Krankenkassen<br />

erstattet, aber viele entscheiden sich trotzdem<br />

für den Kauf. Wir hoffen, dass auch die Krankenkassen<br />

den Nutzen erkennen und die Kosten<br />

in Zukunft übernehmen.<br />

Vermerk:<br />

Der Cue2walk ist aktuell in mehreren Kliniken<br />

in den Regionen NRW und Osnabrück erhältlich.<br />

Im Laufe des Sommers und Herbstes soll<br />

das Angebot auf ganz Deutschland ausgeweitet<br />

werden..<br />

Das Interview wurde in Zusammenarbeit<br />

<strong>mit</strong> Cue2walk umgesetzt.<br />

Anzeige


18<br />

Fotos: privat<br />

Demenz<br />

„Der verzweifelte Blick in den<br />

Augen meines Vaters lässt mich<br />

oft traurig und ratlos zurück“<br />

Im Interview spricht die beliebte Schauspielerin, Sängerin und Autorin Katy Karrenbauer<br />

über die Demenzerkrankung ihres Vaters und erzählt, warum sie Angehörigen rät,<br />

sich <strong>mit</strong> der Materie des Vergessens auseinanderzusetzen.<br />

Frau Karrenbauer, Sie waren gerade im Krankenhaus.<br />

Was ist passiert?<br />

Ich wurde an der Halsschlagader operiert und<br />

leider musste es recht schnell gehen, da ich eine<br />

TIA, eine Vorstufe eines Schlaganfalls, erlitten<br />

habe. Das machte sich einige Tage zuvor durch<br />

eine lahme Hand bemerkbar, die ich nicht mehr<br />

richtig bewegen konnte. Und obwohl dieser Zustand<br />

nur wenige Minuten anhielt, dachte ich<br />

sofort: „Könnte das ein Schlaganfall gewesen<br />

sein?“ Gott sei Dank habe ich das nicht auf die<br />

leichte Schulter genommen, ansonsten könnte<br />

ich Ihnen vielleicht jetzt kein Interview geben.<br />

Nachdem ich meine Venen kontrollieren ließ,<br />

war klar, ich habe ein arterielles Problem. Durch<br />

die Feinsinnigkeit der Dame, <strong>mit</strong> der ich im Hubertus-Krankenhaus<br />

telefonierte und die mich<br />

bat, mich sofort in die Erste Hilfe zu begeben,<br />

habe ich eine Chance bekommen. Ihren Namen<br />

werde ich nie vergessen: Frau Fengler.<br />

Und wie geht es jetzt weiter?<br />

Prof. Dr. Weigang und sein Team haben mich<br />

operiert und ich bin dem ganzen Krankenhaus<br />

unendlich dankbar für die schnelle Hilfe und die<br />

Redaktion Leonie Zell<br />

warmherzige Art, <strong>mit</strong> der ich dort, genau wie andere<br />

Patienten, behandelt wurde. Nun steht eine<br />

weitere Operation auf der anderen Seite an und<br />

ich hoffe sehr, dass ich auch diese gut überstehe.<br />

Allerdings gibt es immer ein kleines Risiko, während<br />

der OP einen Schlaganfall zu erleiden. Ich<br />

bleibe aber zuversichtlich, dass ich <strong>mit</strong> einem<br />

Schrecken und zwei Narben am Hals davonkomme.<br />

Neben Ihren eigenen gesundheitlichen Herausforderungen<br />

pflegen Sie Ihren an Demenz<br />

erkrankten Vater. Über 50 Jahre hatten Sie<br />

kaum Kontakt zueinander. Wie kam es dazu,<br />

dass Sie ihn nach Berlin geholt und in Ihr <strong>Leben</strong><br />

eingeladen haben?<br />

Seine zweite Frau rief mich Ende 2018 an und bat<br />

mich, da sie sich gesundheitlich nicht wohlfühle<br />

und sich selbst im Krankenhaus „durchchecken“<br />

lassen wollte, mich zwei bis drei Tage um meinen<br />

Vater zu kümmern, der selbst im Krankenhaus<br />

war und nun entlassen werden sollte. Das war<br />

sehr ungewöhnlich. Vielleicht ahnte sie damals,<br />

dass er dement sein könne, sie sprach aber nicht<br />

darüber. Ohne zu zögern, bin ich damals nach<br />

Duisburg gefahren und habe meinen Vater abgeholt.<br />

Daraus entstand eine lange Odyssee, denn<br />

kurze Zeit später verstarb sie an schwerem Krebs<br />

und mein Vater blieb zurück. Ich musste sein geliebtes<br />

Haus verkaufen, um seine Pflege zu finanzieren,<br />

und brachte es nicht übers Herz, ihn in<br />

dieser Situation alleinzulassen. Darum habe ich<br />

sie in den Tod begleitet, bis zum letzten Atemzug,<br />

ihn zurück ins <strong>Leben</strong>.<br />

Wie hat sich die Erkrankung gezeigt?<br />

Das weiß ich nicht, da er wohl schon an Demenz<br />

erkrankt war. Aber ich erinnere mich gut, dass<br />

ich mich darüber wunderte, dass er bei den seltenen<br />

Telefonaten, die wir führten, weil er den<br />

Kontakt im Alter zu mir suchte, den Lautsprecher<br />

anmachte, was mich sehr störte, denn aus<br />

dem Hintergrund rief sie ihm immer die Antworten<br />

auf meine Fragen zu.<br />

Wie sind Sie und Ihr Vater <strong>mit</strong> der Diagnose<br />

umgegangen?<br />

Ich war geschockt und hatte Angst. Ich kannte<br />

ihn ja kaum, ich wusste nur, dass er sehr stur<br />

sein kann, aber ich wusste nicht, wie ich das be-


Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 19<br />

wältigen soll. Er selbst war und ist sich bis heute<br />

nicht darüber klar, dass er an Demenz erkrankt<br />

ist, und absolut alles, was ich über die Krankheit<br />

gelesen habe, ist auch bei ihm eingetroffen.<br />

Wut, Verzweiflung, das stete Vergessen bis hin<br />

zu einer Situation neulich, in der er mir sagte,<br />

er sei nicht mein leiblicher Vater, er habe nur<br />

Söhne. Ich bin viele Jahre im Tränenmeer geschwommen,<br />

vor allem wenn er mich nachts<br />

anrief und forderte, dass ich ihn zu Oma und<br />

Opa bringe, da sie auf ihn warten würden, und<br />

ich <strong>mit</strong> meiner Ehrlichkeit nicht zu ihm durchdrang.<br />

Das, was ich ihn aber von Anfang an gebeten<br />

habe, nämlich mir zu vertrauen, das hat<br />

bis heute Bestand, und auch wenn er manchmal<br />

sehr weit weg ist, dringe ich da<strong>mit</strong> zu ihm<br />

durch. Nicht immer, vor allem immer weniger,<br />

aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben,<br />

dass ich ihm einen schönen <strong>Leben</strong>sabend bereiten<br />

kann, obwohl die Krankheit <strong>mit</strong> voller<br />

Wucht zugeschlagen hat und man es kaum<br />

erträgt, einem Menschen beim „Verblühen“<br />

zuzusehen.<br />

Sie sagen, dass Sie sich in die Materie des Vergessens<br />

eingearbeitet haben.<br />

Ja, das habe ich. Wenn ich <strong>mit</strong> ihm zusammen<br />

bin, also nahezu täglich, gehe ich <strong>mit</strong> ihm auf<br />

seine Reise in die Vergangenheit und ins Vergessen.<br />

Dabei ist wichtig, dass ich am Ende<br />

meines Besuches versuche, ihn wieder im Hier<br />

und Jetzt zu verorten, ihm immer wieder sage,<br />

dass wir in Berlin leben, und ihm auch Orte<br />

zeige, die nur in Berlin sein können. Das ist<br />

mühsam, aber oft lohnt es sich, und so haben<br />

wir die letzten fünfeinhalb Jahre gut zusammen<br />

verbracht und ich habe einen Menschen<br />

kennengelernt, der viele meiner Ansichten teilt,<br />

dem ich sehr ähnlich bin und der sich viel Mühe<br />

gibt, am <strong>Leben</strong> Freude zu haben. Das ist toll.<br />

Was sind die größten Herausforderungen im<br />

Umgang <strong>mit</strong> der Erkrankung?<br />

Zurzeit ist es für mich persönlich die größte<br />

Herausforderung, ihn vom Weglaufen abzuhalten.<br />

Die Türen des Altersheims sind geöffnet,<br />

da man die Menschen nicht ihrer Freiheit<br />

berauben darf. Zweimal war er schon weg, einmal<br />

habe ich ihn per Fahndung suchen lassen<br />

müssen, als ich selbst bei den Karl-May-Spielen<br />

in Bad Segeberg engagiert war. Er fand das im<br />

Nachhinein „kein großes Ding“, als die Polizei<br />

ihn einfing und nach Hause brachte. Das bereitet<br />

mir gerade großen Kummer, denn ich<br />

kann nicht dauerhaft neben ihm sitzen und ihn<br />

unterhalten, was er sich am liebsten wünschen<br />

würde. Aber auch dann möchte er zur Straßenbahn<br />

und wird ungehalten, wenn ich ihm sage,<br />

dass es diese Straßenbahn nicht gibt und ich<br />

nicht einmal wüsste, wohin ich ihn <strong>mit</strong> dem<br />

Rollstuhl, den ich für längere Strecken benutze,<br />

schieben könnte. Aber alles in allem ist eigentlich<br />

alles eine Herausforderung, denn man versteht<br />

überhaupt nicht, dass der andere Mensch<br />

etwas sieht, was man selbst nicht sieht, den Ort,<br />

an dem man täglich ist, nicht erkennt oder zum<br />

Beispiel in seinem Zimmer sitzt und glaubt,<br />

kein einziges Möbel- oder Kleidungsstück würde<br />

ihm gehören. Bilder zeigen scheinbar andere<br />

Menschen, seine verstorbene Frau etwa erkennt<br />

er oft nicht auf Bildern. Er behauptet dann, das<br />

sei seine Mutter, und so kommt man ungeahnt<br />

von einer schwierigen Situation in die nächste,<br />

obwohl man noch bis eben dachte, er sei vollkommen<br />

klar in diesem Moment.<br />

Welche Erkenntnisse oder Lehren haben Sie<br />

aus Ihrer bisherigen Reise <strong>mit</strong> Ihrem Vater<br />

gewonnen?<br />

Man darf selbst keine Angst haben vor der<br />

Krankheit. Das macht es dem erkrankten Menschen<br />

und einem selbst leichter, da<strong>mit</strong> umzugehen.<br />

Vieles, was gesagt wird, darf man nicht<br />

zu ernst nehmen, denn es kommt auch vor,<br />

dass der Erkrankte sehr zornig wird und Dinge<br />

sagt, die er ganz sicher nicht so meint. Es ist<br />

wirklich eine komplett „andere Welt“, in der sich<br />

die Menschen befinden. Dazu sollte man sich<br />

dringend Hilfe und Unterstützung holen, da<strong>mit</strong><br />

man zwischenzeitlich selbst Kraft tanken kann,<br />

und man muss lernen, sich selbst zu verzeihen,<br />

dass man nicht unfehlbar ist. In den letzten<br />

Jahren bin ich immer sofort gesprungen, wenn<br />

er etwas brauchte, wegzulaufen drohte oder<br />

mich aufforderte, sofort zu kommen und ihn<br />

abzuholen, die Polizei zu rufen, weil sein Auto,<br />

das er nicht besitzt, gestohlen wurde, oder was<br />

auch immer. Ich musste lernen, den Pflegern<br />

zu vertrauen, dass sie die Situation in den Griff<br />

bekommen, und das lerne ich gerade. Ich kann<br />

das <strong>Leben</strong> meines Vaters nur begleiten, aber ich<br />

muss auch mein eigenes <strong>Leben</strong> leben und mich<br />

um mich kümmern. Ich habe leider viel zu lange<br />

für diese Erkenntnis gebraucht, wohl auch,<br />

weil mich Schuldgefühle plagten, obwohl mir<br />

die kluge Schwester Bernadette schon in Duisburg,<br />

als ich meinen Vater aus der Pflege abholte,<br />

warmherzig riet: „Frau Karrenbauer, lassen<br />

Sie Ihren Vater doch hier. Er hat sein <strong>Leben</strong><br />

doch gelebt, Sie haben Ihres noch vor sich.“ Ich<br />

bereue es dennoch keine Sekunde, so gehandelt<br />

zu haben, wie ich es tat, auch wenn ich selbst<br />

wirklich auf vieles verzichtet habe. Ich habe eine<br />

Freundschaft zu meinem Vater gewonnen, und<br />

das kann mir niemand mehr nehmen.<br />

Wie gelingt es Ihnen, Momente der Entspannung<br />

und Selbstfürsorge zu finden?<br />

Darin war ich nie so gut. Aber jetzt nehme ich<br />

mir Auszeiten und ich bin erstaunt, dass mir das<br />

tatsächlich prima gelingt. Ich brauche viel Kraft<br />

und Stärke für mich selbst und erkläre ihm das<br />

auch genau so. Er ist sehr verständnisvoll im<br />

Gespräch, auch wenn er das meist direkt danach<br />

wieder vergessen hat. Ich verbringe meine<br />

freie Zeit <strong>mit</strong> Freunden, entspanne, wenn ich<br />

auf meinem kleinen Balkon die Blumen pflege,<br />

und bereite gerade meine nächsten Lesungen<br />

vor. Dazu habe ich gerade einen kleinen Trip<br />

<strong>mit</strong> dem Auto hinter mir, was ich sehr liebe,<br />

denn ich konnte schon immer beim Autofahren<br />

wunderbar „denken“, war bei meiner Mutter am<br />

Meer und habe den Weitblick auf die Ostsee genossen<br />

und habe mir in Bad Segeberg eine Probe<br />

der diesjährigen Karl-May-Spiele angesehen.<br />

Als Nico König bei meinem Abschied durch die<br />

ganze Arena rief: „Katy, wir lieben dich“, habe<br />

ich Rotz und Wasser geheult, denn ich dachte,<br />

genau das musst du selbst auch lernen. Dich zu<br />

lieben.<br />

Um meinen Vater<br />

zu verstehen, muss<br />

ich immer bereit<br />

sein, in seine Welt<br />

<strong>mit</strong> abzutauchen,<br />

in diesen speziellen<br />

Momenten, in sein<br />

Denken und Fühlen,<br />

und dennoch<br />

selbst die Klarheit<br />

behalten, die wir<br />

beide für die wahre<br />

Realität brauchen,<br />

die Wirklichkeit.<br />

Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Buch „Ich<br />

wollte einen Hund – jetzt hab ich einen Vater“<br />

zu schreiben?<br />

Viele Bücher werden erst dann geschrieben,<br />

wenn der andere nicht mehr lebt, sich aber<br />

auch so<strong>mit</strong> dazu nicht mehr äußern kann und<br />

könnte. Ich wollte dieses Buch zu Lebzeiten<br />

meines Vaters schreiben, als eine Art „Station einer<br />

Krankheit“, aber auch für seine Erinnerung.<br />

Aber als es herauskam, war er innerlich so weit<br />

fort, dass ich einen Demenzschub befürchtete,<br />

wenn ich ihm das Buch zu lesen gebe. Darum<br />

habe ich es bis heute nicht getan.<br />

Was möchten Sie Menschen, die ähnliche familiäre<br />

Situationen durchleben, raten?<br />

Ich wünschte, die Menschen würden offener<br />

über die Krankheit sprechen, vor allem im Familienkreis.<br />

Früherkennung ist wirklich wichtig<br />

und ich denke, mein Vater ist ein gutes Beispiel<br />

dafür, wie man <strong>mit</strong> viel Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit<br />

wirklich noch eine sehr schöne Zeit <strong>mit</strong><br />

einem dementen Menschen verbringen kann.<br />

Es gibt viele Hilfestellungen, die man nutzen<br />

kann, um das Vergessen zu verlangsamen. Darüber<br />

schreibe ich auch in meinem Buch. Mir<br />

ging und geht es immer um die Würde des anderen,<br />

die ich zu erhalten versuche. Mein Vater<br />

trifft seine Entscheidungen selbst, auch wenn<br />

ich sie vielleicht in eine bestimmte Richtung hin<br />

„anrege“.<br />

Was wünschen Sie sich für Ihren Vater, aber<br />

auch für Ihre eigene Zukunft?<br />

Gesundheit und Zeit! Zeit! Zeit! Und dass sich<br />

sein „Vergessen“ für ihn nicht so anfühlt, wie es<br />

mich oft schmerzt..


VON<br />

PARTYMAUS<br />

ZUPARTY AUS<br />

IM NÄCHSTEN MOMENT.<br />

Symbolfoto. Bei der abgebildeten Person handelt es sich um ein Model, das in keinem Zusammenhang <strong>mit</strong> hier getroffenen Aussagen, Meinungen, Produkten oder Dienstleistungen steht.<br />

Myasthenie – die unvorhersehbare Krankheit.<br />

Jetzt informieren und kommentieren! #letstalkmyasthenie<br />

www.letstalkmyasthenie.de

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