JAZZTHETIK 300 – Mai / Juni 2021
Das Magazin für Jazz und Anderes – mit Jazzrausch Bigband, Diana Rasina, Fred Hersch, Flat Earth Society, Ceramic Dog & Marc Ribot, Tamara Lukasheva, Jakob Bro / Arve Henriksen / Jorge Rossy, Yelena Eckemoff, Polskie Nagrania, Christian Pabst, Isfar Sarabski und Charles Lloyd & the Marvels.
Das Magazin für Jazz und Anderes – mit Jazzrausch Bigband, Diana Rasina, Fred Hersch, Flat Earth Society, Ceramic Dog & Marc Ribot, Tamara Lukasheva, Jakob Bro / Arve Henriksen / Jorge Rossy, Yelena Eckemoff, Polskie Nagrania, Christian Pabst, Isfar Sarabski und Charles Lloyd & the Marvels.
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INHALT 05/06<br />
© Gerhard Richter<br />
48<br />
18<br />
8 Für die ganze Familie. Die Jazzrausch<br />
Bigband kommt kreativ durch die<br />
Pandemie. Berauscht: Verena Düren.<br />
10 Rabenschwarze Tinte. Die Flat Earth<br />
Society wird sarkastisch. Hans-Jürgen<br />
Schaal hört eine schräge Revue.<br />
12 Filigran. Gitarrist Jakob Bro träumt<br />
dreidimensional. Mit Hans-Jürgen Linke<br />
in der REM-Phase.<br />
14 Musikalische Madeleine.<br />
Christian Pabst sucht die verlorene Zeit.<br />
Thomas Bugert findet Gefallen.<br />
16 Debüt. Isfar Sarabski bringt den<br />
Planeten zum Klingen. Thomas Kölsch<br />
spürt Tradition und Moderne nach.<br />
18 Blind Date. Lücker Schickentanz<br />
suchen die verborgene Wahrheit.<br />
Holger Pauler bleibt die Luft weg.<br />
20 Austariert. Tamara Lukasheva hält<br />
ihr neues Album im Gleichgewicht.<br />
Abwägend: Hans-Jürgen Linke.<br />
26 Dolce Vita. Bei Village Zone ist<br />
Mitsingen erwünscht. Stefan Pieper ölt<br />
schon mal die Stimmbänder.<br />
34 Rückkehr. Noa widmet sich dem Great<br />
American Songbook <strong>–</strong> und trifft Gott im<br />
Café. Mit am Tisch: Rolf Thomas.<br />
36 Geradeaus. Anette von Eichel beweist<br />
den Mut, sich lebensecht zu zeigen.<br />
Victoriah Szirmai über eine, die sich traut.<br />
37 Durch die Blume. Yelena Eckemoff<br />
spielt Klavier mit grünem Daumen.<br />
Botanische Verse von Thomas Kölsch.<br />
38 Hartnäckig. Das Trio Firasso tanzt mit<br />
dem Kaugummi. Guido Diesing findet<br />
Positives in der Pandemie.<br />
40 Für Connaisseure. HiFi-Geräte von<br />
Pier Audio beweisen Savoir-faire.<br />
Peter Steinfadt sagt: „Oh là là!“<br />
41 Familientradition. In der Afrobeat-Dynastie<br />
Kuti steht die nächste Generation bereit.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf über Väter und Söhne.<br />
42 Unverkitscht. Diana Rasina singt romanische<br />
Romanzen. Victoriah Szirmai<br />
schreibt darüber romantische Romane.<br />
46 Schattenseiten. Burges / Gränzer / Schade<br />
und die anderen Farben der Liebe.<br />
Ohne rosarote Brille: Doris Schumacher.<br />
54 Mit 66 Jahren. Gitarrist Marc Ribot<br />
träumt sich in die Sixties. Aufgeweckt:<br />
Wolf Kampmann.<br />
56 Spirituell aufgeladen. Charles Lloyd<br />
will inspirieren und wachrütteln.<br />
Jan Kobrzinowski hört ein Tongedicht.<br />
58 Satchmos Erbe. Trompeter Martin Auer<br />
und seine heißen Fünf. Jazzgeschichtsstunde<br />
mit Rolf Thomas.<br />
58 Auf dem Weg. Friedrich Gulda galt als<br />
Wanderer zwischen den Welten.<br />
Hans-Jürgen Linke schnürt die Schuhe.<br />
60 Wiederbelebt. Das Label Polskie Nagrania<br />
kehrt mit Maciej Gołyźniaks Debüt zurück.<br />
Angela Ballhorn blickt nach Osten.<br />
62 Bald schlägt’s dreizehn. Trompeter<br />
Piotr Schmidt macht das Dutzend voll. In<br />
schwankender Stimmung: Andreas Ebert.<br />
64 Neue Welle. Junge Jazzer*innen aus<br />
Polen suchen ihre eigene Sprache.<br />
Karolina Juzwa blickt über den Tellerrand.<br />
66 Inszenierung. Das Moers Festival blickt<br />
zum 50. Bestehen aus der Zukunft aufs<br />
Heute. Mit Stefan Pieper im Zeittunnel.<br />
28 Renaissance. Schlagzeuger Tilo Weber<br />
stellt Alte Musik auf den Kopf.<br />
Im Handstand: Jan Kobrzinowski.<br />
30 Textilien. Mareille Merck und ihre Silbermöwe<br />
verweben feinen Stoff. Doris<br />
Schumacher findet den roten Faden.<br />
48 Afrofuturistisch. Logan Richardson entwickelt<br />
das Morgen aus dem Gestern.<br />
Eric Mandel reist in die Zukunft.<br />
50 Lieder ohne Worte. Fred Hersch singt<br />
beim Spielen im Kopf. Jan Kobrzinowski<br />
summt mit.<br />
4 Megaphon<br />
28 Time Tunnel<br />
65 Abo<br />
68 Tonspuren<br />
91 Hörbucht<br />
92 Termine<br />
94 London<br />
96 Impressum<br />
98 Zitat<br />
32 Lächelnde Ladys. Das Godemann Bauder<br />
Duo ehrt den schönen Geist einer<br />
Kollegin. Schöngeistig: Harry Schmidt.<br />
52 Verwegen. Pianistin Kris Davis ist auch<br />
Labelchefin. Christoph Wagner hört<br />
Pyroklastisches.<br />
links: Andreas Schickentanz / rechts: Logan Richardson <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 3
MEGAPHON<br />
Von Hans-Jürgen Linke<br />
Und jetzt also die Ausgabe<br />
mit der Nummer <strong>300</strong>. Das<br />
fällt natürlich nur Menschen<br />
auf, die das Dezimalsystem<br />
verinnerlicht und darum eine<br />
Vorliebe für Nullen mit einer<br />
anderen Ziffer davor haben.<br />
Aber schauen Sie mal nach:<br />
Auf der Titelseite, ja, genau da,<br />
steht diese Zahl. Weil: Abgesehen<br />
von all den Erscheinungsjahren,<br />
die eine Zeitschrift auf<br />
ihrem kosmischen Zeitkonto<br />
ansammeln kann, gibt es auch<br />
die pure Anzahl der Ausgaben,<br />
die produziert wurden, als<br />
erwähnenswerte Größe. Dreihundert<br />
sind es jetzt also. Das<br />
Jazzmagazin Ihres Vertrauens<br />
beglückwünscht sich selbst<br />
dazu und wünscht sich und<br />
seinen Leser*innen weitere<br />
Ausgaben.<br />
An der gegenwärtigen pandemischen<br />
Situation ist vieles bedrückend.<br />
Für Menschen, die<br />
bis zum letzten Frühling noch<br />
gewohnheitsmäßig Konzerte,<br />
Theater, Opern oder Festivals<br />
besucht haben, ist das Fehlen<br />
von öffentlichen Kulturveranstaltungen<br />
eine zunehmend<br />
traurige Einbuße an Lebensqualität.<br />
Dabei hatten viele<br />
Veranstaltungsorte schon vor<br />
einem Jahr zum Teil erhebliche<br />
Investitionen in Luftfilteranlagen<br />
getätigt und mit den<br />
Gesundheitsämtern Konzepte<br />
abgestimmt, die zumindest<br />
einen eingeschränkten und<br />
gesundheitlich risikoarmen<br />
Betrieb ermöglicht hätten.<br />
Inzwischen sieht es so aus, als<br />
würde der Kultur- und Veranstaltungsbetrieb<br />
vonseiten der<br />
Politik eine wesentlich geringere<br />
Wertschätzung genießen<br />
als etwa das Friseur-Gewerbe.<br />
Das aktuelle Maß an Missachtung<br />
des Kulturbetriebs durch<br />
die Politikerkaste wirft die<br />
Frage auf, wie ein Bereich des<br />
gesellschaftlichen Lebens und<br />
der gesellschaftlichen Arbeit,<br />
der offenbar für völlig nebensächlich<br />
gehalten wird, wieder<br />
in Gang kommen soll, wenn<br />
die Pandemie eingedämmt ist.<br />
Starren wir demnächst nur<br />
noch auf die Flachbildschirme<br />
und lassen die Welt an uns<br />
vorüberstreamen?<br />
Das Forum Veranstaltungswirtschaft<br />
zeigte sich äußerst<br />
unzufrieden mit den<br />
regelmäßig erneuerten<br />
Bund-Länder-Beschlüssen.<br />
Trotz aller Ankündigungen sei<br />
eine Öffnungs-Strategie für<br />
öffentliche Veranstaltungen<br />
bisher ausgeblieben. Die in<br />
Aussicht gestellten finanziellen<br />
Hilfen für eine Branche, die seit<br />
mehr als einem Jahr ins völlige<br />
Stocken geraten ist, lassen<br />
vielerorts auf sich warten.<br />
Alles deutet darauf hin, dass<br />
die wirtschaftliche, kulturelle<br />
und soziale Bedeutung der in<br />
der Veranstaltungswirtschaft<br />
zusammengeschlossenen<br />
Betriebe und Initiativen von<br />
der Politik weitgehend ignoriert<br />
wird. Die Chance einer umfassenden<br />
Test-Strategie böte<br />
immerhin die Möglichkeit, auch<br />
der Veranstaltungswirtschaft<br />
wieder in einem gewissen<br />
Umfang Aktivitäten zu ermöglichen.<br />
Das Forum Veranstaltungswirtschaft<br />
ist eine Allianz<br />
von fünf Verbänden, dem BDKV<br />
(Bundesverband der Konzertund<br />
Veranstaltungswirtschaft),<br />
dem EVVC (Europäischer<br />
Verband der Veranstaltungs-<br />
Centren), dem ISDV (Interessengemeinschaft<br />
der selbständigen<br />
Dienstleister*innen in der<br />
Veranstaltungswirtschaft), dem<br />
Livekomm (Verband der Musikspielstätten<br />
in Deutschland) und<br />
dem VPLT (Verband für Medienund<br />
Veranstaltungstechnik).<br />
Es ist lange her, aber immer<br />
noch wahr, dass Chris Barber<br />
einer von denen war, die den<br />
Deutschen nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg den Jazz brachten.<br />
Wie Glenn Miller spielte er<br />
Posaune, allerdings war er<br />
in seinen Anfängen auch als<br />
Skiffle-Musiker in einer Band<br />
mit Waschbrett-Rhythmusgruppe<br />
zugange. Später war<br />
er ein legendärer Bandleader<br />
und Mitbetreiber des Londoner<br />
Marquee Club. Er gab bis<br />
ins hohe Alter Konzerte, war<br />
freundschaftlich verbunden mit<br />
Eric Clapton, Van Morrison und<br />
Mark Knopfler. Im März starb er,<br />
kurz vor seinem 91. Geburtstag.<br />
Jazz macht glücklicher. Die<br />
Online-Verkaufsplattform<br />
OnBuy hat das in einer vergleichenden<br />
Studie nachgewiesen.<br />
Und zwar macht Jazz<br />
sogar glücklicher als Heavy<br />
Metal. Er erlaubt, Gefühle beim<br />
Zuhören zu erleben, dämpft<br />
Stress, senkt den Blutdruck,<br />
macht ausgeglichener und<br />
hat enorm positive Effekte auf<br />
Körper und Geist. Sogar Gedächtnisleistungen<br />
verbessert<br />
er zuweilen. Metal dagegen<br />
sorgt vor allem dafür, dass seine<br />
Hörer*innen ein mentales<br />
Ventil für ihre zornigen Gefühle<br />
finden. Die drittglücklichsten<br />
Musikhörer*innen gehen in die<br />
Oper. Folk-Anhänger*innen besetzen<br />
den undankbaren vierten<br />
Platz in diesem Ranking.<br />
Ralph Peterson Jr., Jahrgang<br />
1962, spielte auch Kornett<br />
und Trompete, war aber über<br />
drei Jahrzehnte vor allem<br />
als Schlagzeuger präsent. Er<br />
begann seine Karriere bei den<br />
Jazz Messengers, arbeitete<br />
mit den Großen seiner Generation<br />
wie Terence Blanchard,<br />
Craig Harris, Courtney Pine,<br />
Branford Marsalis und David<br />
Murray, um nur einige der<br />
wichtigsten zu nennen, und<br />
lehrte Schlagzeug am Berklee<br />
College in Boston. Er starb<br />
im März an den Folgen einer<br />
Krebserkrankung.<br />
Da war ein Foto in der letzten<br />
Ausgabe der <strong>JAZZTHETIK</strong>.<br />
Auf Seite 20/21 prangte es<br />
prachtvoll und zeigte das<br />
Doppler-Trio. Leider vergaßen<br />
wir zu erwähnen, dass Kevin<br />
Gruetzner der Urheber war,<br />
bei dem wir uns hiermit zerknirscht<br />
entschuldigen.<br />
Mark Whitecage war als<br />
Saxofonist und Klarinettist ein<br />
Vertreter der US-amerikanischen<br />
Jazz-Avantgarde und<br />
wurde in Europa vor allem<br />
durch seine Arbeit mit Gunter<br />
Hampels Galaxy Dream Band<br />
bekannt. In den 1990er Jahren<br />
arbeitete er mit Anthony Braxton<br />
und William Parker und<br />
in letzter Zeit mit dem nach<br />
New York emigrierten Kölner<br />
Trompeter Thomas Heberer. Er<br />
wurde 83 Jahre alt und starb<br />
im März.<br />
Die Bremer jazzahead! hat<br />
in diesem Jahr leider wieder<br />
(nur) digitales Format, gewinnt<br />
aber an Umfang: Mit dem Herbie<br />
Hancock Institute of Jazz<br />
startet die jazzahead! eine<br />
Kooperation zum UNESCO International<br />
Jazz Day <strong>2021</strong>, der<br />
von beiden Institutionen am<br />
Freitag, 30. April, gemeinsam<br />
gefeiert wird. Die Kooperationspartner<br />
wollen Aktivitäten<br />
bündeln und die weltweite<br />
Sichtbarkeit des Jazz verbessern.<br />
Näheres unter:<br />
www.jazzahead.de und<br />
www.jazzday.com<br />
powered by<br />
Das Team des Festivals<br />
Jazzdor hat lange<br />
gehofft und gezögert<br />
und muss nun doch das<br />
Festival, das vom 1. - 4. <strong>Juni</strong><br />
erstmals in Dresden stattfinden<br />
sollte, absagen. Alternativ<br />
wird an einem Outdoor-Programm<br />
gearbeitet, das im<br />
Rahmen der Berliner Jazzwoche<br />
vom 6. - 13. <strong>Juni</strong><br />
präsentiert werden soll.<br />
4 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Megaphon<br />
1 2<br />
© Egor Sachko<br />
5<br />
3<br />
4<br />
© Hans Kumpf<br />
Lou Ottens Nadin Deventer Ulrike Haage Maria Schneider Nils Wogram<br />
powered by<br />
Die Zeit der Absagen<br />
geht weiter. Das<br />
Jazzfestival Gronau, das<br />
sich aus 2020 in das aktuelle<br />
<strong>2021</strong> verschieben zu können<br />
hoffte, muss sich wieder<br />
verschieben beziehungsweise<br />
einige Konzerte absagen.<br />
Karten können zurückgegeben<br />
werden oder behalten ihre<br />
Gültigkeit für 2022. Das Konzert<br />
mit 4 Wheel Drive am 4. <strong>Mai</strong><br />
wird aber als Live-Stream<br />
zugänglich sein unter:<br />
www.jazzfest.de<br />
1) Die Tonband-Kompaktkassette<br />
hätte es ohne ihn<br />
vielleicht nicht gegeben, und<br />
auch an der Erfindung der CD<br />
hatte der niederländische Ingenieur<br />
Lou Ottens wesentlichen<br />
Anteil. Den größten Teil seines<br />
erfindungs- und erfolgreichen<br />
Berufslebens verbrachte er in<br />
Diensten der Firma Philips und<br />
lebte bis zu seinem Tode im<br />
März in Eersel bei Eindhoven.<br />
2) Der Preis des Europe Jazz<br />
Network für abenteuerlustiges<br />
Programmieren, im Original<br />
Adventurous Programming,<br />
geht in diesem Jahr (Tusch!) an<br />
Nadin Deventer für ihre innovative<br />
Arbeit bei den Berliner<br />
Jazztagen.<br />
Richtig reich geworden ist<br />
Richard Weize mit Bear Family<br />
Records vermutlich nicht, aber<br />
immerhin ereilte ihn jetzt das<br />
Bundesverdienstkreuz am<br />
Bande. Und zwar sehr verdient,<br />
denn sein Lebenswerk ist, wie<br />
Götz Alsmann in der Laudatio<br />
sagte, „eine einzige große<br />
Rettung kultureller Schätze,<br />
schlichtweg das Bewahren<br />
von musikalischem Weltkulturerbe.“<br />
Dem ist, außer endlos<br />
vielen Einzelheiten, nichts<br />
hinzuzufügen.<br />
Der Jazzpreis Baden-Württemberg<br />
geht an Christoph Neuhaus.<br />
Kultur-Staatssekretärin<br />
Petra Olschowski begründete<br />
die Wahl der Jury: „Christoph<br />
Neuhaus begeistert als ein<br />
außergewöhnlich vielseitiger<br />
Gitarrist und Komponist.<br />
Stilsicher und äußerst kreativ<br />
bewegt er sich musikalisch<br />
an der Schnittstelle zwischen<br />
Jazz, Groove, Blues und<br />
Folkmusic.“ Neuhaus arbeitet<br />
auch als Bildender Künstler.<br />
Während der Pandemie hat<br />
er darüber hinaus mit seinen<br />
Konzert-Screenings viel für die<br />
Musikszene im Land getan. Ein<br />
Termin für Preisverleihung und<br />
Preisträgerkonzert im Rahmen<br />
der Stuttgart Open steht noch<br />
nicht fest.<br />
3) Vor allem für ihre Kompositionen<br />
für audiovisuelle Medien<br />
hat Ulrike Haage den 12. Deutschen<br />
Musikautorinnenpreis<br />
<strong>2021</strong> erhalten. Laudator Volker<br />
Heise fasste bündig zusammen,<br />
wieso: „Du bist schlichtweg<br />
eine großartige und innovative<br />
Musikerin, die auf sehr vielen<br />
schmalen Graten wandelt<br />
und nie abstürzt. Du hast die<br />
seltene Eigenschaft, dass deine<br />
Filmmusik immer eigenständig<br />
ist und sich nie den Bildern<br />
unterwirft.“<br />
4) Eine der originellsten<br />
US-amerikanischen Bigband-<br />
Komponistinnen und -Arrangeurinnen<br />
der Gegenwart ist<br />
Maria Schneider. Für ihr Album<br />
Data Lords wurde sie jetzt in<br />
Frankreich mit dem Grand Prix<br />
de l’Académie du Jazz und zu<br />
Hause gar mit einem Grammy<br />
und einem zusätzlichen Grammy<br />
für ihre Instrumental-Komposition<br />
„Sputnik“ ausgezeichnet,<br />
die vermutlich nicht einem<br />
Impfstoff gewidmet ist.<br />
5) Nils Wogram ist noch jung,<br />
dennoch hat der Jahresausschuss<br />
des Preises der<br />
Deutschen Schallplattenkritik<br />
ihm einen Ehrenpreis zugesprochen,<br />
der leider aus pandemischen<br />
Gründen noch nicht<br />
verliehen ist, aber das wird<br />
noch. Ehre, wem Ehre gebührt!<br />
Die Tonne in Dresden war einer<br />
der bekanntesten Jazzclubs der<br />
DDR und wird in diesen Tagen<br />
40 Jahre alt. Umzüge, Wasserschäden<br />
und manch anderes<br />
Ungemach haben der Tonne<br />
nicht den Boden ausgeschlagen,<br />
und irgendwann wird sich<br />
auch herausstellen, wie der<br />
40. Geburtstag angemessen<br />
gefeiert werden kann. Glückwunsch!<br />
www.jazzclubtonne.de<br />
6) Beim Drei-Städte-Festival<br />
Enjoy Jazz, aber nicht nur dort,<br />
konnte man häufig Matthias<br />
Spindler begegnen und mit ihm<br />
in der Pause oder nach dem<br />
Konzert in lebhafte Gespräche<br />
über die Musik, ihre Geschichte,<br />
ihre Bezüge, ihre besonderen<br />
Qualitäten geraten. Zum Jazz<br />
war Spindler, Jahrgang 1954,<br />
schon in den 1960er Jahren<br />
gekommen. Mitte der 1970er,<br />
während seines Studiums der<br />
Geschichte und Soziologie,<br />
begann er mit Schallplatten-<br />
Rezensionen für das JAZZ<br />
PODIUM, später folgten Konzertkritiken<br />
für die Tageszeitungen<br />
RHEINPFALZ und MANN-<br />
HEIMER MORGEN und bald<br />
Arbeiten für den Hörfunk. Beim<br />
Hessischen Rundfunk arbeitete<br />
er als Autor, Moderator und Aufnahmeleiter,<br />
daneben forschte<br />
und publizierte er über Themen<br />
aus der Regionalgeschichte.<br />
Er ist nach kurzer Krankheit am<br />
7. April gestorben.<br />
Das Land Hessen hat ein<br />
neues Förderprogramm ins<br />
Leben gerufen, das besonders<br />
dem ländlichen Raum, in dem<br />
sonst weniger Kulturförderung<br />
ankommt, Segen bringen soll.<br />
Das Programm ist versammelt<br />
unter dem Titel „Ins Freie!“, die<br />
Bewerbungsfrist tickt. Näheres<br />
unter:<br />
www.diehl-ritter.de/de/insfreie<br />
In Leipzig tut sich was. Der<br />
Jazzclub wird Hauptmieter im<br />
zukünftigen Haus der Festivals<br />
in der Gottschedstraße 16 und<br />
kann dort also fortan machen,<br />
was er will. Er will vor allem<br />
dafür sorgen, dass Leipzig als<br />
Ort einer produktiven freien<br />
Kulturszene stärker wahrgenommen<br />
wird. Durch die Lage<br />
in der Innenstadt und die Nähe<br />
zu anderen Kultur-Institutionen<br />
soll eine interdisziplinäre Ko-<br />
6 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
6 7<br />
© Boris Breuer<br />
9 10<br />
© Manfred Rinderspacher<br />
8<br />
© Jürgen Volkmann<br />
11<br />
Matthias Spindler<br />
Trilok Gurtu<br />
Trans4JAZZFestival<br />
Luise Volkmann<br />
Kenny Wayne Shepherd<br />
Rotkehlchen<br />
Eberhard Weber <strong>–</strong><br />
Colours of Jazz<br />
operation gestärkt und ein vielfältig<br />
interessiertes Publikum<br />
angesprochen werden. Leider<br />
wird der Jazzclub bis mindestens<br />
Ende <strong>Mai</strong> keine Konzerte<br />
veranstalten können. Weiteres<br />
auf der Website<br />
www.jazzclub-leipzig.de<br />
Und noch etwas gibt es<br />
in Leipzig: eine<br />
Autorïnnen Ausstellung unseres<br />
Fotografen Arne Reimer bei der<br />
Agentur Punctum Fotografie.<br />
Das Thema ist Leipzig im Kampf<br />
gegen Corona, Titel der<br />
Ausstellung: Ihnen gewidmet.<br />
Virtuell zu sehen auf<br />
www.punctum.net<br />
powered by<br />
7) Nachdem im<br />
vergangenen Jahr aus<br />
bekannten Gründen<br />
das Trans4JAZZFestival<br />
ausfallen musste, gibt es in<br />
diesem Sommer über den<br />
Dächern von Ravensburg trotz<br />
aller Widrigkeiten vom<br />
30.6. - 4.7. die Konzertreihe<br />
Veitsburg Jazz, mit Cæcilie<br />
Norby, Ulf Wakenius und Lars<br />
Danielsson, sodann Trilok<br />
Gurtu, Florian Weber und<br />
Frederik Köster, außerdem Jon<br />
McCleery, der Band Lunaves<br />
aus Stuttgart und dem<br />
Londoner Pianisten Alfa Mist.<br />
Den Schlusspunkt setzt das<br />
Emil Brandqvist Trio.<br />
www.jazztime-ravensburg.de<br />
Darmstadt. Die Präsentation<br />
ihres Projekts und die<br />
Preisverleihung finden nach<br />
derzeitigen Planungsstand am<br />
1. Oktober im Rahmen des 17.<br />
Darmstädter Jazzforums statt,<br />
das dem Thema „Roots_Heimat:<br />
Wie offen ist der Jazz?“<br />
gewidmet ist.<br />
https://kathrin-preis.de<br />
Auch der 14. Record Store<br />
Day kann nicht so analog und<br />
real wie gewünscht gefeiert<br />
werden, weshalb eine virtuelle<br />
Ausgabe in zwei RSD-Drops<br />
am 12. <strong>Juni</strong> und 17. Juli<br />
vorgesehen ist. Zur Feier des<br />
Tages wurde eine Art virtuelle<br />
Schnitzeljagd mit Gewinnspiel<br />
konzipiert. Die Jagd ist in<br />
vollem Gange <strong>–</strong> als Preis winkt<br />
ein Technics Turntable Grand<br />
Class SL-1200G-Serie. Näheres<br />
unter:<br />
www.recordstoredaygermany.de<br />
Wenn es kaum öffentliche<br />
Konzerte gibt, bleibt als Chance<br />
für die heranwachsende<br />
Generation der Unterricht.<br />
Musiker*innen der beiden<br />
Klangkörper des Hessischen<br />
Rundfunks, Sinfonieorchester<br />
und Bigband, geben kostenfreien<br />
Online-Unterricht für<br />
interessierte Schulklassen.<br />
Mehr Informationen:<br />
www.hr-sinfonieorchester.de<br />
und www.hr-bigband.de<br />
zurückgezogen. Der Grund ist<br />
ein Bild der alten Konföderierten-Fahne,<br />
die auf einem<br />
Auto prangte, das Shepherd<br />
allerdings nicht mehr fährt.<br />
Dem ROLLING STONE sagte er,<br />
er habe längst beschlossen,<br />
die Flagge auf dem Autodach<br />
zu bedecken oder übermalen<br />
zu lassen, weil sie für etwas<br />
stehe, was er gründlich ablehne.<br />
Was nun?<br />
10) Die Wahl ist vorbei, gewonnen<br />
hat das Rotkehlchen,<br />
das sich jetzt zwitschernd „Vogel<br />
des Jahres <strong>2021</strong>“ nennen kann.<br />
Zum ersten Mal hat nicht ein<br />
Experten-Gremium gewählt,<br />
sondern Menschen, die vom<br />
Wahl-Aufruf des NABU erreicht<br />
wurden. Hoffen wir, dass<br />
das Rotkehlchen jetzt unverzüglich<br />
die nötigen Reformen<br />
einleitet, mit denen sich die<br />
Roten sonst eher schwergetan<br />
haben.<br />
11) Das Stadtmuseum<br />
Esslingen würde jetzt im<br />
Gelben Haus eine Ausstellung<br />
mit dem Titel Eberhard Weber<br />
<strong>–</strong> Colours of Jazz zeigen, wenn<br />
es denn öffnen dürfte. Da die<br />
Ausstellung bis zum 24.10. dort<br />
wäre, ergibt sich vielleicht<br />
doch noch eine Gelegenheit.<br />
Näheres unter<br />
www.museen-esslingen.de<br />
Kompromiss, sondern als Version<br />
dessen, was hätte stattfinden<br />
sollen und können: 16<br />
Künstler kommen in Monheim<br />
zusammen und entwickeln ihre<br />
Projekte. „The Prequel“ wird<br />
das Labor, die Werkstatt, der<br />
Think Tank, in dem die Zukunft<br />
erdacht wird. Bereits erworbene<br />
Tickets behalten ihre Gültigkeit<br />
für 2022; alternativ kann der<br />
Preis zurückerstattet werden.<br />
Wer die Festivalkarte für 2022<br />
behält, bekommt, abhängig<br />
von den Hygiene-Vorschriften,<br />
kostenlosen Zugang zu den<br />
öffentlichen Konzerten von<br />
„The Prequel“.<br />
www.monheim-triennale.de<br />
Die irritierende Stille in den Bergen<br />
geht zu Ende, das Montreux<br />
Jazz-Festival hat einen Plakat-<br />
Wettbewerb unter dem Titel<br />
„Restart“ ausgeschrieben. Mehrere<br />
Preise werden verliehen,<br />
außerdem sollen 30 Künstler die<br />
Gelegenheit erhalten, beim Festival<br />
ihre Werke auszustellen.<br />
Die Bekanntgabe der Gewinner<br />
erfolgt in diesen Tagen, und das<br />
55. Montreux-Festival findet vom<br />
1. - 17.7. statt.<br />
www.montreuxjazzfestival.com/de<br />
powered by<br />
8) Luise Volkmann,<br />
Trägerin des Kathrin-<br />
Preises, hatte<br />
mittlerweile ihre Residency mit<br />
intensiver Arbeitsphase in<br />
9) Eigentlich war Kenny<br />
Wayne Shepherd in der engeren<br />
Wahl für den Blues Music<br />
Award, aber die Blues Foundation<br />
hat ihre Nominierung<br />
Eigentlich war die Monheim<br />
Triennale für 1. - 4.7. geplant,<br />
nun ist sie wieder um ein Jahr<br />
verschoben worden. Anfang<br />
Juli <strong>2021</strong> wird es „The Prequel“<br />
geben, nicht als Ersatz oder<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 7
JAZZRAUSCH BIGBAND<br />
Bigband mit Familiensinn<br />
Es ist gerade einmal ein paar Jahre her, dass die Jazzrausch Bigband die Jazzszene auf den<br />
Kopf stellte. Mit ihrer Mischung aus Jazz und Techno begeistern die jungen Musiker*innen<br />
eine breite Masse an Fans. Mit téchne veröffentlicht das Ensemble nun sein neues Album.<br />
Von Verena Düren<br />
Unvergesslich scheint das erste Konzerterlebnis<br />
mit der Jazzrausch Bigband gewesen<br />
zu sein: geprägt von Neugierde in Verbindung<br />
mit der Begeisterung eines ausverkauften<br />
Opernhauses, in dem generationsübergreifend<br />
niemand auf seinem Sitz blieb. Seit ihrer<br />
Gründung 2014 hat die Bigband eine steile<br />
Karriere gemacht und weltweit circa 600<br />
Konzerte gespielt. Das Geheimnis dahinter<br />
ist nicht nur eine gute Bigband, sondern<br />
vor allem die einzigartige Verbindung von<br />
Jazz mit Techno. „Ich habe zu der Zeit in<br />
dem Münchner Club Rausch und Töchter<br />
eine Konzertreihe mit dem Titel Jazzrausch<br />
gemacht und dachte, es wäre schön, für die<br />
Reihe eine eigene Band zu haben“, berichtet<br />
Roman Sladek von den Anfängen. Da er in<br />
der Reihe versuchte, besondere, kreative<br />
Konzepte umzusetzen, war klar, dass auch<br />
die Band kein Durchschnitt sein würde. „Ich<br />
kam schnell auf die Bigband als Formation,<br />
weil diese durch die verschiedenen möglichen<br />
Kombinationen mehr Möglichkeiten bot<br />
als beispielsweise ein Trio.“<br />
Über seine Liebe zum Techno hatte<br />
Sladek schon privat Kontakt zu Leonhard<br />
Kuhn, der bis heute Haupt-Komponist für<br />
die Bigband ist: „Leonhard ist extrem gut<br />
und schnell, er ist der perfekte Partner“,<br />
schwärmt Sladek. Kuhn, der studierter<br />
Mathematiker ist und sich für zahlreiche geisteswissenschaftliche<br />
Themen interessiert,<br />
vereint so viel Input in sich, dass er problemlos<br />
alle paar Monate ein neues Programm<br />
herstellt. Das sechsjährige Jubiläum im<br />
vergangenen Jahr konnte die Jazzrausch<br />
Bigband mit einem etwa siebenstündigen<br />
Rave feiern <strong>–</strong> ausschließlich Stücke aus<br />
Kuhns Feder.<br />
Die restlichen 35 Musikerinnen und<br />
Musiker stammen aus einem Netzwerk<br />
rund um die Münchner Musikhochschule<br />
sowie aus dem Kontext der Jazzrausch-<br />
Konzertreihe. Seit der Club Rausch und<br />
Töchter aus Lärmschutzgründen nur ein Jahr<br />
nach der Gründung der Band geschlossen<br />
wurde, ist die Jazzrausch Bigband fester<br />
Gast im Techno-Club Harry Klein <strong>–</strong> und damit<br />
begannen die intensive Auseinandersetzung<br />
mit der Verbindung von Jazz und Techno und<br />
die richtig große Karriere. „Dass wir als feste<br />
Band im Harry Klein untergekommen sind, hat<br />
natürlich auch noch mal für eine Profilschärfung<br />
gesorgt“, so Sladek.<br />
Hinsichtlich der Ausrichtung und der<br />
Professionalisierung hatte er eher innerhalb<br />
der Band Überzeugungsarbeit zu leisten als<br />
nach außen. Von Kritik und Unverständnis für<br />
die Kombination der beiden Musikstile blieb<br />
die Band weitestgehend verschont. „Inhaltliche<br />
Glaubwürdigkeit und Authentizität sind<br />
uns sehr wichtig, und das überzeugt Publikum<br />
und Kritiker. Wir machen anspruchsvolle,<br />
mühevoll gemachte Musik, die Spaß<br />
8 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Marc Wilhelm<br />
macht.“ Die Fans sind erstaunlicherweise gar<br />
nicht ungewöhnlich jung <strong>–</strong> viele von ihnen<br />
sind über 45 Jahre alt. „Manchmal denke ich,<br />
wir sind der kleinste gemeinsame Nenner für<br />
Familien“, so Sladek lachend.<br />
Die Produktionswut des Gründer-Duos<br />
Sladek und Kuhn beschert nun die vierte<br />
Platte, die seit 2019 bei ACT erscheint: téchne<br />
heißt das Album, das ausnahmsweise auch<br />
Stücke anderer Komponisten beinhaltet. „Alle<br />
unsere Alben funktionieren über Themen,<br />
die ich in der Regel vorgebe und mit denen<br />
Leonhard dann arbeitet. Unser letztes Album<br />
Beethoven’s Breakdown war inhaltlich sehr<br />
stark vorgegeben, so dass wir nun wieder<br />
eine Platte machen wollten, die näher an der<br />
Band dran ist.“ Der Titel techné knüpft an den<br />
griechischen Begriff an, der keine Unterscheidung<br />
zwischen Kunst, Wissenschaft<br />
und Technik macht. Die Jazzrausch Bigband<br />
schafft nun eine Schnittstelle zwischen<br />
den Bereichen und porträtiert darüber auf<br />
ganz eigene Art und Weise den Begriff der<br />
Technik. So setzt sich das Stück „AI 101“ mit<br />
der Fehlermeldung und den engen Grenzen<br />
auseinander, die sich der Mensch durch seine<br />
Abhängigkeit von der Technik selbst setzt.<br />
Auch Literarisches fehlt nicht, beispielsweise<br />
bei einer Vertonung des Hugo-Ball-Gedichts<br />
„Der Literat“, während es in „Shufflings<br />
Steps“ um die Auseinandersetzung mit<br />
Kompositionstechniken geht. Neu dabei sind<br />
Werke von Theresa Zaremba und Andreas<br />
Unterreiner, deren Kompositionen bereits in<br />
Club-Sessions im Harry Klein zu hören waren.<br />
Geehrt fühlt sich die Band durch hochkarätige<br />
Gäste wie Nesrine, Viktoria Tolstoy,<br />
Wolfgang Haffner, Kalle Kalima, Nils Landgren<br />
und Jakob Manz, die zeigen, wie gut das<br />
Konzept ankommt. „Eine Bigband bietet sich<br />
ja grundsätzlich für Gäste an, aber dieses Mal<br />
war es wirklich wie eine Input-Kur und auch<br />
eine gute Möglichkeit, über die eigene Musik<br />
zu reflektieren.“<br />
Mit der Professionalisierung und dem<br />
Erfolg stieg auch die Verantwortung von<br />
Roman Sladek als Bandleader <strong>–</strong> auch in<br />
Pandemie-Zeiten: „Wir haben uns, und das<br />
ist schon mal schön und macht es leichter.<br />
Wir haben viel in Tests und Hygienekonzepte<br />
investiert, konnten daher einiges machen und<br />
haben versucht, per Rotationsverfahren alle<br />
einzubinden. Es dürfen nicht Hygienekonzepte<br />
entscheiden, mit wem man Musik macht.<br />
Bisher scheint das gelungen zu sein, denn es<br />
hat niemand aus der Band aufgehört.“ Eine<br />
große Unterstützung sei dabei auch der Zuspruch<br />
der Fans gewesen: „Wir haben sehr<br />
persönliche Nachrichten und auch private<br />
Spenden erhalten. Wir hatten zum Glück nie<br />
das Gefühl, nicht relevant zu sein.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Jazzrausch Bigband: téchne<br />
(ACT / Edel:Kultur)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 9
FLAT EARTH SOCIETY<br />
Rabenschwarze Revue<br />
© Willem Van Cauwenberghe<br />
Die Flat Earth Society aus Belgien wäre ein heißer Kandidat<br />
auf den Titel des rebellischsten, witzigsten, provokantesten,<br />
eklektischsten, energiegeladensten Jazzorchesters der Welt.<br />
Passenderweise startete die Band mit einer Zirkusnummer <strong>–</strong><br />
das war bereits 1997. Ihr neuester Streich: Boggamosta III,<br />
eine Zappa- und Sun-Ra-nahe HipHop-Jazz-Revue über die<br />
Verdummung in der digitalen Welt.<br />
Von Hans-Jürgen Schaal<br />
In Belgien hat sich die 15-köpfige Spaß-und-<br />
Risiko-Truppe rasch etablieren können: mit<br />
Theaterproduktionen, Rundfunkauftritten,<br />
Konzerttourneen. Ihre raffinierte Mischung<br />
aus Bigband-Tradition, Progrock-Kontrasten,<br />
Balkan-Gebläse, Zappa-Eklektik, Krimi-Feeling<br />
und Tango-Elementen riss das Publikum<br />
überall von den Sitzen. FES war 2002 die<br />
Hausband des Brügge-Festivals, präsentierte<br />
2003 eine Bigband-Oper bei der Ruhrtriennale<br />
in Duisburg, ging 2011 erstmals auf<br />
US-Tournee. Man arbeitete über die Jahre<br />
mit namhaften Künstlern wie Uri Caine, Mike<br />
Patton, Ernst Reijseger, Jimi Tenor und Toots<br />
Thielemans und hat stolze 20 Alben veröffentlicht.<br />
So unberechenbar ihre Musik ist,<br />
so verlässlich ist die Qualität dieser Band.<br />
Der Kopf und Motor hinter Flat Earth<br />
Society heißt Peter Vermeersch. Der 62-Jährige<br />
gilt als einer der „Paten“ der neueren<br />
belgischen Musikszene. Ursprünglich klassischer<br />
Klarinettist, profilierte er sich in den<br />
Neunzigern als Leader der Progrock-Band<br />
X-Legged Sally und als Produzent der Indie-<br />
Rock-Formation dEUS. Seit rund 20 Jahren,<br />
so schätzt Vermeersch, mache die Arbeit<br />
mit FES rund 80 Prozent seiner Aktivitäten<br />
aus. Denn für seine zahlreichen Theater- und<br />
Filmprojekte mobilisiert er mit Vorliebe diese<br />
Band.<br />
„Vor der Pandemie zielten wir immer auf<br />
etwa 30 Auftritte pro Jahr“, sagt Vermeersch.<br />
„Mit einer Theatertournee erreicht man<br />
diese Zahl natürlich leichter, als wenn man<br />
Einzelkonzerte organisieren muss. Zu Beginn<br />
wollte ich einfach nur ein paar befreundete<br />
Musiker zusammenbringen und mit ihnen<br />
gemeinsam spielen. Es gab kein Konzept<br />
oder musikalisches Programm <strong>–</strong> nur die<br />
Musiker selbst mit ihren jeweiligen Vorlieben,<br />
Erfahrungen, Talenten und Defiziten.<br />
Wir halten die Maschine am Laufen, indem<br />
wir ständig neue Stücke komponieren, neue<br />
Ideen und Herausforderungen angehen und<br />
für Produktionen sorgen. Gleichzeitig haben<br />
wir eine prägnante, effiziente Finanz- und<br />
Organisationsstruktur aufgebaut. Außerdem<br />
werden wir von der flämischen Regierung<br />
und der Stadt Gent unterstützt.“<br />
Eine von vielen Unternehmungen<br />
startete 2016. Peter Vermeersch und der<br />
Gitarrist David Bovée, der in den Anfangsjahren<br />
(bis 2003) Mitglied von FES gewesen war,<br />
erhielten den Auftrag, ein Bühnenprojekt mit<br />
Musikern aus Belgien und Gambia auf die<br />
Beine zu stellen. Die Sache wurde in Banjul<br />
(Gambia) erarbeitet und in Ostende (Belgien)<br />
aufgeführt <strong>–</strong> ein satirisches Performance-<br />
Spektakel mit sozialkritischen Texten und wild<br />
tobender Musik. Der Titel: Boggamosta <strong>–</strong> das<br />
Wort ist eine westafrikanische Adaption von<br />
„Bürgermeister“ („burgemeester“). „Danach<br />
überlegten wir, wie wir dieses Repertoire<br />
weiterentwickeln und erweitern könnten“,<br />
erzählt Vermeersch. „Es hatte einfach zu<br />
viel Spaß gemacht. Natürlich bot es sich an,<br />
das Material mit FES auszuarbeiten. Und so<br />
kam David wieder in die Band zurück.“ 2018<br />
erschien das Projekt als FES-Album. Und es<br />
inspirierte Vermeersch und Bovée, weitere<br />
Stücke für dieses Performance-Konzept zu<br />
schreiben. So entstand Boggamosta III <strong>–</strong> die<br />
Nummer zwei sparte man sich einfach.<br />
Mit den Boggamosta-Projekten scheint<br />
eine neue Phase in der FES-Geschichte<br />
zu beginnen. „Wir mussten für die Band<br />
einen neuen Sound und eine neue Bühnenpräsenz<br />
entwickeln. Wir brauchten eine<br />
heiße, groovende, pulsierende Atmosphäre,<br />
Gesang wurde wichtig, Elektronik kam<br />
dazu. Die Notenständer verschwanden, die<br />
Solisten gingen nach vorne <strong>–</strong> alles frontal<br />
zum Zuschauer.“ Den zehn neuen Songs auf<br />
Boggamosta III <strong>–</strong> fünf sind von Vermeersch,<br />
fünf von Bovée <strong>–</strong> liefert die Bigband eine<br />
ebenso rockende wie virtuose Basis. Solistische<br />
Highlights setzen u.a. Bruno Vansina<br />
(bar-s) und Peter Vermeersch (cl). Obendrein<br />
glänzen die Musiker der Band in jedem Stück<br />
als Vokalisten mit originellen Refrains und frechem<br />
Sprechgesang an der Grenze zum Rap.<br />
Boggamosta III ist eine fulminante, bizarre<br />
Bigband-Polit-Revue von überwältigender<br />
Energie. „Wir wollen ein anderes Publikum<br />
erreichen, nicht unbedingt die Jazzleute“,<br />
sagt Vermeersch. „Aber um diese Musik zu<br />
spielen, braucht man Musiker mit Jazzkönnen<br />
und Jazzhaltung. Und darum das FES.“<br />
Die Songs der Revue geben ein<br />
düster-sardonisches Bild der aktuellen<br />
menschlichen Komödie zwischen Künstlicher<br />
Intelligenz und globaler Verdummung.<br />
Vermeersch sagt: „Die Texte sind in der<br />
Tat mit rabenschwarzer Tinte geschrieben.<br />
Sie sind eine Mischung aus den kranken<br />
Gedanken, die in den Köpfen verrückter<br />
narzisstischer Staatsführer gären, und einer<br />
sarkastischen Reaktion darauf. Es fühlt sich<br />
gut an, sich über diese junge Kreatur namens<br />
Homo sapiens lustig zu machen.“ Jetzt fehlt<br />
eigentlich nur noch eins: das Live-Publikum.<br />
Denn Boggamosta III gehört dringend auf die<br />
Bühne. „Die Pandemie zwang uns zu einer<br />
ziemlich komplizierten Übe- und Aufnahmemethode.<br />
Es waren nie mehr als fünf Leute im<br />
Raum <strong>–</strong> mit zwei Metern Abstand, Belüftung<br />
und mit Atemmasken, wenn man den Platz<br />
verließ. Es wird sehr aufregend für uns, wenn<br />
wir dieses Repertoire endlich im wirklichen<br />
Leben spielen können.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Flat Earth Society: Boggamosta III<br />
(Igloo Records / Broken Silence)<br />
10 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
JAKOB BRO<br />
Dreidimensionaler<br />
Traum<br />
© Mike Højgaard<br />
Jakob Bros Musik<br />
klingt, als müsse er<br />
sich keine Sorgen<br />
machen. Sie muss und<br />
will niemandem etwas<br />
beweisen, und sie ist frei<br />
von althergebrachten<br />
Ordnungsvorstellungen<br />
wie Rhythmus/Melodie<br />
oder Frontline/Begleitung<br />
oder Bandleader/<br />
Sideman. Alles, wofür<br />
sie um Aufmerksamkeit<br />
wirbt, ist: Klang. Und wie<br />
etwas klingt, hört man am<br />
besten, wenn es nicht so<br />
laut ist.<br />
12 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Von Hans-Jürgen Linke<br />
Das erste Stück arbeitet an der Rekonstruktion<br />
eines Traumes, „Reconstructing a<br />
Dream“. Es ist reine Programmmusik. Wer<br />
einen Traum rekonstruiert, beschäftigt sich<br />
mit flüchtigen Motiven, Übergangsphänomenen,<br />
unterschiedlichen Interpretationen,<br />
die sich tatsachenfreien Vorgängen annähern<br />
und sich, ohne anzustoßen, in einem<br />
feinen Nebel bewegen, der die sogenannte<br />
(und nicht ganz erwünschte) Wirklichkeit<br />
noch verhüllt. Was mag geschehen sein?<br />
Man hört, sehr leise, einen tiefen, weich<br />
angeschlagenen Gitarrenton, drei Sekunden<br />
später setzt eine Melodie in einem<br />
exotischen Modus ein, offenbar auf einer<br />
Shakuhachi gespielt. Dann eine melodische<br />
Phase, in der die Gitarre sich unaufdringlich<br />
neben der Flöte bewegt.<br />
Moment mal: Flöte? Davon steht nichts im<br />
Line-up. Stattdessen steht da: „Arve Henriksen,<br />
trumpet“.<br />
Manchmal ist es leicht, auf Arve<br />
Henriksen hereinzufallen, so präzise und<br />
aufmerksam hat er am Klangspektrum<br />
seines Trompetenspiels gearbeitet. Aber<br />
die Aufmerksamkeit ist nicht nur geweckt,<br />
sondern gleich auch angespannt. Wer ein<br />
Album mit Arve Henriksen einspielt, weiß<br />
in der Regel, dass es für viele Hörerinnen<br />
und Hörer automatisch ein Arve-Henriksen-<br />
Album sein wird. Seine melodischen Ideen<br />
sind so intensiv, seine Artikulationen so<br />
ungewöhnlich und variabel, dass es fast<br />
unmöglich ist, ihn zunächst nicht im Vordergrund<br />
zu hören.<br />
Jakob Bro hat das natürlich gewusst<br />
und billigend in Kauf genommen. Es macht<br />
gar nichts, sagt er, wenn ein anderer Musiker<br />
im Focus steht. Arve Henriksens Art zu<br />
spielen ist so speziell, dass man sowieso<br />
immer genau hinhört. Und wer genau hinhört,<br />
merkt bald auch, wie sich Gitarre und<br />
Schlagzeug dazu, daneben, darunter, dabei<br />
verhalten. Henriksen wird eingebunden in<br />
eine Musik, die ihre Präsenz und ihre Tiefe<br />
durch dynamische Behutsamkeit und durch<br />
intensiven und experimentellen Klangsinn<br />
erhält.<br />
„Das erste Mal, dass ich Arve persönlich<br />
getroffen habe“, sagt Jakob Bro, „war<br />
beim Frühstück im Hotel in Lugano, bevor<br />
wir ins Studio gegangen sind.“ Den Musiker<br />
Arve Henriksen hat er allerdings schon<br />
vorher lange gekannt. Eine gute Woche vor<br />
dem Aufnahmetermin hat er ihm die Stücke<br />
zugeschickt, in Form von Noten, Sounds,<br />
Melodien und Phrasierungen, auf einer<br />
akustischen Gitarre mehr angedeutet als<br />
präzise aus- und vorgeführt. Arve sei dann<br />
sehr gut vorbereitet gewesen auf das, was<br />
ihn erwartete und was von ihm erwartet<br />
wurde.<br />
Jazz-Gitarristen sind, auch wenn sie<br />
in die Kategorie der Klangforscher oder<br />
der Melodiker gehören, normalerweise mit<br />
mehr Noten pro Minute und einer anderen<br />
Dynamik zu vernehmen als Jakob Bro. Er<br />
zeigt sich auf diesem Album als außerordentlich<br />
zurückhaltender Musiker. Beim<br />
Vergleich mit Klischees vom landläufigen<br />
Berufsbild des Jazz-E-Gitarristen lacht<br />
er fröhlich. „Ich versuche nicht, meine<br />
Musik in der Band durchzusetzen oder zu<br />
behaupten. Ich bin eher bestrebt, Raum zu<br />
lassen oder Raum zu geben und zu sehen,<br />
was daraus entstehen kann.“ Das fördert<br />
die Konzentration, sowohl in der Band beim<br />
Spielen wie auch des geneigten Publikums<br />
beim Hören der Aufnahmen, und schnell<br />
wird klar, wie sehr Jakob Bro und Jorge<br />
Rossy am Gesamtklang mitarbeiten.<br />
Die Kompositionen des Albums Uma<br />
Elmo sind filigrane und überraschende Gebilde.<br />
Der Song „To Stanko“ ist ein Requiem<br />
für den 2018 verstorbenen polnischen Trompeter<br />
Tomasz Stanko. Jakob Bro hat lange<br />
mit ihm gearbeitet, war mit ihm befreundet<br />
und nennt ihn unter seinen wichtigsten<br />
Einflüssen. „Mit einem Ton konnte er<br />
eine Geschichte erzählen“, sagt er. Arve<br />
Henriksen kann und tut das auch, aber sein<br />
verhangener, lyrischer und immer in kleinen<br />
Nebenbemerkungen klanglich verfremdeter<br />
Ton klingt auch hier nie, als wolle er einfach<br />
ein guter Trompeter sein oder gar Stanko<br />
nachahmen. Dass „To Stanko“ nach genau<br />
vier Minuten und 33 Sekunden endet, also<br />
jener Zeitdauer, die John Cage zum Titel<br />
seiner (oft gespielten, dabei ungebrochen<br />
rätselhaften) Komposition „4:33“ gemacht<br />
hat, sei purer Zufall, sagt Jakob Bro. Aber<br />
ein wunderbarer Zufall, über den nicht<br />
nur Cage, der Erfinder der künstlerischen<br />
Zufallsoperationen, wohl ziemlich erfreut<br />
gewesen wäre.<br />
Auch wenn <strong>–</strong> wie in dem längsten<br />
Stück des Albums, „Housework“ <strong>–</strong> die<br />
klangliche Vielgestaltigkeit zum Teil in munteres<br />
Zusammenkleben auszuarten scheint,<br />
wirkt hier nichts wie Übermut. Die Subtilität<br />
und die nie aufgegebene dynamische<br />
Zurückhaltung machen jede Klang-Collage<br />
zu einer intensiven, mit dreidimensionalem<br />
Raumgefühl gestalteten Konzentrations-<br />
Musik.<br />
Dass der „Morning Song“ einmal in<br />
der Mitte (einige Zeit nach der eröffnenden<br />
Traum-Rekonstruktion) auftaucht und<br />
später in einer zweiten Version das Album<br />
beschließt, zeigt, dass Jakob Bro, bei aller<br />
avantgardistischen Raffinesse seiner Musik,<br />
auch ein warmherziger Romantiker ist.<br />
Und seine Ansichten vom „Slaraffenland“<br />
sind pure Schwelgerei.<br />
Aktuelles Album:<br />
Jakob Bro: Uma Elmo (ECM / Universal)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 13
Literatur<br />
Von Guido Diesing<br />
Wilfried<br />
Schaus-Sahm<br />
Weltstars im<br />
Stahlwerk<br />
Als ab den 90er Jahren plötzlich Stars aus Jazz und Weltmusik<br />
zu Konzerten nach Duisburg kamen, die zuvor jahrzehntelang<br />
einen großen Bogen um das westliche Ruhrgebiet gemacht<br />
hatten, war dies vor allem einem Mann zu verdanken: Als Erfinder<br />
und künstlerischer Leiter des Traumzeit-Festivals schuf<br />
Wilfried Schaus-Sahm eine Plattform, auf der Musiker von<br />
Weltrang in einem einzigartigen Industrie-Ambiente auftraten.<br />
Wie es ihm nach Anfängen als Mitglied eines kleinen Jazz-<br />
Vereins in einem Stadtteilkulturzentrum gelang, später Künstler<br />
wie Herbie Hancock, Juliette Gréco, Laurie Anderson oder Sonny<br />
Rollins (eine auch nur annähernd vollständige Liste würde jeden<br />
Rahmen sprengen) nach Duisburg auf das Gelände eines stillgelegten<br />
Stahlwerks zu bekommen, und was er mit ihnen erlebt hat,<br />
erzählt Schaus-Sahm nun in seinem Buch Grappellis Geigenkasten.<br />
Mal im Plauderton, mal mit eingestreuten Hintergrundinfos,<br />
reiht er Anekdoten aus über 30 Jahren als Konzertveranstalter<br />
und Festivalmacher aneinander. Bisweilen scheint er sich im<br />
Nachhinein selbst über die eigene Naivität, aber auch die gehörige<br />
Portion Chuzpe zu wundern, mit der er manches Projekt anging<br />
und vielleicht gerade deshalb am Ende Erfolg hatte.<br />
Es ist ein Rückblick auf eindrucksvolle Begegnungen, aber<br />
auch vereinzelte menschliche Enttäuschungen. Schaus-Sahm ermöglicht<br />
dem Leser nicht nur einen schlaglichtartigen Blick hinter<br />
die Kulissen großer Bühnen, sondern auch auf die Abläufe und<br />
Zwänge kommunaler Kulturpolitik, die er nach seinem Wechsel<br />
aus der freien Szene ins städtische Kulturamt kennenlernte.<br />
Auf knapp 200 Seiten, angereichert und aufgelockert mit<br />
zahlreichen Fotos der beschriebenen Konzerte, erfährt man<br />
Nähkästchen-Details über die Eigenheiten von Künstlern wie Van<br />
Morrison, der ein Hotelzimmer mit Spezialmatratze, aber ohne Minibar<br />
zur Bedingung für seine Zusage machte, und schüttelt den<br />
Kopf über den Tourmanager von Jan Garbarek, der eine Szene<br />
machte, weil beim Catering nicht die verlangte Mineralwassermarke<br />
auf dem Tisch stand. Immer wieder wird der große Respekt<br />
des Festivalmachers für Musiker deutlich, die ohne Allüren allein<br />
durch ihre Persönlichkeit und natürliche Autorität überzeugten.<br />
Er gewährt Einblicke in die Vorarbeiten und Umwege, die es<br />
bisweilen brauchte, um mit Auftragsarbeiten eigene Akzente zu<br />
setzen, und verschweigt auch nicht Pläne, die er aus verschiedensten<br />
Gründen nicht realisieren konnte, so z.B. ein ambitioniertes<br />
Tanztheaterstück über Miles Davis’ Jack Johnson-Album, für<br />
das John McLaughlin, Bill Laswell und Robert Wilson (als Regisseur)<br />
bereits ihr Mitwirken zugesagt hatten, dessen Finanzierung<br />
aber nach vielversprechenden Signalen bedauerlicherweise<br />
letztlich doch im NRW-Kultusministerium versandete. Was das<br />
hätte werden können!<br />
Wilfried Schaus-Sahm: Grappellis Geigenkasten <strong>–</strong> Konzertanekdoten.<br />
192 Seiten, Books on Demand, Norderstedt, 24,99 Euro<br />
Viele Alben, die in der Pandemie<br />
entstanden sind, haben eine<br />
melancholische bis düstere Stimmung.<br />
Erfrischend anders ist Christian Pabsts<br />
neues Album Balbec.<br />
Von Thomas Bugert<br />
Als sich vor über einem Jahr<br />
die Corona-Pandemie global<br />
ausbreitete und es mit dem<br />
Lockdown von heute auf<br />
morgen keine kulturellen Veranstaltungen<br />
mehr gab, veränderte<br />
sich auf einen Schlag<br />
auch das Leben der Künstler.<br />
Christian Pabst nutzte diese<br />
Zeit zum Lesen und widmete<br />
sich Marcel Prousts Auf der<br />
Suche nach der verlorenen<br />
Zeit. Auf über 4.000 Seiten<br />
schreibt der Ich-Erzähler über<br />
seine Kindheit zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts in einem<br />
Badeort in Frankreich.<br />
Alle in Prousts Roman<br />
beschriebenen Orte gibt<br />
es auch in der realen Welt,<br />
einzige Ausnahme ist der<br />
Badeort Balbec, der frei erfunden<br />
ist und damit in einer<br />
imaginären Welt liegt. „Ich<br />
denke, das Buch hat mich<br />
auch inspiriert, weil ich es in<br />
einem Moment gelesen habe,<br />
in dem die Zeit auf einmal<br />
komplett stillgestanden hat“,<br />
erzählt Christian Pabst über<br />
sein neues Album. „Vor der<br />
Pandemie war ich eigentlich<br />
im Dauerstress. Ich war die<br />
ganze Zeit nur am Arbeiten,<br />
Reisen und Spielen. Von heute<br />
auf morgen hat sich alles<br />
verändert. Vorher sind zwei<br />
bis drei Wochen wie im Flug<br />
vergangen. Auf einmal hat<br />
sich die Zeitspanne angefühlt<br />
wie drei Jahre. Ich denke, das<br />
Buch hat mich auch angesprochen,<br />
weil es viel darum<br />
geht, wie man Zeit empfindet.<br />
In dem Roman geht es um<br />
jemanden, der ein Buch<br />
schreiben will, aber nicht anfangen<br />
kann. Man folgt seinen<br />
ganzen Erfahrungen, und erst<br />
auf der allerletzten Seite hat<br />
er eine Offenbarung, in der er<br />
Vergangenheit, Zukunft und<br />
Gegenwart in einem Moment<br />
wahrnimmt. Das öffnet ihm<br />
die Augen und er versteht,<br />
was er machen muss. Das ist<br />
ein Teil, der mich sehr interessiert<br />
hat. Die sieben Stücke<br />
auf dem Album sind für mich<br />
sieben Sensationen in einem<br />
Moment. Die Titel des Albums<br />
sind eine Reise. Es beginnt<br />
mit ,Revelation‘ und führt dich<br />
über ,Snake‘ nach ,Balbec‘.<br />
Nach ,Snow‘ braut sich ein<br />
Sturm zusammen. ,Golden‘ ist<br />
für mich eine Assoziation mit<br />
der Sonne. Mit ,Flight‘ geht<br />
es dann weiter zur nächsten<br />
Reise oder CD.“<br />
Auch wenn sich Pabst<br />
einem real existierenden Roman<br />
widmet, wäre es falsch,<br />
die Musik als Programmmusik<br />
zu bezeichnen, die die<br />
literarische Vorlage musikalisch<br />
umsetzt. Der Roman ist<br />
vielmehr ein Ausgangspunkt,<br />
von dem aus sich Pabst aufgemacht<br />
hat. Der Groove des<br />
Titelsongs „Balbec“ würde<br />
demnach den Badeort auch<br />
nicht wie im Roman in der<br />
Normandie verorten, sondern<br />
in südlicheren Gefilden.<br />
Neben einer stark lyrisch<br />
ausgeprägten Seite in Pabsts<br />
Spiel zeichnen sich die Kompositionen<br />
durch Melodien<br />
und Grooves aus, die einen<br />
hohen Wiedererkennungswert<br />
haben und sich im Ohr<br />
festsetzen. „Melodisches<br />
Spiel ist mir sehr wichtig,<br />
auch in der Improvisation. Ich<br />
finde es immer interessant,<br />
wenn eine Komposition improvisiert<br />
klingt und Improvisationen<br />
komponiert. Ich finde<br />
es spannend, diese beiden<br />
Welten miteinander zu vermischen<br />
und den Aspekt des<br />
Geschichtenerzählens, der in<br />
der Komposition enthalten ist,<br />
in der Improvisation weiterzuführen“,<br />
erzählt Pabst.<br />
Um die Aspekte des Storytellings<br />
und der verwischten<br />
Grenzen in einem Trio<br />
umsetzen zu können, bedarf<br />
es der entsprechenden Mitmusiker.<br />
Mit André Nendza an<br />
Kontra- und E-Bass sowie Erik<br />
Kooger am Schlagzeug hat<br />
14 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
CHRISTIAN PABST<br />
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />
© Patrycja Rozwora<br />
Pabst die Musiker gefunden,<br />
mit denen er dieses Konzept<br />
umsetzen kann. „Ich sage<br />
ihnen oft auch meine Assoziationen<br />
oder Bilder“, erzählt<br />
Pabst. „Meistens ist es so,<br />
dass ich eine Idee liefere und<br />
wir sie dann im Zusammenspiel<br />
weiterentwickeln. Gerade<br />
in einer kleinen Besetzung wie<br />
dem Klaviertrio ist die Balance<br />
zwischen Komposition und Improvisation<br />
sehr wichtig. Was<br />
schreibt man auf <strong>–</strong> und was<br />
schreibt man gerade nicht auf.<br />
Für mich ist es sehr wichtig,<br />
dass die intuitive Verbindung<br />
zu einer Idee da ist. Ich finde<br />
das wichtiger als die Töne, die<br />
gespielt werden. Die anderen<br />
beiden müssen auch in dieser<br />
Welt sein. Da sie offen sind für<br />
die inspirative Arbeit und die<br />
Frage nach der Welt, die wir<br />
hier kreieren wollen, macht es<br />
mir unfassbar Spaß, mit ihnen<br />
zu arbeiten.“<br />
Intuition ist für Pabst auch<br />
beim Komponieren das Wichtigste:<br />
„Für mich ist Komponieren<br />
auch immer ein harter<br />
Prozess. Wenn mich eine Idee<br />
selbst nicht berührt, finde ich<br />
es auch langweilig, mich damit<br />
auseinanderzusetzen. Wenn<br />
ich eine Idee habe, von der<br />
ich das Gefühl habe, dass in<br />
ihr Bedeutung ist und sie mir<br />
etwas sagt, dann schreibe<br />
ich sie nie auf. Wenn ich mich<br />
dann einen Tag später noch<br />
erinnere, dann habe ich das<br />
Gefühl, dass da etwas ist, mit<br />
dem man arbeiten kann. Man<br />
muss auch den Mut haben,<br />
Sachen wegzuwerfen“, erklärt<br />
Pabst seinen Kompositionsansatz<br />
für Balbec. Man kann<br />
das Album als direkte Weiterführung<br />
seines vorigen Albums<br />
Inner Voice hören und verstehen.<br />
So resümiert Pabst: „Die<br />
beiden CDs hängen zusammen.<br />
Balbec ist die extrovertierte<br />
Variante von Inner Voice. Ich<br />
wollte kein düsteres Pandemieprojekt<br />
machen. Vielmehr<br />
will ich eine hoffnungsvollere<br />
Botschaft verbreiten. Die<br />
Musik soll Leuten Optimismus<br />
geben.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Christian Pabst: Balbec<br />
(Jazzsick Records / Membran)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 15
ISFAR<br />
SARABSKI<br />
Auf<br />
Rachmaninoffs<br />
Spuren<br />
© Peter Hönnemann<br />
16<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Tradition und Moderne <strong>–</strong> beides hat in der Musik von Isfar Sarabski einen festen Platz.<br />
Hier das fast schon als klassisch zu bezeichnende harmonische und melodische Konzept<br />
eines ausgebildeten Konzertpianisten, dort die rhythmischen Freiheiten eines Jazzers, der<br />
sein Erbe nur zu gerne in die Zukunft integriert. Vor etwa zehn Jahren hat der charmante<br />
Mann aus Aserbaidschans Hauptstadt Baku damit begonnen, die Bühnen dieser Welt zu<br />
erobern. Jetzt hat er endlich sein atemberaubend schönes Debütalbum Planet veröffentlicht.<br />
Von Thomas Kölsch<br />
Fast schon melancholisch klingen<br />
die Akkorde, verträumt und<br />
romantisch-sakral wie ein Gebet<br />
in Moll. Dann auf einmal Arpeggios,<br />
perlend und treibend, die<br />
Melodie zum Strom anschwellen<br />
lassend. Könnte Rachmaninoff<br />
sein. Ist aber Sarabski. Der<br />
31-Jährige, der nach mehreren<br />
Aufnahmen mit Rain Sultanov<br />
jetzt mit Planet sein erstes eigenes<br />
Album vorlegt, ist von dieser<br />
Verwirrung nicht enttäuscht.<br />
Ganz im Gegenteil, er ist stolz auf<br />
den Vergleich zwischen der Solo-<br />
Aufnahme seines Titelstücks<br />
und dem Werk des russischen<br />
Komponisten. „Ich liebe klassische<br />
Musik, vor allem die von<br />
Rachmaninoff“, sagt er. „Was er<br />
an Klaviermusik geschrieben hat,<br />
ist in meinen Augen pure Magie.“<br />
Und die webt nun auch Sarabski.<br />
Immer wieder taucht er in das romantische<br />
Erbe ein, bedient sich<br />
der entsprechenden Tonsprache,<br />
nur um sie in mehreren seiner<br />
Stücke im nächsten Moment an<br />
einen Jazz irgendwo zwischen<br />
dem Esbjörn Svensson Trio und<br />
Brad Mehldau zu überführen.<br />
„Meiner Meinung nach kennt<br />
Musik keine Grenzen. Alles ist<br />
möglich, solange die Menschen<br />
dadurch berührt werden.“<br />
Diese Einstellung ist Sarabski<br />
quasi in die Wiege gelegt worden.<br />
„Mein Vater ist ein großer<br />
Musikliebhaber, der sowohl Jazz,<br />
Rock, Soul und Funk als auch<br />
Klassik schätzt und eine beträchtliche<br />
Plattensammlung besitzt.<br />
Mit ihr bin ich aufgewachsen.<br />
Ich kann mich noch gut daran<br />
erinnern, wie ich zum ersten<br />
Mal Dizzy Gillespie hörte, oder<br />
auch Bach oder Chopin. Schon<br />
damals wollte ich herausfinden,<br />
wie diese Musik Bilder in meinem<br />
Kopf entstehen lassen konnte.“<br />
Unterstützt wurde er dabei von<br />
seiner Mutter, einer Geigenlehrerin,<br />
<strong>–</strong> und von den Geschichten<br />
über seinen Urgroßvater Huseyngulu<br />
Sarabski, einen berühmten<br />
Opernsänger, Schauspieler und<br />
Theaterautor, der 1908 die Hauptrolle<br />
in der ersten orientalischen<br />
Oper der Welt übernahm (Uzeyir<br />
Hajibeyovs Leyli and Majnun) und<br />
seitdem zu den Gründer vätern<br />
des Genres gezählt wird. Ihm zu<br />
Ehren hat der 31-Jährige bei dem<br />
epischen „The Edge“ auch die<br />
Tar mit einbezogen, ein Saiteninstrument<br />
aus seiner Heimat. „Mein<br />
Großvater hat die Tar gespielt“,<br />
erklärt Sarabski, „und durch ihren<br />
einzigartigen Klang bringt sie<br />
eine neue Qualität in die Musik.<br />
Außerdem sind Traditionen wichtig,<br />
denn auf ihnen fußt ein jeder<br />
Mensch, ob er sie nun ablehnt<br />
oder auslebt. Sie zu respektieren,<br />
ist daher ein Zeichen des<br />
Respekts.“<br />
Gleichzeitig scheut Sarab ski<br />
sich nicht, das Althergebrachte<br />
neu zu interpretieren: Zwischen<br />
den acht Eigenkompositionen<br />
(„Planet“ liegt sowohl als<br />
Soloaufnahme als auch in einer<br />
furiosen Triofassung vor) findet<br />
sich eine rasante Version von<br />
Tschaikowskis Schwanensee-<br />
Thema, an der auch Jacques<br />
Loussier seine Freude gehabt hätte.<br />
„Ich mag dieses Ballett sehr“,<br />
bekennt Sarabski, „aber ich<br />
wollte einmal sehen, wie die Musik<br />
mit einem Jazz-Feeling wirkt.<br />
Die Idee für das Arrangement ist<br />
letztlich die logische Folge meiner<br />
fortwährenden Suche nach den<br />
Parallelen zwischen moderner<br />
und klassischer Musik.“<br />
Eine Suche, auf der ihn<br />
Drummer Alexander Mashin und<br />
Bassist Makar Novikov kongenial<br />
unterstützen. „Ich bin sehr froh,<br />
dass die beiden in den vergangenen<br />
zehn Jahren diesen Weg mit<br />
mir gegangen sind“, so Sarabski.<br />
„Es war nicht immer leicht, weil<br />
ich meine Arbeit überaus kritisch<br />
betrachte und immer wieder<br />
etwas zu verbessern hatte.<br />
Gleichzeitig habe ich diese Zeit<br />
gebraucht, um Erfahrungen zu<br />
sammeln und meine Melodien<br />
sowie meine Vorstellungskraft zu<br />
schärfen. Jetzt bin ich wirklich<br />
sehr zufrieden mit dem Ergebnis.“<br />
Das kann sich hören lassen.<br />
Obwohl Planet wie ein Album<br />
aus einem Guss erscheint, gibt<br />
es doch an jeder Ecke etwas zu<br />
entdecken: arabische Skalen<br />
zwischen europäischem<br />
Bar-Jazz bei „Novruz“, funkige<br />
Grooves bei „G-Man“, ein<br />
starkes Bass-Solo in der Ballade<br />
„Limping Stranger“, ein paar<br />
Spritzer Hollywood-Sinfonik im<br />
Opener „Déjà-vu“ <strong>–</strong> und immer<br />
wieder das virtuose jubilierende<br />
Spiel von Isfar Sarabski, dem<br />
man sich einfach nicht entziehen<br />
kann. Und Sarabski plant<br />
bereits den nächsten Schritt.<br />
Die Zwangspause durch die<br />
Pandemie habe er genutzt, um<br />
sich mit elektronischer Musik<br />
zu beschäftigen, sagt er. „Ich<br />
mag diese Sounds total gerne,<br />
verstehe sie allerdings noch<br />
nicht komplett“, schränkt er<br />
ein. „Nichtsdestotrotz arbeite<br />
ich gerade an einem Album,<br />
das Electronica, Jazz und auch<br />
Klassik miteinander verbindet.“<br />
Außerdem hofft er natürlich, bald<br />
wieder live auftreten zu können.<br />
„Es ist schön, im Studio zu sitzen<br />
und die eigenen Kompositionen<br />
so lange einzuspielen, bis sie so<br />
klingen, wie ich sie mir vorgestellt<br />
habe“, erklärt er. „Aber erst<br />
durch die Energie des Publikums<br />
werden sie vollkommen.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Isfar Sarabski: Planet (Warner)
LÜCKER<br />
SCHICKENTANZ<br />
Blind Date mit Folgen<br />
Ich atme, also bin ich. Blechbläser dürften<br />
den Satz, ohne zu zögern, unterschreiben.<br />
Die Atmung ist nicht nur wichtig für die<br />
Sauerstoffzufuhr, sondern auch Stilmittel<br />
zum Erzeugen von Klängen, Melodien<br />
und Geräuschen. Der Posaunist Andreas<br />
Schickentanz hat sich mit der Materie intensiv<br />
auseinandergesetzt und die Erkenntnisse<br />
auf seine Musik übertragen. Seine mit dem<br />
Schlagzeuger Björn Lücker eingespielte Duo-<br />
CD Suspicion About the Hidden Realities<br />
of Sound widmet sich der Frage: Wie<br />
entstehen Klänge und welche bewussten und<br />
unbewussten Entscheidungen stehen dahinter?<br />
Von Holger Pauler<br />
Der Name der CD, verrät Schickentanz,<br />
geht auf ein Buch von<br />
Robert Boyles zurück: Suspicion<br />
About the Hidden Realities of<br />
Sound. Darin hat dieser unter<br />
anderem die Eigenschaften<br />
von Gasen und Luft erforscht.<br />
„Mehr als einmal hatte ich<br />
den Verdacht, dass Luft ein<br />
paar versteckte Qualitäten<br />
oder Kräfte hat, denn Luft ist<br />
nicht, wie viele glauben, eine<br />
einfache elementare Substanz,<br />
sondern eine wilde Mischung“,<br />
heißt es dort. „Ich fand die Idee<br />
interessant und habe sofort<br />
Parallelen zu unserer Musik<br />
entdeckt“, sagt Schickentanz.<br />
Letztlich gehe es nicht nur<br />
darum, Klänge zu entwickeln,<br />
sondern auch darum, sie zu<br />
entschlüsseln.<br />
Ein Motto lautet dabei:<br />
Reduktion statt Überfrachtung.<br />
Flächendeckende Ambient-<br />
Sounds überwiegen, nur selten<br />
unterbrochen von ekstatischen<br />
Momenten. Das Schlagzeug<br />
wird zwischendurch zum<br />
Schlagwerk, es rauscht und<br />
quietscht, Klänge werden<br />
verstärkt und verzerrt. Bandmaschinen<br />
kommen ebenso zum<br />
Einsatz wie elektronische Hilfsmittel.<br />
Loops und Phaser laden<br />
dazu ein, sich zurückzulehnen.<br />
Auch wenn die Stücke in der<br />
Form frei sind, unterscheidet<br />
sich das Duo erheblich von der<br />
klassischen freien Improvisation,<br />
da mehr die Suche nach<br />
Klängen im Vordergrund steht<br />
als die totale Auflösung von<br />
Strukturen. Da passt es ins<br />
Klangbild, dass Schickentanz<br />
den Trompeter Jon Hassell als<br />
Vorbild nennt, einen Pionier des<br />
Harmonizer-Sounds, der die<br />
Töne um vielschichtige Harmonien<br />
und Oktaven erweitert und<br />
verfremdet.<br />
Der erste Titel, „Forrest“,<br />
wird von Echos aus dem Off bestimmt,<br />
analoge Sounds wechseln<br />
sich mit elektronischen<br />
Verfremdungen ab, „Water“<br />
beginnt mit Geräuschen auf<br />
der Posaune, die klingen, als<br />
kämen sie vom Meeresgrund:<br />
Es tröpfelt und rauscht. „The<br />
Beast Under My Bed“ beginnt<br />
ebenfalls zurückhaltend leise,<br />
nimmt aber zwischendurch<br />
bedrohliche, fast paranoide<br />
Ausmaße an. Schweißperlen<br />
werden hörbar, Alien trifft auf<br />
Darth Vader <strong>–</strong> ehe es langsam<br />
ausfadet. „Weird Ostinatos“<br />
wird von einem kurzen viertaktigen<br />
Thema, fast einer Art Jingle,<br />
begleitet, um das sich die<br />
Musiker fast tänzelnd herumbewegen.<br />
„Es geht uns vor allem<br />
um Sounds und dynamische<br />
Strukturen“, sagt Schickentanz.<br />
Die Aufnahme wurde<br />
bereits am 6. Oktober 2019 im<br />
Hamburger Studio Milchkettenmusik<br />
produziert. Die Musiker<br />
trafen sich dazu eher zufällig,<br />
obwohl sie sich schon zwei<br />
Jahre kannten. Schickentanz<br />
wollte ursprünglich mit seinem<br />
Quartett in einem Hamburger<br />
Club auftreten, entschied<br />
sich aber aus Kostengründen<br />
dagegen. „Ich habe statt-<br />
© Babette Brandenburg<br />
18<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
dessen vorgeschlagen, solo<br />
aufzutreten, leider waren<br />
die Veranstalter davon nicht<br />
wirklich begeistert“, sagt der<br />
59-jährige Wahl-Kölner und<br />
lacht. Die Veranstalterin schlug<br />
schließlich vor, einen Doppel-<br />
Solo-Abend mit anschließender<br />
Begegnung zu organisieren,<br />
ohne den Namen von Björn<br />
Lücker zu erwähnen. „So sind<br />
wir dann unbekannterweise<br />
zusammengekommen“, sagt<br />
Schickentanz. Ein echtes Blinddate.<br />
Dabei half, dass beide<br />
bereits ein Soloprogramm (plus<br />
Solo-CDs) im Tornister hatten<br />
und in diesem Bewusstsein<br />
aufeinandertrafen.<br />
„Wir verstehen uns nicht<br />
nur musikalisch und persönlich<br />
sehr gut, sondern ziehen auch<br />
am gleichen Strang, was die<br />
unerlässliche Organisation<br />
und neue Ideen für die Band<br />
angeht“, sagt Lücker. Vorschläge<br />
und Visionen würden<br />
umgehend besprochen und<br />
in die Tat umgesetzt. Das sei<br />
seiner Erfahrung nach „nicht<br />
selbstverständlich“. Bei<br />
dem Studiotermin hätten<br />
sie sich schnell auf<br />
bestimmte Strukturen<br />
und Absprachen<br />
geeinigt.<br />
Und obwohl die<br />
Stücke nicht<br />
im klassischen<br />
Sinne notiert<br />
sind, kann man<br />
von Kompositionen<br />
sprechen. „Wenn wir uns jetzt<br />
zu Konzerten treffen, können<br />
wir auf Stücke zurückgreifen,<br />
die wir bereits gespielt haben.<br />
Wenn wir uns zum Beispiel auf<br />
,Forrest‘ oder ,Water‘ einigen,<br />
wissen wir, in welche Richtung<br />
es gehen soll.“<br />
Auf der Bandcamp-Seite<br />
von Andreas Schickentanz<br />
kann man das sehr gut anhand<br />
eines Live-Sets nachhören, das<br />
die beiden im Dezember 2019<br />
erneut im Hamburger Studio<br />
aufgenommen haben. Themen<br />
und Muster, die man von der<br />
CD kennt, tauchen dort wieder<br />
auf, wenn auch leicht modifiziert.<br />
Aber gerade das gehört<br />
schließlich dazu. „Studio und<br />
Live-Auftritte sollen sich ergänzen,<br />
nicht gleichen.“<br />
Neben seinen Solo-Experimenten<br />
unterhält Schickentanz<br />
ein eigenes Quintett. Außerdem<br />
ist er Mitglied im Cologne<br />
Contemporary Jazz Orchestra.<br />
Björn Lücker hat vor zehn Jahren<br />
das Björn Lücker Aquarian<br />
Jazz Ensemble ins Leben<br />
gerufen. Daneben widmet auch<br />
er sich dem Solo-Spiel und<br />
zahlreichen anderen Projekten<br />
vom Trio bis zu Großformationen.<br />
Unter anderem tourte er<br />
im Trio mit Florian Weber und<br />
dem 2020 verstorbenen Gary<br />
Peacock. Und obwohl beide<br />
Musiker vom Jazz kommen,<br />
mögen sie sich keiner Sparte<br />
zuordnen. „Es ist ein<br />
Angebot an ein offenes,<br />
neugieriges Publikum,<br />
das auf der Suche nach neuen<br />
Klängen und Formen ist“, sagt<br />
Schickentanz <strong>–</strong> und das zudem<br />
wissen will, aus welchen<br />
versteckten Kanälen diese<br />
Geräusche gekrochen kommen.<br />
Aktuelles Album:<br />
Lücker Schickentanz: Suspicion About<br />
the Hidden Realities of Sound<br />
(Float Music / Galileo)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 19
Titel<br />
20<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Harald Hoffmann<br />
TAMARA<br />
LUKASHEVA<br />
DIE ALLGEGENWÄRTIGE<br />
GLEICHUNG<br />
„Singet leise, leise, leise.“ Klingt nach einem Wiegenlied.<br />
Ist aber keines, die Sache ist komplizierter. Mit Wiegenliedern<br />
sollen Kinder in den Schlaf gesungen werden, aber hier<br />
erfährt man in der zweiten Strophe, dass Kinder schon<br />
längst schlummern. Allerdings nicht in ihrem Bettchen,<br />
sondern in einem Fluss. Eine gewisse Amaleya weint und<br />
wacht, und beim Anblick dieses doppelten „W“ in „weinen“<br />
und „wachen“ liegt der Gedanke an eine Wagner’sche<br />
Sprachfigur nicht ganz fern.<br />
Von Hans-Jürgen Linke<br />
„Singet leise“ ist pure deutsche Romantik:<br />
ein Gedicht von Clemens von Brentano. Es<br />
bezieht sich auf ein Märchen, in dem ein<br />
Müller, der Rhein und eine traurige Prinzessin<br />
Hauptrollen spielen. Tamara Lukasheva<br />
hat ein Lied daraus gemacht, das ihr<br />
Soloalbum Gleichung eröffnet. „Gleichung“,<br />
das sei, sagt sie, nicht unbedingt mathematisch<br />
gemeint, obwohl sie als Komponistin<br />
viele Berührungen zwischen Musik und<br />
Mathematik kennt. „Gleichung“ soll eher auf<br />
etwas Ausgeglichenes hindeuten, auf eine<br />
Balance, ein Gleichgewicht. Zum Beispiel in<br />
ihrer inneren Verfassung bei der Arbeit an<br />
diesem Album.<br />
Tamara Lukasheva begleitet sich auf<br />
ihrem Album selbst auf dem Klavier. Man<br />
sollte aber nicht den Fehler machen, nur das<br />
Klavier für ein Musikinstrument zu halten,<br />
das es zu beherrschen gilt, und die Stimme<br />
für etwas Gegebenes. Gegeben sind an<br />
der Gesangsstimme nur die organischen<br />
Voraussetzungen, also Stimmbänder, Lunge,<br />
die einschlägige Muskulatur, körperliche<br />
Resonanzräume. Das ist nicht mehr als das<br />
Material, aus dem Sängerinnen und Sänger<br />
ihr Musikinstrument selbst erfinden und<br />
entwickeln müssen. Sängerinnen und Sänger<br />
fügen also der schwer überschaubaren<br />
Menge an Musikinstrumenten noch eines<br />
hinzu, das körpernah und sehr individuell<br />
funktioniert. Das macht viel Arbeit und Mühe.<br />
Am Klavier arbeitet Tamara Lukasheva<br />
auf ihrem Album manchmal zurückhaltend<br />
wie eine klassische Klavierbegleiterin, die<br />
mit ökonomisch eingesetztem, dezentem<br />
Spiel der Gesangstimme den Auftritt inszeniert.<br />
Manchmal aber hört man vom Klavier<br />
auch verfremdete Klanggebungen, perkussive<br />
Phrasen, geräuschhafte Präparationen.<br />
Aber nichts davon breitet sich dominant aus,<br />
nichts davon wird zu einem bestimmenden<br />
Momentum des Albums. Keine Waagschale<br />
neigt sich, alles bleibt ausgeglichen und vielgestaltig.<br />
Eine allgegenwärtige Gleichung.<br />
Die Stimme artikuliert klar, mit weichem<br />
Timbre und oft in geradezu intimer Nähe zum<br />
Mikrofon und damit dem Hörer*innen-Ohr.<br />
Wenn die Artikulation stärker am klassischen<br />
Liedgesang orientiert wäre, dann<br />
würde man diese Lieder eher dem Genre<br />
des europäischen Kunstliedes zurechnen als<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 21
Titel<br />
einer bekannten Spielart des Jazz. Tamara<br />
Lukasheva aber singt ungekünstelt. Sie<br />
phrasiert oft auf markante Weise unklassisch<br />
und mit einer eher subtilen als dramatischen<br />
Dynamik. Manchmal fügt sie auch rhythmisch<br />
akzentuierte Scats in ihre Lieder. Da<br />
ist der Jazz ganz nah.<br />
Aber Gleichung ist dennoch in kaum<br />
einem herkömmlichen Sinn ein Jazzalbum.<br />
Die Lieder suchen und finden ganz und gar<br />
eigene Wege. „Wenn man von der Perspektive<br />
der Jazztradition ausgeht“, sagt<br />
Tamara Lukasheva, „bin ich schon lange<br />
keine Jazzsängerin mehr.“ Allerdings und<br />
andererseits ist der Jazz in den vergangenen<br />
Jahrzehnten stilistisch und idiomatisch<br />
enorm dehnbar und flexibel geworden. Er<br />
hat sich an vielen Orten der Welt von seiner<br />
afroamerikanischen Herkunft emanzipiert,<br />
hat sich mit Traditionslinien weit jenseits<br />
davon verbunden und aus sich heraus eine<br />
unabsehbare Vielfalt von individuellen Wegen<br />
und Variationen erzeugt. So ist der Jazz:<br />
Er überwindet Fremdheit, schafft Berührung<br />
und Austausch, wo zuvor Distanz war. Es<br />
spricht also wenig dagegen, dass Tamara<br />
Lukasheva auch mit und nach diesem Album<br />
weiterhin als Jazzsängerin gelten kann.<br />
Vom erfolgreichen Weglaufen<br />
Tamara Lukasheva ist in Odessa geboren,<br />
der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen<br />
Meer <strong>–</strong> also ziemlich weit entfernt von<br />
afroamerikanischen Weltgegenden. Und<br />
in Odessa ist sie in einer Musikerfamilie<br />
aufgewachsen. Na klar, kann man sich da<br />
zusammenreimen, die Weichen für eine Musikerinnenkarriere<br />
waren also früh gestellt:<br />
eine professionell erfahrene Sängerin im<br />
Jazzgewerbe. Dann begann sie, eigene Musik<br />
zu komponieren. Und damit wurde vieles<br />
anders. Das Komponieren und das Improvisieren<br />
schienen ihr verschiedene Quellen<br />
zu haben. Beim Komponieren, sagt sie, sei<br />
sie weniger vom Jazz beeinflusst als beim<br />
Singen. Eine größere Rolle spiele hier die Art<br />
von Musik, mit der sie aufgewachsen sei,<br />
also die weite Welt der sogenannten klassischen<br />
Musik. Was aber bei ihrem Komponieren<br />
herauskam, erregte in ihrer näheren<br />
Umgebung eher ablehnende Haltungen. Die<br />
Musikschule, an der sie arbeitete, aber auch<br />
die Eltern verfolgten andere Vorstellungen<br />
von Musik und vom Musikerinnen-Beruf und<br />
wollten das, was sich da entwickelte, nicht<br />
unbedingt unterstützen.<br />
Was nun? „Ich bin weggelaufen“, sagt<br />
Tamara Lukasheva. „Ich bin ein freiheitsliebender<br />
Mensch. Ich musste meine Familie<br />
und meine alte Umgebung verlassen und<br />
mich selbst auf die Probe stellen.“ Und:<br />
„Ich wollte an einem Ort leben, wo meine<br />
Art, Musik zu machen, akzeptiert wird.“ So<br />
zog Tamara Lukasheva mit gerade mal 22<br />
Jahren von Odessa nach Deutschland. Sie<br />
ließ sich, nach kurzer Suchbewegung durch<br />
einige Städte des Landes, in Köln nieder. Sie<br />
studierte Jazzgesang an der Hochschule für<br />
Musik und Tanz und begann, eigene Bands<br />
zu gründen und bei anderen Bands mitzuarbeiten.<br />
Sie war oder ist unter anderem<br />
eine der drei Kusimanten, leitet das Tamara<br />
Lukasheva Quartet, arbeitet mit der WDR<br />
Bigband, aber auch im Duo etwa mit dem<br />
Schlagzeuger Dominik Mahnig oder dem<br />
Trompeter Matthias Schriefl. Längst sind ihr<br />
Gesicht, ihre Stimme und ihre Musik in Köln<br />
wohlbekannter, fester und hoch geschätzter<br />
Teil der Musikszene, die sich zu einer vielsprachigen,<br />
bunten und ziemlich niveauvollen<br />
erweiterten Jazzszene entwickelt hat.<br />
Genre-Schranken spielen in der Kölner Szene<br />
eine immer geringere Rolle, freimütig setzt<br />
man sich über solcherlei Zuordnungs-Fragen<br />
hinweg und nimmt neue Ufer in den Blick.<br />
In dieser Umgebung ist Tamara Lukasheva<br />
als Komponistin, Pianistin und vor allem als<br />
Sängerin präsent.<br />
Für ihre Arbeit hat sie mittlerweile<br />
etliche renommierte Preise bekommen, etwa<br />
den Neuen Deutschen Jazzpreis (2017), das<br />
Kölner Horst-und-Gretl-Will-Stipendium<br />
(2018) und den WDR-Jazzpreis für Komposition<br />
(<strong>2021</strong>). Längst ist sie in Köln eingewöhnt<br />
und eingebürgert <strong>–</strong> künstlerisch, beruflich<br />
und auch sprachlich. Dass für eine Sängerin<br />
nicht nur die Musik, sondern auch die<br />
Sprache intensive Aufmerksamkeit braucht,<br />
ist für sie selbstverständlich.<br />
Keine bitteren Fragen<br />
Die Pandemie war in den vergangenen<br />
Monaten unvermeidbar ständiger Begleiter<br />
ihrer Arbeit. Anfangs schienen die Auswirkungen<br />
durchaus bedrohlich. „Ich konnte<br />
fast nichts mehr von dem machen, was ich<br />
machen wollte und wovon ich gelebt habe“,<br />
sagt Tamara Lukasheva. Damit meint sie<br />
vor allem: auf der Bühne stehen, Konzerte<br />
geben, sich anregen lassen und mit anderen<br />
Musikerinnen und Musikern zwanglos und<br />
produktiv zusammenarbeiten.<br />
Andererseits erschienen bald neue<br />
Perspektiven am Horizont. Die waren eng<br />
verbunden mit der Chance, sich auf sich<br />
selbst zu konzentrieren und mehr aus sich<br />
selbst zu schöpfen als aus der Interaktion mit<br />
anderen. Das habe ihr, sagt sie, eine neue<br />
Ausgeglichenheit ermöglicht. Vielleicht enthält<br />
der Text des Liedes „Der Schatten“ eine<br />
Art Schlüssel zu der inneren Haltung, die<br />
sich in der Isolation bewährt hat: „Nur nicht<br />
bittere Fragen tauschen / Antwort ist doch<br />
nur Meeresrauschen“, schreibt Theodor<br />
Fontane.<br />
Auf dem Album, sagt Tamara Lukasheva,<br />
ist nichts zu hören, was nicht ihrer<br />
eigenen Entscheidung und ihren eigenen<br />
Gestaltungsideen entspräche. Dass die<br />
deutsche Romantik mit Brentano und Novalis<br />
dabei eine tragende Rolle spielt; dass Texte<br />
ICH WOLLTE AN EINEM ORT<br />
LEBEN, WO MEINE ART, MUSIK<br />
ZU MACHEN, AKZEPTIERT WIRD.<br />
eine musikalische familiäre Umgebung, mit<br />
zwölf Jahren zum ersten Mal und ziemlich<br />
folgenreich mit Jazz in Berührung gekommen,<br />
Unterricht in Klavier und Gesang, dazu<br />
Jazzklavier und Jazzgesang, erst an der<br />
Musikfachschule in Odessa, dann Studium<br />
an der Musikhochschule Sergej Prokofjew in<br />
Donezk. Schon mit 17 ging sie mit der Odessa<br />
Bigband auf Tournee, in Russland und der<br />
Ukraine. Sie sang in kleineren Jazzformationen,<br />
bald auch im Duo mit dem mittlerweile<br />
recht prominenten und erfolgreichen Pianisten<br />
Vadim Neselovskyi <strong>–</strong> eine Zusammenarbeit,<br />
die nicht beendet ist und immer wieder<br />
aktuell werden kann.<br />
Mit Anfang 20 war Tamara Lukasheva in<br />
der Ukraine und im benachbarten Russland<br />
von Rainer Maria Rilke oder von der sozialistischen<br />
Frauenrechtlerin Clara Müller-<br />
Jahnke darin vorkommen, aber auch von der<br />
Mystikerin Hildegard von Bingen oder dem<br />
poetischen Preußen Theodor Fontane, zeigt<br />
einen weiten literarischen Horizont. Und<br />
die leichte Vorliebe für Texte der Romantik<br />
bedeutet keine Verengung auf diese Epoche.<br />
Tamara Lukasheva hat viel recherchiert<br />
und viel gelesen. „Ich habe Gedichte<br />
gesucht, bei denen ich das Gefühl hatte,<br />
sie sprechen mich an und ich kann mit den<br />
Texten arbeiten.“ Nach über einem Jahrzehnt<br />
in Deutschland sind solche intensiven<br />
Berührungen längst auch außerhalb ihrer<br />
Muttersprache möglich geworden. Wenn<br />
man genau hinhört <strong>–</strong> und ihre Musik verlangt<br />
22 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Taiisiya Chernishova<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 23
Titel<br />
geradezu danach, genau hinzuhören <strong>–</strong>, bleibt<br />
zuweilen ihr leichter, feiner Akzent nicht verborgen.<br />
Ihn zu verbergen, gehörte allerdings<br />
auch nicht zu ihren Absichten. Dass sie<br />
sich deutscher Lyrik aus der Position einer<br />
Fremden nähert, ist nun mal eine unleugbare<br />
Tatsache und prägt auch ihren Zugang zu<br />
den alten Texten. Ihre Musik ist stets mitgetragen<br />
von einem Impuls der Überwindung,<br />
nicht aber Leugnung von Fremdheit. Und<br />
es geht ja auch nicht nur um die Fremdheit<br />
der Zugereisten und die Fremdheit der spät<br />
gelernten Fremdsprache, sondern auch<br />
um Berührungen und Überschneidungen<br />
zwischen verschiedenen musikalischen<br />
Traditionslinien.<br />
Wenn und wie Tamara Lukasheva die<br />
deutsche Lyrik versteht und interpretiert, das<br />
ist immer auch Ergebnis einer Aneignung<br />
von unbekanntem Terrain. Immer noch stellt<br />
© Mary Kalugina<br />
ICH MUSSTE MICH<br />
SELBST AUF DIE PROBE<br />
STELLEN.<br />
sie sich dabei selbst auf die Probe. Und sie<br />
weiß, dass es bei lyrischen Texten nicht nur<br />
um ein semantisches Verständnis geht. Ihre<br />
Musik rührt an tiefer liegende Schichten,<br />
in denen Sprachen <strong>–</strong> Muttersprachen wie<br />
Fremdsprachen <strong>–</strong> wirken: Klang, Rhythmik,<br />
Melodik.<br />
Nur eins der vertonten Gedichte stammt<br />
nicht aus dem deutschen Sprachraum und<br />
von einer Autorin, die sie schon länger<br />
begleitet. Das ist die 2010 im Alter von nur<br />
17 Jahren verstorbene Asja Klimanova.<br />
Deren Gedicht „Alte Häuser“ war schon<br />
auf Lukashevas Album Homebridge (2019)<br />
enthalten und hat jetzt eine Neuaufnahme<br />
unter dem Titel „Neue alte Häuser“ erfahren.<br />
Asja Klimanova sei auch in ihrer Heimat nur<br />
in kleinen Zirkeln bekannt gewesen, sagt<br />
Tamara Lukasheva. Asjas Vater habe sich<br />
sehr um die Veröffentlichung der Texte seiner<br />
Tochter bemüht. Inzwischen ist er selbst<br />
gestorben. Im Lied „Neue alte Häuser“ klingt<br />
Tamara Lukashevas Gesang so lebendig und<br />
unmittelbar, wie er eigentlich nur in der Muttersprache<br />
klingen kann. Trotzdem lautet die<br />
Schlusszeile dieses Gedichts (in deutscher<br />
Übersetzung): „Es stellt sich heraus: Das bist<br />
nicht du.“<br />
Gleichung ist ein Album, das einen Blick<br />
zurück unternimmt, das Brücken, Annäherungsbewegungen<br />
und Übergänge zeigt<br />
und dabei manchmal in eine dunkle Tiefe<br />
gerät. Ihre Lieder gestalten Situationen der<br />
Selbstbefragung und Selbstvergewisserung.<br />
Die Interpretationen, die Tamara Lukasheva<br />
mit ihrer Stimme, ihren Kompositionen und<br />
ihrem Klavierspiel den Texten beigesellt,<br />
zielen nicht darauf, Erklärungen zu liefern<br />
und Eindeutigkeiten herzustellen. Sie lassen<br />
eher weite Resonanzräume entstehen. In denen<br />
herrscht ein oft fahles, manchmal aber<br />
plötzlich aufscheinendes, überhelles Licht.<br />
Wenn einige der vertonten Texte an religiös<br />
motivierte Fragen zu erinnern scheinen,<br />
nimmt sie das in Kauf. Schließlich hat auch<br />
ein Text der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard<br />
von Bingen ihren Platz in diesen Resonanzräumen<br />
gefunden. Er handelt von der<br />
Liebe und von, wie man heute sagen würde,<br />
der Raumzeit, und er muss nicht unbedingt<br />
etwas aussagen, was nach Erklärung einer<br />
aktuellen Situation klingt. Tamara Lukashevas<br />
Lieder entfalten vor allem Fragen und<br />
legen nicht unbedingt Antworten nahe.<br />
Dass am Ende des Albums mit dem<br />
Titel „Prelude Nr. 2“ ein Lied ohne Text steht,<br />
also ein nummeriertes Klavier-Vorspiel, hat<br />
nicht nur mit dem Impuls zu tun, genormte<br />
Verhältnisse umzukehren. Tamara Lukasheva<br />
gibt dem Präludium den Untertitel „Gewässer<br />
unter Erde. Poesie ohne Worte“. Der<br />
Resonanzraum ist gekrümmt.<br />
Singet leise, leise, leise.<br />
Aktuelles Album:<br />
Tamara Lukasheva: Gleichung<br />
(wismART / NRW)<br />
24 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
GEORG RUBY VILLAGE ZONE<br />
Mitsingen erwünscht<br />
Bei Konzerten frei improvisierter Musik sieht man oft versunkene,<br />
ernste Gesichter <strong>–</strong> vor allem, wo diese Spezialdisziplin heute weniger<br />
von ästhetischer Rebellion kündet, sondern eher eine Sache des<br />
Bildungsbürgertums ist. Georg Ruby, Improvisator, Komponist, Pianist<br />
und Pädagoge, hält von solchen Konnotationen überhaupt nichts, wenn<br />
es um Musik, um wache Kommunikation, um Freude an der Sache geht.<br />
Von Stefan Pieper<br />
Davon zeugt die neue CD<br />
seines Quartetts Village<br />
Zone. Unter dem Titel Saluti<br />
a Peppino wird frei gespielt<br />
und instant komponiert <strong>–</strong> auf<br />
höchstem Niveau, aber nicht<br />
ohne humorvolle Auswege.<br />
Einen davon markiert schon<br />
der Titel des Albums: Im Opener<br />
haben sich Georg Ruby (p),<br />
Stephan Goldbach (b), Daniel<br />
Weber (dr) und Sascha Ley<br />
(voc) gerade erst auf komplexe<br />
Klangdialoge eingeschworen<br />
<strong>–</strong> da öffnet sich ein Fenster<br />
zum „Saint Tropez Twist“ und<br />
der berühmte italienische Gassenhauer<br />
von Peppino di Capri<br />
lässt es so fröhlich rocken und<br />
krachen wie nie. Wohlgemerkt<br />
im Twist-Rhythmus. Wenn sich<br />
vier Menschen mit Emotionen,<br />
Fantasie und Erfahrungen gegenüberstehen,<br />
wollen sie ja<br />
auch ihr Innerstes herauskehren.<br />
Noch eine zweite Nummer<br />
des italienischen Schlagerund<br />
Folklore-Altmeisters<br />
bereichert das neue Album:<br />
„Le stelle d’oro“.<br />
„Ich bin mit diesen<br />
Stücken groß geworden<br />
und habe sie immer im Ohr<br />
gehabt“, verrät Georg Ruby<br />
den Hintergrund dieser überraschenden<br />
Einlagen. Dahinter<br />
verbirgt sich eine künstlerische<br />
Haltung, die sich über<br />
Schubladen hinwegsetzt und<br />
dem eigenen Erfahrungsschatz<br />
im Jazz Rechnung trägt. Die<br />
vier wollen ja auch eine mit<br />
ganzer Leidenschaft swingende<br />
Jazzband sein. Ruby<br />
verweist darauf, dass auch in<br />
der freien Impro-Szene sowas<br />
wie eine Jazzpolizei unterwegs<br />
ist: „Es gibt hier ungeschrie-<br />
26 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> oben: Georg Ruby, Stephan Goldbach; unten: Daniel Weber, Sascha Ley; alle Bilder © Jean Laffitau
ene Gesetze, dass du keinen<br />
Groove spielen und keine<br />
Akkorde benutzen darfst. Ich<br />
habe trotzdem Lust auf so was<br />
und breche mit der elitären<br />
Konvention, weil es mir wichtig<br />
ist. Wir machen ja auch Performance<br />
auf der Bühne dabei.<br />
Mit allem, was wir anpacken,<br />
wollen wir eine Geschichte<br />
produzieren und nicht beliebig<br />
sein.“<br />
Humor ist für die 13<br />
Stücke auf Saluti a Peppino<br />
das ideale Bindemittel: „Zu viel<br />
frei gewählter Ernst hat doch<br />
mit Qualität nichts zu tun.“<br />
Erfrischend wirken für Georg<br />
Ruby Auftrittserfahrungen über<br />
den Tellerrand der eigenen<br />
kulturellen Nische hinaus.<br />
Überraschenderweise habe er<br />
gerade bei Klassikkonzerten<br />
erlebt, dass sich das Publikum<br />
spontan öffne, weil eben nicht<br />
alles sofort in der Spezialistenschublade<br />
lande.<br />
Aus so viel künstlerischer<br />
Aufgeklärtheit entsteht auf<br />
Saluti a Peppino ein eigenwilliger<br />
Fluss, der sich auch so<br />
manche labyrinthische Wendung<br />
und Verbiegung leistet.<br />
Freie Klangdialoge leiten über<br />
zu individuell ausgeformten, ja<br />
rezitativischen Momenten. Und<br />
es faszinieren die Interaktionen<br />
zwischen Rubys mal kraftvoll<br />
geradeheraus gespieltem,<br />
dann feinsinnig präpariertem<br />
Klavier, dem filigranen Bassspiel<br />
und einer fantasievoll<br />
aufgeladenen Geräuschpoesie<br />
des Schlagzeugs. Vor allem<br />
der vokale Aspekt hat mächtig<br />
viel Ausstrahlung: Für vier<br />
Stücke verbindet Ruby sein<br />
Trio mit der luxemburgischen<br />
Sängerin Sascha Ley. Dass<br />
diese auch Schauspielerin ist,<br />
nimmt man ihr angesichts ihrer<br />
sprühenden Darstellungslust<br />
ohne Weiteres ab, gipfelnd in<br />
einer springlebendigen Interpretation<br />
von Michel Legrands<br />
„What Are You Doing the Rest<br />
of Your Life“.<br />
Als eine „spirituelle kommunikative<br />
Allianz“ bezeichnet<br />
Georg Ruby seine Band. „Ich<br />
brauche eine Kommunikation<br />
mit guten Musikern, die sich<br />
nicht unterordnen wollen, in<br />
einer Musik, die sie miteinander<br />
spielen und die nicht nur<br />
einer komponiert.“ Deswegen<br />
steht hinter den Titeln auch<br />
immer das Wort Instant Composing.<br />
Für Ruby ist es die Lust<br />
an der Kommunikation, und er<br />
sieht hier noch viel Wachstumspotenzial.<br />
„Ich möchte, dass<br />
wir künftig auch in Konzerten<br />
diesen Prozess noch weiter<br />
verstärken, wo wir von einer<br />
Stimmung in die andere fließen<br />
und wo dann auch ganz spontan<br />
ein Song herauskommen<br />
soll.“<br />
Mit sieben Jahren hat<br />
Georg Ruby seinen ersten<br />
Schallplattenspieler geschenkt<br />
bekommen. Besagte Stücke<br />
von Peppino di Capri waren<br />
auf der ersten Single, derer<br />
er habhaft wurde. Die Platte<br />
PDF in 4c<br />
aus der Kindheit war auch ein<br />
Schlüssel zu Italien. „Wenn du<br />
in Italien bist und sagst, dass<br />
du Peppino di Capri kennst,<br />
fallen dir alle sofort um den<br />
Hals“, bricht Ruby eine Lanze<br />
für musikalische Überlieferungskultur,<br />
die im deutschen<br />
Kulturraum etwas verschüttet<br />
wirkt.<br />
Das künstlerische Koordinatensystem<br />
von Georg Ruby<br />
ist weitläufig. Kein Wunder<br />
bei jemandem, der, von seinen<br />
zahllosen internationalen<br />
Kollaborationen abgesehen,<br />
die Kölner Jazzhaus-Initiative<br />
mitbegründet hat, ein Label<br />
pflegt und bis zum vergangenen<br />
Jahr die Jazzabteilung an<br />
der Musikhochschule Saarbrücken<br />
geleitet hat. Hier wie dort<br />
macht er immer wieder eine<br />
etwas bedenkliche Beobachtung,<br />
die irgendwo auch<br />
typisch deutsch anmutet: „Wenige<br />
Menschen hierzulande<br />
trauen sich zu singen.“ Das sei<br />
in Italien anders. Und so möchte<br />
Village Zone auf seinem<br />
neuen Album in ausgesuchten<br />
Momenten mit einer Portion<br />
gesundem italienischen Geist<br />
gegensteuern: „Ich freue mich,<br />
dass es in unserer Band keine<br />
Berührungsängste gibt.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Georg Ruby Village Zone: Saluti a Peppino<br />
(JazzHausMusik / Galileo)
Kolumne<br />
ime<br />
unnel<br />
Der Berliner Schlagzeuger Tilo Weber ist<br />
fasziniert von sehr alter Musik. So führt er<br />
seine Band Four Fauns nun zurück bis in die<br />
Renaissance. Heraus kommt ein Album mit<br />
sehr gegenwärtiger Musik.<br />
Der Leiter der Jazz-Spezialeinheit<br />
Im Zweiten Weltkrieg herrschte an den verschiedensten Fronten<br />
ein erbitterter Krieg. Eine dieser Fronten war die öffentliche Meinung.<br />
Propagandaminister Goebbels hatte erkannt, wie wichtig<br />
die Medien und die Künste an dieser Front sind. Neben Filmen<br />
war das Radio als noch relativ neues Medium besonders interessant,<br />
da man damit über die Fronten hinweg weit ins Feindesland<br />
seine Propaganda verbreiten konnte. Neben Wortbeiträgen<br />
spielte bei diesem Feldzug auch die Musik eine wichtige Rolle.<br />
Wie so oft heiligte auch hierbei der Zweck die Mittel. Da der<br />
Jazz die angesagte Musik der Zeit war, war er, trotz öffentlicher<br />
Ablehnung, auch für die Propagandasendungen interessant. Zu<br />
bekannten US-amerikanischen Titeln wurden neue englische<br />
Propagandatexte verfasst und mit musikalischer Begleitung<br />
hinter die Fronten gesendet. Die Band, die dieses Konzept<br />
umsetzte, nannte sich nach dem Außenministeriumsmitarbeiter<br />
Karl Schwedler Charlie and His Orchestra.<br />
Die Musiker, die die Titel einspielten, zählten zu den besten<br />
Studiomusikern, die verfügbar waren. Für den Propagandasieg<br />
war musikalisches Können wichtiger als alles andere. So spielten<br />
in der Band auch einige Musiker, die ansonsten in Konzentrationslagern<br />
gelandet wären. Der musikalische Leiter dieser Jazz-<br />
Spezialeinheit war der am 18. <strong>Juni</strong> 1901 geborene Lutz Templin.<br />
Hochoffiziell hatte er die Genehmigung, Feindsender abzuhören,<br />
um über die aktuellen Hits informiert zu sein und diese herausschreiben<br />
und arrangieren zu können. Zwischen 1940 und 1943<br />
nahm die Band über 100 Titel auf, die natürlich in Deutschland<br />
weder erhältlich noch zu hören waren. Die aufgenommenen<br />
Platten waren ausschließlich dafür bestimmt, an Radiostationen<br />
verteilt zu werden. Als die Bombardierung Berlins zunahm,<br />
siedelte Lutz Templin mit seinem Orchester nach Stuttgart um, wo<br />
er auch nach dem Krieg blieb und unter anderem kurzzeitig Leiter<br />
des Tanzorchesters des Süddeutschen Rundfunks war.<br />
Thomas Bugert<br />
Von Jan Kobrzinowski<br />
Eine Comic-Figur, die irgendwie<br />
an den Kleinen Prinzen erinnert,<br />
betrachtet mit dem Fernrohr das<br />
Geschehen auf dem Planeten:<br />
Knappheit der Ressourcen, Massenmigration,<br />
Waffenhandel,<br />
Ungleichheit. Gummibärchen<br />
und Kinderschuhe in Bewegung,<br />
Spielzeuge und Gießkannen.<br />
Zum YouTube-Video erklingt Tilo<br />
Webers Komposition „Canon<br />
Couperin“, die er François Couperin<br />
(1668-1733) gewidmet hat,<br />
einem der jüngeren unter den<br />
hier vertretenen alten Komponisten.<br />
Nun ist Tilo Webers<br />
Herangehen an Alte Musik alles<br />
andere als naiv. Der Opener<br />
„Se la mia morte brami“, ein<br />
Stück des italienischen Fürsten,<br />
Renaissance-Komponisten und<br />
Finsterlings Carlo Gesualdo,<br />
weist die Richtung für das<br />
ganze Album: „Musik, die ich<br />
sehr mag und für immer noch<br />
sehr modern und frisch halte,<br />
komplett durch die Mangel zu<br />
drehen. Hier habe ich ca. 20<br />
Takte des Stücks übernommen,<br />
ansonsten eine Basslinie in die<br />
Melodie gesetzt, die Gegenstimme<br />
in diese eingepasst, Dinge<br />
umgedreht und vertauscht.“ Er<br />
sei kein Experte in Alter Musik:<br />
„Das wäre maßlos übertrieben.<br />
© Oliver Potratz<br />
Claudio Puntin, der Klarinettist,<br />
ist bei uns der einzige lupenreine<br />
Klassiker.“ Tilo Weber selbst<br />
mischt bei ziemlich vielen sehr<br />
verschiedenen Projekten mit,<br />
bei den Trios von Clara Haberkamp<br />
und David Friedman, der<br />
Sängerin Magdalena Ganter,<br />
bei Otis Sandsjös Y-Otis <strong>–</strong> und<br />
er trommelt für das Berliner<br />
Ensemble, z.B. in Benjamin von<br />
Stuckrad-Barres Panikherz.<br />
Auf Faun Renaissance<br />
gibt es keinen Anspruch von<br />
totaler Freiheit im Umgang,<br />
sondern eher den von der<br />
Lust angespornten Drang zur<br />
Auseinandersetzung mit dem<br />
alten Material. „Erschreckend<br />
zeitgenössisch“ nennt Weber<br />
die Alte Musik, denn heute<br />
werde so viel Musik gemacht,<br />
die viel altmodischer klinge.<br />
Die Anfangsmelodie<br />
von „Kyrie V“ geht auf einen<br />
gregorianischen Choral zurück.<br />
Beim Transkribieren hatte Tilo<br />
Weber ein Swingfeeling im Ohr<br />
und fragte sich, „wie das wohl<br />
klingen würde, wenn wir das wie<br />
einen Jazzstandard spielten.“ In<br />
der Video-Animation von Andreas<br />
Metzler (YouTube) fliegen<br />
die Musiker dann als Mönche<br />
absurd-psychedelisch durch den<br />
Weltraum. Und die Taube (der<br />
Heilige Geist), die Papst Gregor<br />
die Choralmelodien direkt ins<br />
28<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
TILO WEBER Aus Alt mach Neu<br />
© Annika Weinthal<br />
Ohr zwitschert, ist der Hinweis<br />
auf die Entstehungsgeschichte<br />
der Gregorianik.<br />
In Johannes Ockeghems<br />
„O Rosa Bella“ bewegen sich<br />
anfangs nur zwei Stimmen, dann<br />
löst sich erst die Klarinette in<br />
den freien Raum, es übernimmt<br />
die Trompete, und wenn dann<br />
im dritten Teil der Bass mit der<br />
von Weber dazu geschriebenen<br />
Linie einsetzt, hört man das<br />
anfängliche Thema, wenn auch<br />
„komplett auf den Kopf gestellt“.<br />
Alles wird vom feinen, melodischen<br />
Schlagzeug umspielt. Hier<br />
passiert nicht das hergebrachte<br />
„Jazz meets Klassik“, es wird<br />
nicht einfach über klassische<br />
Kadenzen improvisiert, es<br />
entsteht etwas Neues, schwer<br />
zu Klassifizierendes. Die älteste<br />
Komposition des Albums, „Ma<br />
fin est mon commencement“,<br />
ein dreistimmiges Vokalstück<br />
von Guillaume de Machaut<br />
(1<strong>300</strong>-1377), „verjazzen“ die<br />
Fauns zwar quasi, vom Two-Beat<br />
bis zum fugenhaften Swing. An<br />
der Struktur des Originals wurde<br />
hier kaum etwas verändert. Hier<br />
ging es Weber darum, an diesem<br />
Paradebeispiel für Konzeptmusik<br />
mit rückwärts gesungenen, gegenläufigen<br />
Cantus-Linien vorzuführen,<br />
„dass, man aus einer<br />
Stimme alle anderen Stimmen<br />
generieren kann, indem man sie<br />
spiegelt und vertauscht.“ Der<br />
Witz ist, dass man das nicht unbedingt<br />
merkt, denn alles klingt<br />
am Ende sehr homogen.<br />
Wie kommt nun ausgerechnet<br />
ein Schlagzeuger auf solche<br />
Ideen? „Schon vor einigen Jahren<br />
habe ich Lust bekommen, zu<br />
komponieren und mehr zu sein<br />
als ‚einfach nur Schlagzeuger‘.<br />
Mein Spiel selbst veränderte<br />
sich durch das Komponieren.<br />
Es hat mich komplementiert.<br />
Es kann sein, dass es ungewöhnlich<br />
ist, dass ich nun die<br />
Renaissance-Musik hergenommen<br />
habe, aber ich mag diese<br />
Musik einfach.“ Dem getupften,<br />
perkussiven, eher zurückhaltenden<br />
Spiel, für das Weber<br />
inzwischen bekannt ist, liegt eine<br />
bewusste Entscheidung nicht<br />
nur zur Zurückhaltung zugrunde.<br />
„Ich will auch, dass diese Band<br />
akustisch, unverstärkt spielt.<br />
Auch in anderen Bands möchte<br />
ich gerade so laut spielen, dass<br />
ihr weicher, warmer Klang zum<br />
Ausdruck kommt. Als Schlagzeuger<br />
bist du in der besonderen<br />
Verantwortung, die Lautstärke<br />
und auch den Klang richtig zu<br />
handeln.“<br />
Tilo Weber hört sich<br />
Interpretationen der Originale<br />
der alten Stücke an und arbeitet<br />
dann an Klavier und Kontrabass<br />
seine Ideen aus. „Ich schreibe<br />
immer mit einem Sound im Kopf,<br />
nie abstrakt nur mit Blick auf die<br />
Noten.“ Dabei nimmt er schon<br />
genau vorweg, wie seine Kollegen<br />
Richard Koch (tp), Claudio<br />
Puntin (cl, b-cl) und James<br />
Banner (b) diese persönlich artikulieren<br />
würden. Einfühlsamkeit,<br />
Erfahrung und ihre unterschiedlichen<br />
Backgrounds machen<br />
die Mitglieder des Quartetts zu<br />
einem echten Ensemble, das<br />
sich hervorragend ergänzt.<br />
Am Schluss bleibt das Kyrie<br />
zu Palestrinas Missa Papae<br />
Marcelli in seiner Struktur fast<br />
unverändert. Weber, der auch<br />
klassische Komposition studiert<br />
hat, reizte es, die perfekte<br />
diatonische Stimmführung des<br />
Stückes zu erhalten. „Hier gab<br />
es lediglich fünf Stimmen auf<br />
drei zu verteilen. Wenn es schon<br />
so großartige pure Musik gibt,<br />
sollte man sie auch einfach<br />
spielen.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Tilo Weber & Four Fauns:<br />
Faun Renaissance<br />
(LP und digital: Malletmuse Records)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 29
MAREILLE MERCK<br />
Flug über die Saiten<br />
Von Doris Schumacher<br />
Larus <strong>–</strong> der Name des Trios verweist auf die<br />
Silbermöwe (Larus argentatus) und ist eine<br />
Reminiszenz an Mareille Mercks Heimat<br />
Rügen. Mittlerweile lebt die junge E-Gitarristin<br />
in Zürich und ist dabei, sich in der Schweizer<br />
Jazzszene einen Namen zu machen. Im März<br />
hat sie ihren Erstling Fadenschlag vorlegt.<br />
Fein vernähter Stoff, könnte man sagen <strong>–</strong> die<br />
Anspielung ans Textile zieht sich wie ein roter<br />
Faden durchs Album. Mareille Mercks Stärke<br />
ist die Durchlässigkeit ihres Spiels. Schon<br />
durch die Trio-Besetzung ist musikalische<br />
Transparenz sozusagen Programm. Zudem<br />
versteckt sie sich nicht hinter schnellen Riffs,<br />
lauten Effekten oder virtuosen Läufen. Die<br />
Musik kommt aus der Stille und spinnt um eingängige<br />
Melodien herum ihr Netz. Gleichzeitig<br />
versteht Merck es, komplexe rhythmische<br />
Strukturen und überraschende Akkordfolgen<br />
zu einem großen Ganzen zu verweben.<br />
Die Hörbarkeit stehe dabei an erster<br />
Stelle, sagt sie: „Wenn dann nach einem<br />
Konzert jemand zu mir kommt und sagt: ,Ich<br />
höre ja eigentlich keinen Jazz, aber das hat<br />
Mareille Merck veröffentlicht das<br />
Debütalbum ihres Trios und zeigt, dass<br />
es ihr um mehr geht als um Technik.<br />
mir richtig gut gefallen‘ <strong>–</strong> dann ist das für mich<br />
eine Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu<br />
sein.“ Die Technik beherrscht sie zweifellos,<br />
aber anstatt sie voll auszuspielen, setzt sie sie<br />
lieber sinnvoll ein: „Ich habe unglaublich viel<br />
Zeit damit verbracht, theoretisches Wissen zu<br />
erlernen und umzusetzen. Dabei habe ich gemerkt,<br />
dass ich mich nicht darin verlieren will.<br />
Ich möchte nur das zum Klingen zu bringen,<br />
was ich wirklich meine, fühle und sagen will.<br />
Ich glaube, so hat man die besten Chancen,<br />
klare musikalische Aussagen zu finden, die für<br />
das Publikum verständlich sind.“<br />
Kennengelernt haben sich Mareille<br />
Merck, Florian Bolliger (b) und Janic Haller<br />
(dr) beim Studium in Luzern. Es habe nur eine<br />
Probe gebraucht, um herauszufinden, dass sie<br />
mit den beiden ein Trio bilden wollte, erzählt<br />
die Gitarristin. Genau wie sie legen die beiden<br />
den Fokus auf Zusammenspiel, Atmosphäre<br />
und Sound. „Jedes Instrument kann bei uns<br />
die verschiedensten Funktionen erfüllen. Wir<br />
befinden uns in einem musikalischen Raum<br />
und gestalten die Musik. Ich bringe quasi<br />
den Grundriss mit, aber das Haus bauen wir<br />
gemeinsam. Wir gestalten, arrangieren und<br />
entwickeln zusammen, wie ein Stück klingt<br />
oder wohin es führt.“<br />
Manche Motive in ihren Kompositionen<br />
verbindet Merck mit Bildern oder Situationen.<br />
Da ist zum Beispiel „Ouzo“. Eine sanft<br />
fließende, freundliche Melodie, der warme<br />
Sound der E-Gitarre. Kurz verdichtet sich<br />
das Geschehen, dann löst es sich mit hellen<br />
Klängen wieder auf. Sie erklärt: „Das Stück<br />
beschreibt das Gefühl, nach etwas zu viel<br />
Ouzo im griechischen Restaurant nach Hause<br />
zu laufen. Die Welt drum herum bewegt sich,<br />
alles ist etwas schwammig und verwischt.<br />
Das versuchen wir mit zerbrechlichen<br />
Harmonien und dehnbarem Time-Gefühl zu<br />
gestalten.“ Dabei ist ein jeder Ton bewusst<br />
gesetzt. Nichts routinemäßig runtergespielt,<br />
keine Effekte nur aus Verlegenheit eingesetzt.<br />
Stilistisch ist Mareille Merck durchaus<br />
vielseitig. So nutzt sie Spieltechniken aus dem<br />
klassischen Bereich ebenso wie aus Funk und<br />
natürlich Jazz. Wie sie überhaupt zur E-Gitarre<br />
gekommen ist? Schon in der Familie habe<br />
es viel Musik gegeben, erzählt sie. Seit dem<br />
Kindergarten hätten sie und ihre Schwestern<br />
Musikunterricht bekommen. In der Musikschule<br />
waren E-Piano und Keyboard die<br />
Instrumente der Wahl. Später in der Musikschulband<br />
immer wieder der heimliche Blick<br />
zur E-Gitarre. „Das war einfach das coolste<br />
Instrument, das ich mir vorstellen konnte.“<br />
Zu Hause spielten der Vater und die jüngere<br />
Schwester klassische Gitarre. Mareille brachte<br />
sich die Grundlagen selbst bei. „Zu meinem<br />
dreizehnten Geburtstag bekam ich meine<br />
erste E-Gitarre. Von da an habe ich zu Hause<br />
die Stücke der Band geübt. Irgendwann<br />
sollte ich die Melodie eines Songs auf dem<br />
Keyboard spielen, obwohl sie eigentlich für<br />
Gitarre gedacht war. Da habe ich meinen Mut<br />
zusammengenommen und gefragt, ob ich es<br />
auf der Gitarre probieren dürfte. Ab da durfte<br />
ich Lead-Gitarristin der Band sein.“<br />
Gitarrenunterricht folgte, u.a. bei Kalle<br />
Kalima in Berlin. Dann das Jazz-Studium.<br />
Das Debütalbum zu veröffentlichen, sei ein<br />
großer Schritt gewesen, sagt Mareille Merck.<br />
Auf die Zeit der Vorarbeit spielt auch der Titel<br />
des Albums an: Fadenschlag. Die gleichnamige<br />
Eröffnungsnummer sei das erste<br />
Stück gewesen, das das Trio gemeinsam<br />
ausprobiert hätte. Eine helle, klare Melodie,<br />
leicht gezupfte Passagen, kurze Momente<br />
der Verdichtung, dann ein Weitergleiten<br />
und Schweben. „In unserer Musik gibt es<br />
Momente, die sich anfühlen, als würden wir <strong>–</strong><br />
und mit uns die Hörerinnen und Hörer <strong>–</strong> über<br />
die verschiedenen Landschaften fliegen. Über<br />
weite Felder, dichte Wälder oder übers Meer<br />
durch den ein oder anderen Sturm. Ein Flug<br />
mit der Silbermöwe sozusagen.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Mareille Merck Larus: Fadenschlag<br />
(physisch: Mons Records / NRW Vertrieb;<br />
digital: The Orchard)<br />
30 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
GODEMANN<br />
BAUDER DUO<br />
Das Lächeln der alten Ladys<br />
Sechs Jahre haben sich der Gitarrist Massoud Godemann und<br />
der Bassist Gerd Bauder für ihr zweites Duoalbum Zeit gelassen.<br />
Beautiful Mind ist eine sehr persönliche Hommage an die 2020<br />
verstorbene Sängerin Regy Clasen.<br />
Von Harry Schmidt<br />
Wie lähmend die Pandemie<br />
im Bereich der Kultur generell<br />
wirkt, bedarf keiner weiteren<br />
Ausführung: Dieses Jahr voller<br />
Absagen und Ausfälle ist an<br />
niemandem spurlos vorübergegangen.<br />
Doch keine Regel ohne<br />
Ausnahme: Manches wurde<br />
auch beschleunigt, nahm inmitten<br />
des jäh hereingebrochenen<br />
Vakuums Fahrt auf. Das haben<br />
auch Massoud Godemann und<br />
Gerd Bauder erfahren: Zwar<br />
wurde der Plan, ihrem 2014 erschienenen<br />
Debüt Togetherness<br />
einen zweiten Longplayer folgen<br />
zu lassen, bereits vor geraumer<br />
Zeit gefasst, doch die Umsetzung<br />
des Vorhabens hätte unter<br />
normalen Umständen sicherlich<br />
noch etwas auf sich warten<br />
lassen, erklärt Godemann.<br />
Dass ihr Duoalbum Beautiful<br />
Mind nun bereits vorliegt,<br />
hat durchaus mit dem Lockdown<br />
zu tun: „Um die Zeit sinnvoll<br />
zu nutzen, haben wir das<br />
meiste im März und April vergangenen<br />
Jahres aufgenommen“,<br />
so Godemann. Nicht von<br />
32 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
ungefähr bildet das Titelstück<br />
den Auftakt zu diesem gleichermaßen<br />
hoffnungsfrohen<br />
wie innigen Album: Tatsächlich<br />
war „Beautiful Mind“ der erste<br />
Tune, den der 59-Jährige, aus<br />
dessen Feder sechs der acht<br />
Stücke stammen, für das neue<br />
Album geschrieben hat <strong>–</strong> um<br />
der im vergangenen März<br />
verstorbenen Regy Clasen zu<br />
gedenken. In der Hamburger<br />
Sängerin verlor Godemann<br />
eine enge Freundin: „Sie war<br />
nicht nur eine großartige Musikerin,<br />
Texterin und Denkerin,<br />
sondern auch ein fantastischer<br />
Mensch. Ein schöner Geist<br />
<strong>–</strong> deshalb der Titel.“ Um eine<br />
Würdigung über die Trauer hinaus<br />
sei es ihm gegangen, „in<br />
der Sprache, in der sie lebte,<br />
in der Musik“, sagt Godemann.<br />
Wie nah ihm das Thema geht,<br />
wird an dieser Stelle spürbar:<br />
„Ich muss immer aufpassen,<br />
dass es nicht ins Pathetische<br />
abgleitet <strong>–</strong> dann wäre es ja<br />
ein Ausnutzen ihres Seins.“<br />
Letztendlich sei Clasen aber<br />
der Atem der gesamten Platte<br />
gewidmet.<br />
Dass Bauder mit Godemann<br />
nicht nur im Duo spielt,<br />
sondern seit 20 Jahren auch<br />
als Bassist im Massoud Godemann<br />
Trio (MG3) mitwirkt, führt<br />
zu einer außergewöhnlichen<br />
Vertrautheit der musikalischen<br />
Kommunikation: „Unsere<br />
Hauptintention ist die Auflösung<br />
der Struktur von Solist<br />
und Begleitung. Wir versuchen<br />
gewissermaßen eine riesengroße<br />
Gitarre mit zehn Saiten<br />
zu werden“, beschreibt der<br />
in Hamburg aufgewachsene<br />
Sohn französisch-persischdeutscher<br />
Eltern den Ansatz<br />
des Duos. Wichtig sei, dass es<br />
„freen“ klinge <strong>–</strong> „etwas frecher<br />
als normal, aber nicht abwegig<br />
free“, ungefähr so lässt sich<br />
seine Wortschöpfung übersetzen.<br />
Auffällig ist die gesangliche<br />
Anlage der Stücke. Hörbar<br />
wird beides <strong>–</strong> Kantabilität<br />
und Interplay auf Augenhöhe<br />
<strong>–</strong> etwa in den intimen<br />
Dialogen ihrer Bossa-Jazz-<br />
Verschmelzung „Blue Boss“.<br />
Vom Hamburger Multikulti-<br />
Szeneviertel Sternschanze,<br />
Godemanns Lebensmittelpunkt,<br />
inspiriert ist „Kebop“. Den<br />
kompletten Rollentausch<br />
vollziehen sie mit „Blue in<br />
Green“, dem einzigen Cover.<br />
Der Kompositionsprozess sei<br />
bei ihm eine „Mischung aus<br />
Emotion, Inspiration und Kognition“,<br />
erklärt Godemann. Beim<br />
Überprüfen der Ausgangsidee<br />
spiele Gesang eine wichtige<br />
Rolle: „Meine Stimme weist mir<br />
die Richtung.“ Die so entstandenen<br />
Themen dienen dann<br />
als „Matrix zur Improvisation“,<br />
deren Anteil in ihrer Musik<br />
deutlich überwiege.<br />
Improvisation steht auch<br />
im Mittelpunkt von Talkin’<br />
Jazz Soloing 1: Mit seinem bei<br />
Schell Music erschienenen<br />
Lehrbuch legt Godemann die<br />
Quintessenz aus 30 Jahren<br />
Unterrichtstätigkeit vor. Als<br />
Hauptproblem identifiziert er,<br />
dass einstudierte Skalen, Licks<br />
und Patterns den Blick aufs<br />
Wesentliche verstellen. Anstatt<br />
sich „Stoff draufzuschaffen“,<br />
gelte es zurückzuschalten und<br />
Übungsroutinen zu durchbrechen.<br />
„Man muss erst mal<br />
lernen, frei zu sprechen. Wer<br />
das beherrscht, kann dann<br />
auch ein paar Zitate von Einstein,<br />
Simone de Beauvoir oder<br />
Gandhi einbauen.“<br />
Sein eigener Weg zum<br />
Instrument begann autodidaktisch:<br />
Pfadfinder, Peter Burschs<br />
Gitarrenbücher, „Akkordspionage“<br />
(Godemann). Unterricht<br />
kam erst wesentlich später<br />
hinzu: zunächst zwei Jahre bei<br />
Les Wise, wofür Godemann<br />
nach Wien zog, dann, zurück in<br />
Hamburg, bei Joe Pass, dessen<br />
MPS-Album Intercontinental<br />
einst das entscheidende<br />
Schlüsselerlebnis dafür gewesen<br />
war, die Laufbahn eines<br />
Jazzgitarristen einzuschlagen.<br />
Stan Getz’ Jazz Samba, aber<br />
auch Led Zeppelin, Deep<br />
Purple und Frank Zappa gaben<br />
weitere wichtige Impulse.<br />
Mittlerweile steht der Gitarrist<br />
seit über vier Jahrzehnten mit<br />
Bands unterschiedlichster Musikrichtungen<br />
auf der Bühne <strong>–</strong><br />
nach Anfängen im Hardrock,<br />
Blues, Pop und Latin sind das<br />
heute neben dem Duo mit Gerd<br />
Bauder vor allem MG3 und<br />
Barocco Blue.<br />
Auf Beautiful Mind hört<br />
man seine Gibson ES 175 (von<br />
1958) sowie die ES 295 (von<br />
1952): „Das sind alte Ladys, die<br />
man sehr behutsam behandeln<br />
muss. Aber wenn man höflich<br />
zu ihnen ist, belohnen sie einen<br />
mit unglaublichem Lächeln und<br />
viel Liebe.“ Wie sieht er der<br />
Zeit entgegen, in der er sie mal<br />
wieder auf die Bühne ausführen<br />
darf? „Ich lechze danach!“<br />
Seine Botschaft, auch vor dem<br />
Hintergrund der Pandemie:<br />
„Bitte nicht vergessen, dass<br />
Musik ein wesentlicher Bestandteil<br />
der Seelengestaltung<br />
ist <strong>–</strong> und dass auch nachfolgende<br />
Generationen eine Seele<br />
haben: Gebt den Jungen eine<br />
Chance!“<br />
Aktuelles Album:<br />
Godemann Bauder Duo: Beautiful Mind<br />
(STF Records)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 33
Für die israelische Sängerin Noa ist ihr<br />
neues Album eine Heimkehr zu ihren<br />
Anfängen. Auf Afterallogy widmet sie sich<br />
nach einer langen Karriere zusammen mit<br />
ihrem langjährigen musikalischen Partner,<br />
dem Gitarristen Gil Dor, den Songs des Great<br />
American Songbook.<br />
Von Rolf Thomas<br />
Noa ist nämlich in der Bronx<br />
groß geworden und mit den<br />
amerikanischen Song-Klassikern<br />
aufgewachsen, die sie zu Anfang<br />
ihrer Karriere auch auf der Bühne<br />
performt hat. Auf ihren Schallplatten<br />
hat sie sich aber meist<br />
ihrer eigenen Musik gewidmet,<br />
die mehr mit ihren jemenitischen<br />
und hebräischen Wurzeln zu<br />
tun hatte. Nach all den Jahren<br />
hat die Sängerin mit Afterallogy<br />
<strong>–</strong> schon der Titel ist eine<br />
augenzwinkernde Hommage an<br />
die Helden des Bebop, die ihren<br />
Stücken gerne hochtrabende<br />
Titel wie „Ornithology“ verpassten<br />
<strong>–</strong> nun endlich das Jazzalbum<br />
gemacht, das sie in all dieser<br />
Zeit in sich trug. Aber Noa wäre<br />
nicht Noa, wenn sie Klassiker<br />
wie „Darn That Dream“ oder<br />
„Lush Life“ einfach nur singen<br />
würde. Zusammen mit Gil Dor<br />
hat sie sich die Lieder zu eigen<br />
gemacht, hat sie auf einzigartige<br />
Weise arrangiert und eigene<br />
Musik und auch Texte in die<br />
bekannten Songs eingeflochten<br />
<strong>–</strong> auch ein paar Originale haben<br />
es auf das Album geschafft.<br />
Eröffnet wird es von „My<br />
Funny Valentine“, dem Lied,<br />
von dem fast jeder die Fassung<br />
von Chet Baker im Ohr haben<br />
dürfte. Was Noa an dem Song<br />
fasziniert, gibt Einblicke in ihr<br />
tief empfundenes Verständnis<br />
nicht nur dieses Songs. „‚My<br />
Funny Valentine‘ ist ein Song,<br />
den ich liebe, seit ich ein Kind<br />
war“, erzählt sie. „Ich singe das<br />
Lied seit dreißig Jahren, und es<br />
war auch ein Teil unseres ersten<br />
Auftritts. Das Arrangement auf<br />
dem Album entstand spontan.<br />
Mein harmonischer Ansatz<br />
entstand über viele, viele Jahre<br />
hinweg, und das funktioniert<br />
natürlich nur mit Songs, die man<br />
gut kennt. Das Lied war schon<br />
zum Zeitpunkt seiner Entstehung<br />
sehr relevant. Es geht darum,<br />
jemanden zu lieben, der nicht<br />
perfekt ist, der nicht unbedingt<br />
schön ist und der vor allem nicht<br />
immer lustig ist. Eine Person<br />
liebt die Menschlichkeit und das<br />
NOA<br />
Heimkehr zum<br />
Songbook<br />
Imperfekte eines anderen. Das<br />
ist heute vielleicht noch viel relevanter,<br />
da wir uns im Cyberspace<br />
als Menschen begegnen, die eigentlich<br />
in Wirklichkeit gar nicht<br />
existieren. Menschen verändern<br />
ihr Image nach irgendwelchen<br />
Vorstellungen, für mich ist das der<br />
Ausdruck einer tiefen Misere.<br />
Perfektion ist unmenschlich,<br />
deshalb liebe ich die Botschaft<br />
dieses Songs.“<br />
Wie von selbst fügt sich<br />
auch ein Song in die Kollektion,<br />
zu dem Gil Dor die Musik<br />
geschrieben hat und der mit dem<br />
Great American Songbook ausnahmsweise<br />
nichts zu tun hat.<br />
„‚Oh, Lord!‘ ist ein hebräischer<br />
Song“, erläutert Noa. „Er beruht<br />
auf einem wunderbaren Gedicht<br />
von Leah Goldberg, zu dem Gil<br />
die Musik geschrieben hat. Ich<br />
habe schon einmal ein ganzes<br />
Album mit Songs gemacht, die<br />
auf ihren Gedichten basieren,<br />
und das war vor allem in Israel<br />
© Ronen Akerman<br />
34 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
sehr erfolgreich. In diesem Gedicht<br />
beschreibt sie ein Zusammentreffen<br />
mit Gott. Sie trifft ihn<br />
in einem Café, wo sie ihn hinter<br />
dem Zigarettenrauch erkennt.<br />
Er sieht sehr müde und verloren<br />
aus. Leben ist immer noch möglich,<br />
sagt er, als ob er irgendein<br />
Philosoph wäre. Er kommt ihr vor,<br />
als ob er bald sterben würde und<br />
sich für irgendetwas entschuldigen<br />
wolle. Gott sitzt in einem<br />
Café mitten im Zigarettenrauch<br />
und entschuldigt sich <strong>–</strong> ich liebe<br />
diese Vorstellung. Gleichzeitig<br />
klingt sie für mich, als ob man sie<br />
gut singen könnte. Mir schwebte<br />
so eine dunkle Duke-Ellington-<br />
Melodie vor. Gil schrieb dann die<br />
Idee dazu.“<br />
Dass sie nicht einfach nur<br />
das singt, was auf dem Papier<br />
steht, ist das große Plus von<br />
Afterallogy, und wohl nirgends<br />
auf dem Album wird das deutlicher<br />
als bei „Anything Goes“.<br />
Nur etwas länger als zwei<br />
Aktuelles Album:<br />
Noa: Afterallogy<br />
(Naïve /Soulfood)<br />
Minuten dauert die Version von<br />
Noa und Gil Dor <strong>–</strong> der Gitarrist<br />
zaubert hier ganze Genre-Traditionen<br />
aus dem Hut <strong>–</strong> und steht<br />
exemplarisch für die wagemutige<br />
Vorgehensweise der Sängerin,<br />
die sich nicht scheut, an den für<br />
viele heiligen Texten herumzuschnipseln.<br />
„Das großartige<br />
‚Anything Goes‘ von Cole Porter<br />
ist wohl mein Lieblings-Showtune<br />
aller Zeiten“, stellt Noa mit<br />
großer Freude fest. „Ich liebe<br />
Cole Porter sowieso, weil er so<br />
clever ist. ‚Anything Goes‘ hat<br />
wahnsinnig viele Strophen. Frank<br />
Sinatra, Barbra Streisand, Ella<br />
Fitzgerald <strong>–</strong> alle singen andere<br />
Strophen. Ursprünglich geht es<br />
um verrückte Situationen, die auf<br />
dem Klatsch der Zeit beruhen, in<br />
der der Song entstand <strong>–</strong> Anspielungen,<br />
die man heute gar<br />
nicht mehr verstehen kann. Also<br />
dachte ich: Warum schreibe ich<br />
nicht einfach ein paar neue Zeilen?<br />
Natürlich im Geist von Cole<br />
Porter. Zum Glück gab mir der<br />
Verlag dazu die Erlaubnis, denn<br />
normalerweise mögen die es<br />
nicht, wenn man mit den Songs<br />
herumspielt. Ich brachte Anspielungen<br />
auf Trump und Netanyahu<br />
unter und sage zum Schluss: So<br />
think again / it’s not infectious /<br />
think of the things connecting<br />
us / friends and foes / anything<br />
goes. Ich denke, gerade in Zeiten<br />
von Corona ist es eine gute Idee,<br />
darüber nachzudenken, was uns<br />
verbindet.“<br />
© Ronen Akerman<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 35
ANETTE VON EICHEL<br />
Blaubartisch und eulenspiegelig<br />
Inner Tide ist das erste Album von Anette von Eichel, auf<br />
dem sie nicht nur alle Texte und Kompositionen beigesteuert<br />
sowie die Produktion übernommen hat <strong>–</strong> sie blickt auf dem<br />
Cover auch erstmals frontal in die Kamera. Obwohl oder<br />
gerade weil die Kölner Jazzsängerin es als eine Art Tabu<br />
unserer Gesellschaft empfindet, sich lebensecht zu zeigen.<br />
Von Victoriah Szirmai<br />
„Ich bin jetzt an dem Punkt meines Frauseins<br />
angekommen, wo ich mich wirklich<br />
ganz geradeaus zeigen möchte“, sagt sie.<br />
„Und ich fände es schön, wenn wir das alle<br />
ein bisschen mehr machen würden. Wenn<br />
einfach der Raum da wäre, dass sich Menschen<br />
trauen, sich zu zeigen.“ Und zeigen<br />
tut sich von Eichel schon im ersten Sekundenbruchteil<br />
der Platte, die klarstellt, dass<br />
wir es hier mit einer zum Fürchten guten<br />
Modern-Jazzerin zu tun haben. Die damit<br />
im Raum stehende Drohung des Anstrengenden<br />
wird jedoch nicht eingelöst, im Gegenteil:<br />
Der ins Album ziehende Opener „It’s<br />
What We Do“ präsentiert sich zwar nicht<br />
gerade gefällig, dafür anregend, fesselnd<br />
und gleichzeitig wohltuend <strong>–</strong> wenn man sich<br />
erst einmal auf ihn eingelassen hat.<br />
Dann aber offenbart sich dem Hörer<br />
eine derart liedzentrierte Platte, dass sie<br />
fast schon ein Singer/Songwriter-Zyklus<br />
sein könnte, Popmusik, die „wir als Band<br />
dann im Sinne des Jazz befreien“ <strong>–</strong> und die<br />
an den zentralen Fragen des Lebens rührt.<br />
Da gibt es etwa den verheißungsvollen<br />
„Secret Garden“, in dem man sich selbst<br />
verlieren (und auch wiederfinden) kann,<br />
oder „All We Need“, das mit berückender<br />
Leichtigkeit all jene Dinge aufzählt, die wir<br />
im Leben brauchen, vom Apfelbaum über<br />
den Mechaniker bis hin zur Zahnbürste.<br />
In der „Merry-go-Round“-Zeile „Let us<br />
give it no name“ geht es oberflächlich betrachtet<br />
darum, einer Verbindung zwischen<br />
zwei Menschen keine Definition überzustülpen,<br />
weil der aktuelle Schwebezustand<br />
ebenso schön wie fragil ist und durch seine<br />
Benennung unwiederbringlich zerstört<br />
würde. Genauso gut könnte die Aussage<br />
auch mit dem ersten Gebot verbunden sein,<br />
das besagt: „Du sollst dir kein Bildnis noch<br />
irgendein Gleichnis machen“, beraubte man<br />
das Göttliche durch eine Benennung doch<br />
seiner Divinität. Dem fraglichen „It“ einen<br />
Namen zu geben, könnte auch Erlösung bedeuten,<br />
etwas bannen, indem man es beim<br />
Namen nennt. Von Eichel indessen zielt auf<br />
eine Handlungsmaxime nahezu kantischer<br />
Strahlkraft ab: „Wenn wir etwas sehen, sind<br />
wir so schnell damit beschäftigt zu überlegen,<br />
in welches Schublädchen das wohl<br />
passt. ,Let us give it no name‘ ist die Idee<br />
davon, es überhaupt nicht in Schublädchen<br />
zu tun <strong>–</strong> und dadurch nicht kleinzumachen.“<br />
Dann ist da noch „Fallen“. Eine ganze<br />
Welt in einem Wort. Gefallen. Von Eichel<br />
© Maya Claussen<br />
ist es zum Gedankenexperiment geraten.<br />
„If I had fallen for you then” <strong>–</strong> ja, was<br />
wäre dann? Was wäre gewesen, wenn<br />
ich gefallen, dir verfallen wäre? Wäre ich<br />
zerfallen? Machen wir uns nichts vor: Fallen<br />
ist schön. Die Kontrolle abzugeben, völlig.<br />
Sich dem Fall ins Unbekannte zu überlassen.<br />
Gewiss, das geht nur, wenn Vertrauen<br />
da ist. „Doch das Ich hat gespürt: Ich kann<br />
nicht vertrauen“, erklärt von Eichel ihre<br />
Überlegungen. „Es war total verführt, es<br />
zu tun, es wäre wahnsinnig gern mit in<br />
diesen Wald gegangen, wo alles so schön<br />
ist, ganz in Grün, ganz moosig, mit Farnen<br />
und diesen hohen Bäumen, in deren Kronen<br />
das Licht sich bricht. Der Text aber nimmt<br />
eine blaubartische Wendung: Das Du ist ein<br />
Verführer, der mit allen Frauen das Gleiche<br />
macht. Und das Ich erkennt, dass das, was<br />
es für so besonders hielt, letzten Endes gar<br />
nichts Besonderes war.“ So bedauert das<br />
Ich zwar die Aufgabe der romantisierten<br />
Idee einer Symbiose, ist gleichzeitig aber<br />
auch froh, sich dagegen entschieden zu<br />
haben.<br />
Zurück bleibt Gleichgültigkeit. Davon<br />
erzählen die mit jeder Menge quietschendem<br />
Free Jazz aufwartenden „Stones“.<br />
Statt der von den Apologeten gewaltfreier<br />
Kommunikation für korrekt erachteten<br />
Ich-Botschaften gibt es hier Blaming pur:<br />
„Our love is getting smaller, bit by bit, you<br />
cut it into pieces.“ Oder: „You cut off our<br />
connection.“ Und obwohl „das Du ja den<br />
ganzen Scheiß macht“, hält sich das Ich mit<br />
seiner Wut dergestalt zurück, dass sie vom<br />
Saxofon kanalisiert werden muss, das sie<br />
regelrecht auszuspeien scheint, dem Angesprochenen<br />
direkt vor die Füße. Das Ich<br />
wendet sich derweil ohne einen weiteren<br />
Blick ab. Es ist ihm völlig gleichgültig, ob<br />
das Du vom imaginären Steinschlag begraben<br />
wurde oder unbeschadet davongekommen<br />
ist. Es spielt einfach keine Rolle mehr.<br />
In diesem Sinne ist Inner Tide ein<br />
Abschiedsalbum; und aus dem Album verabschiedet<br />
sich von Eichel mit „In Silence“,<br />
einem Duett von gestrichenem Bass und<br />
Klavier. „Ursprünglich wollte ich hier ohne<br />
Text singen“, erinnert sie sich, „aber das<br />
Stück wurde durch den stimmlichen Sound<br />
so dinglich. Also habe ich mir überlegt, hier<br />
nicht zu singen. Ist es nicht ein großartiges<br />
Narrenstück, die Platte einer Sängerin ohne<br />
Gesang enden zu lassen? Sie hat das Stück<br />
geschrieben, aber sie ist nicht dabei. Das<br />
fand ich so ein bisschen eulenspiegelig.“<br />
Und genau darin liegt auch der Charme<br />
des Albums: So aufgewühlt die inneren<br />
Gezeiten der Anette von Eichel auch sein<br />
mögen, sie bergen immer auch einen mal<br />
mehr, mal weniger fassbaren Humor.<br />
Aktuelles Album:<br />
Anette von Eichel: Inner Tide<br />
(Double Moon Records / Challenge Records / H’Art)<br />
36 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Unproduktivität kann man<br />
der russischen Pianistin<br />
Yelena Eckemoff wahrlich<br />
nicht unterstellen. Ganz<br />
im Gegenteil: Seit ihrem<br />
Debütalbum Cold Sun (2010)<br />
hat sie 14 weitere Platten<br />
veröffentlicht, auf denen sie<br />
mit ihrem atmosphärischkonzeptionellen<br />
Jazz Bilder malt und<br />
kleine Geschichten<br />
erzählt, meistens über<br />
Pflanzen, Tiere oder<br />
Naturphänomene.<br />
© Janne Nykänen<br />
© Lianna Slaughter<br />
Von Thomas Kölsch<br />
Eine Flut von Klängen, mit<br />
denen die 59-Jährige sich<br />
kontinuierlich zu profilieren versucht,<br />
was sich in Aufnahmen<br />
mit Genre-Größen wie Peter<br />
Erskine, Morten Lund und Manu<br />
Katché widerspiegelt. Jetzt holt<br />
sie zum nächsten Schlag aus<br />
und bringt mit Adventures of the<br />
Wildflower eine Doppel-CD auf<br />
den Markt, auf der sie Leben,<br />
Sterben und Wiedergeburt<br />
einer Akelei musikalisch und<br />
literarisch nachvollzieht <strong>–</strong> und<br />
damit einen mitunter anstrengenden,<br />
oft aber auch<br />
unterschwelligen<br />
Soundtrack für<br />
den heimischen<br />
Schrebergarten<br />
schafft.<br />
Die auch Columbine<br />
genannte Akelei, die Eckemoff<br />
zur floralen Heldin ihrer<br />
Geschichte auserkoren hat,<br />
begleitet die Pianistin schon ihr<br />
ganzes Leben lang. „In meiner<br />
Kindheit war ich von ihnen<br />
umgeben“, erinnert sie sich.<br />
„Meine Großmutter ließ sie in<br />
ihrem Garten wachsen, weil sie<br />
die Farben so sehr liebte.“ Zu<br />
dieser Erinnerung gesellte sich<br />
irgendwann ein Artikel über die<br />
Kommunikation von Pflanzen,<br />
die auf diese Weise eine Art<br />
Gemeinschaft bilden. „Ich begann<br />
mir vorzustellen, wie sich<br />
eine einzelne Pflanze<br />
darin fühlen<br />
und wie sie auf ihre Nachbarn<br />
reagieren würde. Bald hatte ich<br />
ein Körnchen einer Idee über<br />
eine Wildblume.“<br />
Nach und nach wuchs<br />
diese Idee, manifestierte sich<br />
in einer schlichten, fast schon<br />
kindlichen Abfolge von Ereignissen<br />
aus dem Leben einer<br />
Blume, die Eckemoff nicht nur<br />
niederschrieb, sondern auch<br />
mit ihren Gemälden darstellte.<br />
Und natürlich mit ihren Kompositionen.<br />
Dabei erweist sich die<br />
erste CD als eine zunächst willkürlich<br />
erscheinende Abfolge<br />
von mitunter recht avantgardistischen<br />
Klangbildern (vor allem<br />
im anstrengenden „Chickens“),<br />
während die zweite eher mit<br />
längeren romantisierenden<br />
Melodiebögen aufwartet. Beides<br />
hat Eckemoff nach eigenen<br />
Angaben mit „umfangreichen<br />
Notenblättern“ skizziert; doch<br />
erst unter Einbeziehung ihrer<br />
finnischen Band hat sie den<br />
Garten samt dem dazugehörigen<br />
Wildwuchs zum Leben<br />
erwecken können.<br />
Mit der Rhythmus-Sektion<br />
(Vibrafonist Panu Savolainen,<br />
Bassist Antti Lötjönen und<br />
Drummer Olavi Louhivuori)<br />
hat Eckemoff bereits 2013<br />
bei den Aufnahmen zu<br />
Blooming Tall Phlox zusammengearbeitet<br />
und sie nun um<br />
den Saxofonisten Jukka Perko<br />
und den Gitarristen Jarmo<br />
Saari erweitert. Letzterer greift<br />
mitunter <strong>–</strong> etwa im Coming-ofage-Stück<br />
„Butterflies“ <strong>–</strong> zu<br />
Glasharfe und Theremin, um<br />
zusätzliche Färbungen in die<br />
Gartengemälde einfließen<br />
zu lassen, die von derartigen<br />
Ansätzen durchaus profitieren.<br />
Ohnehin muss man sich auf die<br />
(inhaltlich eher handlungsarmen,<br />
weil statischen, musikalisch<br />
dafür umso vielfältigeren)<br />
Adventures of the Wildflower<br />
gezielt einlassen, um sie wirklich<br />
zu begreifen. Die eine oder<br />
YELENA ECKEMOFF<br />
Jazz für Schrebergärten<br />
der andere unter den Gartenfreunden<br />
könnte sich dazu aber<br />
durchaus berufen fühlen, um<br />
beim Jäten und Säen ein bisschen<br />
Abwechslung zu haben.<br />
Und vielleicht blüht demnächst<br />
auf ein paar zusätzlichen Grünflächen<br />
eine kleine Akelei.<br />
Aktuelles Album:<br />
Yelena Eckemoff:<br />
Adventures of the Wildflower<br />
(L&H Production / In-Akustik)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 37
FIRASSO Der mit dem Kaugummi tanzt<br />
© Friederike Imhorst<br />
Allzu viel Positives kann man dem Coronavirus ja wirklich nicht<br />
nachsagen, gerade was seinen Einfluss auf Musik und Kultur allgemein<br />
angeht. Doch immerhin, bei der Aufnahme und Veröffentlichung von<br />
Tales, dem Debüt des Trios Firasso, hat die Pandemie nachgeholfen.<br />
Von Guido Diesing<br />
Wer beim Wort Debüt an<br />
vorsichtige erste Schritte,<br />
eine gewisse Unreife und die<br />
Suche nach dem eigenen Weg<br />
denkt, könnte mit Blick auf<br />
das Trio Firasso nicht weiter<br />
danebenliegen. Tatsächlich<br />
sind die drei aus dem Ruhrgebiet,<br />
die sich an der Essener<br />
Folkwang-Hochschule kennengelernt<br />
haben, schon seit<br />
über fünf Jahren in gleicher<br />
Besetzung zusammen, bestens<br />
aufeinan der eingespielt und an<br />
ihren Instrumenten über jeden<br />
Zweifel erhaben. Die Chance,<br />
kurzfristig bei einem Festival<br />
für zeitgenössische Musik<br />
einzuspringen, hat Nils Imhorst<br />
(b), Robert Beck (cl, b-cl) und<br />
Marko Kassl (acc) 2015 als<br />
Gruppe zusammengeführt. Eine<br />
glückliche Fügung, wie Robert<br />
Beck rückblickend feststellt:<br />
„Es hat so gut geklappt, dass<br />
wir uns gesagt haben: Wir<br />
versuchen weiterzumachen.“<br />
Gesagt, getan. Über die<br />
Jahre war die Gruppe eine<br />
Konstante für die drei Musiker,<br />
wenn sie auch nicht immer an<br />
erster Stelle stand. „Jeder von<br />
uns hat so seine Projekte, und<br />
dieses Trio war immer etwas,<br />
wo man einfach zusammenkommt<br />
und zum Spaß spielt“,<br />
sagt der Klarinettist. „Wir<br />
haben gespielt, was uns so unter<br />
die Finger kam <strong>–</strong> Piazzolla,<br />
Klezmerstücke, Moondog, John<br />
Zorn, dazu ein, zwei Stücke von<br />
Nils.“ Der besondere Reiz des<br />
Gruppenklangs lag und liegt in<br />
den unterschiedlichen Erfahrungen,<br />
die die drei Musiker<br />
mitbringen. Beck hat klassische<br />
Klarinette studiert, Kassl fühlt<br />
sich besonders in der zeitgenössischen<br />
Musik und im<br />
38 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> v.l.: Nils Imhorst, Robert Beck und Marko Kassl
Tango zu Hause, und Imhorst ist<br />
studierter Jazzbassist.<br />
Natürlich seien die<br />
stilistischen Einflüsse nicht so<br />
eindeutig den einzelnen Musikern<br />
zuzuordnen, relativiert<br />
Beck: „In der Realität sind die<br />
Grenzen doch etwas fließender.<br />
Was das Komponieren<br />
angeht, ist Nils auf jeden Fall<br />
der Erfahrenste. Er arrangiert<br />
auch viel für eine Bigband, die<br />
er leitet. Sonst ist es so, dass<br />
Marko vom Akkordeon her viel<br />
von Piazzolla in den Fingern<br />
hat, wenn er schreibt. Ich habe<br />
durch die Klarinette eher einen<br />
Klezmer-Bezug. In meiner Jugend<br />
in den 90ern war gerade<br />
der Giora-Feidman-Hype, da<br />
hab ich viel Klezmer gespielt.<br />
Ich glaube nicht, dass ich von<br />
der Klassik viel mitbringe, was<br />
man in unserer Musik hören<br />
könnte.“<br />
Dann kam Corona. Und<br />
damit die Entscheidung, endlich<br />
die schon länger virulente Idee<br />
umzusetzen, eine CD aufzunehmen.<br />
Einfach nur das vorhandene<br />
Programm abzuspulen, das<br />
sich über die Jahre angesammelt<br />
hatte, war ihnen dabei<br />
jedoch nicht genug. „Wir haben<br />
uns gesagt: Eigentlich lohnt es<br />
sich nicht, etwas aufzunehmen,<br />
was es schon gibt. Lass uns<br />
probieren, was dabei rauskommt,<br />
tatsächlich nur eigene<br />
Sachen einzuspielen und auch<br />
explizit dafür zu schreiben. Es<br />
war auch ein bisschen eine<br />
Trotzreaktion. Das war unser<br />
Festhalteprojekt durch das<br />
Jahr. Wir haben es tatsächlich<br />
drei, vier Tage um den 20. Oktober<br />
herum aufgenommen, als<br />
gerade die zweite Welle kam.<br />
Wenn wir dann zwischendurch<br />
aufs Handy guckten, rauschten<br />
die ganzen Absagen rein. Da<br />
hat es sehr gutgetan, trotzdem<br />
etwas zu machen.“<br />
Das Ergebnis ist ein feiner,<br />
sehr kultivierter kammermusikalischer<br />
Klang, mal mit Hang<br />
zur Melancholie, dann wieder<br />
mit viel Spaß an originellen<br />
Einfällen, krummen Takten<br />
und Lust am musikalischen<br />
Geschichtenerzählen. Den<br />
Titel Tales trägt das Album<br />
mit gutem Grund, haben doch<br />
viele der Tracks eine narrative<br />
Qualität, der im Booklet durch<br />
mögliche inhaltliche Assoziationen<br />
noch weiteres Futter<br />
gegeben wird. Dort heißt es<br />
etwa über „Käues“, das starke<br />
Eröffnungsstück des Albums:<br />
„Wie in Kaugummi treten und<br />
einen Tanz veranstalten, um<br />
ihn abzuschütteln.“ Mit seinem<br />
vertrackten Siebenertakt führt<br />
der Opener mitten in eine bunte<br />
Klangwelt, in der auch eine<br />
stimmungsvolle Hommage an<br />
Ennio Morricone Platz hat und<br />
der Zusammenklang von Klarinette<br />
und Akkordeon bisweilen<br />
an Gianluigi Trovesis Aufnahmen<br />
mit Gianni Coscia erinnert.<br />
Bleibt die Frage nach dem<br />
Bandnamen. Die Vermutung, es<br />
handle sich um eine Silben-<br />
Kombination aus den Vornamen<br />
der Mitglieder, führt ins Leere,<br />
schließlich sind hier nicht<br />
Finn, Rasmus und Sophia am<br />
Werk, sondern Marko, Robert<br />
und Nils. Hätte sich da nicht<br />
der Name Maroni angeboten?<br />
Robert muss lachen: „Den<br />
hatten wir tatsächlich mal<br />
auf der Liste, das klang uns<br />
dann aber ein bisschen zu<br />
kindertheatermäßig.“ An das<br />
Haribo-Prinzip <strong>–</strong> drei Silben aus<br />
drei Wörtern <strong>–</strong> haben sie sich<br />
dennoch gehalten: Das Kunstwort<br />
Firasso setzt sich aus Fire,<br />
Rain & Espresso zusammen,<br />
wie das Trio bis vor Kurzem<br />
auch hieß. „Wir haben damals,<br />
als wir eingesprungen sind,<br />
ganz dringend einen Namen<br />
gebraucht“, erklärt Robert.<br />
„Dann lief ,Fire and Rain‘ von<br />
James Taylor im Radio, und wir<br />
haben dazu einen Espresso<br />
getrunken. Nur prägt sich der<br />
Name sehr schlecht ein, und<br />
es gibt immer Nachfragen. So<br />
haben wir gedacht: Nehmen<br />
wir Firasso, das hat noch einen<br />
Bezug zu uns früher, aber ist ein<br />
bisschen knackiger.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Firasso: Tales<br />
(GLM Music / Edel:Kultur, VÖ: 7.5.)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 39
High Fidelity: Die Listening-Session<br />
PIER<br />
AUDIO<br />
Musikgenuss auf<br />
Französisch<br />
Dietmar Hölper did it again. Seine<br />
Mission lautet: Vertrieb von langlebigen,<br />
hochmusikalischen Produkten<br />
zu verhältnismäßig günstigen Preisen.<br />
Dieses Credo zieht sich durch<br />
sein gesamtes Marken- und Produktportfolio.<br />
Das hat er nun durch einen<br />
Hersteller aus Frankreich ergänzt.<br />
Von Peter Steinfadt<br />
Der Westerwäldler entdeckte für den HiFi-<br />
Markt jüngst den hierzulande unbekannten<br />
Hersteller Pier Audio aus Frankreich und<br />
vertreibt diesen nun in Deutschland. Und<br />
Geschmack hatte man in Frankreich ja<br />
schon immer. Nicht nur, was die formidable<br />
Optik und beneidenswerte Stilsicherheit<br />
angeht <strong>–</strong> man denke nur an den einzigartigen<br />
Citroën DS 21, im Volksmund als „die<br />
Göttin“ der Automobile verehrt <strong>–</strong>, auch viele<br />
audiophile Ohren haben, bedingt durch oft<br />
außergewöhnliche technische Lösungen<br />
und exquisites Design, ihr Zuhause in der<br />
Grande Nation.<br />
Pier Audio bietet zwei Elektronik-Linien<br />
an. Die Classic-Serie mit reinen Röhrengeräten<br />
und die Gold-Serie mit einem<br />
Hybridkonzept aus Transistor- und Röhrentechnologie.<br />
In Hybridkonzepten werden<br />
die Stärken beider Welten miteinander<br />
technisch vermählt: In der Vorstufe von Verstärkern<br />
wandeln Röhren die zarten Signale<br />
von Musikquellen um und geben diese im Anschluss<br />
an die kräftigen, kontrolliert aufspielenden<br />
Transistoren in der Endstufensektion<br />
weiter. Dies bedeutet, so denn die Idee gut<br />
umgesetzt wird, ein Maximum an Feinzeichnung<br />
(Röhren), kombiniert mit Kraft und<br />
(Bass-)Kontrolle (Transistoren).<br />
Beim jüngsten Spross von Pier Audio,<br />
dem Modell MS 580 SE, geht dieses Konzept<br />
voll auf. Beim MS-580 SE kommen drei<br />
Doppeltrioden des Typs 6N11 sowie vier<br />
Toshiba-Leistungstransistoren zum Einsatz.<br />
Es handelt sich um hochselektierte N.O.S.<br />
(New Old Stock)-Röhren. Der Verstärker<br />
verfügt über vier Hochpegeleingänge und<br />
eine einwandfrei funktionierende Bluetooth-Sektion<br />
für Hörer*innen mit einem<br />
Faible für gestreamte Musik. Zum Hybridverstärker<br />
gesellt sich die Röhren-Phono-<br />
Vorstufe-Pier-Audio MM/MC 8, die für alle<br />
am Markt erhältlichen MM- und MC-Standardtonabnehmer<br />
geeignet ist. Im MC-<br />
Bereich kann die Empfindlichkeit zwischen<br />
High-Output- und Low-Output-Systemen an<br />
der Frontseite eingestellt beziehungsweise<br />
umgeschaltet werden. Praktisch. Drei<br />
N.O.S.-Röhren (Militärtypen von 1965 und<br />
1970) übernehmen hier die Vorverstärkung.<br />
Beide Geräte verfügen über ein VU-Meter,<br />
das den jeweiligen Leistungsinput optisch<br />
wiedergibt. Dieses kleine Gimmick mit den<br />
zappelnden Nadeln in den Leistungsbereichen<br />
ist hübsch anzuschauen und auch<br />
wunderbar retro.<br />
Versprechen die gut verarbeiteten<br />
Geräte auch guten Klang? Wir legen mal<br />
Platten auf. An Promises (Luaka Bop, <strong>2021</strong>)<br />
von Floating Points / Pharoah Sanders mit<br />
dem London Symphony Orchestra kommt<br />
man in diesem Jahr nicht vorbei. Das sehr<br />
ruhige, neunsätzige Werk des Electro-<br />
Komponisten Sam Shepherd entfaltet sich<br />
geduldig, repetitiv und minimalistisch. Das<br />
Sanders´sche Saxofon ist frei von den<br />
bekannten Free-Ausbrüchen des nunmehr<br />
Achtzigjährigen und bringt einen gehörigen<br />
Schuss Transzendenz ins musikalische<br />
Geschehen. Hier liefert das Franzosenduo<br />
Dynamik und Timbre vor einem rabenschwarzen<br />
Hintergrund und musiziert<br />
ausdrucksstark, mitreißend und mit lässiger<br />
Autorität. Der souveräne hochauflösende<br />
Charakter der Kombi aus Verstärker und<br />
Phonovorverstärker wird den feinen und<br />
feinsten Ziselierungen des Werks mehr als<br />
gerecht. Großartige, so nie gehörte Musik<br />
und eine wegweisende Aufnahme.<br />
Ähnlich minimalistisch, aber aus ganz<br />
anderem Holz ist die Erstlings-LP Amapiano<br />
Selections von Teno Afrika (Awesome<br />
Tapes from Africa, 2020). Entstanden in<br />
Townships, ist die südafrikanische Variante<br />
der Club-Musik namens Amapiano ein<br />
Hybrid aus Deep House, Kwaito-Musik und<br />
Jazz. Die Platte verzichtet auf Vocals und<br />
zeichnet sich durch eine DIY-Ästhetik aus.<br />
Völlig entschlackt blubbern hier Rhythmusmaschine,<br />
Sequencer und Synthie-<br />
Einsprengsel vor sich hin. Die Musik ist<br />
dennoch sehr eingängig und lässt die Wadenmuskulatur<br />
zucken, wie es sich für gute<br />
House-Musik gehört. Die Piers faszinieren<br />
hier durch Sauberkeit und Kontrolle in den<br />
unteren Tonlagen und geben den Sounds<br />
aus Südafrika eine gehörige Portion Wärme<br />
mit auf den Weg.<br />
Summa summarum: Die getestete<br />
French Connection besticht durch ihre<br />
überzeugende Ruhe, kontrollierte Kraft und<br />
Transparenz und ist ein weiterer Beweis<br />
dafür, dass exzellentes HiFi mit High-End-<br />
Attitüde auch in erschwinglichen Preisregionen<br />
zu Hause sein kann. Zwei Genussmaschinen<br />
für audiophile Connaisseure,<br />
die natürlich auch mit Zuspielern andere<br />
Hersteller kombinierbar sind. Der UVP-Preis<br />
beläuft sich für den Hybridverstärker MS 50<br />
SE auf 1.399 Euro, der Phonovorverstärker<br />
MM/MC 8 kostet 1.199 Euro.<br />
Website:<br />
www.dietmar-hoelper.de<br />
40 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
FEMI & MADE KUTI<br />
Kein Generationenkonflikt<br />
Sie sind Teil einer der größten Musikdynastien<br />
aller Zeiten. Der eine ist Sohn, der andere Enkel<br />
des legendären Afrobeat-Zauberers Fela Kuti.<br />
Auf dem Doppelalbum Legacy + präsentiert<br />
Femi nun seinen Sohn Made und führt mit dieser<br />
gemeinsamen Musik die Familientradition auf<br />
eine weitere Ebene.<br />
Von Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />
Ganz simpel gesagt, schlägt<br />
dieses Zweierset aus den Alben<br />
Stop the Hate und For(e)ward<br />
eine Brücke von der Gegenwart<br />
in die Zukunft. Wenn man in den<br />
Afrobeat eintauchen will, sind<br />
die Platten eine großartige Art,<br />
damit anzufangen, denn beide<br />
machen eine Menge Spaß.<br />
Femi, Jahrgang 1962, nutzt seine<br />
ganze Erfahrung mit Live-Musik,<br />
um einen Song zu kreieren, und<br />
sein 25-jähriger Sohn Made stellt<br />
sich selbst vor, indem er zeigt,<br />
dass er zwar aus der Kuti-Family<br />
stammt, aber ein ganz eigener<br />
Künstler ist.<br />
Was sich zunächst als<br />
imposante Sammlung von achtzehn<br />
Tracks aus Highlife, fetten<br />
Bläsersätzen, großen Chören,<br />
Dancehall, Dubstep und Soul<br />
zeigt, erweist sich beim tieferen<br />
© Sean Thoms<br />
Einsteigen als überraschend<br />
komplex und raffiniert. Femi führt<br />
in den Afrobeat-Sound einer<br />
größeren Band ein und fungiert<br />
als Leader, in der gleichen Rolle<br />
wie einst sein Vater Fela; Made<br />
dagegen ist eher der modern<br />
kühle Solist. „Ich habe eine<br />
innere Uhr für Afrobeat, denn<br />
Afrobeat-Rhythmen zu spielen,<br />
ist mir in die Wiege gelegt.<br />
Darum fühle ich mich manchmal<br />
fast zu wohl dabei“, eröffnet<br />
Made Kuti das Zoom-Interview<br />
mit einem kleinen Lächeln.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Made, wie war es,<br />
mit Ihrem Vater zu arbeiten?<br />
Made Kuti: Es war und ist eine<br />
der erhellendsten und angenehmsten<br />
kreativen Reisen, die<br />
ich je erlebt habe. Es gibt eine<br />
Verbindung zwischen Eltern und<br />
Kind, wenn man ein Werk wie<br />
dieses zusammenstellt, bei dem<br />
es darum geht, sein Inneres zu<br />
kanalisieren, um das auszudrücken,<br />
von dem man glaubt, dass<br />
es für einen selbst wahr ist. In<br />
der Lage zu sein, diesen sehr<br />
persönlichen Prozess zu vollziehen<br />
und ihn mit einer Person zu<br />
teilen, von der man weiß, dass<br />
sie genauso leidenschaftlich mit<br />
dem Klang und der Botschaft der<br />
Musik verbunden ist, ist etwas<br />
ganz Besonderes für mich. Wir<br />
haben jede Seite des Albums<br />
unabhängig voneinander<br />
komponiert und uns erst in der<br />
Mixing-Phase zusammengesetzt,<br />
um uns die Musik des anderen<br />
richtig anzuhören, aber das<br />
machte die Reise noch schöner<br />
und experimenteller.<br />
Femi Kuti: Ja, wahrscheinlich<br />
war es die erfreulichste Sache,<br />
die ich bisher gemacht habe.<br />
Anders als meinem Vater war es<br />
mir wichtig, Made mit aufzuziehen,<br />
bei ihm zu sein. Nun<br />
genieße ich es, zu sehen, wie<br />
schön und wunderbar er sich<br />
entwickelt hat. Vor allem, dass<br />
er alle Instrumente auf seinem<br />
Album spielt, hat mich wirklich<br />
fasziniert und sehr stolz gemacht<br />
[lächelt].<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Wolltet ihr mit den<br />
beiden Platten, die als Doppelalbum<br />
zusammengefasst sind,<br />
eure jeweilige Sichtweise von<br />
Afrobeat demonstrieren, also die<br />
gegenwärtige und die zukünftige<br />
Ausrichtung?<br />
Femi Kuti: Ja, wir denken, dass<br />
Stop the Hate sehr viel mit der<br />
Gegenwart zu tun hat. Aber<br />
jedes Werk, das ich geschaffen<br />
habe, reflektierte sehr bewusst<br />
die unmittelbaren menschlichen,<br />
sozio-politischen und wirtschaftlichen<br />
Belange. Und mit jedem<br />
Album war sich jedes künstlerische<br />
Mitglied der Familie<br />
bisher sehr bewusst, die Musik<br />
voranzutreiben. Wir stellen uns<br />
das gerne so vor, als ob Fela ein<br />
Universum gefunden hätte. Mein<br />
Bruder [Seun] und ich wagten<br />
uns weit hinaus in unerforschtes<br />
Gebiet und entdeckten viele<br />
Galaxien und Himmelskörper,<br />
und mein Sohn Made tut jetzt<br />
das Gleiche, indem er weit in<br />
unerhörtes Gebiet vordringt<br />
und seine eigenen einzigartigen<br />
Kreationen schafft.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Sie singen über<br />
das, was in Nigeria vor sich<br />
geht, aber es könnte sich auf<br />
jeden Ort der Welt beziehen, wo<br />
es noch immer Ungerechtigkeit<br />
gibt.<br />
Femi Kuti: Wir betrachten unsere<br />
Lieder nicht als Protestsongs.<br />
Wir singen einfach über Dinge,<br />
die uns beschäftigen, aber auch<br />
Millionen anderer Menschen<br />
betreffen. Das was wir wollen,<br />
ist eine positive Veränderung zu<br />
einem besseren Leben für alle<br />
Menschen. Ich engagiere mich<br />
in jeder Bewegung, die gegen<br />
Ungerechtigkeit und Korruption<br />
ist und für Gleichberechtigung,<br />
Frauenrechte und solche objektiven<br />
Themen steht.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Made, ist es eine<br />
Last, aus einer solchen Dynastie<br />
wie der Kuti-Familie mit so vielen<br />
guten Musikern und politischen<br />
Aktivisten zu kommen?<br />
Made Kuti: Da gibt es überhaupt<br />
keinen Druck. Es ging wirklich<br />
immer um die Schönheit der Musik<br />
und die eklatante Ungerechtigkeit,<br />
die ich jeden Tag in Lagos<br />
und auf der ganzen Welt sehe.<br />
Ich wollte schon immer einen<br />
Weg finden, einen positiven<br />
Beitrag zu meiner Gemeinschaft<br />
zu leisten. Und wenn ich das tun<br />
kann, indem ich es schaffe, auch<br />
meine Anliegen durch meine<br />
Kunstform zu reflektieren, dann<br />
ist es das, was ich versuche zu<br />
machen.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Das Coronavirus<br />
hält die Menschheit seit einem<br />
Jahr in seinen lähmenden<br />
Fängen.<br />
Wie gehen sie damit privat um?<br />
Made Kuti: Mein Vater und ich<br />
trainieren täglich unsere Körper<br />
so hart wie möglich, um in Form<br />
für unsere Zukunft zu bleiben.<br />
Außerdem verbringen wir viel<br />
unschätzbare Zeit mit unserer<br />
Familie. Ich selbst habe die<br />
Beziehung zu meinem Partner<br />
intensiviert und lese seit einigen<br />
Monaten unglaublich viele<br />
Bücher aus den verschiedensten<br />
Bereichen. Das alles hilft,<br />
meinen Geist und meinen Körper<br />
gesund zu erhalten.<br />
Aktuelles Album:<br />
Femi & Made Kuti: Legacy +<br />
(Partisan / PIAS)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 41
Ihr aktuelles Album nennt Diana Rasina schlicht Romance.<br />
Im Englischen ein hübsches Wortspiel, bedeutet es dort doch<br />
sowohl „Romanze“ als auch „romanisch“. Und während<br />
es mit Romanzen ja so eine Sache ist, die oftmals in einem<br />
Hätte-ich-doch-Nur oder Hätte-ich-doch-Nie endet, birgt der<br />
Konsum romanischer Lieder Lustvolles ohne Reue.<br />
Von Victoriah Szirmai<br />
Nach dem Solodebüt A Capella und den<br />
Romanian Tales im Quartett widmet sich<br />
die rumänische Sängerin nun im Trio mit<br />
Miroslav Jankech (acc) und Alex Kohtaro<br />
Yoshii (g) romanischen Liebesliedern<br />
vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dabei<br />
kommen sowohl weitverbreitete Sprachen<br />
wie Italienisch, Spanisch oder Französisch<br />
als auch Nischendialekte wie das Judäo-<br />
Spanische zum Tragen <strong>–</strong> und damit die immense<br />
kulturelle Vielfalt des romanischen<br />
Europa. Die Idee, das Romanische mit dem<br />
Romantischen zu verbinden, liegt ob der<br />
etymologischen und kulturgeschichtlichen<br />
Verwandtschaft der Begriffe nahe.<br />
Rasina war es darum zu tun, diese<br />
Verbindung weiter auszuloten <strong>–</strong> und dabei<br />
gleichzeitig die Entwicklung des Konzepts<br />
der romantischen Liebe aufzuzeigen,<br />
ausgehend von der Lyrik der Troubadoure<br />
im Süden Frankreichs, kann diese doch<br />
ob ihrer primären Sujets <strong>–</strong> Unerfülltheit<br />
und Schmerz <strong>–</strong> als legitimer Vorbote der<br />
abendländisch-romantischen Liebe gelten.<br />
Und so nimmt es nicht wunder, dass die<br />
Tonalität der fünfzehn Lieder größtenteils<br />
molldurchtränkt ist, sehnsüchtig, weh.<br />
Nebstdem bezeichnet „Romanze“ nicht<br />
nur das Liebesabenteuer, sondern eine<br />
literarisch-musikalische Gattung, die auf<br />
der Iberischen Halbinsel ihre Heimat hat<br />
und bis zur höfischen Musik des spanischen<br />
Mittelalters zurückverfolgt werden<br />
kann.<br />
Genau dorthin fühlt sich der Hörer<br />
mittels des Openers „La dama d’Aragó“<br />
zurückversetzt. Die spärliche Gitarrenbegleitung<br />
erinnert an die zum Schreittanz<br />
rufende Musik der Renaissance, derweil<br />
der Gesang an katalanische Folklore<br />
gemahnt. Weniger feierlich-getragen geht<br />
es beim korsischen „Furtunatu“ zu, dessen<br />
ausgeprägter Rhythmus einem langsamen,<br />
dennoch höchst akzentuierten Tango<br />
gleichkommt <strong>–</strong> und auch dessen Sehnen<br />
ausdrückt, was vor allem am Akkordeon<br />
liegt, das über die gesamte Plattenlänge<br />
einem in Tränen zerfließenden Bandoneon<br />
gleicht. Mit dem portugiesischen „Solidão“,<br />
das ob seines warmen Gitarrenintros<br />
zunächst in trügerischer Sicherheit wiegt,<br />
geht die Romanze aber schon gründlich<br />
schief, wovon Misstöne in Stimme und<br />
Akkordeon künden: Es ist, als hörte man<br />
die Liebe unaufhaltsam den Berghang<br />
hinabrutschen.<br />
Die erste Überraschung des Albums<br />
stellt sich mit einem wehmütigen Akkordeonauftakt<br />
vor, vermeintlich erneut ein<br />
Tango, bis sich herausstellt, dass wir es<br />
hier mit Jacques Brels Bittwerk „Ne me<br />
quitte pas“ zu tun haben, langsam, schleppend,<br />
schwer <strong>–</strong> und definitiv depressionsfördernd.<br />
Kurz, es erwischt einen kalt.<br />
Unvorbereitet. Mit hochgeklapptem Visier.<br />
Und dann das gelingende Kunststück: Auf<br />
nahezu wundersame Weise weiß Rasina<br />
mit dem sizilianischen „Mi votu e mi rivotu“<br />
von eher milongischem Tonfall ein zwar<br />
fröhlicheres, aber immer noch genügend<br />
düsteres Stück folgen zu lassen, um nicht<br />
die schöne Depression zu zerstören, bevor<br />
die anschließende, nur von dezentem<br />
Gitarrenklang begleitete Ballade „Corazón<br />
de sal“ einmal mehr staunen macht, wie<br />
vollendet die Sängerin es versteht, Gefühle<br />
in Töne zu verwandeln <strong>–</strong> und umgekehrt.<br />
Das neapolitanische „I‘ te vurrìa<br />
vasá“, dessen ungemein kitschige<br />
Andrea-Bocelli-Version nebst bombastischem<br />
Streicherarrangement an dieser<br />
Stelle ganz schnell vergessen werden<br />
soll, beweist, dass dem Duett von Rasina<br />
und Akkordeon plus der sich behutsam<br />
dazugesellenden Gitarre ein ganz eigener<br />
42<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Georg Cizek-Graf<br />
DIANA RASINA<br />
Romanische Romanzen<br />
Zauber innewohnt, nicht zuletzt begründet<br />
in der wirklich schönen Melodie, die auch<br />
komplett kitschfrei interpretiert werden<br />
kann. Dem Akkordeon eignet bei seinem<br />
Solo einmal mehr etwas Bandoneonartiges,<br />
ja Piazzollahaftes, schaut doch der<br />
„Libertango“ hier gar nicht mal so verstohlen<br />
um die Ecke. Das rätoromanische<br />
„Jeu sun d’amur surprida“ schwirrt derart<br />
luftig-leicht einher, dass man sich seinem<br />
Ursprung zum Trotz als Publikum einer Pariser<br />
Sommerkomödie wähnt, mehr noch:<br />
als Protagonist, würde man diese Weise<br />
nebst einschlägigem Lächeln doch auch<br />
selbst nach einer alles neu machenden<br />
Nacht in Frankreichs Hauptstadt auf den<br />
Lippen tragen.<br />
Nach dem angenehm unprätentiös<br />
interpretierten Donizetti-Stück „Una<br />
furtiva lagrima“ besticht das asturische<br />
„Ayer vite na fonte“ mit einem ans Debüt<br />
gemahnenden A-cappella-Auftakt, bevor<br />
nach knapp anderthalb Minuten behutsam<br />
die Band einsetzt. Damit ist der Weg<br />
bereitet für die zweite Überraschung des<br />
Albums: Das sephardische „Hija mia“<br />
könnte glatt ein Zwilling des populären<br />
Schlaflieds „Durme, Durme“ sein, nur<br />
dass es einen derart flotten Rhythmus<br />
hat, dass es nicht gerade zum Einschlafen<br />
angetan ist. Dafür aber zur wiederholten<br />
Faszination davon, welche Wandelwege<br />
die jüdischen Melodien der Diaspora<br />
nehmen.<br />
Etwas aus der Reihe fällt der einem<br />
sehr fröhlichen, nachgerade alpinen Kreistanz<br />
ähnelnde Closer „La mushata armãnã“,<br />
der das mollumkränzte Album mit einer <strong>–</strong><br />
vielleicht allzu <strong>–</strong> beschwingten Note beschließt.<br />
Festzuhalten bleibt, dass es all den<br />
hier versammelten Stücken, aus welcher<br />
Epoche und welchem Kulturkreis sie auch<br />
stammen, gelingt, die mehr oder weniger<br />
melancholischen Regungen romantischer<br />
Liebe hörbar zu machen <strong>–</strong> ohne Kitsch, mit<br />
Gefühl.<br />
Aktuelles Album:<br />
Diana Rasina: Romance<br />
(Bayla Records / Galileo)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 43
Die Erde ist eine Scheibe<br />
Andrés Linetzky’s Vale Tango<br />
My Choice<br />
Winter & Winter / Edel:Kultur<br />
W W W W<br />
Luciano Biondini / Stefano<br />
Maurizi / Mirco Mariottini<br />
Dialogues<br />
Enja / Yellowbird / Edel:Kultur<br />
W W W W o<br />
Nataša Mirković &<br />
Michel Godard<br />
Risplendenti, riversi<br />
Dreyer Gaido / Note 1<br />
Musikvertrieb<br />
W W W o<br />
Katerina Papadopoulou &<br />
Anastatica<br />
Anástasis <strong>–</strong> A Journey<br />
Through Old Greek Music<br />
Saphrane / Galileo<br />
W W W W<br />
Noëmi Waysfeld<br />
Soul of Yiddish<br />
AWZ / Broken Silence<br />
W W W W o<br />
Sinikka Langeland<br />
Wolf Rune<br />
ECM / Universal<br />
W W W W o<br />
Fjarill<br />
Poësi<br />
Butter & Fly / Indigo<br />
W W W o<br />
Gabriele Muscolino<br />
Gabriele Muscolino<br />
Visage / Galileo<br />
W W W W o<br />
Paul Bremen<br />
Out of Excuses<br />
Galileo<br />
W W W o<br />
Ray Cooper<br />
Land of Heroes<br />
Westpark Music / Indigo<br />
W W W o<br />
Benedikt<br />
Balcony Dream<br />
Koke Plate<br />
W W W W o<br />
Erlend Apneseth Trio<br />
Lokk<br />
Hubro / Cargo<br />
W W W W<br />
Os Barbapapas<br />
DooWooDooWoo<br />
Fun in the Church / Bertus /<br />
Zebralution<br />
W W W o<br />
Man kennt das Problem:<br />
Nach der längst überfälligen<br />
Entdeckung eines Musikers,<br />
den alle anderen schon ewig<br />
kennen, steht man vor der<br />
Frage: Wo soll ich nur anfangen?<br />
Das Münchner Label<br />
Winter & Winter hat zur Feier<br />
seines 25-jährigen Bestehens<br />
eine elegante Lösung gefunden:<br />
Es gibt die Frage an diejenigen<br />
weiter, die es am besten wissen<br />
sollten <strong>–</strong> die Musiker selbst. So<br />
bekommen im Jubiläumsjahr in<br />
der Reihe My Choice Künstler<br />
wie Uri Caine, Jim Black oder<br />
Guy Klucevsek die Gelegenheit,<br />
sich mit ihrer eigenen Stückauswahl<br />
zu präsentieren. Der<br />
argentinische Tango-Pianist<br />
Andrés Linetzky hat dazu aus<br />
acht Alben, die er seit 1997 für<br />
das Label aufgenommen hat, ein<br />
Programm zusammengestellt,<br />
das einen guten Überblick über<br />
seine Rolle bei der Wiederbelebung<br />
des getanzten Tangos<br />
gibt. Besonders stimmungsvoll<br />
sind zwei Liveaufnahmen aus<br />
der legendären Bar El Chino,<br />
zwei weitere Titel verweisen mit<br />
Klezmer-Anklängen auf Linetzkys<br />
Großvater, der vor seiner<br />
Auswanderung nach Buenos<br />
Aires Klezmermusiker war.<br />
Dialoge zu dritt führt das<br />
bereits im Sommer 2018 gegründete<br />
Trio des Akkordeonisten<br />
Luciano Biondini mit Stefano<br />
Maurizi (p) und Mirco Mariottini<br />
(cl) auf seinem Debütalbum.<br />
Dialogues füllt ein breites Spektrum<br />
zwischen mediterraner<br />
Folklore, ungeraden Taktarten<br />
und filigraner moderner<br />
Kammermusik aus und besticht<br />
mit sensiblem Zusammenspiel.<br />
In ihrer Bearbeitung von Paul<br />
Motians „Bird Song“ schaffen<br />
die drei eine originelle Synthese<br />
aus Satie und Jimmy Giuffre <strong>–</strong><br />
konzentriert und nie geschwätzig.<br />
Interessante Vergleichsmöglichkeiten<br />
bietet schließlich<br />
eine Version von Charlie Hadens<br />
„Silence“, die die ursprüngliche<br />
Instrumentierung des Trios<br />
Haden-Garbarek-Gismonti von<br />
Bass-Sax-Klavier zu Akkordeon-<br />
Klarinette-Klavier auf links<br />
dreht, dem Stück aber dennoch<br />
hundertprozentig gerecht wird.<br />
Luciano Biondini gehört<br />
auch zur Besetzung, mit der<br />
die bosnisch-österreichische<br />
Sängerin Nataša Mirković ihr<br />
neues Album mit Michel Godard<br />
(serpent, e-b) aufgenommen<br />
hat. Durch Jarrod Cagwin zum<br />
Quartett ergänzt, begegnen die<br />
Musiker traditionellen Liedern<br />
aus Albanien, Kroatien und dem<br />
Kosovo mit derselben Finesse<br />
und Sorgfalt wie barocken Arien<br />
von Falconiero und Cavallo.<br />
Nachdenklich und behutsam<br />
tastend, nehmen sie sich alle<br />
Zeit, um eine Stimmung zu<br />
schaffen, in der die Grenzen<br />
zwischen Ländern und Epochen<br />
verschwimmen. Wenn etwa<br />
in „Marea Alta“ flächige<br />
Akkordeonharmonien und der<br />
plüschig-weiche Serpent-Klang<br />
der Sängerin den Klangteppich<br />
ausrollen, scheint die Zeit<br />
stillzustehen.<br />
Die griechische Sängerin<br />
Katerina Papadopoulou<br />
findet in ihrem neuen Projekt<br />
Anástasis für die traditionelle<br />
griechische Musik die hübsche<br />
Metapher der Auferstehungsrose<br />
oder Rose von Jericho,<br />
einer Pflanze, die auch lange<br />
Trockenheit überlebt, vom<br />
Wind an andere Orte getragen<br />
wird und dort zu neuem<br />
Leben erwacht. Definitiv nicht<br />
die Musik, die man früher als<br />
Hintergrundbeschallung beim<br />
Griechen seines Vertrauens<br />
serviert bekam, aus Gründen:<br />
Vor allem die Tänze mit Dudelsack<br />
und Trommel könnten Teile<br />
der Kundschaft verunsichern.<br />
Neben ausdrucksstark gesungenen<br />
Liedern gehört auch<br />
eine schmissige Tarantella aus<br />
Apulien zum Programm, bevor<br />
die Rose zum Abschluss mit<br />
einem hebräischen Wiegenlied<br />
wieder in den Schlaf gesungen<br />
wird.<br />
Mit einer ernsten, von<br />
dunklen Cello-Klängen beherrschten<br />
Version des „Kol<br />
Nidreï“ endet auch das neue<br />
Album von Noëmi Waysfeld auf<br />
Hebräisch, was zeigt, dass die<br />
französische Sängerin dessen<br />
Titel Soul of Yiddish nicht als<br />
dogmatische Einschränkung<br />
versteht. Unter den zuvor zu<br />
hörenden zwölf jiddischen Gesängen<br />
finden sich traditionelle<br />
Lieder ebenso wie Originalkompositionen<br />
zu Gedichten von<br />
Rivka Kopé und eine Bearbeitung<br />
von Barbaras Chanson „À<br />
peine“. Gitarrist Kevin Seddiki,<br />
der die Arrangements für Geige,<br />
Gitarre und Kontrabass geschrieben<br />
hat, schafft es, selbst<br />
einem lagerfeuererprobten<br />
Evergreen wie „Dona dona“ etwas<br />
Neues abzugewinnen, und<br />
DIE ERDE IST<br />
verwandelt „Dans ma chambre“<br />
in ein kunstvolles Zwiegespräch<br />
zwischen Gesang und Geige.<br />
Mit der Auswahl des Liedes<br />
„Di goldene pave“ von Chava<br />
Alberstein macht Waysfeld<br />
deutlich, welche Traditionslinie<br />
sie weiterführt und weiterentwickelt.<br />
Zurückgenommen und<br />
musikalisch aufs Nötigste<br />
reduziert zeigt sich Sinikka<br />
Langeland auf Wolf Rune, ihrem<br />
ersten Soloalbum für ECM. In<br />
der Beschränkung auf Gesang<br />
und Kantele entwickelt die<br />
Aufnahme im Zusammenspiel<br />
der manchmal etwas spröden<br />
44 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Stimme und der kargen Instrumentierung<br />
einen ganz eigenen<br />
meditativen und spirituellen<br />
Reiz <strong>–</strong> eine Andacht zu Ehren<br />
der Natur. Die Klänge wurzeln in<br />
archaischen Vorzeiten, weisen<br />
aber gleichzeitig mit experimentellen<br />
Elementen in die<br />
Zukunft. Dazu passend reicht<br />
die Auswahl der vertonten Texte<br />
vom 13. Jahrhundert (Meister<br />
Eckhart) bis in die Gegenwart<br />
(Jon Fosse). Nebenbei ist das<br />
Album ein eindrucksvolles Plädoyer<br />
für die Vielseitigkeit der<br />
Kantele. Die Norwegerin wählt<br />
das jeweils passende unter drei<br />
Modellen mit 5, 15 und 39 Saiten<br />
aus, die sie abwechselnd zupft,<br />
mit dem Bogen streicht oder mit<br />
einem E-Bow bearbeitet.<br />
Poetisch wird’s auf dem<br />
neuen, bereits neunten Album<br />
des Duos Fjarill. Auf Poësi<br />
singen die beiden Wahl-Hamburgerinnen<br />
aus Südafrika und<br />
Schweden Gedichte von Nelly<br />
Sachs und Pär Lagerkvist. Bei<br />
der Vertonung der anspruchsvollen<br />
Lyrik, immerhin von zwei<br />
Literaturnobelpreisträger*in<br />
nen, setzen die Fjarill-Frauen<br />
auf Songwriter-Folk mit einer<br />
großen Portion Pop im besten<br />
Sinne: zugänglich, aber<br />
nicht anbiedernd. Besonders<br />
eindrucksvoll gelingt der Spagat<br />
zwischen Lyrik und Pop in<br />
„Kära, tag en brand ur elden“,<br />
das mit seinem treibenden und<br />
erhebenden Rhythmus geradezu<br />
euphorisierend wirkt. Es geht<br />
um große Themen, mal in<br />
Schwedisch und mal in Deutsch.<br />
Die Gedichtzeilen beweisen<br />
eindrucksvoll ihre Eignung als<br />
Songtexte und öffnen den Raum<br />
für Interpretationen: „Tiefdunkel<br />
ist des Heimwehs Farbe immer“.<br />
EINE SCHEIBE<br />
Von vornherein zum Singen<br />
gemacht, aber nicht weniger<br />
poetisch sind die Texte von<br />
Gabriele Muscolino, der nach<br />
zwei Alben als Sänger der<br />
Südtiroler Gruppe Nachtcafé<br />
jetzt sein Solodebüt veröffentlicht.<br />
Seine angenehm sonore<br />
und etwas knarziger gewordene<br />
Stimme mischt sich glänzend<br />
mit dem eher herben Harmoniegesang<br />
von Angelika Pedron.<br />
In den Arrangements trifft die<br />
cantautori-nahe Begleitung der<br />
irischen Bouzouki auf Folkelemente<br />
von Geige, Cello und<br />
Akkordeon; für zwei Gastauftritte<br />
schaut Martin Tourish (acc)<br />
von der Irish-Folk-Band Altan<br />
vorbei. Muscolino kann ebenso<br />
überzeugend Stimmungen<br />
beschreiben wie Geschichten<br />
erzählen, die er mit sicherer<br />
Hand in gefällige Melodien<br />
kleidet. Nicht so verrückt wie<br />
Vinicio Capossela und folkiger<br />
als Gianmaria Testa, doch wer<br />
die beiden mag, sollte auch<br />
diesem reifen Album etwas<br />
abgewinnen können.<br />
Nach vielen Jahren in der<br />
Kölner Bluegrass- und Jazzszene<br />
gibt es für Paul Bremen keine<br />
Entschuldigung mehr, nicht<br />
längst ein Album veröffentlicht<br />
zu haben, das ausschließlich<br />
aus Eigenkompositionen besteht.<br />
So nennt der Geiger und<br />
Mandolinist es dann auch: No<br />
More Excuses. Die Besetzung<br />
fällt mit Geige, Mandoline,<br />
Gitarre und Bass konventionell<br />
aus, wird bisweilen mit Banjo,<br />
Dobro, E-Gitarre und Cello<br />
ergänzt und bietet die Möglichkeit,<br />
neben den typischen<br />
Bluegrass-Zutaten Country, Folk<br />
und Jazz auch Rock-Elemente<br />
einzubauen. Auch wenn sich<br />
die Gesangsstücke nicht ganz<br />
auf dem Niveau der Instrumentals<br />
bewegen, sind sie unerlässlich,<br />
schließlich, so Bremen,<br />
habe jeder Songwriter die<br />
Pflicht, mindestens einen River-<br />
Song und einen Train-Song zu<br />
schreiben. Als Kölner hat er<br />
das Glück, dank der Eisenbahnbrücken<br />
über den Rhein beides<br />
in einem Abwasch erledigen zu<br />
können.<br />
Auch wenn Ray Cooper<br />
die Oysterband bereits 2013<br />
verlassen hat <strong>–</strong> mit seiner Musik<br />
bewegt er sich auch solo in<br />
ähnlich folkrockigen Regionen.<br />
Der Multiinstrumentalist ist<br />
weniger der Typ, der blutige<br />
Balladen aus alten Zeiten singt,<br />
sondern ein musikalischer<br />
Chronist, der beobachtet und<br />
kommentiert, was er aktuell<br />
um sich herum wahrnimmt. In<br />
„The Beast“ singt er es explizit:<br />
Die Vergangenheit soll doch<br />
bitte bleiben, wo sie war: in<br />
Burgruinen, alten Folksongs und<br />
unter der Erde. Wenn er fordert<br />
„We Need More Heroes“ sind<br />
keine Sagenhelden gemeint,<br />
sondern Whistleblower*innen,<br />
Krankenpfleger*innen und<br />
alle, die dafür kämpfen, dass<br />
längst überwunden geglaubte<br />
Ansichten wieder aufleben.<br />
Überraschend: Zu seinem<br />
Instrumentarium gehört neben<br />
Cello, Gitarre, Mandoline und<br />
Klavier auch die Kantele.<br />
Aus der lebendigen<br />
Musikszene Oslos stammt die<br />
Gruppe Benedikt. Hervorgegangen<br />
aus einem Soloprojekt des<br />
Norwegers Hans Olav Settem,<br />
ist sie nach und nach zu einer<br />
neunköpfigen Band herangewachsen,<br />
einfach weil Settem<br />
seit seinem Umzug in die Hauptstadt<br />
ständig neue Mitstreiter<br />
kennenlernt und einbindet.<br />
Dennoch wirkt Balcony Dream<br />
nicht überladen. Die Songs<br />
zeichnen sich durch ansprechende<br />
Melodien und eine gewisse<br />
grundsätzliche Sanftheit<br />
aus. Wenn die Begleitung der<br />
hingehauchten Stimme orchestrale<br />
Züge annimmt und auch<br />
noch ein Banjo einsetzt, sind<br />
Ähnlichkeiten zu Sufjan Stevens<br />
nicht zu überhören. Settem<br />
nennt aber auch Leonard Cohen<br />
und Nico als Einflüsse.<br />
Ein weiteres gutes Beispiel<br />
für die Durchlässigkeit der<br />
norwegischen Musikszene ist<br />
Erlend Apneseth. Der Hardangergeiger<br />
hat nicht nur im Folk<br />
einen guten Namen. Er spielt<br />
mit Jazzern, macht zeitgenössische<br />
und experimentelle<br />
Musik, und immer ist das<br />
Ergebnis unberechenbar und<br />
modern. So auch auf Lokk, dem<br />
neuen Album seines Trios mit<br />
Stephan Meidell (g) und Øyvind<br />
Hegg-Lunde (dr). Die Stücke,<br />
die für ein Tanztheaterprojekt<br />
entstanden sind, weisen viele<br />
rhythmusbetonte Passagen,<br />
aber auch Soundscapes auf, in<br />
die Apneseth stimmungsvolle<br />
Feldaufnahmen der Rufe von<br />
Hirtinnen einfügt. Schafft das<br />
Trio schon in Konzertsituationen<br />
durch Echtzeit-Verfremdung<br />
mit Live-Elektronik und Loops<br />
dichte Texturen, wird die Atmosphäre<br />
durch die anschließende<br />
Nachbearbeitung im Studio<br />
noch geheimnisvoller.<br />
Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass jemand, der sich von einem<br />
Bandnamen wie Os Barbapapas<br />
angezogen fühlt, auch in der<br />
Musik der gleichnamigen Band<br />
etwas Ansprechendes findet,<br />
ist hoch. Das brasilianische<br />
Quartett knüpft an alte Exoticaund<br />
Tropicália-Traditionen an<br />
und gönnt sich dafür gleich zwei<br />
Perkussionist*innen. Die liefern<br />
die meist entspannte rhythmische<br />
Basis für Surf-Gitarre,<br />
Bass, Glasharfe und Topfgitarre<br />
(was auch immer das sein mag).<br />
Dass Grenzen oder sonstige<br />
Beschränkungen dabei bedeutungslos<br />
sind, unterstreicht der<br />
Slogan ihres Labels Fun in the<br />
Church: „Outernational Music<br />
for Interplanetary People“.<br />
Leider ist ihr Album wegen der<br />
erschwerten Aufnahmesituation<br />
unter Pandemiebedingungen<br />
nur 25 Minuten lang, in denen<br />
die Frage letztlich nicht beantwortet<br />
wird: Befinden wir uns<br />
hier gerade unter Wasser oder<br />
irgendwo im hintersten Winkel<br />
der Galaxis?<br />
Guido Diesing<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 45
BURGES / GRÄNZER / SCHADE<br />
Von der Schönheit des Scheiterns<br />
Burges / Gränzer /<br />
Schade blicken<br />
zum zweiten Mal<br />
in menschliche<br />
Abgründe und<br />
spannen den Bogen<br />
vom Seelenschmerz<br />
zur Selbstironie.<br />
© Chris Gonz<br />
46<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Von Doris Schumacher<br />
Jenseits schillernder Welten <strong>–</strong><br />
Farben der Liebe heißt das neue<br />
Album des Brandenburger Trios<br />
<strong>–</strong> und wer jetzt fragt, ob es sich<br />
als Untermalung für kuschelige<br />
Momente eignet, dem kann man<br />
antworten: na ja. Ungeeignet<br />
ist es für alle, die glauben, die<br />
Farben der Liebe seien Hellblau<br />
und Rosarot. Geeignet für jene,<br />
denen die Schattenseiten der<br />
Liebe und des Lebens nicht<br />
fremd sind.<br />
Da fliegen auf dem Cover<br />
zwei wie Engel ohne Flügel<br />
aufeinander zu <strong>–</strong> und man weiß<br />
nicht, ob sie sich noch in der<br />
Mitte treffen, bevor der Abgrund<br />
sie verschlingt (Design: C.eS <strong>–</strong><br />
theARTer). Da geht es um einen<br />
Sohn, von dem die Mutter nur<br />
noch verkohlte Einzelteile findet,<br />
die nach einem Drohnenangriff<br />
in der Wüste liegen („Der<br />
Dienst“). Da gibt es das Paar,<br />
das so gegensätzlich ist, dass es<br />
schon wieder urkomisch wirkt<br />
(„Por una mirada“). Es geht um<br />
Geflüchtete, um Enttäuschte,<br />
um Einsame, Unverstandene,<br />
Lebensmüde. Doch durch die<br />
Verzweiflung weht stets ein<br />
kräftiger Hauch der Poesie. „Ich<br />
glaube, ich hätte nicht die Gabe,<br />
seichte Texte zu vertonen“,<br />
antwortet Katharina Burges auf<br />
die Frage, ob ihr die Texte als<br />
Komponistin nicht auch nahegehen.<br />
„Ich glaube, wenn man<br />
anfängt zu komponieren, ohne<br />
dass einem etwas nahegeht,<br />
dann macht man was falsch.<br />
Dann hat es nicht die Wucht,<br />
dann ist nicht die Seele drin.“<br />
Und Seele ist ganz viel drin in<br />
diesem Album, das doch eher<br />
ein Programm ist, denn es ist<br />
definitiv für die Bühne gemacht.<br />
Stilistisch richten sich die<br />
Vertonungen stark nach den<br />
Inhalten <strong>–</strong> da klingt’s mal nach<br />
der Partitur eines Horrorfilms<br />
(„Das letzte Land“), mal nach<br />
einer verrauchten Jazzbar<br />
(„Liebelei“), mal erinnert ein<br />
Streichquartett an Schubert<br />
(„Sternenblicke“), mal beginnt<br />
etwas wie eine romantische<br />
Klavierfantasie („Ein längst<br />
vergangener Sommer“). Und<br />
immer, wenn man sich gerade<br />
entspannt zurücklehnen will,<br />
kriechen einem Torsten Gränzers<br />
Texte ins Ohr und zwingen<br />
zum Aufhorchen. Perkussionist<br />
Göran Schade klappert kokett<br />
mit Kastagnetten, wenn Katharina<br />
Burges die Dramaqueen im<br />
Stil großer Opern gibt. Torsten<br />
Gränzer bleibt bei ihren vokalen<br />
Ausbrüchen cool und gibt zu, er<br />
verstehe ja gar nicht, wovon sie<br />
überhaupt rede. Kein Wunder,<br />
sie singt ja auch auf Spanisch<br />
(„Por una mirada“). Um die<br />
humorvolle Seite dieses Stücks<br />
zu verstehen, muss man freilich<br />
das dazugehörige Video gesehen<br />
haben. Allein vom Hören<br />
erschließt sie sich nicht.<br />
Beim ersten Album hatte<br />
Katharina Burges noch ältere<br />
Texte Gränzers vertont. Die fürs<br />
zweite schrieb dieser alle neu.<br />
Teilweise, sagt Gränzer, seien<br />
die Kompositionen schon vor<br />
den Texten dagewesen. „Katharina<br />
hat eine tolle Art zu komponieren<br />
und ihr Gefühl reinzubringen“,<br />
erklärt er. „Da fällt mir<br />
dann auch textlich was dazu<br />
ein. ,Der Dienst‘ zum Beispiel.<br />
Da war die Komposition schon<br />
fast ausarrangiert. Ich wusste<br />
gleich, da gehört was dazu, das<br />
einen auch textlich schockt. Ein<br />
Thema, das aufrüttelt. Und dann<br />
natürlich auch ,Die Einsamkeit‘.<br />
Der Song löste so eine Traurigkeit<br />
bei mir aus, dass ich sofort<br />
ein Bild dazu hatte. Man geht<br />
durch einsame Straßen und<br />
fühlt sich nirgendwo zugehörig.“<br />
Themen, die immer da sind,<br />
mit denen wir uns aber zu wenig<br />
beschäftigen, gehören auf die<br />
Bühne, finden Burges / Gränzer /<br />
Schade. Dazu zählen auch Depression<br />
oder Suizid („Stufen“).<br />
Fühlt sich da nicht so manch einer<br />
vor den Kopf gestoßen? Die<br />
Reaktionen seien überwiegend<br />
sehr positiv, so das Trio. „Wir<br />
wollen nicht provozieren“, fügt<br />
Gränzer hinzu. „Wir entlassen<br />
unser Publikum immer mit einem<br />
positiven Gefühl.“<br />
War beim ersten Album<br />
noch Elektronik mit im Spiel,<br />
kommen auf dem zweiten drei<br />
Streicher und ein Saxofonist zum<br />
Einsatz. „Es ist immer schöner,<br />
mit Live-Musikern zu arbeiten“,<br />
erklärt Göran Schade. „Es war<br />
leicht, die richtigen Kollegen zu<br />
finden, da wir hier in Brandenburg<br />
ein sehr gutes Symphonieorchester<br />
haben mit Musikern,<br />
die in vielen Stilen versiert sind.“<br />
Ob sie aus dem Jenseits<br />
schillernder Welten auch mal<br />
einen kleinen Abstecher hinüber<br />
ins Diesseits machen <strong>–</strong> dorthin,<br />
wo Glanz und Glamour zu finden<br />
sind? „Ich glaube, in so einer<br />
Plastikwelt würden wir es nicht<br />
wirklich aushalten“, erklären<br />
die drei einhellig. Komplett<br />
illusionslos geben sie sich aber<br />
doch nicht. „Ich glaube, ganz<br />
ohne Illusionen kann man als<br />
Künstler nicht wirklich leben“,<br />
so Burges. „Wir wünschen uns,<br />
dass wir mit dem, was wir tun,<br />
Anerkennung finden.“ Gränzer<br />
meint dazu: „Ich persönlich versuche,<br />
die schönen Momente<br />
festzuhalten. Die schillernden<br />
Welten, die gibt’s einfach nicht.<br />
Wenn wir uns die Schattenseiten<br />
immer wieder bewusst<br />
machen, dann wissen wir, was<br />
wir am Leben schätzen können.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Burges / Gränzer / Schade: Jenseits<br />
schillernder Welten <strong>–</strong> Die Farben der Liebe<br />
(Grenzton / Dance All Day)<br />
© Chris Gonz<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 47
LOGAN<br />
RICHARDSON<br />
Logan’s Run<br />
Auf sein Blue-Note-Debüt blickt der Saxofonist Logan<br />
Richardson heute eher skeptisch zurück. Mit neuem<br />
Wohnsitz Rom, neuer Platte im Rücken und Plänen für die<br />
Zukunft in der Schublade, schaut er lieber nach vorne.<br />
Daher auch der Albumtitel: Afrofuturism.<br />
Von Eric Mandel<br />
Das Wort löst gewisse Assoziationen aus:<br />
Der Begriff Afrofuturism wurde Mitte der<br />
Neunziger populär, als Klammer für futuristische<br />
Elemente in Jazz, Funk, Rap und<br />
dem neuen Ding Techno: Synthesizer, FM-<br />
Synthese, Sequencer, Drum-Machines,<br />
dazu psychedelische Cover mit Bezügen<br />
zur Zukunft (Raumschiffe), aber auch<br />
zur Vergangenheit (Pyramiden). Heute<br />
umfasst es einen Kanon, der von Sun Ra<br />
bis zu Produzenten wie Hieroglyphic Being<br />
und Ras G reicht, schließt aber auch die<br />
Romane von Octavia Butler und Samuel<br />
R. Delany mit ein, Filme wie Brother from<br />
Another Planet sowie kulturelle Felder wie<br />
die Beziehung zwischen Star Trek-Schauspielerin<br />
Nichelle Nichols (Lt. Uhura) und<br />
der NASA, Dogon-Astrologie oder den<br />
fiktiven Staat Wakanda aus den Black<br />
Panther-Comics.<br />
Der Witz an Logan Richardsons<br />
neuem Album ist, dass es zunächst nach<br />
nichts von alledem klingt. Vom Ton her<br />
ist er weniger ein Jünger Coltranes als<br />
eher ein Schüler Michael Breckers, sein<br />
Bandsound eher von Lyle Mays und der<br />
Pat Metheny Band herzuleiten als von<br />
Funkadelic oder den Headhunters. Es gibt<br />
ausufernde Ensemble-Stücke, die sich<br />
aus süßlichen Gefilden in einen freitonalen<br />
Rausch emporschwingen, aber auch<br />
ein Duett mit Cello, eine unbegleitete<br />
Saxofon-Komposition („For Alto“), den<br />
Gesang seiner Großmutter, schwebende<br />
Vokal-Passagen sowie Logan-Dialoge<br />
mit dem Drum-Computer, die von jenem<br />
synthetisch-samtweichen 80er-Sound<br />
durchtränkt sind, der Thundercat zu einem<br />
Grammy verholfen hat.<br />
Als Logan Richardson das hört,<br />
muss er lachen: „Ich verstehe, worauf du<br />
hinauswillst, aber ich fasse den Begriff<br />
Afrofuturismus noch viel weiter auf. Für<br />
mich ist jede schwarze Person, die sich<br />
heutzutage mit all den dafür nötigen<br />
Technologien durchs Leben schlägt und<br />
vielleicht noch ein Business betreibt, ein<br />
Afrofuturist.“ Damit meint er natürlich<br />
nicht zuletzt sich selbst. Nach Lehrjahren<br />
in Berklee, Projekten mit Nasheet Waits<br />
und Jason Moran und einer Reihe von<br />
eigenen Alben hat er sich vom Hardbop-<br />
Korsett befreit und einen distanzierten<br />
Blick aufs Business entwickelt.<br />
Der Afrofuturismus wie oben definiert<br />
ist für ihn schon wieder retrofuturistisch,<br />
ein „Brand“, der die Befriedigung<br />
gewisser Erwartungen verspricht, die<br />
Richardson viel zu eng scheinen. Warum<br />
muss Afrofuturismus wie Sun Ra klingen<br />
und nicht beispielsweise wie Chick Coreas<br />
Elektric Band? Dem Schubladendenken<br />
wieder einen Schritt voraus zu sein, den<br />
Rahmen immer wieder zu sprengen und<br />
48 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
sich dabei selbst zu verwirklichen <strong>–</strong> das<br />
ist sein Afrofuturismus, und damit im Sinn<br />
lässt sich das hypereklektische Album<br />
prima entschlüsseln.<br />
Auf eine Einleitung von seinem<br />
Kumpel Stefon Harris, der hier nicht als<br />
Vibrafonist, sondern als MC dient, folgt<br />
„The Birth of Us“, ein Selbstporträt seiner<br />
aktuellen Band Blues People. Der längste<br />
und tumultuöseste Song des Albums ist<br />
gewissermaßen der Honigtopf, mit dem<br />
Logan ins Innere des Werkes lockt, wo<br />
im Folgenden noch ganz andere, zartere<br />
und experimentellere Dinge passieren.<br />
Herzstück des Albums ist ein Klagegesang<br />
zwischen Logans Alt und dem Cello von<br />
Ezgi Karakus, gewidmet einem dunklen<br />
Kapitel der Black History in den USA, das<br />
er in entsprechend düsteren Farben ausmalt:<br />
„Die Black Wall Street war Greenwood,<br />
ein Viertel von Tulsa, Oklahoma. Zur<br />
Zeit der Segregation war es ein Schwarzes<br />
Handels- und Finanzzentrum, ungefähr<br />
30 Blocks mit eigenen Geschäften und<br />
Banken. Es war das reichste schwarze<br />
Viertel in den USA und ein Dorn im Auge<br />
der Regierung. Als Konsequenz wurde es<br />
im Jahr 1921 unter einem Vorwand vernichtet:<br />
ein Massaker mit Fliegerbomben<br />
und Hunderten Toten und Verletzten. Es ist<br />
ein totgeschwiegenes Kapitel der Black<br />
History vor genau 100 Jahren, an das ich<br />
erinnern will.“<br />
Hier ist sich Logan Richardson mit allen<br />
Afrofuturist*innen einig: Nur wer seine<br />
Vergangenheit kennt, kann seine Zukunft<br />
selbst schreiben. Seine Zukunft stellt er<br />
sich gegenwärtig mit seiner Verlobten<br />
Laura Taglialatela vor, die auf dem Album<br />
als Sängerin zu hören ist. Mit ihr plant er<br />
weitere Produktionen auf seinem Label<br />
Wax Industries, gewissermaßen seine<br />
Konsequenz aus den Erfahrungen mit<br />
der Industrie und die Umsetzung seiner<br />
Maxime: Sei dein eigener Boss. Mit dem<br />
UK-Label Whirlwind hat er einen Partner<br />
gefunden, der das Album auch wirklich<br />
auf Wax, also Vinyl, veröffentlicht. Nachdem<br />
er bisher in ständigem Pendelverkehr<br />
zwischen seiner Heimatstadt Kansas<br />
City, New York und Rom kreiste, plant er<br />
nun schwerpunktmäßig von Europa aus<br />
seine nächsten Schritte, unter anderem<br />
eine Album-Trilogie mit Afrofuturism als<br />
Auftakt.<br />
Wenn er von seinen neuen Plänen<br />
und Freiheiten schwärmt, wird deutlich,<br />
wie sehr ihm seine zwiespältige Blue-<br />
Note-Erfahrung in den Knochen steckt:<br />
„Ich habe ihnen ein Album gegeben, das<br />
niemand sonst hätte machen können, mit<br />
PDF in 4c<br />
Jason Moran, Pat Metheny und Nasheet<br />
Waits, aber rückblickend kann ich nicht<br />
behaupten, dass sie sich besonders<br />
darum gekümmert hätten.“ So zieht er es<br />
nun vor, mit dem eigenen Mutterschiff in<br />
Richtung Zukunft zu reisen.<br />
Aktuelles Album:<br />
Logan Richardson: Afrofuturism<br />
(Whirlwind / Indigo)
FRED HERSCH<br />
Instrumentals mit<br />
Gesang im Kopf<br />
Fred Hersch lässt sich nicht unterkriegen und<br />
veröffentlicht zur Corona-Zeit nicht etwa in sich gekehrte,<br />
nachdenkliche und melancholische Improvisationen,<br />
sondern baut mit sanglichen Klavier-Songs auf<br />
Zugänglichkeit.<br />
Von Jan Kobrzinowski<br />
„Von all den Songs mit Lyrics<br />
kenne ich diese auswendig und<br />
singe sie in meinem Kopf mit“,<br />
sagt Fred Hersch im Video-<br />
Interview. „Ich versuche, so zu<br />
phrasieren, wie ein Sänger das<br />
täte.“ Er sitzt an seinem Flügel im<br />
Landhäuschen in den Wäldern<br />
von Pennsylvania. Er und sein<br />
Lebensgefährte haben das<br />
Haus vor 16 Jahren „rund um<br />
den Steinway-B-Flügel herum“<br />
gebaut. „Ich denke, Songs from<br />
Home war das richtige Projekt<br />
zur richtigen Zeit. Ich wollte, dass<br />
die Leute sich in mein Wohnzimmer<br />
eingeladen fühlen, und spiele<br />
einfach ein paar Songs für sie,<br />
die ich gerne spiele. Nicht mehr<br />
und nicht weniger. Ich bin nicht<br />
besessen von der Idee, dass es<br />
perfekt klingen muss. Es klingt<br />
gut genug.“ Understatement,<br />
denn mit technischer Hilfe von<br />
Fachleuten aus der Ferne ist ein<br />
lebendig klingendes Soloalbum<br />
entstanden <strong>–</strong> eines der besten<br />
der letzten Zeit.<br />
„Mein Repertoire besteht<br />
meist aus drei Teilen: populäre<br />
Lieder mit Texten,<br />
Jazz-Kompositionen sowie<br />
Originalstücke von mir. Der<br />
Titel war absichtlich gewählt.<br />
Keine Hintergrundmusik, aber<br />
zugänglich, und sie versucht,<br />
den Moment einzufangen. Ich<br />
denke, dass jeder zumindest<br />
einen der Songs kennt. Ältere<br />
kennen die Standards, Leute,<br />
die in den 60er und 70ern dabei<br />
waren, kennen Joni Mitchell,<br />
Jazzguys kennen Kenny<br />
Wheeler. Ich begann mit 20 Stücken.<br />
Einige davon gelangen<br />
mir in einem oder zwei Takes,<br />
andere gerieten nicht, wie ich<br />
sie haben wollte.“ Bei denen,<br />
die dringeblieben sind, schaffte<br />
er dann, das zu sagen, was er<br />
wollte.<br />
„Für ein gutes Set musst<br />
du einen Bogen haben. Was<br />
ich von älteren Sängerinnen<br />
lernte, ist z.B. der Eleveno’clock-Song,<br />
der vorletzte<br />
Song, immer eine Ballade,<br />
die dich wie in der Hand<br />
50<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Mark Niskanen<br />
hält. Nach zehn oder zwölf<br />
Songs hast du nichts mehr zu<br />
beweisen. Da musst du etwas<br />
spielen, das dir wirklich etwas<br />
bedeutet. Ich spiele dann eine<br />
Ballade oder etwas von Monk.<br />
Aber absichtlich ist hier kein<br />
Monk-Tune auf dem Album.<br />
Mein Fokus lag auf Songs mit<br />
Lyrics.“<br />
Den Opener „Wouldn’t It<br />
Be Loverly” habe er durcharrangiert,<br />
das Intro aber sei<br />
spontan zustande gekommen,<br />
sagt Hersch. „Im Solo ging ich<br />
dann tatsächlich verloren, aber<br />
gerade das öffnete die Tür zu<br />
etwas Interessantem. Selbst<br />
wenn live etwas schiefgeht,<br />
gerate ich nicht mehr in Panik.<br />
Es ist eher so: ,Okay, das ist<br />
interessant, lass uns sehen,<br />
wo das hinführt.‘“ Auf Jimmy<br />
Webbs „Wichita Lineman“<br />
folgt „After You‘ve Gone“, von<br />
Hersch ganz im traditionellen<br />
Stride-Stil gespielt. Er verzichtet<br />
auch hier auf virtuose<br />
Sperenzchen, streut ein paar<br />
klassische Kadenzen ein und<br />
hier und da eine Prise Monk.<br />
Auch diesmal darf Joni<br />
Mitchell nicht fehlen. Für<br />
meine einsame Insel: Freds<br />
Version von „All I Want“<br />
vom Album Blue. „Get Out of<br />
Town“ ist ein Gruß an all die<br />
Fellow-New-Yorkers, die die<br />
Zeit „for the duration” auf dem<br />
Land verbringen. Das Thema<br />
des Cole-Porter-Songs spielt<br />
Hersch fast sanglicher, als je<br />
eine Sängerin es interpretieren<br />
könnte. Freds Mutter trug<br />
den blumigen Namen Florette,<br />
in „West Virginia Rose“ <strong>–</strong> im<br />
Medley mit dem Folk-Tune „The<br />
Water Is Wide“ <strong>–</strong> „besingt“<br />
er sie instrumental. Mit dem<br />
Hersch-Original „Sarabande“<br />
folgt das nachdenklichste Stück<br />
des Albums, das die Tiefe auslotet,<br />
in der der Pianist sich mit<br />
seinem Instrument auseinandergesetzt<br />
hat. Nach dem melodiösen<br />
Thema von „Consolation<br />
(A Folk Song)“ entfaltet er die<br />
Kenny-Wheeler-Komposition<br />
in einer Art Improptu. Dann,<br />
als Eleven-o’clock-Song,<br />
wunderbar getupft, die einzige<br />
„wirkliche Corona-Ballade“: Ellingtons<br />
„Solitude“. „Ein Stück,<br />
dass ich kaum je gespielt habe.<br />
Das wollte ich wirklich ganz<br />
ruhig haben.“ Augenzwinkernd<br />
erinnert er dann mit „When I’m<br />
Sixty-Four“ an sein fortgeschrittenes<br />
Alter.<br />
Zu Beginn des Shutdowns<br />
hatte sich Fred Hersch nicht<br />
mehr wirklich als Musiker<br />
gefühlt und war ziemlich<br />
deprimiert. Nun, sagt er, sei es<br />
ganz okay, von zu Hause Konzerte<br />
zu geben, sogar Geld zu<br />
verdienen, ohne in ein Flugzeug<br />
zu steigen, zu reisen oder auf<br />
Klavieren zu spielen, die ihm<br />
nicht gefallen. „Mir gefiel das<br />
schon vorher nicht allzu sehr,<br />
und ich glaube nicht, dass ich<br />
wieder so beschäftigt sein<br />
werde wie vorher. Aber jetzt<br />
schreibe, spiele, unterrichte<br />
ich, interagiere mit Leuten, ich<br />
meditiere, mache Übungen, es<br />
ist wunderschön hier draußen.<br />
Und jetzt im Frühling werde ich<br />
mehr spazieren gehen.“<br />
Charity war schon<br />
immer Fred Herschs Sache.<br />
Fundraising-Gigs für die Jazz<br />
Foundation, Konzerte für die<br />
Steinway Hall mit acht anderen<br />
Pianisten und eine EP mit<br />
Esperanza Spalding brachten<br />
insgesamt etwa 50.000 Dollar<br />
ein. „Eine meiner nächsten<br />
Wohltätigkeitsaktionen ist für<br />
Feeding America, ein Netzwerk,<br />
das sich um Leute kümmert, die<br />
sich von Food Banks ernähren<br />
müssen. Ich kann zwar<br />
keine 20.000-Dollar-Schecks<br />
ausschreiben, aber etwas<br />
beisteuern müssen wir alle.“<br />
Fred Herschs nächstes<br />
Projekt nimmt auch bereits<br />
Gestalt an: Er arbeitet an Originalmusik<br />
für Trio und Streichquartett<br />
und hofft, diese im<br />
Sommer aufnehmen zu können.<br />
Wenn alle geimpft sind. Dabei<br />
sein werden Drew Gress (b)<br />
und Jochen Rückert (dr). „Es ist<br />
Zeit für einen Wechsel <strong>–</strong> heraus<br />
aus der Komfortzone.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Fred Hersch: Songs from Home<br />
(Palmetto / Broken Silence)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 51
Kris Davis ist nicht nur die <strong>–</strong> laut DOWN-BEAT-Kritikerpoll <strong>–</strong> aktuell beste<br />
Jazzpianistin; sie betreibt auch ihr eigenes Label Pyroclastic Records<br />
KRIS DAVIS Die Verwegene<br />
Von Christoph Wagner<br />
2016 hat Kris Davis Pyroclastic<br />
Records gegründet. Das mag<br />
tollkühn erscheinen in Zeiten,<br />
da Plattenfirmen reihenweise<br />
aufgeben und die Branche in<br />
einer tiefen Krise steckt. Doch<br />
mit herausragenden Alben von<br />
Craig Taborn, Angelica Sanchez,<br />
Eric Revis, Cory Smythe, Ben<br />
Goldberg und der Labelchefin<br />
selbst hat Davis‘ Label seither<br />
für Furore gesorgt.<br />
Christoph Wagner: Heute ein<br />
Plattenlabel zu gründen <strong>–</strong> ist das<br />
nicht verrückt?<br />
Kris Davis: Vielleicht bin ich<br />
verrückt. (lacht) Ich war an<br />
einem Punkt in meiner Karriere<br />
angelangt, wo ich eine Plattform<br />
für all meine nächsten Alben<br />
kreieren wollte. Darüber hinaus<br />
wollte ich etwas Größeres<br />
schaffen, das der Jazz-Community<br />
hilft. Die Idee war, das Label<br />
als eine Non-Profit-Organisation<br />
zu führen und andere Musiker<br />
dazuzunehmen. Die Mission des<br />
Labels ist es, nicht kommerzielle<br />
Musik zu unterstützen, zu veröffentlichen<br />
und zu vertreiben.<br />
Christoph Wagner: Immer wieder<br />
haben es Musiker mit eigenen<br />
Labels versucht. In den 1980er<br />
Jahren sagte mir der Saxofonist<br />
Ned Rotherberg von Lumina Records:<br />
„Wenn du Geld verlieren<br />
willst, gründe ein Label.“ Wie<br />
wollen Sie das vermeiden?<br />
Kris Davis: Pyroclastic Records<br />
ist nicht auf Gewinn ausgerichtet.<br />
Deshalb sind wir auf<br />
Geldgeber angewiesen. Wir<br />
haben ein Gremium von Sponsoren,<br />
von denen jeder jährlich<br />
einen festen Betrag beisteuert.<br />
Dadurch steht uns jährlich eine<br />
gewisse Summe zur Verfügung,<br />
mit der wir arbeiten können, d.h.<br />
wir können fünf bis sechs Alben<br />
pro Jahr veröffentlichen, und<br />
die Kosten für die Herstellung,<br />
den Vertrieb, die Publicity etc.<br />
sind gedeckt. Durch den Verkauf<br />
versuchen wir, etwas von dem<br />
Geld wieder zurückfließen zu<br />
lassen, um es in die nächsten<br />
Veröffentlichungen zu stecken.<br />
Wir müssen also keine Gewinne<br />
erwirtschaften, sondern können<br />
mit dem Geld, das uns zur Verfügung<br />
steht, die Musik fördern.<br />
Christoph Wagner: Wer sind die<br />
Leute, die das Label sponsern?<br />
Kris Davis: Das sind Musikbegeisterte,<br />
die die Künste und<br />
die Musik unterstützen wollen:<br />
Philanthropen! Jeden dieser<br />
Unterstützer habe ich auf andere<br />
Weise kennengelernt. Einer<br />
davon ist der Schriftsteller David<br />
Breskin von der Shifting Foundation,<br />
der seit Jahren auch<br />
als Plattenproduzent tätig ist.<br />
Die Stiftung vergibt Stipendien<br />
an Musiker, ob Bill Frisell, Dan<br />
Weiss oder Mary Halvorson,<br />
für spezielle Projekte und wenn<br />
es passt, bringen wir die Musik<br />
dann als Album heraus. Eine<br />
© Caroline Mardok<br />
andere Mäzenin hab ich auf<br />
Twitter kennengelernt. Sie ist<br />
einfach ein Fan. Einem Unterstützer<br />
bin ich bei einem Konzert<br />
in Boston begegnet. So wächst<br />
der Kreis der Förderer.<br />
Christoph Wagner: Übernehmen<br />
die Unterstützer noch andere<br />
Aufgaben?<br />
Kris Davis: Sie initiieren Spendenaktionen<br />
und helfen, weitere<br />
Sponsoren zu gewinnen.<br />
Christoph Wagner: Sind Sie für<br />
die künstlerische Ausrichtung<br />
des Labels zuständig?<br />
Kris Davis: Ja, mit einem<br />
kleinen Gremium fällen wir die<br />
Entscheidungen, welche Alben<br />
wir veröffentlichen wollen. Wir<br />
besprechen die Vorschläge.<br />
Manche der Projekte wurden<br />
von der Shifting Foundation<br />
gefördert und haben Priorität,<br />
weil sie uns nichts kosten.<br />
Christoph Wagner: Was sind die<br />
Kriterien, die ein Album erfüllen<br />
muss, damit es auf Pyroclastic<br />
erscheint?<br />
Kris Davis: Wir halten Ausschau<br />
nach kreativer, abenteuerlicher,<br />
nicht kommerzieller Musik. Darüber<br />
hinaus achten wir darauf,<br />
dass genügend Frauen und<br />
afroamerikanische Musiker vertreten<br />
sind. Das ist für mich mit<br />
Sicht auf das Gesamtprogramm<br />
ein wichtiges Kriterium.<br />
Christoph Wagner: Können Sie<br />
ein paar Zahlen nennen, was<br />
die Auflage und den Verkauf<br />
anbelangt?<br />
Kris Davis: Normalerweise<br />
ist die Auflage einer CD 2000<br />
Stück. Ungefähr ein Viertel ist<br />
für die Publicity vorgesehen:<br />
Fachmaga zine, Zeitungen, Radio,<br />
Websites etc. Ungefähr die<br />
Hälfte geht in den Verkauf. Der<br />
betreffende Musiker bekommt<br />
<strong>300</strong> Stück zum Direktverkauf bei<br />
Auftritten. Wenn die weg sind,<br />
kann man mehr haben.<br />
Christoph Wagner: Wie viele<br />
Leute arbeiten für das Label?<br />
Kris Davis: Ich habe die Gesamtaufsicht,<br />
aber wir haben<br />
Freiberufler, die sich unterschiedlichen<br />
Aufgaben widmen,<br />
und einen Vertrieb, der die CDs<br />
verkauft. Es gibt eine Person, die<br />
dafür sorgt, dass die Alben auf<br />
den verschiedenen Internet-<br />
Plattformen erhältlich sind, eine<br />
andere kümmert sich um die<br />
Publicity, füttert die sozialen<br />
Medien.<br />
Christoph Wagner: Wie sieht die<br />
Zukunft aus?<br />
Kris Davis: Am schwierigsten<br />
ist es vorauszusehen, wie sich<br />
das Verhältnis von CDs und<br />
digitalen Downloads entwickeln<br />
wird. Wird es die Compact Disc<br />
in zehn Jahren noch geben?<br />
Mit solchen Fragen schlagen<br />
wir uns herum. Darüber hinaus<br />
arbeite ich momentan mit einer<br />
Firma zusammen, um den CO 2<br />
-<br />
Fußabdruck jeder CD zu verkleinern.<br />
Wir schauen uns genau<br />
an, wie viel Energie und CO 2<br />
-<br />
Ausstoß mit der Produktion, den<br />
Lieferwegen, der Verschickung<br />
etc. eines Albums verbunden<br />
sind und wie wir das reduzieren<br />
können. Gleichzeitig geht es<br />
darum, einen Ausgleich für den<br />
CO 2<br />
-Ausstoß zu schaffen, um ihn<br />
auf null zu bringen.<br />
Christoph Wagner: Das sind<br />
große Ziele.<br />
Kris Davis: Wir müssen in<br />
die Zukunft blicken und die<br />
Probleme angehen, mit denen<br />
wir konfrontiert sind. Das gilt<br />
auch für uns Jazzmusiker. Jeder<br />
sollte seinen Beitrag leisten.<br />
Irgendwann werden wir möglicherweise<br />
überhaupt keine CDs<br />
mehr herstellen, was vom ökologischen<br />
Standpunkt her am<br />
besten wäre. Doch im Moment<br />
sind sie noch unverzichtbar.<br />
Website:<br />
www.pyroclasticrecords.com<br />
52 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
MARC RIBOT<br />
Hoffnung<br />
© Ebru Yildiz<br />
Gitarrist Marc Ribot ist eine Ikone der New Yorker Downtown-Avantgarde-<br />
Jazz-Szene und neben Elliott Sharp und John Zorn auch einer der letzten<br />
Aufrechten jenes Biotops, die seit den 1980er Jahren immer noch Zeichen<br />
der kreativen Destruktion setzen. Mit einem neuen Album seiner Band<br />
Ceramic Dog macht er seinem Ruf einmal mehr Ehre.<br />
54<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Von Wolf Kampmann<br />
Hope ist das fünfte Album von Marc Ribots<br />
Band Ceramic Dog, die es seit 2008 mit<br />
Bassist Shahzad Ismaily und Drummer<br />
Ches Smith gibt. Der optimistische Titel ist<br />
überraschend, gibt der notorische Zyniker<br />
Ribot doch selten den Herold der Hoffnung.<br />
Unter veränderten Umständen zeigen<br />
manche Menschen jedoch auch ein anderes<br />
Gesicht. „Ursprünglich sollte der Titel Better<br />
Luck Next Time lauten“, so Ribot. „Nachdem<br />
Donald Trump aus dem Amt gekickt wurde,<br />
erschien uns der Titel aber nicht mehr passend.<br />
Die Menschen tanzten auf der Straße.<br />
Hoffnung ist ja nicht dasselbe wie Optimismus.<br />
Ich würde es als sehr vorsichtige<br />
Hoffnung bezeichnen, vermindert durch viele<br />
Enttäuschungen der Vergangenheit.“ Aber<br />
typisch Ribot folgt auf die Einschränkung sogleich<br />
die Einschränkung der Einschränkung:<br />
„Vielleicht kam der letzte Satz etwas zu ernst<br />
rüber. Ich würde gern ein lächelndes Gesicht<br />
dahintersetzen.“<br />
Apropos Vergangenheit. Auf den<br />
bisherigen vier Alben von Ceramic Dog hat<br />
sich meist eine durchgehende Stimmung<br />
vom Anfang bis zum Ende gezogen. Auf Hope<br />
ist das anders. Die Platte scheint alles zu<br />
umarmen, wofür Marc Ribot in den letzten 35<br />
Jahren gestanden hat. Waren seine jüngeren<br />
Platten teilweise sehr politisch, vertont<br />
er hier eine Art Lebensreise. Ribot ist sich<br />
unsicher. „Vielleicht beschreibt es ja wirklich<br />
diesen berühmten Augenblick vor dem Auge<br />
eines Sterbenden, an dem sein ganzes Leben<br />
noch einmal vorbeizieht. Aber das Album dokumentiert<br />
auch unsere Suche nach Freude.<br />
Für viele von uns war es der erste Studiotermin<br />
nach Monaten des Shutdowns. Es war<br />
so ein starkes Gefühl der Erlösung, endlich<br />
wieder miteinander spielen zu können. Wir<br />
suchten nach der Befreiung von etwas, das<br />
einfach tödlich war.“<br />
Im Grunde ist es ja erstaunlich, dass<br />
Marc Ribot überhaupt mit einer Band fünf<br />
Alben durchhält. Fast all seine Formationen<br />
von den Rootless Cosmopolitans über Shrek<br />
bis zu den kommerziell sehr erfolgreichen<br />
Los Cubanos Postizos brachten es auf genau<br />
zwei Platten. Auch Ceramic Dog war nicht<br />
als Langzeitprojekt geplant. „Ursprünglich<br />
wollten wir genau eine Platte machen. Aber<br />
dann hatten wir zu viel Material. Und so<br />
wurde eine kontinuierlich arbeitende Band<br />
daraus. Mittlereile muss ich konstatieren,<br />
dass Ceramic Dog mit Ausnahme meiner<br />
Tochter meine am längsten anhaltende<br />
Beziehung ist.“<br />
Auch wenn Ribot selbst behauptet,<br />
Ceramic Dog hätte sich von 2008 bis heute<br />
nicht substanziell verändert, lässt sich dem<br />
Trio doch über die Jahre ein bemerkenswerter<br />
Paradigmenwechsel attestieren.<br />
War es ursprünglich eine Jazzband, die<br />
sich dem Rock annäherte, wurde daraus<br />
eine lupenreine Rockband, die sich jetzt,<br />
13 Jahre nach ihrer Gründung, wieder dem<br />
Jazz annähert. Ribot lehnt Kategorisierungen<br />
für seine Musik zwar entschieden ab, hat<br />
dazu aber eine schöne Anekdote auf Lager.<br />
Als Jugendlicher hatte er Trompete gelernt,<br />
trug aber eine Zahnspange <strong>–</strong> und beendete<br />
seine Bläserkarriere entsprechend früh.<br />
Auf seinem kleinen Transistorradio hörte er<br />
die Beatles, Rolling Stones, Booker T. & The<br />
MGs, James Brown und andere Acts der<br />
Sixties. „Ich fand Keith Richards cool und<br />
beschloss, Gitarre zu lernen. Einige Jahre<br />
später orientierte sich alles immer mehr an<br />
den Charts und ich entdeckte den Jazz als<br />
Form der musikalischen Freiheit. Die besten<br />
Gitarristen schienen Jazzgitarristen zu sein.<br />
Als ich von <strong>Mai</strong>ne nach New York zog, nahm<br />
ich an vielen Jam-Sessions teil. Nach etwa<br />
einem Jahr bekam ich einen Job bei Brother<br />
Jack McDuff, einem echten Jazzmusiker.<br />
Allerdings stellte sich schnell heraus, dass<br />
McDuff mein Spiel hasste. Er starrte mich auf<br />
der Bühne an, als wollte er mich töten. Ich<br />
fragte mich, warum zur Hölle er mich dann<br />
angeheuert hatte. Eines Tages jedenfalls<br />
sagte er zu mir: „Du bist kein Jazzmusiker.<br />
Du bist nicht einmal ein R&B-Musiker. Du<br />
bist ein Rockmusiker.“ Und das sagte er mit<br />
aller Verachtung, die er in dieses Wort legen<br />
konnte.“<br />
Was Ribot mit Mitte 20 noch als Demütigung<br />
empfand, akzeptiert der Rockwolf<br />
im Jazzpelz längst als Stärke. Insofern<br />
verwundert es nicht, dass sein Album<br />
voller Referenzen an den britischen Rock<br />
der Sixties ist. Einzelne Songs erinnern an<br />
die Rolling Stones oder David Bowie, einer<br />
ist sogar eine Coverversion von Donovan.<br />
Auch wenn sich gegen Ende des Albums<br />
immer mehr Jazz-Elemente breitmachen und<br />
Darius Jones ein berauschendes Saxofon<br />
spielt, zieht sich dieser British Tinge doch<br />
durch das Album. „Ich bin ein Archäologe“,<br />
frohlockt Ribot. „Ich grabe in meiner Musik<br />
meine eigene Erinnerung aus. Es gibt viele<br />
Musiker, die sich mit Geschichte beschäftigen.<br />
Ich würde mich dazu zählen, aber<br />
ich forsche nicht in der Bibliothek, sondern<br />
wenn ich schlafe. Wenn ich mich auf die<br />
Rolling Stones beziehe, dann nicht, indem<br />
ich ihre originalen Songs analysiere. Mich<br />
interessiert die Rekonstruktion ihrer Songs in<br />
meiner Erinnerung an das Radio im Chevrolet<br />
meines Vaters. Du hörst auf der Platte keine<br />
Person von <strong>2021</strong>, die sich für britischen Rock<br />
der Sixties interessiert, sondern jemanden,<br />
der <strong>2021</strong> ein Kind in den Sixties ist.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Marc Ribot’s Ceramic Dog: Hope<br />
(Enja / Yellowbird / Edel:Kultur)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
55
CHARLES LLOYD<br />
Bluesman auf spirituellem Weg<br />
Charles Lloyd sieht in seinem Musizieren nicht weniger als einen<br />
Dienst an der Menschlichkeit. Nicht viel hält er von Etiketten und<br />
Hineindeutungen in seine Musik, so auch nicht von der Idee „Back<br />
To the Roots“, obwohl Tone Poem, das neue Album seiner Marvels,<br />
ganz danach klingt.<br />
© Dorothy Darr<br />
56 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Von Jan Kobrzinowski<br />
„Vielleicht schließt sich ein<br />
Kreis. Mag sein, dass ich nach<br />
Hause zurückkehre. Ich liebe<br />
es, im Dienst zu sein, für eine<br />
bessere Welt zu spielen, von<br />
der du besser nicht sprechen<br />
solltest, weil du nur missverstanden,<br />
wenn nicht gar dafür<br />
verhaftet wirst.“ Ein Musiker<br />
wie Charles Lloyd hat dieser<br />
Welt schon eine so unglaubliche<br />
Menge von Musik<br />
geschenkt, so viele Menschen<br />
inspiriert, was bleibt da noch<br />
zu tun? Man legt seine Musik<br />
kaum wegen des Wunsches<br />
nach abstraktem Erkenntnisgewinn<br />
auf, eher dient sie dazu<br />
(so wie ihr Urheber selbst), uns<br />
sinnlich zu bereichern, zu träumen,<br />
die Wahrheit im Klang zu<br />
suchen. „Ich will niemandem<br />
ein Glaubenssystem geben“,<br />
sagt er. „Ich möchte lieber das<br />
Wesentliche enthüllen und<br />
es mit der Welt teilen. Ich bin<br />
wach und will etwas erforschen.<br />
Wenn du unterwegs<br />
warst, um etwas Neues zu<br />
erforschen, kommst du zurück<br />
und bist nicht mehr derselbe.<br />
Man sagt: ,What you‘re looking<br />
for is looking for you.‘ Ich<br />
möchte inspirieren und Trost<br />
spenden, wie es auch mir<br />
passiert ist. Ich fühle mich<br />
jung. Selbst in Gesellschaft der<br />
großen Anzahl von Künstlern,<br />
mit denen ich in diesem langen<br />
Leben spielen durfte, besitze<br />
ich immer noch Anfängergeist.<br />
Mit dem Vorteil, dass ich jetzt<br />
mit meiner ganzen Erfahrung<br />
darangehen kann.“<br />
Opener von Tone Poem<br />
sind zwei Stücke von Ornette<br />
Coleman: „Peace“ und<br />
„Ramblin’“. Die melodische<br />
Unbefangenheit, mit der<br />
Colemans frühes Quartett<br />
unterwegs war, scheint sich<br />
gut als gemeinsamer Nenner<br />
mit einer heutigen Version von<br />
Charles Lloyd und den Marvels<br />
zu eignen. „Ornette und ich<br />
waren Freunde, er war zwar<br />
ein wenig älter als ich, aber wir<br />
waren Compadres. Er besaß<br />
eine besondere, einzigartige<br />
Fähigkeit: Er konnte seine<br />
eigene Kosmologie gestalten,<br />
er ließ seine Stücke wie seine<br />
Kinder herumspazieren. Die<br />
Marvels und ich, wir nehmen<br />
sie jetzt mit an die frische Luft<br />
auf einen Spaziergang.“ Und<br />
dieser geht weiter in gewohnte<br />
Gefilde, mit einer zurückgelehnt<br />
zeitlosen Instrumental-<br />
Country-Version von Leonard<br />
Cohens „Anthem“. „,There is<br />
a crack, a crack in everything.<br />
That‘s how the light gets in.‘<br />
Der Mann ist ein Poet. Man<br />
schlug mir vor, ein komplettes<br />
Album mit diesen Songs zu<br />
machen, aber ich wollte das<br />
nicht. Wenn du nach Entertainment<br />
suchst, bist du bei mir an<br />
der falschen Adresse. Ich bin<br />
nicht daran interessiert, etwas<br />
glatt zu machen, ich bin ein<br />
Bluesman auf einem spirituellen<br />
Weg.“<br />
Bluesig fährt er fort mit<br />
dem Sechsachtel-Flötenstück<br />
„Dismal Swamp“, gefolgt vom<br />
Titel-Song, einer programmatischen<br />
Suite, getragen von<br />
E-Gitarre und Lapsteel, die<br />
die Marvel-Klangzauberer in<br />
einen lockeren Afrogroove<br />
münden lassen. „Monk’s<br />
Mood“ hatte Lloyd schon auf<br />
Vanished Gardens als Duo<br />
mit Bill Frisell aufgenommen.<br />
„Thelonious Monk ist der musikalische<br />
Architekt“, merkt er<br />
an. Darüber, wie Monk bei den<br />
Marvels klingen soll, herrscht<br />
große Einigkeit bei Frisell,<br />
Greg Leisz, Reuben Rogers<br />
und Eric Harland. Entspannt<br />
und zurückgelehnt machen sie<br />
den Raum auf für die lyrische<br />
Perligkeit von Lloyds Tenor-<br />
Improvisationen.<br />
Gäbe es die Marvels<br />
nicht, müssten sie eigens hierfür<br />
erfunden werden. Charles<br />
Lloyd und seine Weggefährten<br />
sind sich in dieser Besetzung<br />
schon seit 2015 treu. „Es<br />
hätte sein können, dass mein<br />
Quartett mit Keith Jarrett, Jack<br />
DeJohnette und Cecil McBee<br />
ebenso lange zusammenbleibt<br />
wie das Modern Jazz Quartet,<br />
für 30 Jahre. Aber es dauerte<br />
gerade mal dreieinhalb Jahre.<br />
Du weißt nie, wie lange du<br />
zusammenbleiben kannst. Ich<br />
weiß, was gut für mich ist, was<br />
ich hören möchte, fühle mich<br />
wie ein Küchenchef, der ein<br />
Designer Meal machen will<br />
und nichts Aufgewärmtes. Ich<br />
suche neue Territorien, neue<br />
Sonnenauf- und -untergänge.<br />
In diesem Sinne bin ich<br />
ambitioniert“, bekennt Charles<br />
Lloyd. Und auf die Frage, was<br />
er jungen Musikern heute mit<br />
auf den Weg geben würde:<br />
„Wir als Künstler sollten den<br />
Leuten Wachsamkeit geben,<br />
etwas zum Aufwachen, um sie<br />
zu inspirieren. Genau das passierte<br />
mir in jungen Jahren. Ich<br />
hatte kaum eine andere Wahl,<br />
als das zu tun, was ich immer<br />
noch tue. Wir haben keine<br />
Alternative, wir sind keine<br />
Kaufleute. Musiker, Schriftsteller,<br />
auch Journalisten<br />
wollen Botschaften in die Welt<br />
bringen. Und wir beklagen die<br />
Bedingungen im Moment und<br />
den Mangel an Respekt für die<br />
Humanität. Aber wir müssen<br />
weitergehen und die Liebe<br />
im Herzen bewahren für das,<br />
was wir tun. All den jungen<br />
Künstlern kann ich nur sagen,<br />
dass sie sich weiter inspirieren<br />
lassen sollten, so wie wir es<br />
damals taten.“<br />
Auf Monk lässt Charles<br />
Lloyd „Ay Amor“, Ignacio<br />
Jacinto Villa Fernández’ (aka<br />
Bola de Nieve) berühmten<br />
Bolero, in einer verträumten<br />
Instrumentalversion folgen und<br />
gleich darauf Gabor Szabos<br />
„Lady Gabor“ als Reminiszenz<br />
an einen weiteren Weggefährten<br />
aus den 60er Jahren.<br />
Den Abschluss machen das<br />
hymnische Rubato „Prayer, for<br />
Breona“ und als Bonustrack<br />
die Country-Ballade „In My<br />
Room“.<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Aktuelles Album:<br />
Charles Lloyd & The Marvels:<br />
Tone Poem<br />
(Blue Note / Universal, erhältlich<br />
auch als audiophile Vinyl-Version<br />
in der Tone-Poet-LP-Serie)<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 57
MARTIN AUER<br />
Tribut an Satchmo<br />
© Gregor Baron<br />
Das Etikett<br />
„Wanderer<br />
zwischen Welten“<br />
wird schnell<br />
geklebt, wenn der<br />
Name Friedrich<br />
Gulda fällt: ein<br />
Konzertpianist aus<br />
dem sogenannten<br />
klassischen Fach,<br />
der auch Jazz spielt.<br />
Zwei Welten? Nur<br />
wenn man einem<br />
stromlinienförmigen<br />
Verständnis von<br />
Stilistik anhängt.<br />
Von Hans-Jürgen Linke<br />
Gleich zwei Jahrestage lassen in diesen Tagen an Louis Armstrong<br />
denken <strong>–</strong> vor 120 Jahren wurde er geboren, vor 50 Jahren starb er.<br />
Mit Hot 5 erinnert das Quintett des Trompeters Martin Auer an den<br />
wohl größten Trompeter, den der Jazz hervorgebracht hat.<br />
Von Rolf Thomas<br />
Das Martin Auer Quintett spielt mittlerweile<br />
seit einem Vierteljahrhundert zusammen <strong>–</strong> da<br />
traut man sich auch eine Würdigung von<br />
Louis Armstrong im eigenen, markanten Klang<br />
zu. „Natürlich ist es immer eine Gratwanderung,<br />
altes Material in ein neues Gewand zu<br />
kleiden“, gibt Auer zu. „Das erfordert einen<br />
gewissen Mut und die Überzeugung, dem<br />
Publikum einen Mehrwert zu bieten. Mit unserer<br />
Bearbeitung wollen wir zeigen, welche<br />
großartigen Kompositionen Armstrong und<br />
seine Frau Lil Hardin in ihrer frühen Schaffenszeit<br />
kreiert haben. Gleichzeitig wollen wir die<br />
jüngeren Zuhörer dazu animieren, sich auch<br />
den Originalen zuzuwenden.“<br />
Die entstanden allesamt in den 20er<br />
Jahren des 20. Jahrhunderts, als Armstrong<br />
die Hot 5 und die Hot 7 betrieb, seine wohl<br />
berühmtesten Bands. Damals entstanden die<br />
Meilensteine, die Armstrong berühmt gemacht<br />
haben. „Die meisten dieser rund 80 Kompositionen<br />
sind heute vergleichsweise unbekannt,<br />
zu ihrer Zeit waren sie jedoch Welthits“,<br />
weiß Auer. „Stücke wie ‚West End Blues‘,<br />
‚Struttin’ With Some Barbecue‘ oder ‚Hotter<br />
Than That‘ sind bis heute unübertroffen, weil<br />
sie eindrucksvoll belegen, wie virtuos diese<br />
fünf Musiker ihre Instrumente beherrschten.“<br />
Dafür hat Auers gesamtes Quintett Hand angelegt.<br />
Zwar hat Saxofonist Florian Trübsbach<br />
die Mehrzahl der elf Titel arrangiert, aber auch<br />
Pianist Jan Eschke, Bassist Andreas Kurz,<br />
Schlagzeuger Bastian Jütte und der Bandleader<br />
haben Songs ein neues Gewand verpasst.<br />
Auer hat sich dabei für „King of the Zulus“ entschieden,<br />
das in seiner Version überraschend<br />
modern klingt.<br />
Wie man mit solchen Ikonen umgehen<br />
kann, zeigt zum Beispiel der legendäre „West<br />
End Blues“ <strong>–</strong> hier hat Auers Quintett das<br />
eingängige Intro kurzerhand an den Schluss<br />
des Songs verlegt. Die Bandmitglieder haben<br />
sich zunächst intensiv mit den Originalen<br />
auseinandergesetzt und sich dann auf ihre<br />
jeweiligen Lieblingsstücke geeinigt. Die kreativen<br />
Neueinspielungen begeben sich durchaus<br />
auch mal in ungewöhnliche Bahnen <strong>–</strong> so klingt<br />
der New-Orleans-Klassiker „Muskrat Ramble“<br />
auf einmal sehnsüchtig wie ein Bossa Nova,<br />
Schlagzeuger Jütte hat hier Pause. So wird<br />
einer der größten Musiker aller Zeiten gewürdigt,<br />
ohne ihn nur zu imitieren.<br />
Aktuelles Album:<br />
Martin Auer Quintett: Hot 5<br />
(Laika / Rough Trade)<br />
Zwei der Welten, um die es<br />
geht, sind die sogenannte<br />
klassische Musik und der<br />
Jazz. Genau genommen kommt<br />
noch eine dritte Musik-<br />
Welt hinzu, nämlich die der<br />
westlichen Musik des 20.<br />
Jahrhunderts und danach, zu<br />
der Vertreter der sogenannten<br />
Klassik oft eine ähnlich distanzierte<br />
Beziehung pflegen wie<br />
zum Jazz: Warum muss das so<br />
schräg klingen?<br />
Für Friedrich Gulda lag<br />
die Sache anders. Er hatte<br />
keine Berührungsangst mit<br />
schrägen Klängen, wenn auch<br />
eine emotionale Distanz zur<br />
Dodekaphonie. Er hatte nichts<br />
gegen markierte Rhythmik<br />
und Offbeat und nichts gegen<br />
Improvisation oder improvisatorische<br />
Lücken im Notenmaterial.<br />
Er liebte den Jazz<br />
seiner Zeit, der noch nicht<br />
free war. Dass er ein herausragender<br />
Beethoven-Interpret<br />
war, hinderte ihn nicht daran,<br />
Bebop zu spielen. Und schon<br />
gar nicht daran, hybride,<br />
spätromantisch fundierte<br />
Musik für klassisch besetzte<br />
und erweiterte Klangkörper zu<br />
komponieren.<br />
Unter der Leitung von<br />
Gerd Müller-Lorenz hat<br />
das Bläserensemble der in<br />
Hannover ansässigen NDR<br />
Radiophilharmonie eine<br />
der erfolgreichsten Kom-<br />
58 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
positionen Friedrich Guldas<br />
eingespielt, ein fünfsätziges<br />
Cello-Konzert, bei dem Oliver<br />
Mascarenhas Violoncello<br />
spielt und das Bläserensemble<br />
um Markus Ottenberg (e-g),<br />
Mario Ehrenberg (e-b) und<br />
Lennard Schmidt (dr) erweitert<br />
ist. Bei der Uraufführung<br />
1981 hatte der große Heinrich<br />
Schiff Violoncello gespielt <strong>–</strong><br />
Gulda hatte das Werk für ihn<br />
geschrieben.<br />
Guldas Komposition geht<br />
von einer einzigen, grenzenlosen<br />
Musik-Welt aus. Er<br />
versucht keine Integration und<br />
keine Grenzverwischung, sondern<br />
stellt kühn nebeneinander,<br />
was im Kopf und im Leben<br />
eines modernen Musikhörers<br />
zusammentrifft: Rock, lyrische<br />
Musik im romantischen Idiom,<br />
Volksmusik, Heurigenbegleitklänge,<br />
eine ausgiebige<br />
Solokadenz des Cellisten, ein<br />
barockes Menuett und Jimi<br />
Hendrix’ „Purple Haze“. Mit<br />
einem wunderbar mitreißend<br />
sägenden Verzerrer-Gitarrensolo<br />
des Cellisten. Das Ganze<br />
ist aus der Sicht traditionell<br />
gesinnter Klassik nicht leicht<br />
überschaubar und enthält<br />
spieltechnische Schwierigkeiten,<br />
die Mascarenhas außerordentlich<br />
stilsicher meistert.<br />
Bei dem Live-Mitschnitt aus<br />
dem Landesfunkhaus Hannover<br />
vernimmt man geradezu<br />
verräterisch deutlich eine<br />
enorme Spielfreude.<br />
Eine dreiteilige, ebenfalls<br />
durch und durch polystilistische<br />
Suite des etwas weniger<br />
bekannten Nikolai Kapustin,<br />
bei der Johannes Nies am<br />
Klavier zu hören ist, ergänzt<br />
das Album. Aber für einen<br />
kompletten Gulda braucht es<br />
noch eine weitere Ergänzung:<br />
Die letzten vier Stücke gehören<br />
dem Bebop. Die Aufnahme<br />
entstand 1958 im legendären<br />
Rolf-Liebermann-Studio<br />
in Hamburg, und zum Trio<br />
gehörten Gulda (der auch zur<br />
Flöte greift), der Bassist Hans<br />
Last (der unter dem Künstler-<br />
Vornamen James später für<br />
etwas anderes berühmt wurde)<br />
und der Schlagzeuger Karl<br />
Sanner. Das Trio spielt den<br />
Bebop filigran, aufmerksam,<br />
eher subtil als auftrumpfend,<br />
für Menschen, die diese und<br />
manche andere Musik wirklich<br />
lieben.<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Aktuelles Album:<br />
Oliver Mascarenhas:<br />
Friedrich Gulda, Konzert für<br />
Violoncello und Blasorchester;<br />
Nikolai Kapustin, Drei Stücke;<br />
Friedrich Gulda spielt Jazz<br />
(Dreyer Gaido / Note 1 Musikvertrieb)<br />
OLIVER MASCARENHAS<br />
SPIELT GULDA<br />
Ohne Berührungsängste<br />
© Liudmila Jeremies<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
59
MACIEJ GOŁYŹNIAK<br />
Eine lebhafte Geschichte<br />
des polnischen Jazz<br />
Dass unser Nachbarland<br />
Polen eine äußerst lebendige<br />
Jazzszene hat, ist kein Geheimnis.<br />
Polnische Musiker wie Krzysztof<br />
Komeda, Tomasz Stańko oder<br />
Michał Urbaniak sind aus der<br />
europäischen Jazzgeschichte<br />
nicht wegzudenken. Umso<br />
schöner ist es, dass das<br />
altehrwürdige Schallplattenlabel<br />
Polskie Nagrania wiederbelebt<br />
wurde und sowohl eine Reihe<br />
von Re-Issues wie auch aktuelle<br />
Projekte der polnischen<br />
Jazzszene auf den Markt bringt.<br />
60 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
© Wiktor Franko
Von Angela Ballhorn<br />
Das neueste Album des Labels hat der<br />
Schlagzeuger Maciej Gołyźniak aufgenommen.<br />
The Orchid ist ein spannendes Projekt,<br />
das sich im Grenzbereich von Jazz, Rock und<br />
akustischem Ambient bewegt. Die Besetzung<br />
(b, p, dr und flh) erscheint konventionell, doch<br />
Pianist Łukasz Damrych ist ein Soundwizard<br />
an den Keyboards, E-Bassist Robert<br />
Szydło klingt eher nach Rock, und der junge<br />
Flügelhornist Łukasz Korybalski richtet in dem<br />
interessanten Gebräu einen klanglichen Gruß<br />
an Nils Petter Molvær und Mathias<br />
Eick.<br />
Nach 20 Jahren Erfahrung als<br />
Sessionmusiker im Pop- und Rock-Bereich<br />
war es Zeit für Maciej Gołyźniaks<br />
Soloalbum. „Meine Erfahrung im Studio<br />
hilft enorm, weil ich genau weiß, was ich<br />
technisch haben möchte. Ich habe viel<br />
Zeit in den Albumsound investiert.“ Sich<br />
selbst sieht Gołyźniak im Hintergrund, auch<br />
als Leader möchte er dort bleiben. „Ich brauche<br />
die Kommunikation mit den Mitmusikern.<br />
Ich wollte punchy Drums, elektrischen Bass<br />
und eine Menge Synthesizer. Łukasz Damrych<br />
ist überragend im Kreieren von Sounds.“<br />
Die Kompositionen sind in Blöcken<br />
entstanden, in Strophen, Refrains, Intros<br />
und Outros. „Sehr wenige Parts der CD sind<br />
improvisiert. Zwar ist das nicht die Definition<br />
von Modern Jazz, aber es geht darum, wie<br />
es am Ende klingt: Ist es gut? Berührt die<br />
zerbrechliche Melodie von ,The Orchid‘?“<br />
Ein unerwarteter Twist des Albums ist, dass<br />
Łukasz Korybalski seine Flügelhornparts über<br />
die fertigen Aufnahmen gespielt hat, hier also<br />
keinerlei Interaktion mehr stattfinden konnte.<br />
Trotzdem klingen die Aufnahmen ungemein<br />
homogen.<br />
Maciej Gołyźniaks Vita ist interessant.<br />
Als Fünfjähriger saß er erstmals hinter einem<br />
Drumset <strong>–</strong> seine Mutter wollte aber nicht,<br />
dass er ein Instrument spielt, weil sie vom<br />
harten Musikerleben wusste. „Lange Jahre<br />
wusste sie nicht mal, dass ich Schlagzeug<br />
spiele. Ich war im Schul-Basketballteam.<br />
Aber nur im ersten Jahr habe ich wirklich<br />
Basketball gespielt, danach war ich in der<br />
Band.“ Seine ersten Gruppen waren Bluesbands,<br />
weil Blues dem Jazz am nächsten ist.<br />
Nach vielen Tourneen als Sessionmusiker<br />
dachte Gołyźniak erstmals über eigene Musik<br />
nach. „Ich bin vor 15 Jahren nach Warschau<br />
gezogen und brauchte zehn Jahre, um zu<br />
verstehen, dass niemand mich als Jazzmusiker<br />
auf dem Zettel hatte. Also brauchte<br />
ich selber eine Band. Der wichtigste Faktor<br />
war der Mut, etwas selber zu machen.“<br />
Spricht Gołyźniak über sein Label, hört<br />
man die Ehrfurcht vor der großen Tradition, da<br />
Polskie Nagrania für viele Musikinteressierte<br />
fest zum Soundtrack ihres Lebens gehört.<br />
Für ihn waren sowohl Krzysztof Komedas<br />
Astigmatic als auch Zbigniew Namysłowskis<br />
Kujaviak Goes Funky wichtig. Komeda, der<br />
polnische Jazzheld mit dem tragischen Tod,<br />
hat einen besonderen Platz im Herzen des<br />
Drummers. Er ist der Pianist, der für ihn die<br />
schönsten Melodien überhaupt spielt. „Er<br />
berührt dich, er war der emotionalste Klavierspieler.<br />
Es ist schwer, so tiefe Gefühle in einer<br />
anderen Sprache auszudrücken.“<br />
Manifestation der Freigeister<br />
Der Journalist Piotr Metz vertieft den Einblick<br />
in die Geschichte des polnischen Jazz:<br />
„Natürlich wurde schon vor dem Krieg in<br />
Polen Jazz gespielt. Stalins Tod veränderte<br />
viel, 1955/56 war politischer Frühling in Polen.<br />
Sofort wurde das erste Jazzfestival in Sopot<br />
organisiert. Es war eine Manifestation der<br />
Freigeister <strong>–</strong> die die Regierung erlaubte. Bei<br />
der Voice of America hatte die Jazzikone Willis<br />
Conover eine wöchentliche Show. Dieses<br />
Programm war ein Fenster in die Welt und hat<br />
die Musik in Polen verändert. Die Zeitschrift<br />
SIMPLY JAZZ kam Ende der 50er Jahre auf<br />
den Markt und erschien wöchentlich. Jazz<br />
wurde von der Regierung als ungefährlich<br />
eingestuft, ohne dass ich sagen könnte,<br />
warum. Das war eine einmalige Stellung im<br />
damaligen Osteuropa. Bei aller Zensur, die<br />
es in der kommunistischen Zeit gab, durfte<br />
sich der Jazz frei entwickeln. Die Jazzmusiker<br />
komponierten zu der Zeit Soundtracks<br />
zu polnischen Filmen <strong>–</strong> für Regisseure, die<br />
später Weltkarriere machten wie Polanski.<br />
Die Graphic-Art-Künstler und Musiker waren<br />
die besten zu der Zeit, die polnische Schule<br />
auf Weltniveau.<br />
Jede andere polnische Kunstform<br />
beneidete die Jazzszene um ihre Möglichkeiten,<br />
es gab Festivals wie das Jazz Jamboree,<br />
eines der ältesten in Europa. Polskie<br />
Nagrania startete in den frühen 60ern, und<br />
polnische Künstler konnten in Schweden<br />
oder Deutschland spielen, sogar unter dem<br />
strikten Regime. Nach dem Fall der Berliner<br />
Mauer in den 90ern kam eine schwierige<br />
Phase <strong>–</strong> kommerziell gesehen, weil Polen<br />
auf einmal auf dem freien Markt war. In den<br />
späten 80ern hatte sich eine Gruppe junger<br />
aufstrebender Jazzmusiker gegen das<br />
Establishment aufgelehnt, die Bewegung<br />
Yass war offen gegenüber Reggae, Punk und<br />
Worldmusic. Yass förderte neue Musiker wie<br />
Leszek Możdżer zutage. Er ist mittlerweile<br />
ein Popstar <strong>–</strong> zu seinen Konzerten kommen<br />
Zehntausende, er hat ein besseres Standing<br />
als jeder Rockmusiker in Polen.“<br />
Auch Piotr Metz spricht über Komedas<br />
Bedeutung für die Jazzszene: „Kritiker sagen,<br />
dass Komeda seine eigene Musik gespielt<br />
hat, nicht unbedingt Jazz. Seine Musik war<br />
von Anfang an wie Filmmusik. Nach seinem<br />
Album Astigmatic war Komeda eine Ikone,<br />
die jeden polnischen Jazzmusiker beeinflusste.<br />
Komedas Legende ist auch mit seiner<br />
Karriere in den Staaten verbunden, als er die<br />
Musik für Polanskis Rosemary’s Baby geschrieben<br />
hatte. Er war einer der gefragtesten<br />
Filmmusikkomponisten in Hollywood. Die<br />
Welt stand ihm offen, aber dann kam die Tragödie<br />
seines Todes, was auch zur Legende<br />
gehört. Es gab eine Periode, in der Komeda<br />
fast vergessen war. Aber seit den späten 90er<br />
Jahren hat er wieder seinen festen Platz und<br />
ist der populärste Jazzkomponist überhaupt,<br />
wenn man danach geht, wie viele Alben mit<br />
seiner Musik aufgenommen wurden.“<br />
Metz schließt mit einer interessanten<br />
Fußnote: „Nach Marcin Wasilewskis erstem<br />
wichtigen Gig gratulierte Komedas Witwe<br />
Zofia dem Pianisten. Sie versprach, ihm ein<br />
Buch mit unveröffentlichten Kompositionen zu<br />
geben. Gerade heute Morgen habe ich eine<br />
Nachricht von ihm bekommen, dass er Ende<br />
April zu Komedas 90. Geburtstag diese Kompositionen<br />
für das polnische Radio spielen wird.“<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Aktuelles Album:<br />
Maciej Gołyźniak Trio: The Orchid<br />
(Polish Jazz Vol. 85, 2020)<br />
(Polskie Nagrania / Warner)<br />
Re-Issues:<br />
Krzysztof Komeda: Astigmatic (1965)<br />
Tomasz Stańko: Musik for K (1971)<br />
Tomasz Stańko: Musik ’81 (1982)<br />
Zbigniew Namysłowski Quintet:<br />
Kujaviak Goes Funky (1975)<br />
Michał Urbaniak: Constallation in Concert (1973)<br />
Jan „Ptaszyn“ Wróblewski: Komeda <strong>–</strong><br />
Moja Slodka Europejska Ojczyzna (2016)<br />
(Alle: Polskie Nagrania / Warner)<br />
Website:<br />
www.warnermusic.de/polskie-nagrania-polish-jazz<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 61
PIOTR SCHMIDT<br />
In schwankender Stimmung<br />
„Ein Film sollte musikalisch nur so viel wie nötig ausgestaltet sein. Es ist besser, man hat zu<br />
wenig als zu viel Musik.“ Dieses Credo der polnischen Jazz- und Filmmusiklegende Krzysztof<br />
Komeda scheint auch die konzeptionelle Vorgabe für das aktuelle Album Dark Forecast des<br />
polnischen Trompeters Piotr Schmidt zu sein <strong>–</strong> ausbalanciert in der Wahl der musikalischen<br />
Mittel, der Instrumentierung und Stimmungen über die gesamte Länge der Produktion.<br />
© Maq Records<br />
Von Andreas Ebert<br />
Schmidt wuchs in einem musikalischen<br />
Umfeld auf, wie es<br />
besser nicht hätte sein können.<br />
Als Sohn einer Chor dirigentin<br />
und eines in Polen bekannten<br />
Jazzpublizisten schlug er<br />
als das musikalischste von<br />
drei Kindern als Einziger eine<br />
Profi-Musikerlaufbahn ein. Die<br />
Gelegenheit, sein Wunschinstrument,<br />
das Saxofon, zu<br />
erlernen, ergab sich nicht, nur<br />
Trompete und Fagott waren im<br />
Angebot. „Ich wäre wohl der<br />
einzige Jazzfagottist in Polen<br />
gewesen“, meint Piotr Schmidt<br />
dazu schmunzelnd.<br />
Seinem Freund Bartek<br />
Pieszka, Vibrafonist des Schulorchesters,<br />
war es zu verdanken,<br />
dass Schmidt nach sechs<br />
Jahren Klassik am Klavier, zwei<br />
Jahren Klassik an der Trompete<br />
und einer Menge Jazz-Hören<br />
daheim nicht aufgab und sich<br />
zum Jazzspielen anspornen ließ.<br />
Beide besuchten die Jazzabteilung<br />
der Musikakademie von<br />
Katowice. „Ohne diesen Impuls,<br />
ohne jemanden, der mich zum<br />
Spielen und nicht nur Hören<br />
antreibt, hätte ich es möglicherweise<br />
aufgegeben, Musiker<br />
zu sein. Klassische Musik zu<br />
spielen, fasziniert mich nicht.<br />
Jazz gibt mir die Freiheit, die ich<br />
so sehr in meinem Leben auf so<br />
vielen Ebenen schätze, Freiheit<br />
zu kreieren, beim Führen einer<br />
Melodie, beim musikalischen<br />
Geschichten-Erzählen, es resultiert<br />
alles aus der Geschichte<br />
und der Natur dieser Musik.“<br />
Frühe Einflüsse waren<br />
Miles Davis, Bobby McFerrin<br />
und Johann Sebastian Bach.<br />
In der Band mit Bartek Pieszka<br />
wurden zunächst die üblichen<br />
Standards gespielt, im darauf<br />
folgenden Hardbop-Quintett<br />
im zweiten College-Jahr dann<br />
eigene sowie Stücke von<br />
Billy Harper, Cedar Walton<br />
oder Lee Morgan. „Von 2006<br />
bis 2010 gewannen wir fast alle<br />
62 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Jazzwettbewerbe, zu denen wir<br />
fuhren. Die finanziellen Erlöse<br />
daraus erlaubten uns, jeweils<br />
die nächsten paar Monate zu<br />
überstehen.“ Ein Stipendium<br />
in Louisville/Kentucky brachte<br />
2006 einen weiteren Schub.<br />
„Das Stipendium öffnete meinen<br />
Verstand. Es gab eine Menge<br />
großartiger Musiker dort und<br />
wunderbare Lehrer, die mir eine<br />
Menge Zeug über Jazz und<br />
Improvisation auf eine andere<br />
Weise zeigten. Es öffnete mir<br />
die Augen für eine Menge<br />
coole Sachen, die ich später<br />
ausprobierte und auf der Bühne<br />
verwendete.“<br />
Dennoch meint Schmidt,<br />
dass eine USA-Erfahrung nicht<br />
unbedingt notwendig ist. „In der<br />
globalen Welt kann man alles<br />
von zu Hause lernen. Internet,<br />
Google, YouTube <strong>–</strong> das sind<br />
die Werkzeuge und Wissensquellen,<br />
die für jeden verfügbar<br />
sind.“ Zur Jazzausbildung sagt<br />
er: „Meiner Meinung nach können<br />
Jazzstudien jungen Leuten<br />
wirklich helfen zu spielen, aber<br />
abseits davon ermöglichen sie<br />
auch angenehme finanzielle Unterstützung<br />
für viele Profis. Ich<br />
bin einen vollen Tag an der Uni,<br />
um mit Studenten zu arbeiten.<br />
An den anderen sechs Tagen<br />
mache ich, was ich will.“<br />
Mit einer täglichen,<br />
stringent durchgehaltenen<br />
Übe-Praxis von drei bis vier<br />
Stunden („Üben ist für mich wie<br />
eine Sucht. Ich muss es einfach<br />
tun. Aber wenn ich lange Noten<br />
oder etwas ganz Einfaches übe,<br />
lese ich dabei oft Bücher oder<br />
schaue mir etwas auf YouTube<br />
© Aleksandra Kasztalska<br />
an.“) und verschiedenen Bandprojekten<br />
wie seinem regulären<br />
akustischen Quartett oder der<br />
Formation Schmidt Electric arrangiert<br />
sich Schmidt mit allen<br />
Widrigkeiten. „Es scheint, dass<br />
es in Polen nicht so schlecht ist<br />
für Musiker. Glücklicherweise<br />
gibt die Regierung Fördermittel<br />
für Künstler, es gibt Hilfsfonds<br />
für Kreative.“<br />
Dark Forecast, Piotr<br />
Schmidts zwölfte Veröffentlichung,<br />
spiegelt in ihren elf Stücken<br />
treffend die schwankende<br />
Stimmung der gegenwärtigen<br />
Zeit wider: melancholisch, lyrisch,<br />
free, aber nicht ekstatisch,<br />
verhangen, schwebend,<br />
mal bissig oder leicht traurig,<br />
fließend, kontrolliert, aber<br />
immer mit dem nötigen Atem.<br />
Für die Aufnahmen wurde das<br />
Quartett durch zwei Gäste<br />
ergänzt, Walter Smith III (ts)<br />
und Matthew Stevens (g), auch<br />
wenn sie nicht bei den Sessions<br />
anwesend sein konnten. „Beide<br />
spielten ihre Parts in örtlichen<br />
Studios in den USA ein,<br />
weil ihre Anreise wegen des<br />
Lockdowns nicht möglich war“,<br />
erklärt Schmidt. „Ich wollte das<br />
Quartett als Hauptkörper erhalten,<br />
aber dessen ungeachtet<br />
habe ich es, wo ich es für nötig<br />
erachtete, mit zusätzlichen<br />
Instrumenten angereichert.“<br />
Das Album, das es<br />
voraussichtlich auch auf Vinyl<br />
geben wird, besteht aus sechs<br />
Schmidt-Originalen, drei im<br />
Studio improvisierten Gruppen-<br />
Tracks und zwei Komeda-<br />
Klassikern aus Roman Polanskis<br />
Film Knife in the Water.<br />
„Komeda ist ein konzeptioneller<br />
Künstler“, sagt Schmidt. „Seine<br />
Kompositionen sind zeitlos.<br />
Vielleicht habe ich diese beiden<br />
Balladen gewählt, weil sie für<br />
einen Film geschrieben wurden.<br />
Sie haben eine beeindruckende<br />
Atmosphäre und Kraft. Komeda<br />
ist ein Komponist, zu dem<br />
zurückzukehren sich lohnt.“<br />
Aktuelles Album:<br />
Piotr Schmidt: Dark Forecast<br />
(o-tone / Edel:Kultur)
ÜBER DEN TELLERRAND<br />
Generation Next <strong>–</strong> die<br />
neue Welle im polnischen<br />
Jazz<br />
Während die Welt aus dem Ruder läuft und<br />
wir uns fragen, wie die Musikindustrie in<br />
ein paar Jahren aussehen wird, während<br />
wir gezwungen sind, Gewohnheiten zu<br />
ändern und unser Verhalten zu überdenken,<br />
sind diejenigen im Vorteil, die sich<br />
anpassen, experimentieren und kreativ<br />
an Herausforderungen herangehen. Eine<br />
besonders schwierige Zeit für die junge<br />
Generation, die gerade jetzt in die Musikwelt<br />
eintritt.<br />
Von Karolina Juzwa<br />
Als Organisatorin der Intl <strong>–</strong> International<br />
Jazz Platform, einem Treffpunkt zum<br />
Erfahrungsaustausch für junge Musiker<br />
aus ganz Europa, beobachte ich schon<br />
seit neun Jahren die jungen Künstler, die<br />
ver suchen, einen Platz in dieser Welt zu<br />
finden. Polnische akademische Ausbildungsprogramme<br />
für Jazzmusiker gehören nicht<br />
zu den offensten für Innovationen. Dort<br />
konzentriert man sich eher darauf, traditionelle<br />
Jazzpfade zu meistern, und ermutigt<br />
junge Musiker nicht gerade bei der für die<br />
improvisierte Musik unabdingbaren Suche<br />
nach ihrer Vision von einer Musik, der sie<br />
ihr Leben widmen möchten.<br />
Ich möchte hier besonderes Augenmerk<br />
auf die Zukunft des polnischen Jazz<br />
richten, auf diejenigen, die schon dabei<br />
sind, dessen Grundfeste zu erschüttern mit<br />
einer neuen Stimme europäischer Musik.<br />
Viele von ihnen finden Raum für Experimente<br />
im Ausland, studieren in Dänemark oder<br />
Holland und versuchen, innovative Ansätze<br />
auf die polnische Szene zu übertragen.<br />
Es gibt eine Reihe junger polnischer<br />
Künstler, die ihren eigenen unverwechselbaren<br />
Klang und ihre eigene Sprache haben,<br />
ohne auf Einflüsse anderer Genres zu<br />
verzichten. Szymon Pimpon Gąsiorek<br />
ist Schlagzeuger und Komponist, lebt<br />
derzeit in Kopenhagen und gehört<br />
zu den Musikern, die im Ausland<br />
nach neuen Ufern suchen und<br />
dafür das kreative Umfeld des<br />
Rytmisk Musikkonservatorium in<br />
Dänemark nutzen. Gąsiorek ist<br />
Mitglied vieler Bands, doch die<br />
wichtigste Rolle spielt sein eigenes<br />
Projekt. Das Pimpono Ensemble<br />
ist ein Kollektiv junger Idealisten,<br />
die kompromisslos ihre Träume zum<br />
Ausdruck bringen und Punk-Energie,<br />
Experimentelles und emotionale Melodien<br />
mischen. Ihre neuesten Aufnahmen auf<br />
Survival Kit sind für mich der Höhepunkt<br />
der Veröffentlichungen von 2020.<br />
Joanna Duda ist Pianistin, Komponistin<br />
und bildende Künstlerin. Ihre Welt sind die<br />
Klangkunst und das Experiment, in dem<br />
das Klavier und andere Klangressourcen<br />
Grundlage für rhythmische Strukturen<br />
sind. Das neueste Material ihres Trios mit<br />
Max Mucha (b) und Michał Bryndal (dr)<br />
bekommt gerade den letzten Schliff, um<br />
im <strong>Mai</strong> veröffentlicht zu werden <strong>–</strong> definitiv<br />
etwas, worauf man sich freuen kann. Die<br />
formschaffende Rolle der Elektronik ist<br />
für das Narrativ ebenso wichtig wie die<br />
Instrumente. Duda experimentiert mit Trio-<br />
Konventionen am Rande von Jazz, Klassik<br />
und Dance Music und lässt sich ebenso<br />
von klassischen Komponisten wie Feldman,<br />
Prokofiev und Bach inspirieren wie von<br />
früher Jungle Music der 1990er.<br />
Malediwy ist ein weiteres mutiges<br />
Projekt starker Persönlichkeiten: Marek<br />
Pospieszalski (sax) und Qba Janicki (dr).<br />
Beide kommen aus reicher musikalischer<br />
Umgebung und kreieren Musik, die vom<br />
traditionellen Free Jazz abweicht und<br />
stattdessen Techniken und strukturelle<br />
Denkweisen umfasst, die typisch für die<br />
Soundart-Szene sind. Neu und visionär:<br />
Dolce Tsunami von 2020. Verstärkte akustische<br />
Instrumente, Loop-Techniken und<br />
elektroakustische Geräte verleihen ihrer<br />
Musik ein aufregendes und beispielloses<br />
Ambiente.<br />
Amalia Umeda (Amalia Obrębowska)<br />
ist eine neue und aufstrebende Künstlerin<br />
in der Welt der improvisierten Musik. Die<br />
klassisch ausgebildete Geigerin zeigt schon<br />
zu Beginn ihrer Karriere ihr Händchen für<br />
Improvisation. In ihren Kompositionen kombiniert<br />
sie Einflüsse von Meistern wie Bobo<br />
Stenson, Keith Jarrett oder Tomasz Stańko<br />
mit polnischer und weltweiter Volksmusik.<br />
Kuba Więcek, Saxofonist und auch<br />
Absolvent des Rytmisk in Dänemark, ist<br />
der jüngste Instrumentalist in der aktuellen<br />
Edition von Polskie Nagrania (Vol. 82, 2019).<br />
Eine unruhige Seele auf der ständigen<br />
Suche nach neuen musikalischen Inspirationen,<br />
reißt er die Musiker seines Trios<br />
aus ihren Komfortzonen ins offene Wasser<br />
neuer Ideen mit. Derzeit testet er auch<br />
seine Stärken als Musikproduzent zwischen<br />
Jazz- und Popkultur.<br />
Immortal Onion ist ein junges Trio aus<br />
dem Norden Polens mit Ziemowit Klimek<br />
(b), Tomir Śpiołek (p) und Wojtek Warmijak<br />
(dr), das sich durch kühne stilistische<br />
Vielfalt und die gekonnte Kombination von<br />
rhythmisch komplexen, energiegeladenen<br />
Riffs mit minimalistischen und lyrischen<br />
Themen auszeichnet. Sie sprechen vor<br />
allem junge Zuhörer an, die alle ihre<br />
Veröffentlichungen und Auftritte verfolgen,<br />
sowohl live als auch virtuell.<br />
Es gibt viele weitere Namen, die mutig<br />
Präsenz in der polnischen und europäischen<br />
improvisierten Musikszene zeigen.<br />
Sie alle weichen ab von traditionellen<br />
Einflüssen, beziehen die Vielfalt der Genres<br />
ein und zeigen offen ihre persönliche<br />
Suche. Als ich 2012 die Intl Jazz Platform<br />
gründete, war es mein Ziel, Musikern<br />
wie diesen Raum zum Experimentieren<br />
zu bieten, inspiriert mit Gleichaltrigen zu<br />
lernen, ihre Persönlichkeiten zu entwickeln,<br />
Mut und Selbstakzeptanz zu gewinnen. Sie<br />
alle sind Suchende, stellen die Sprache,<br />
Erfahrungen und Emotionen ihrer Generation<br />
vor und haben keine Angst davor, mit<br />
der Jazzkonvention zu experimentieren, um<br />
sich diese letztlich zu eigen zu machen.<br />
Übersetzung: Jan Kobrzinowski<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Karolina Juzwa hat Englisch, Philologie und<br />
Europäische Politik studiert. Sie arbeitet als<br />
Koordinatorin bei der Wytwórnia Foundation und ist<br />
Managerin und Hauptkuratorin des Summer Jazz<br />
Academy Festivals in Łódź. Sie ist Initiatorin und<br />
Koordinatorin der Intl Jazz Platform, Bildungsprogramm<br />
für professionelle Künstler, organisiert in<br />
Zusammenarbeit mit dem Europe Jazz Network (EJN).<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
64 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
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Neue Musik, Improv und Free. Und vieles mehr.<br />
1<br />
Oliver Mascarenhas<br />
Plays Works by<br />
Gulda and Kapustin /<br />
Gulda spielt Jazz<br />
(DreyerGaido)<br />
4<br />
Ceramic Dog<br />
& Marc Ribot<br />
Hope<br />
(enja / Yellowbird)<br />
2<br />
Jens Wawrczeck<br />
Celluloid<br />
(Edition audoba)<br />
5<br />
Jakob Bro<br />
Uma Elmo<br />
(ecm / Universal)<br />
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3<br />
Jazzrausch BigBand<br />
Techné<br />
(ACT / Edel:Kultur)<br />
6<br />
Kurt Edelhagen<br />
The Unreleased<br />
Recordings<br />
(Jazzline /<br />
Broken Silence)<br />
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<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
65
MOERS-FESTIVAL Im dunklen Zeittunnel<br />
Die Vorbereitungen für das<br />
50. Moers-Festival laufen und<br />
sind selbst Gegenstand von<br />
Improvisation.<br />
Von Stefan Pieper<br />
Das Moers-Festival <strong>2021</strong> findet vom 21. bis<br />
25. <strong>Mai</strong> statt. „Wir planen optimistisch und<br />
hoffnungsvoll, dass wir etwas Publikum in<br />
die Halle lassen können. Aber wir werden<br />
auch den Ausflug in die virtuelle<br />
Realität weiterentwickeln“, fasst Tim Isfort<br />
den aktuellen Stand vor dem<br />
50. Moers-Festival zusammen. Noch mehr<br />
in die Zukunft gedacht wurde bei der<br />
Programm-Pressekonferenz: Darin wagten<br />
Archäologen aus dem Jahr 2040 einen<br />
Rückblick auf die Zustände im Jahr <strong>2021</strong>.<br />
Die Teilnehmenden wurden dafür in einen<br />
dystopischen Zeittunnel abgeseilt.<br />
Eine ehemalige, heute nur noch über<br />
einen Kanaldeckel zugängliche Unterführung<br />
unter einer Moerser Hauptstraße ist ein Lost<br />
Place, an dem es um mehr geht als einfach<br />
nur darum, die Programmpunkte für ein<br />
Festival zu verkünden. Wie wird irgendwann<br />
in den Geschichtsbüchern über das Heute,<br />
über diese so merkwürdig beginnenden<br />
2020er Jahre berichtet? Die Reflexion über<br />
Zeit soll das Narrativ für die Jubiläums-<br />
Festivalausgabe sein.<br />
Beklemmend wirkt, dass manche<br />
Requisiten im verlassenen Tunnel schon wie<br />
aus einem anderen, vergangenen Leben anmuten:<br />
Das aktuelle Festivalplakat zeigt ein<br />
sich innig umarmendes Paar. Die physisch<br />
greifbare Gegenwart an diesem Vormittag in<br />
der Unterwelt<br />
könnte hingegen<br />
dem (ersten) Blade Runner-Film entstammen:<br />
Ein merkwürdig kostümierter „Schamane“<br />
unterzieht sämtliche vorschriftsmäßig<br />
FFP 2-maskierte Besucher einer<br />
merkwürdigen Reinigungszeremonie, eine<br />
Performance-Tänzerin im Fetisch-Anzug untermalt<br />
die Ansprachen des Festival-Teams.<br />
Damals, als Menschen sich noch draußen<br />
und öffentlich umarmten und der R4 auf der<br />
Wiese parken durfte, war vieles anders.<br />
Mitten in der heißen Planungs- und<br />
Organisationsphase nahm sich der Festivalleiter<br />
Zeit für ein langes, ruhiges Gespräch.<br />
Inszenierung durch ästhetische Botschaften<br />
bestimmt unter Tim Isforts künstlerischer<br />
Leitung die jüngste Generation des Moers-<br />
Festivals. Dass solche Theatralik so manche<br />
Jazzpolizisten verärgert <strong>–</strong> geschenkt!<br />
66 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
© Andreas Menzel<br />
„Menschen haben es nicht gern, wenn man<br />
Angestammtes verändert“, zeigt sich Isfort<br />
entspannt.<br />
50 Jahre Moers-Festival werfen Fragen<br />
auf: Was ist die Zukunft von Festivals?<br />
Was war der Antrieb? Denen soll mit einer<br />
„Mischung aus Wahrheit und fantasievoller<br />
Weitererzählung beigekommen werden. Es<br />
gibt nicht die eine Erzählung und die eine<br />
Wahrheit, und auch nicht nur die von Burkhard<br />
Hennen, von Reiner Michalke oder von<br />
Peter Brötzmann“, sondern von zahllosen<br />
Menschen. Weltweit. Längst ist die Aufarbeitung<br />
von fünf Jahrzehnten Festivalhistorie<br />
zum Fulltime-Projekt geworden.<br />
Isforts tatkräftig praktizierter hoher Respekt<br />
vor sämtlichen Aspekten der Festivalhistorie<br />
möchte den Gründergeist von Moers<br />
wachhalten. „Wir wollen die Welt nicht mehr<br />
so, wie sie war“, lautete damals das Credo,<br />
unter dem Peter Brötzmanns Klänge zuweilen<br />
zum politischen, aber immer zum ästhetischen<br />
Manifest wurden. Heute und künftig<br />
lautet das Anliegen, solche Erweckungserlebnisse<br />
an neue Generationen weiterzugeben,<br />
auch wenn dafür heute vor allem<br />
Inszenierungen als Motor fungieren und man<br />
dafür kämpfen muss, dass Gegenkultur von<br />
früher nicht ausschließlich zum Lifestyle<br />
verkommt. Nun geht es darum, für die Kultur<br />
zu kämpfen, die gerade von der Pandemie,<br />
mehr noch: vom politisch-administrativen<br />
(Nicht-)Umgang mit ihr, bedroht ist.<br />
Isfort vermeidet das böse Wort, das mit<br />
C anfängt, und kreiert stattdessen das Bild<br />
vom „Seeungeheuer“, einem verspielten<br />
Anti-Narrativ gegen das offizielle Angst-<br />
Framing in den Nachrichtenkanälen. Genug<br />
Respekt vor der Situation ist im Spiel und<br />
war es auch im letzten Jahr, als Moers als<br />
symbolisches Schiff auf den Ozean hinausfuhr,<br />
während fast alle anderen im Hafen<br />
blieben. Denn es liegt an der Kultur, sich<br />
PDF 4c<br />
auch unter feindlichen Bedingungen öffentlich<br />
einzumischen. Aber: „Es ist im zweiten<br />
Jahr nicht ein facher geworden“, bewertet<br />
Tim Isfort die aktuelle Situation. Genauso<br />
hatte er im vergangenen Jahr die Zustände<br />
fürs Jahr <strong>2021</strong> eingeschätzt, als viele andere<br />
naiv annahmen, dass schon bald alles vorbei<br />
sei. Maximale Vorkehrungen für ein Festival<br />
in der Pandemie sind getroffen, sogar ein<br />
Schnelltest-Zentrum soll zu Pfingsten aufgebaut<br />
werden.<br />
Was, wie und mit wem zu Pfingsten<br />
passieren wird, da müssen wir uns überraschen<br />
lassen. So manches in der Programmplanung<br />
kann sich wohl noch kurzfristig<br />
ändern und bleibt Gegenstand von Improvisation.<br />
(Fast) alle bisherigen Improviser-in-<br />
Residence werden den sozialen Kosmos in<br />
Moers bereichern. Öffentlichkeitswirksame<br />
„Unterwanderungen“ finden statt, auch mitten<br />
in der Stadt und im grünen Park jenseits<br />
der zwei (!) neuen Festivalbühnen. Auf der<br />
Agenda stehen zahllose Namen aus ebenso<br />
diversen musikalischen Kontexten. Die beiden<br />
umtriebigen Amerikaner Kevin Shea und<br />
Matt Mottel mischen bereits seit Februar als<br />
Improviser-in-Residence die Residenzstadt<br />
auf. Und die Welt wird, wo immer es geht,<br />
in Moers zu Gast sein: „Man macht sich<br />
keine Vorstellung, wie wir jedes Jahr dafür<br />
kämpfen müssen, etwa afrikanische Musiker<br />
aus dem Kongo oder aus Äthiopien zu holen,<br />
mit allen Visa- und Einreisegenehmigungen.“<br />
Aber genau diese kulturelle Völkerverständigung<br />
führt schon seit einem halben<br />
Jahrhundert dazu, dass die Welt auf eine<br />
kleine Provinzstadt am Niederrhein blickt.<br />
Tim Isfort: „Burkhard Hennen hat der Stadt<br />
Moers mit der Gründung dieses Festivals<br />
ein riesiges Geschenk für alle Ewigkeiten<br />
gemacht.“<br />
Website:<br />
www.moers-festival.de
Floating Points & Pharoah<br />
Sanders<br />
Promises<br />
Luaka Bop / K7<br />
W W W W W<br />
Als Pharoah Sanders Elaenia,<br />
das Debütalbum des britischen<br />
Elektronikmusikers und Komponisten<br />
Sam Shepherd, hörte, der<br />
als Floating Points auftritt, soll<br />
er hingerissen gewesen sein.<br />
Es ist fast zehn Jahre her, dass<br />
der jetzt 80-jährige Tenorsaxofonist<br />
Sanders ein neues<br />
Album aufgenommen hat, was<br />
diese Veröffentlichung nun umso<br />
erstaunlicher macht. Tatsächlich<br />
ergibt die Affinität zwischen<br />
Sanders und dem 34-jährigen<br />
Shepherd Sinn. Denn trotz der<br />
Generationsunterschiede eint sie<br />
in ihren Arbeiten der Drang nach<br />
ständiger Erweiterung. Darum<br />
passen die beiden Protagonisten<br />
auf Promises, bei dem<br />
sie mit dem London Symphony<br />
Orchestra zu hören sind, auch<br />
so perfekt zusammen, ihre hier<br />
zu hörende gemeinschaftliche<br />
Energie ist bemerkenswert. Die<br />
zweiteilige Suite entfaltet sich in<br />
einer kontinuierlichen wortlosen<br />
Komposition und klingt wie ein<br />
kreativer Vertrauensvorschuss,<br />
eine kosmische Gemeinschaft,<br />
die über Generationen, Genres<br />
und musikalische Barrieren hinweg<br />
etwas Schönes erschafft.<br />
Sanders ist ja bekannt für seine<br />
rasenden Soli und wütenden<br />
TONSPUREN<br />
Klangbögen, besonders während<br />
seiner Jahre als John-Coltrane-<br />
Sideman und auf den eigenen<br />
Meisterwerken Karma oder<br />
Black Unity. Aber hier spielt er<br />
mit beneidenswerter Zurückhaltung<br />
und Anmut, indem er<br />
wunderbare melodische Figuren<br />
in die offenen Räume einarbeitet,<br />
die ihm Shepherds Klangflächen,<br />
die der auf Klavier, Cembalo,<br />
Orgel und elektronischen Equipment<br />
erzeugt, und die Schwingungen<br />
der Streicher bieten.<br />
Diese drei Ebenen fügen sich so<br />
vollkommen aneinander, weil sie<br />
aus der Offenheit und Konvergenz<br />
der Akteure resultieren. Die<br />
Chance steht gut, dass Sie so<br />
etwas noch nie gehört haben.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Nik Bärtsch<br />
Entendre<br />
ECM / Universal<br />
W W W W o<br />
Er ist vor allem als Leiter der<br />
Bands Mobile und Ronin<br />
bekannt, der Schweizer Pianist,<br />
Komponist und Konzeptualist Nik<br />
Bärtsch. Nun erscheint bei ECM<br />
sein erstes Solo-Album, das er<br />
parallel zur Arbeit mit seinen<br />
Gruppen entwickelt hat. Der Titel<br />
Entendre (Hören) ist Programm,<br />
denn die weitestgehend ruhige<br />
Platte ist geprägt von dem<br />
genauen Hören und langsamen<br />
organischen Prozessen in der<br />
Entwicklung des Klangs. Die<br />
sechs Tracks bezeichnet er fast<br />
alle nur als „Module“, da er<br />
diese nicht als gesetzte Stücke,<br />
sondern vielmehr als Schablonen<br />
versteht. In seinen Stücken<br />
verbindet Bärtsch klassische<br />
Traditionen und Minimal Music<br />
mit dem Groove des Jazz. Letzterer<br />
verleiht den Werken auch bei<br />
großer Ruhe immer auch etwas<br />
Fließendes, so beispielsweise in<br />
„Modul 26“. Besonders facettenreich<br />
wird Bärtschs Solo-Platte<br />
durch seinen gut durchdachten<br />
und sehr feinsinnigen Anschlag<br />
wie auch die Elemente eines<br />
präparierten Klaviers, wie es<br />
beispielsweise in „Modul 5“<br />
erklingt. Eindrucksvoll ist hier<br />
zu hören, wie sehr Bärtsch es<br />
versteht, durch seinen Anschlag<br />
die verschiedensten Facetten<br />
aus ein und demselben Ton<br />
(zumindest zunächst) herauszuholen.<br />
Es scheint, als wäre<br />
es dem Pianisten bei dieser<br />
Aufnahme in idealer Atmosphäre<br />
(mit Manfred Eichner in einem<br />
Studio in Lugano) gelungen, alle<br />
Vorsätze und Erwartungen hinter<br />
sich zu lassen und der Musik<br />
die Chance zu lassen, sich ganz<br />
in Ruhe und organisch zu entwickeln.<br />
Das überträgt sich auch<br />
auf den Hörer und macht die CD<br />
zu einem Hörgenuss.<br />
Verena Düren<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Philipp Schiepek &<br />
Walter Lang<br />
Cathedral<br />
ACT / Edel:Kultur<br />
W W W W<br />
Gitarre und Klavier kommen als<br />
Duo im Jazz nicht oft zusammen,<br />
und das hat natürlich<br />
seine Gründe, die auch dem<br />
Münchner Pianisten Walter<br />
Lang geläufig sind. Deshalb<br />
hat er seit einiger Zeit über ein<br />
Duo mit akustischer Gitarre mit<br />
Nylonsaiten nachgedacht <strong>–</strong> und<br />
in dem jungen Gitarristen Philipp<br />
Schiepek genau den richtigen<br />
Mann dafür gefunden. Die<br />
beiden lassen sich ungeheuer<br />
viel Raum und erkunden einen<br />
schlanken Klang, bei dem der<br />
weiche Anschlag Langs genau<br />
die richtige Folie ist, auf der sich<br />
Schiepeks Exkursionen entfalten<br />
können. Die Kraft einfacher Melodien<br />
ist es, die auf Cathedral<br />
ihren Zauber entfaltet. Langs<br />
zehn Stücke <strong>–</strong> sein Kompagnon<br />
hat das sehnsüchtige „Pilgrimage“<br />
beigesteuert <strong>–</strong> enthalten<br />
sich jeglicher Kraftmeierei, und<br />
die beiden Musiker nehmen sich<br />
jeweils die Zeit, die es braucht,<br />
um den Songs Gehalt zu verleihen.<br />
Die sparsame Verwendung<br />
der Noten macht den Titelsong<br />
zu einem romantischen Kleinod,<br />
andere Stücke („The World Is<br />
Upside Down“, „Light at the<br />
End of the Tunnel“) scheinen<br />
geradezu Bezug auf Lockdown-<br />
Zeiten zu nehmen. Kaum zu<br />
glauben, dass Lang ansonsten<br />
im Dancefloor-Sound des Trio<br />
Elf zu Hause ist, aber im Grunde<br />
frönt er auch dort seine Liebe<br />
zur hymnischen Melodie. Folkloristisch<br />
anmutende Stücke wie<br />
„Estrela Cadente“ <strong>–</strong> was so viel<br />
wie Sternschnuppe bedeutet <strong>–</strong><br />
oder „Gliding Over Meadows“<br />
ergänzen das Repertoire und<br />
machen Cathedral zu einem<br />
ruhigen Meisterwerk.<br />
Rolf Thomas<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Makiko Hirabayashi<br />
Weavers<br />
Enja / Edel:Kultur<br />
W W W W W<br />
Mit Weavers beschreitet die<br />
japanische Pianistin Makiko<br />
Hirabayashi neue Wege: Nach<br />
68 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
zwei Dekaden und vier Alben im<br />
Trio mit der Perkussionistin Marilyn<br />
Mazur und dem Bassisten<br />
Klavs Hovman tritt die Klaviervirtuosin<br />
und Komponistin hier<br />
erstmals mit einem Quartett an.<br />
Seit 30 Jahren in Kopenhagen<br />
beheimatet, gilt die in Tokio und<br />
Hongkong aufgewachsene, in<br />
Berklee klassisch ausgebildete<br />
Hirabayashi als Wanderin<br />
zwischen den Welten. Auch<br />
Weavers vereint geografisch<br />
weit auseinanderliegende<br />
Ausgangs- und Bezugspunkte:<br />
Anlässlich des Festivals<br />
Mahrajazz trat sie 2018 in Haifa<br />
auf mit Thommy Andersson<br />
(b) und Bjørn Heebøll (dr). Der<br />
erste Lockdown reduzierte ihre<br />
musikalische Praxis dann radikal<br />
auf Duette mit dem Saxofonisten<br />
Fredrik Lundin. Als sich<br />
im Frühsommer die Möglichkeit<br />
von Aufnahmen im schwedischen<br />
Nilento Studio ergab, zog<br />
Hirabayashi beide Besetzungen<br />
zu einer neuen Formation<br />
zusammen. Das Ergebnis<br />
begeistert: Die neun Tunes<br />
von Weavers <strong>–</strong> sieben aus der<br />
Feder von Hirabayashi, Lundin<br />
steuert das elegische „Winter<br />
Landscape in Black & White“<br />
bei <strong>–</strong> fügen sich zu einem so<br />
vielfältigen wie kohärenten Album,<br />
dessen Schlusspunkt eine<br />
inspirierte Interpretation von<br />
Carla Bleys mit nahöstlichen<br />
Motiven spielendem „Vashkar“<br />
bildet. Eine Synthese von skandinavischem<br />
Jazz, ostasiatischer<br />
Musikkultur, klassischer<br />
Kammermusikhaltung und<br />
folkloristischen Progressionen,<br />
für die der Terminus Weltmusik<br />
zu kurz greift. Mal rhapsodisch,<br />
mal lyrisch, mal extrovertiert,<br />
aber nie beliebig <strong>–</strong> frühlingsfrischer<br />
Anfangszauber.<br />
Harry Schmidt<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
PDF in 4c<br />
Mark Feldman<br />
Sounding Point<br />
Intakt / Harmonia Mundi<br />
W W W W<br />
Eine Geige allein, das hört man<br />
im Jazz nicht sehr häufig. Mark<br />
Feldmans erstes Solo-Album<br />
trug den Titel Music for Violin<br />
Alone und erschien 1995 bei<br />
John Zorns Label Tzadik. Ein<br />
gutes Vierteljahrhundert später<br />
ist jetzt bei Intakt sein zweites<br />
Solo-Werk herausgekommen.<br />
Es kondensiert musikalische<br />
Erfahrungen, die er in den<br />
mindestens 25 Jahren davor<br />
gesammelt hat. Darum sollte<br />
man keine Musik erwarten,<br />
die man ohne Weiteres als<br />
„Jazz“ identifizieren würde.<br />
Dazu arbeitet Feldman allzu<br />
schrankenlos mit neuzeitlichen<br />
Spieltechniken und Formen und<br />
verachtet Virtuosität nicht. Oft<br />
scheint es aber, als verhalte er<br />
sich ironisch zu diesen Kategorien.<br />
Mark Feldman arbeitet<br />
in jeder Hinsicht auf einem<br />
ungemein elaborierten Niveau<br />
und in Regionen, wo er zu<br />
Hause ist; das ist nun mal kein<br />
eng begrenztes Terrain. Das<br />
Eröffnungsstück ist eine Komposition<br />
von Sylvie Courvoisier,<br />
für die Musik ein ähnlich weites<br />
Feld ist wie für ihren langjährigen<br />
Partner. Das dritte Stück<br />
(„Peace Warriors“) stammt<br />
von Ornette Coleman und weist<br />
stürmische, gleichwohl überaus<br />
sorgfältig arrangierte Overdubs<br />
auf. Etliche Stücke sind<br />
improvisiert, aber ihrem Formgefühl,<br />
ihren Verläufen und den<br />
verwendeten Spieltechniken<br />
merkt man keine Unterschiede<br />
zu geschriebener Musik an.<br />
Mark Feldmans Musik klingt<br />
nicht geplant, auch wenn sie<br />
mit kleinteiliger Aufmerksamkeit<br />
gebaut ist. Manchmal<br />
wirkt sie einfach, als habe er
Kolumne<br />
Dinosaur Jr.<br />
Sweep It Into Space<br />
Secretly / Cargo<br />
W W W o<br />
Motorpsycho<br />
Kingdom of Oblivion<br />
(Stickman / Soulfood)<br />
W W W W o<br />
Dry Cleaning<br />
New Long Leg<br />
Beggars / Rough Trade<br />
W W W W<br />
Todd Snider<br />
First Agnostic Church of Hope<br />
and Wonder<br />
Aimless / Membran<br />
W W W W<br />
Ryley Walker<br />
Course in Fable<br />
Husky Pants / Cargo<br />
W W W W<br />
Godspeed You! Black Emperor<br />
G-d’S Pee at State’S End!<br />
Constellation / Cargo<br />
W W W W W<br />
Sara Watkins<br />
Under the Pepper Tree<br />
New West / Rough Trade<br />
W W W o<br />
Portugal the Man<br />
Oregon City Sessions<br />
Approaching Airballoons /<br />
Cargo<br />
W W W W o<br />
Dinosaur Jr. sind Dinosaur Jr.<br />
Wo man bei anderen Bands<br />
Weiterentwicklung erwartet,<br />
ist man bei den Dinowelpen<br />
froh, dass alles beim Alten<br />
bleibt. Sweep It Into Space<br />
hätte ebenso gut 1991 aufgenommen<br />
worden sein können.<br />
Jaulende Gitarren, dreckiger<br />
Sound, rumpelnde Grooves<br />
und zwei nörgelnde Sänger. J<br />
Mascis und Co. gehören neben<br />
den Melvins und Mudhoney zu<br />
den Letzten ihrer Art, und ihre<br />
sture Weigerung, dem Zeitgeist<br />
Tribut zu entrichten, hat<br />
etwas enorm Beruhigendes.<br />
Auch wenn die Band diesmal<br />
nicht die zündendsten Songs in<br />
petto hat, bleiben Dinosaur Jr.<br />
die lebendige Erinnerung daran,<br />
dass im Rock mal andere<br />
Regeln galten als heutzutage.<br />
Dasselbe trifft auf das norwegische<br />
Trio Motorpsycho zu,<br />
bei dem allerdings erstaunlich<br />
ist, in welcher Schlagzahl<br />
es seine komplexen Alben<br />
rauswirft. Nur acht Monate<br />
nach dem Mammutwerk The<br />
All Is One legt es Kingdom of<br />
Oblivion nach. Outtakes des<br />
Vorgängers wurden aufgemotzt<br />
und mit neuen Songs zu<br />
einem weiteren Konzeptalbum<br />
verbaut, das streckenweise<br />
auch Led Zeppelin V heißen<br />
könnte. Ein Wunderhorn des<br />
psychedelischen Hardrock,<br />
das einmal mehr die Extraklasse<br />
von Motorpsycho bestätigt.<br />
Wenn sich zuletzt immer mehr<br />
Stimmen häuften, Gitarrenrock<br />
wäre endgültig tot, setzt<br />
die junge Londoner Band<br />
Dry Cleaning eine bewusste<br />
Zäsur. Auf ihrem Debütalbum<br />
New Long Leg kombiniert sie<br />
Einflüsse von den Modern<br />
Lovers über Sonic Youth bis The<br />
Fall. Vor allem der monotone<br />
Sprechgesang von Florence<br />
Shaw vereint Kim Gordon und<br />
Mark E. Smith. Untermalt von<br />
einem stoischen Soundtrack,<br />
der zuweilen an Can oder Neu!<br />
erinnert, erzählt sie von den<br />
unverzichtbaren Beiläufigkeiten<br />
des Lebens. Ob die Band<br />
nur ein Relikt ist oder die Vorhut<br />
einer neuen musikalischen<br />
Haltung, wird sich zeigen.<br />
Der amerikanische Songwriter<br />
Todd Snider ist zwar ein alter<br />
Hase, aber sein spezieller Mix<br />
aus Country Music, Blues und<br />
nasalem Sprechgesang erinnert<br />
auf First Agnostic Church<br />
BODY & SOIL<br />
of Hope and Wonder einmal<br />
mehr an die besten Momente<br />
des jungen Beck und der Eels.<br />
Seine Arrangements sind extrem<br />
minimalistisch, wodurch<br />
jeder einzelne Ton umso pointierter<br />
und aufgeräumter wirkt.<br />
Genau der richtige Aufbruch<br />
für den Frühling.<br />
Der Chicagoer Songpoet Ryley<br />
Walker beschreibt längst sein<br />
eigenes Genre. Die Anlage von<br />
Course in Fable erinnert ein<br />
wenig an sein Debüt Primrose<br />
Green, nur dass er die Grundelemente<br />
Folk, Jazz, Drone<br />
und Psychedelic diesmal viel<br />
subtiler verarbeitet. Hinzu<br />
kommt ein gewisser Sinn für<br />
Minimal Music, die durch<br />
Produzent John McEntire in<br />
die Produktion getragen wird.<br />
Walker hat es mittlerweile<br />
nach New York verschlagen,<br />
und McEntire lebt in Oregon,<br />
doch beide vereint nach wie<br />
vor jener typische Chicago<br />
Sound, der sich über alle Kategorisierungen<br />
hinwegsetzt.<br />
Jede Form der Kategorisierbarkeit<br />
ist auch dem kanadischen<br />
Kollektiv Godspeed<br />
You! Black Emperor fremd.<br />
Auf G_d’S Pee at State’S End,<br />
ihrem ersten Album seit sechs<br />
Jahren, versteigen sie sich zu<br />
einer Art viersätziger Sinfonie<br />
über die Apokalypse, die ihrer<br />
Meinung nach längst begonnen<br />
hat. Die beiden instrumentalen<br />
Long Tracks sind von<br />
verstörender Eindringlichkeit,<br />
das Intro zum ersten Song<br />
erinnert in seiner Intensität<br />
an den „21st Century Schizoid<br />
Man“. Erleichterung gewähren<br />
nur die beiden kürzeren<br />
Zwischentracks.<br />
Sara Watkins’ Under the Pepper<br />
Tree ist eine exzentrische<br />
Rückschau auf Lieder, die ihre<br />
Jugend bestimmt haben. Musical-<br />
und Film-Songs, Beatles-<br />
Nummern, Tagesschlager und<br />
andere versunkene Schätze<br />
werden zu einem surrealen<br />
Folk-Traum zusammengesetzt,<br />
der eher Chimären der Originale<br />
gleicht als Adaptionen.<br />
Die Arrangements erfolgen<br />
mit viel Liebe zum Detail, die<br />
Wiederbegegnung mit den<br />
durchweg bekannten Liedern<br />
ähnelt dennoch eher einem<br />
Spiegellabyrinth, bei dem man<br />
die Koordinaten von Zukunft<br />
und Vergangenheit aus dem<br />
Auge verliert.<br />
Portugal the Man aus Alaska<br />
waren anfangs für ihre Glam-<br />
Orgien bekannt. Oregon City<br />
Sessions ist ein unveröffentlichtes<br />
Studio-Live-Album von<br />
2008, auf dem sie die Songs<br />
ihrer Frühzeit in ausschweifen<br />
Live-Versionen ohne Publikum<br />
einspielen. Die Produktion erfolgte<br />
ohne Overdubs und zeigt<br />
eine Band, die an die zuweilen<br />
wilden Live-Auftritte von T. Rex<br />
erinnert. Ein berauschendes<br />
Glam-Prog-Spektakel, von dem<br />
PtM heute weit entfernt ist.<br />
Wolf Kampmann<br />
70 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
sich beim Spielen davontragen<br />
lassen und überwinde mühelos<br />
Genregrenzen und technische<br />
Schwierigkeiten.<br />
Hans-Jürgen Linke<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Markus Schieferdecker<br />
Asteroid 7881, Standards<br />
Rosenau / Galileo<br />
W W W W<br />
Der Bassist aus dem Nürnberger<br />
Raum ist keine unbeschriebene<br />
Größe. Er arbeitete sowohl mit<br />
der Ensemble-Chefin Maria<br />
Schneider als auch mit Albert<br />
Mangelsdorff, Clark Terry und<br />
Lee Konitz zusammen. Bereits<br />
als Kind und als Jugendlicher<br />
lernte er Klarinette, Saxofon und<br />
Gitarre. Eine Erfahrung, die ihm<br />
heute zugutekommt in seiner<br />
Eigenschaft als Bandleader. Dem<br />
namensgleichen Kirchenmusiker<br />
Johann Christian Schieferdecker<br />
ist die aktuelle CD gewidmet.<br />
Bei dem Titel mag der Jazz-<br />
Freund an konventionellen<br />
Durchschnitts-Jazz denken, wie<br />
man ihn eben aus der Club-Atmosphäre<br />
kennt. Beim Blick auf<br />
die Komponisten fällt eigentlich<br />
nur Henry Mancini als typisch<br />
„alter“ Stoff aus dem Rahmen.<br />
Allein der Auftakt mit Freddy<br />
Hubbards „Sky Dive“ ist schon<br />
eine angenehme Überraschung.<br />
Moderner Jazz, gefühlvoll und<br />
ideenreich präsentiert im musikalischen<br />
Spannungsfeld irgendwo<br />
zwischen Chick Corea, Scott<br />
LaFaro und John Coltrane. Nur<br />
zwei Kompositionen stammen<br />
aus Schieferdeckers eigener<br />
Feder: „Planet Mingus“ ist eine<br />
stilvoll gekonnte Verneigung vor<br />
dem Bassisten und Bandleader,<br />
während das rasante „Blue Sky“<br />
einen energiegeladenen Saxofonisten<br />
Wayne Escoffery ebenso<br />
in Bestform zeigt wie Drummer<br />
Joris Dudli. Stimmungsvolle<br />
Klangbilder wie in „Old Devil<br />
Man“ mit einem brillierenden<br />
Pianisten Xavier Davis runden<br />
eine gelungene Jazz-Aufnahme<br />
ab, die gekonnt das Beste aus<br />
Tradition und Gegenwart vereint.<br />
Andreas Schneider<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Théo Ceccaldi Trio<br />
Django<br />
Full Rhizome / Broken Silence<br />
W W W W W<br />
Nahezu alles, was die Ceccaldis<br />
(Gitarrist Guillaume Aknine wird<br />
hier brüderlich in die Familie<br />
aufgenommen) anfassen, gerät<br />
ungemein kreativ, und so steckt<br />
auch Django wieder voller<br />
Überraschungen. „Balancelle<br />
et Chèvrefeuille“ zerlegt<br />
die Manouche-Ästhetik und<br />
konfrontiert „Minor Swing“ mit<br />
Minimal Music. „Le cou du Dragon“<br />
verarbeitet Josef Myrows<br />
Klassiker „Blue Drag“ zu einem<br />
spacigen Trip in all die Welten,<br />
die sich auftun, wenn Saiten-<br />
Instrumentalisten alle Register<br />
ziehen. Da kommt alles zum Tragen,<br />
was diese Idealbesetzung<br />
unter den Händen von Musikern<br />
solchen Formates hergibt. „Manoir<br />
de mes réves“ mäandert<br />
romantisch und wabert dennoch<br />
ungeduldig. An Valentin Ceccaldi<br />
fasziniert einmal mehr die<br />
Fähigkeit, dem Cello Ostinato-,<br />
Twobeat-, Walking Bass-,<br />
Groove-, und Powerchord-<br />
Funktion zuzuweisen und dazu<br />
überraschend klangliche Feuer<br />
auf vier Saiten zu entfachen.<br />
„Nin-Nin je t’aime“ lädt zu einem<br />
wunderbar ruhigen 7-minütigen<br />
Spaziergang durch Raum und<br />
Zeit. Darauf folgt mit „Acétone<br />
Charleston“ eine herrlich<br />
collagierte Suite voll genialem<br />
Humor und Tempo-Spielereien<br />
auf schrägen Nebenschauplätzen.<br />
Im Vorbeigehen erleichtern<br />
die drei Musiker den „französischen<br />
Jazz“ unterwegs mal<br />
kurz von der Last der eigenen<br />
Tradition. Mit Chapeau vor der<br />
Vergangenheit, ihren Klischees<br />
und möglichen Auslegungen in<br />
die Zukunft. Großartig, wie sich<br />
Aknine inmitten des akustischen<br />
Kontextes von „Six pouces sous<br />
mer“ an den Verzerrer traut<br />
und dann in „Brûle Roulotte“<br />
gemeinsam mit Théos Violine<br />
Erinnerungen an Django<br />
Reinhardts tragischen Unfall im<br />
Wohnwagen heraufbeschwört.<br />
Jan Kobrzinowski<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Snowpoet<br />
Wait for Me<br />
Edition / PIAS<br />
W W W W<br />
Die Klänge, Techniken und<br />
Praktiken improvisierter und<br />
zeitgenössischer klassischer<br />
Musik, südindischer karnatischer<br />
Gesang, Jazz, Folk,<br />
Art-Pop und Electronica sind die<br />
Anschubmittel für die Mühlen<br />
von Snowpoet. Es vereinen<br />
sich also eine Menge Zutaten<br />
in der Musik des freundlichen<br />
Londoner Kammermusik-Paares<br />
Lauren Kinsellas und Chris<br />
Hysons und ihrer siebenköpfigen<br />
Band Snowpoet. Sie haben<br />
es geschafft, in der Tat Jazz<br />
mit zeitgenössischem Folk zu<br />
verschmelzen, ohne jemals<br />
prätentiös zu klingen. Sie kombinieren<br />
komplexe musikalische<br />
Ideen und eindringliche Texte<br />
mit einer offenen, ausladenden<br />
Palette und einer rhythmischen<br />
Aufregung, die jeden anspricht,<br />
dessen Ohren von z.B. Kate<br />
Bush oder Goldfrapp geöffnet<br />
wurden. Wait for Me ist mit<br />
seinen vielschichtig bearbeiteten<br />
Sounds völlig anders als der<br />
spärliche Vorgänger Trough You<br />
PDF in 4c<br />
Knew. Nun wird in wechselnden<br />
Innenansichten geschwelgt<br />
<strong>–</strong> vielleicht ein Resultat der<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 71
Tonspuren<br />
Pandemie, die ja auch Zeit<br />
zu gedanklichen Reflexionen<br />
ermöglicht <strong>–</strong>, Andeutungen von<br />
Intimitäten innerhalb von Wattewolken<br />
aus Keyboards und<br />
nachhallenden Vocals flirren<br />
umher. Ganz automatisch wird<br />
man dabei in die Träumereien<br />
von Tracks wie „FaceTime“ und<br />
„Here’s the Thing“ hineingezogen.<br />
„The Wheel“ <strong>–</strong> mit der<br />
einfühlsamen Gitarre von Alex<br />
Haines <strong>–</strong> weitet sich dann, die<br />
komplette Band bringt reiche<br />
Klangschichten ein, bevor die<br />
Beats von Dave Hamblett den<br />
Song wirbeln und grooven<br />
lassen. Snowpoet schaffen das<br />
Kunststück, einer Avantgarde-<br />
Methode zu folgen und dennoch<br />
in einem zugänglichen, fast verdächtig<br />
melodischen Raum zu<br />
landen, der mit einem gewissen<br />
antisentimentalen Stoff geimpft<br />
ist. Doch es braucht ein wenig<br />
Zeit und Geduld beim Hörer, um<br />
sich auf die Schönheit von Wait<br />
for Me voll einzulassen.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Wollny <strong>–</strong> Parisien <strong>–</strong> Lefebvre <strong>–</strong><br />
Lillinger<br />
XXXX<br />
ACT / Edel:Kultur<br />
W W W W o<br />
Die vielen X im Albumtitel stehen<br />
für: explore, expand, exploit,<br />
exterminate. Das klingt viel<br />
konstruierter als die Musik auf<br />
dem Album. Denn XXXX ist vor<br />
allem wild in den Sounds: Wer<br />
denkt, dass Michael Wollny nur<br />
für gepflegten Pianosound steht,<br />
wird hier sicher überrascht. Der<br />
deutsche Pianist hat einen kompletten<br />
Fuhrpark mit viel alter<br />
und auch neuer Elektronik im<br />
Berliner A-Trane aufgefahren,<br />
es röhrt, knirscht, gniedelt und<br />
wummert <strong>–</strong> aber nicht nur aus<br />
der Tastenecke. Auch Saxofonist<br />
Emile Parisien lässt sein<br />
Instrument mit Elektronik verfremden,<br />
E-Bassist Tim Lefebvre<br />
ist seit Jahren bekannt dafür,<br />
unerwartete Sounds mit fetten<br />
Grooves kombinieren zu können.<br />
Er agiert als Mastermind im<br />
Untergrund, durch erfrischend<br />
überraschende Sounds samt<br />
Tempo- und Grooveveränderungen<br />
das Quartett aus der<br />
Tiefe dirigierend. Und Drummer<br />
Christian Lillinger macht das,<br />
wofür er bekannt ist: Unvorhersehbares,<br />
mal durchgehend<br />
als Groove, mal nur als<br />
Soundpainting. Vier Tage hatte<br />
sich das Quartett ohne fertige<br />
Stücke oder Skizzen im Berliner<br />
Club auf die Bühne gestellt und<br />
einfach drauflosgespielt. Dabei<br />
herausgekommen ist ein interessantes<br />
Gebräu aus Sounds,<br />
Grooves und Motiven, die sich<br />
langsam zu verschiedenen<br />
Songformen entwickelten. Die<br />
große Arbeit war im Anschluss,<br />
das Material in CD-kompatible<br />
Abschnitte zu schneiden. Doch<br />
das ist der Band gelungen, die<br />
komplett improvisierten Stücke<br />
klingen wie abgerundete Songs.<br />
Schade ist nicht nur für die<br />
Musiker, sondern auch für das<br />
Publikum, dass das Projekt<br />
momentan nicht weiterlaufen<br />
kann. Die CD zeigt, wohin der<br />
Weg führen könnte…<br />
Angela Ballhorn<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Archie Shepp & Jason Moran<br />
Let My People Go<br />
Archieball / Broken Silence<br />
W W W W W<br />
Für Archie Shepp, den unerreichten<br />
Meister der brüchigen,<br />
verschliffenen, aggressivzärtlichen<br />
Saxofonkunst, ist<br />
die Duo-Konstellation mit<br />
einem Pianisten ein nahezu<br />
ideales Format. Einige seiner<br />
besten Platten machte Shepp<br />
im Dialog mit Horace Parlan<br />
oder Mal Waldron. Diesmal<br />
ist sein Klavierpartner der um<br />
fast 40 Jahre jüngere Jason<br />
Moran, einer der wichtigsten<br />
Jazzmusiker seiner Generation.<br />
Erst 2015 haben sich die beiden<br />
kennengelernt, auf einem<br />
europäischen Festival. Auf zwei<br />
anderen europäischen Festivals<br />
(in Paris und Mannheim) wurden<br />
die Duo-Aufnahmen dieses<br />
Albums mitgeschnitten. In<br />
sieben Stücken zeichnen Shepp<br />
und Moran die Black Music<br />
History nach <strong>–</strong> von den frühen<br />
Spirituals über die Jazz Saints<br />
(Strayhorn, Monk, Coltrane) bis<br />
zur Gegenwart (Morans „He<br />
Cares“). Über tremolierten, häufig<br />
modalen Klavierteppichen, meist<br />
„out of tempo“, zieht Shepp am<br />
Tenor- bzw. Sopransax seine<br />
grandiosen, unnachahmlich<br />
zerrissenen Bahnen. Moran ist<br />
als Solist kaum weniger faszinierend<br />
<strong>–</strong> ein ganzes Bündel von<br />
Klavierspielern scheint in ihm zu<br />
stecken. Das ist große Trauerund<br />
Feiermusik, ein Höhepunkt<br />
in der Geschichte der Jazzkunst,<br />
hypnotisierend und hymnisch<br />
und dennoch von äußerster<br />
Expressivität. Von einem Album<br />
wie diesem wagt man kaum zu<br />
träumen.<br />
Hans-Jürgen Schaal<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Pascal Schumacher<br />
Re: SOL<br />
Neue Meister / Edel:Kultur<br />
W W W W<br />
Ein Jahr nach seinem Solodebüt<br />
SOL hat der luxemburgische<br />
Jazzvibraphonist Pascal<br />
Schumacher vier Musiker<br />
eingeladen, jeweils ein Stück<br />
daraus neu zu interpretieren.<br />
Um anderen solch persönliches<br />
Material nebst „Freifahrtschein,<br />
der es ihnen erlaubt, damit zu<br />
tun, was immer sie denken“, zu<br />
geben, bedarf es viel Vertrauens.<br />
Dass es erwidert wird, ist<br />
in den hochintimen Dialogen<br />
aus Werk und Bearbeitung zu<br />
hören. Etwa wenn der Pianist<br />
Malakoff Kowalski Schumachers<br />
Debüt-Titeltrack seine<br />
tiefen, auf einem 1912er-Krauss<br />
angeschlagenen Töne leiht, die<br />
das Original melodisch wie harmonisch<br />
unangetastet lassen,<br />
ihm jedoch eine neue Nächtlichkeit<br />
beigeben. Regelrecht<br />
mystisch gibt sich das Rework<br />
Viktor Orri Árnasons, in dem<br />
elektronische Zeitlupenklangflächen<br />
und zögernde Streicher<br />
zu opulent-organischem Ambientchillout<br />
aufeinandertreffen.<br />
„Die größte Freude war mir<br />
dabei“, so der Isländer, „die<br />
Vibration des Vibraphons selbst<br />
zu manipulieren.“ Elektronische<br />
Downtempo-Loops, die<br />
zwar das Schlaginstrument<br />
überlagern, die verwunschene<br />
Atmosphäre dessen ungeachtet<br />
aufrechterhalten, bietet<br />
die Interpretation des jungen<br />
Stuttgarter Produzenten Brian<br />
Zajak aka Fejká, derweil es auf<br />
der geräuschkulissendurchsetzten<br />
Neufassung der Komponistin<br />
Midori Hirano mindestens<br />
ebenso minimalistisch zugeht<br />
wie auf dem Original <strong>–</strong> bis die<br />
stetige Steigerung einem schier<br />
den Verstand zu rauben droht.<br />
Soundscapes, die begehren, in<br />
komfortabler Liegeposition, an<br />
eine Decke voller rätselhafter<br />
Projektionen starrend, das eine<br />
oder andere Getränk konsumierend,<br />
genossen zu werden.<br />
Victoriah Szirmai<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Stefano Tamborrino<br />
Seacup<br />
tuk / Edel:Kultur<br />
W W W<br />
Es ist leicht, Wasser in einer<br />
Tasse aus dem Meer zu nehmen<br />
und es einfach Salzwasser zu<br />
72 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Kolumne<br />
MANDEL IN AFRICA<br />
Ballaké Sissoko<br />
Djourou<br />
No Format / Indigo<br />
W W W W<br />
Toumani Diabaté & The London<br />
Symphony Orchestra<br />
Kôrôlén<br />
World Circuit / BMG<br />
W W W<br />
Christine Salem<br />
Mersi<br />
Blue Fanal / Broken Silence<br />
W W W W o<br />
Les Mamans du Congo & Rrobin<br />
Les Mamans du Congo & Rrobin<br />
Jarring Effects / Broken Silence<br />
W W W W<br />
Kasai Allstars<br />
Black Ants Always Fly<br />
Together<br />
Crammed / Indigo<br />
W W W W<br />
BLK JKS<br />
Abantu / Before Humans<br />
Glitterbeat / Indigo<br />
W W W<br />
Various Artists<br />
Edo Funk Explosion<br />
Analog Africa / Groove Attack<br />
W W W W W<br />
Ayuune Sule<br />
Putoo Karate Yire<br />
Makkum / RebelUp! / News<br />
W W W W<br />
Nahawa Doumbia<br />
Kanawa<br />
Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />
W W W W<br />
Hailu Mergia & The Walias<br />
Band<br />
Tezeta<br />
Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />
W W W o<br />
DJ Black Low<br />
Uwami<br />
Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />
W W W o<br />
Kora-Koryphäen<br />
Balaké Sissoko und Toumani<br />
Diabaté stammen aus westafrikanischen<br />
Musikdynastien,<br />
ihr Instrument ist die vielsaitige<br />
Kora. Bereits 1999 kam es zu<br />
einem Gipfeltreffen der Meister<br />
auf dem Album New Ancient<br />
Strings, heute zählen sie zu den<br />
bekanntesten Musikern Malis.<br />
Auf seinem neuen Album ist<br />
Sissoko zunächst solo zu hören,<br />
im weiteren Verlauf kommt es<br />
zu einem Kora-Duett mit Sona<br />
Jobarteh aus Gambia. Zarte<br />
Pop-Songs entstanden mit u.a.<br />
Salif Keita und der französischen<br />
Sängerin Camille, mit dem Cellisten<br />
Vincent Segal, mit dem er bereits<br />
das Duett-Album Chamber<br />
Music aufgenommen hat, und<br />
Klarinettist Patrick Messina wird<br />
sogar über Berlioz’ Symphonie<br />
fantastique fantasiert. Noch inniger<br />
wird die Umarmung der Kora<br />
durch die europäische Kunstmusik<br />
bei Toumani Diabaté, der, so<br />
wie Pharoah Sanders, mit dem<br />
London Symphony Orchestra<br />
kooperierte. Dieses hat den von<br />
früheren World- Circuit-Produktionen<br />
bekannten Stücken wenig<br />
hinzuzufügen: Es verdoppelt,<br />
verplüscht oder paraphrasiert<br />
im Wechselspiel, was Diabaté<br />
spielt. Eigene Akzente, Kontrapunkte<br />
gar, wie beim Trio Sa Kali<br />
und dem Kronos Quartet fallen<br />
aus oder nicht auf.<br />
Starke Frauen<br />
Sängerin Christine Salem wurde<br />
auf der Insel Réunion geboren,<br />
und ihr Repertoire schöpft aus<br />
dem afrikanisch, asiatisch und<br />
europäisch geprägten Musikerbe<br />
der Insel. Berühmt ist<br />
mittlerweile der bis 1981 verbotene<br />
Maloya-Tanz mit seinen vertrackten<br />
6/8-Patterns, aber ihre<br />
(europäische) Band ist auch offen<br />
für geradlinigere Pop-Nummern.<br />
Mit Texten auf Kreol steht<br />
der tiefe, manchmal androgyne<br />
Gesang der Künstlerin mit einem<br />
Fuß im Blues. Rein elektronisch,<br />
aber ähnlich anschmiegsam und<br />
vielseitig ist das musikalische<br />
Flussbett, das der französische<br />
Producer Rrobin dem fünfköpfigen<br />
Vokalensemble Les Mamas<br />
du Congo ausgehoben hat. Das<br />
ist hoffentlich richtungsweisend<br />
für derartige von Fördermitteln<br />
befeuerte Projekte, bei denen<br />
EU-Producer sich gern nicht<br />
ganz uneitel selbst inszenieren.<br />
Bei den Mamas verrichten die<br />
Beats elegant ihre Arbeit und<br />
rücken die Stimmen von Gladys,<br />
Odette, Argéa, Jeanny und<br />
Nadège in den Fokus.<br />
Beliebte Bands<br />
Ihre Landsleute Kasai Allstars<br />
haben eigentlich keine Postproduktion<br />
nötig. Ihr Krawallfaktor,<br />
mit Percussions, Likembes,<br />
Gitarren und Daumen-Pianos,<br />
ist Legende. Das Großensemble<br />
entstand in der Hauptstadt Kinshasa,<br />
aber wie der Name sagt,<br />
kommen die Musiker ursprünglich<br />
aus der Provinz Kasai, entstammen<br />
fünf unterschiedlichen<br />
lokalen Bands und gleichzeitig<br />
fünf verschiedenen Ethnien.<br />
Lehrstück über die Kraft der Musik,<br />
aber vor allem: innovative,<br />
hypermotorische Straßentanzmusik<br />
mit Trance-Faktor. Ihren<br />
früheren Alben steht die aktuelle<br />
Veröffentlichung in nichts nach.<br />
Die südafrikanische Band BLK<br />
JKS hatte ihren Durchbruch<br />
vor zehn Jahren mit dem Album<br />
After Robots. Nachdem 2018 das<br />
Bandstudio ausgeräumt wurde,<br />
musste das neue Album aus der<br />
Erinnerung rekonstruiert werden,<br />
dabei schöpft das Quintett<br />
aus allen möglichen Töpfen<br />
und wechselt gern alle paar<br />
Takte den Gang, so dass, Jazz,<br />
Jive, Metal, Folk und Rap nur so<br />
durcheinanderpurzeln, um dann<br />
doch in einer großen Pop-Geste<br />
zusammenzufinden.<br />
Tolle Typen<br />
Einen Querschnitt über den<br />
Spätsiebziger-Sound in Benin<br />
City (das nicht in Benin liegt,<br />
sondern in der Edo-Region von<br />
Nigeria) gibt die Compilation Edo<br />
Funk Explosion <strong>–</strong> mit durchweg<br />
funky, zum Teil blubberndverspieltem,<br />
zum Teil politisch<br />
motiviertem Material von tollen<br />
Typen wie Victor Uwaifo, Osayomore<br />
Joseph und dem „Philosophen-König<br />
des Edo Funk“ (Liner<br />
Notes) Akaba Man. Ayuune Sule<br />
verbittersüßte das Jahr 2020 mit<br />
einer Corona-Single, nun legt<br />
der Kologo-Meister aus Ghanas<br />
Upper Region mit einem Album<br />
nach: Im Top Link Studio im<br />
Städtchen Bongo wurden dafür<br />
eine Percussion- und eine Gesangsgruppe<br />
und die Stargäste<br />
Prince Buju und Bonjo I von African<br />
Headcharge engagiert. Im<br />
Verein mit den unvermeidlichen<br />
MIDI-Beats schaffen sie eine effektive,<br />
durchlässige Begleitung<br />
für Ayuunes in Frafra gesungene<br />
positive Message.<br />
Tolle Tapes<br />
Nach dem Re-Release der<br />
frühen Werke von Nahawa<br />
Doumbia hat die Sängerin in<br />
Bamako neues Material eingespielt:<br />
eindringliche Songs über<br />
die Situation im heutigen Mali,<br />
begleitet von ihrer kamele ngoni,<br />
einem Ensemble mit traditionellen<br />
und modernen Instrumenten<br />
und in einem Fall: ihrer Tochter.<br />
Das Album spannt in acht Titeln<br />
den Bogen vom Storytelling bis<br />
zur groovenden Pop-Nummer.<br />
Fans des äthiopischen Tastenmannes<br />
Hailu Mergia dürfen<br />
sich über ein Re-Issue des<br />
ersten Albums seiner Walias<br />
Band freuen, das nun erstmals<br />
auf Vinyl erscheint. Die Live-<br />
Aufnahme aus ihrem Stamm-<br />
Club im Hilton Hotel von Addis,<br />
mit prominenter Gitarre und<br />
Hailu an der Orgel, ist zwar wie<br />
stets eine Freude, aber die hat<br />
ihren Preis: Das Grundrauschen<br />
des Cassettensounds überzieht<br />
die Grooves mit einer schwer zu<br />
ignorierenden Patina. Glasklar,<br />
weil volldigital ist dagegen der<br />
neue Housemusik-Sound aus<br />
Südafrika, heißt Amapiano, ist<br />
vom Tempo her relaxt und hat<br />
Fans nicht nur in Südafrika, sondern<br />
auch in Japan. Das Album<br />
von DJ Black Low ist eine Art<br />
Rough Guide in diesen Sound:<br />
Konsumentenfreundlicher next<br />
level shit mit massig Vocal-Features<br />
im Sprachmix aus SePedi,<br />
Setswana and isiZulu <strong>–</strong> ein für<br />
Nichteingeweihte nervtötendes<br />
Meisterwerk.<br />
Eric Mandel<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
73
Kolumne<br />
Lee Daniels<br />
Billie Holiday vs.<br />
The United States<br />
Hulu<br />
W W W<br />
Oliver Murray<br />
Ronnie’s <strong>–</strong> The Life of Ronnie<br />
Scott<br />
BBC<br />
W W W W W<br />
Andrew Slater<br />
Echo in the Canyon<br />
NBC Universal Europe / You-<br />
Tube<br />
W W W W<br />
Vincent Moon / Ólafur Arnalds<br />
When We are Born<br />
Universal<br />
W W W o<br />
Pete Docter<br />
Soul<br />
Pixar, Disney / Amazon Prime<br />
W W W W<br />
LAUFBILDKONTROLLE<br />
In zeitgemäßer Optik wirft<br />
wieder mal ein Filmemacher ein<br />
geschichtsklitterndes Machwerk<br />
auf die Leinwand, das sich<br />
um eine Musiklegende dreht.<br />
Nach Miles, Django, Bolden, Ma<br />
Rainey ist es diesmal Billie Holiday,<br />
deren Leben an sich schon<br />
genug Filmstoff-Potenzial bietet:<br />
Rassismus, Behördenwillkür, sexuelle<br />
Gewalt, Drogen. Daraus<br />
machte das Team um Suzan-<br />
Lori Parks (Drehbuch), Johann<br />
Hari (Quellenbuch-Autor) und<br />
Lee Daniels (Regie) mit The<br />
United States vs. Billie Holiday<br />
einen Fiction-Film, der Wahrheit<br />
und Erfindung vermischt. Das<br />
darf er, dennoch ist ein Zuviel<br />
an Fiktion in einem Bio-Pic evtl.<br />
problematisch. Rote Fäden<br />
sind Billies Unerschütterlichkeit,<br />
„Strange Fruit“ weiter zu<br />
singen, sowie ihre (verbriefte?)<br />
Beziehung zu Jimmy Fletcher<br />
(Trevante Rhodes), einem<br />
hübschen Undercover-Ermittler,<br />
der den Dunstkreis der Sängerin<br />
infiltrieren und Beweise für<br />
ihren Drogenkonsum sammeln<br />
soll. Die Leistung von Andra Day<br />
als Holiday ist schauspielerisch<br />
beachtlich, gesanglich (eher<br />
nachahmend als neuerfindend)<br />
überschaubar bis gut.<br />
Die klassische Jazz-Doku ist<br />
noch nicht tot. Ronnie’s von<br />
Oliver Murray lebt vom legendären<br />
Londoner Ronnie Scott’s<br />
und dessen Gründer: Liebevoll<br />
wird die Geschichte eines<br />
Jazzenthusiasten und Musikers<br />
nachgezeichnet, dessen<br />
Leben (1927-1996) im Grunde<br />
der berühmte Club war. Größen<br />
des Jazz dankten ihm seit 1959<br />
für eine einzigartige Absteige<br />
im Herzen der britischen<br />
Szene, die, unter neuer Leitung,<br />
bis heute existiert. Dass man<br />
nebenbei nicht nur Stars wie<br />
Dizzy, Ella, Nina Simone, Sonny<br />
Rollins, Roland Kirk, Buddy<br />
Rich, Oscar Peterson in intimer<br />
Performance, sondern z.B.<br />
auch einen raren Auftritt von<br />
Van Morrisson mit Chet Baker<br />
erlebt, macht die Sache noch<br />
lohnender. Interviews mit Scott,<br />
Business-Partner Pete King und<br />
deren Familie sowie Georgie<br />
Fame, Quincy Jones, Rollins,<br />
Kyle Eastwood u.a. geben<br />
Einblick in das Leben des mit<br />
trockenem Humor ausgestatteten,<br />
aber auch zur Depression<br />
neigenden Scott. Demnächst<br />
hoffentlich im Kino.<br />
„Laurel Canyon war der Ort,<br />
wo man leben konnte, das<br />
Gegenstück zu der Plastikwelt<br />
aus dem Fernsehen,“ erzählt<br />
Jackson Browne über die<br />
Wiege des Westcoast-Sounds<br />
im Gespräch mit Bob Dylans<br />
Sohn Jakob. „Die Leute riefen<br />
dich nicht an, sie klopften und<br />
sagten ‚Hör dir das mal an!‘“,<br />
erzählt Graham Nash. Roger<br />
McGuinn hatte herausgefunden,<br />
dass die Beatles Folk-Akkorde<br />
verwendeten, um damit große<br />
Hits zu landen. „Das gab mir die<br />
Idee, einen alten Folksong zu<br />
nehmen und ihn mit Beatles-<br />
Beats aufzumotzen. Ich ging ins<br />
Dorf runter und spielte das im<br />
Café Playhouse, aber sie mochten<br />
die Mischung von Rock ‘n‘<br />
Roll und Folk erst nicht.“ Dann<br />
gründete er mit Gene Clark<br />
und David Crosby die Byrds.<br />
„Dylan kam und hörte uns ‚Mr.<br />
Tambourine Man‘ mit E-Gitarren<br />
spielen“, erzählt Crosby. „Du<br />
konntest sehen, wie es rattert in<br />
seinem Kopf. Er wusste sofort:<br />
Das will er auch machen.“<br />
Andrew Slaters Film Echo in<br />
the Canyon mit Jakob Dylan als<br />
Interviewer und Live-Interpret<br />
alter Westcoast-Perlen belebt<br />
alte Zeiten wieder und bringt<br />
neue Einsichten. Manko: Einige<br />
der Versionen von Byrds-,<br />
Peter, Paul & Mary- bis Beach<br />
Boys-Klassikern durch die neue<br />
Generation Fiona Apple, J.<br />
Dylan, Jade, Norah Jones u.a.<br />
bleiben blass gegenüber den<br />
Originalen.<br />
Hauptjob des französischen<br />
Filmemachers Mathieu „Vincent<br />
Moon“ Saura ist, die Welt mit<br />
Rucksack, Laptop und Kamera<br />
zu bereisen und zu zeigen, wie<br />
Film und Musik Menschen helfen,<br />
eigene und andere Kulturen<br />
mit neuen Augen zu sehen. Er<br />
hat Arcade Fire, Bon Iver, Sufi-<br />
Rituale sowie brasilianische Ureinwohner<br />
in Formaten wie The<br />
Take-Away Show und Collection<br />
Petites Planètes gefilmt. 2020<br />
traf er sich mit Ólafur Arnalds<br />
zur ästhetisierten musikalischen<br />
Sinnsuche When We are<br />
Born auf Island. Sowohl die zu<br />
sehenden Rituale als auch die<br />
Tanzchoreografie sind bewusst<br />
deutungsoffen gehalten. Für<br />
Arnalds-Fans und Liebhaber der<br />
Verbindung von Musik und Tanzperformance<br />
eine gelungene<br />
halbe Stunde und eine schöne<br />
visuelle Ergänzung einiger<br />
Songs des aktuellen Albums<br />
Some Kind of Peace.<br />
Selbstverwirklichung, Widerstreit<br />
von Körper, Geist und<br />
Seele, Konzepte von Vorbestimmung,<br />
Wiedergeburt, Diesseits/<br />
Jenseits <strong>–</strong> das sind Stoffe, aus<br />
dem Soul, das neue Animations-<br />
Comedy-Drama von Disney/<br />
Pixar, zusammengewebt ist.<br />
Animations-Nerd Pete Docter<br />
(Inside Out, Up) legte den Plot<br />
kurzerhand in den Lebensraum<br />
eines New Yorker Jazzmusikers,<br />
geprägt von Lebens-, Ego- und<br />
Existenzproblemen (in diesen<br />
Zeiten eine pikante Entscheidung?).<br />
In weicher Niedlichkeit<br />
der Figuren verschwimmen die<br />
Grenzen zwischen Jenseits,<br />
Vorher und Nachher manchmal<br />
bis zur Unkenntlichkeit und<br />
stehen dem irdischen Jazz-Ambiente,<br />
liebevoll nachgezeichnet<br />
in New York-Downtown-<br />
Ästhetik, gegenüber. Man sollte<br />
sich nicht allzu viele Gedanken<br />
machen, sich einfach von den<br />
Pixar-Experten gut unterhalten<br />
lassen <strong>–</strong> und unterdessen am<br />
Soundtrack erfreuen. Dieser<br />
wurde von Trent Reznor, Atticus<br />
Roos und Jon Batiste erstellt<br />
(Disney Records), ihnen standen<br />
Berater wie Herbie Hancock,<br />
Terri Lyne Carrington und Questlove<br />
zur Seite. Gastauftritte wie<br />
der von Cody Chesnutt sorgen<br />
für Highlights.<br />
Jan Kobrzinowski<br />
74 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
nennen. Für Stefano Tamborrino<br />
bleibt es jedoch ein Teil des<br />
Meeres. Aufgrund einer, wie<br />
er es nennt, in der Sprache<br />
innewohnenden Gewalt, geht<br />
Tamborrino den Weg, sich<br />
weniger über die Musik auszudrücken.<br />
Der Klangköper,<br />
den er dafür wählt, setzt sich<br />
aus vier Streichern, Saxofon,<br />
Schlagzeug, Stimme, Eletronics<br />
und Lap-Steel-Girarre<br />
zusammen. Dominiert wird<br />
der Klang des Albums vom<br />
dichten und meist spannungsvollen<br />
Streichersound, dessen<br />
fließender Strom sich durch<br />
das Album zieht. Vor diesem<br />
Hintergrund bilden sich Melodien<br />
heraus, die verschiedene<br />
Assoziationen hervorrufen.<br />
Bei „Escher“ kann das die<br />
geordnete Welt des Barocks<br />
sein. Bei „Purple Wales“<br />
eine langsam wogende See,<br />
die durch das gesungene<br />
Govinda eine hinduistische<br />
Färbung bekommt und an den<br />
Fluss des Lebens erinnert.<br />
Die Assoziation mit östlichem<br />
Gedankengut wird auch bei<br />
„Gamelan“ hörbar. Schwer<br />
und geerdet beginnt „Almost<br />
Jesus“ und lässt den Hörer<br />
nach einsetzenden dissonanten<br />
Streichern und im Verlauf<br />
des immer spannungsreicher<br />
werdenden Stücks die Frage<br />
stellen, wie erstrebenswert<br />
es ist, fast Jesus zu sein. Die<br />
Antwort findet sich vielleicht<br />
in den Liner Notes, in denen<br />
Stefano Tamborrino schreibt:<br />
„Jeder von uns trägt ein<br />
Gewicht auf seinen Schultern.<br />
Dies ist mein Versuch, meins<br />
mit fünf Freunden zu teilen.“<br />
Thomas Bugert<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Trio Elf<br />
Fram<br />
Enja / Edel:Kultur<br />
W W W o<br />
Mit Fram legt das Trio Elf aus<br />
Regensburg, lässt man das<br />
Remix-Album RMXD außen<br />
vor, seinen siebten Longplayer<br />
vor. Zwar hat sich einiges<br />
getan seit ihrem selbstbetitelten<br />
Debüt von 2006 <strong>–</strong> insbesondere<br />
auf der Bass-Position<br />
ist Fluktuation angesagt: Nach<br />
Sven Faller und Peter Cudek<br />
komplettiert nun Sebastian<br />
Gieck das Terzett um die<br />
Gründungsmitglieder Gerwin<br />
Eisenhauer (dr) und Walter<br />
Lang (p). Dessen ungeachtet<br />
ist es seinem Projekt, Topoi<br />
elektronischer Tanzmusik in<br />
analoges, „handgemachtes“<br />
Musizieren zu überführen,<br />
weitgehend treu geblieben.<br />
Nun ist diese Idee nicht ganz<br />
neu: Bereits Mitte der 90er<br />
spielte das Trio Red Snapper<br />
Drum’n’Bass-Nummern<br />
auf Jazz-Instrumentarium,<br />
insbesondere in der neueren<br />
britischen Jazz-Szene herrscht<br />
mit Bands wie GoGo Penguin<br />
oder Portico Quartet kein<br />
Mangel an Combos, die sich<br />
am Groove des Dancefloors<br />
orientieren. Mit dem Titelstück<br />
und „Addicted“ hat Fram zwei<br />
Tunes anzubieten, deren energetisch<br />
aufgeladene Rhythmik<br />
dezidiert die Bezeichnung<br />
Clubtrack einfordert. Metrisch<br />
getrieben, harmonisch aber<br />
oft nur dahintreibend, wird<br />
solcherart handgemachte<br />
Club-Gefälligkeit leider nur<br />
allzu selten aufgebrochen und<br />
hintertrieben (was angesichts<br />
der dem Ansatz innewohnenden<br />
regressiven Tendenzen<br />
geboten wäre). Interessanter<br />
sind die Mischformen und<br />
Balladen wie „What It Seems“,<br />
in denen insbesondere Eisenhauer<br />
als Spannungs erzeuger<br />
auffällt, der nie einfach<br />
begleitet, sondern proaktiv Zeit<br />
gestaltet.<br />
Harry Schmidt<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Michel Schroeder Ensemble<br />
Bunt<br />
Laika / Rough Trade<br />
W W W W<br />
Gerade erst gegründet und<br />
schon in die Krise hineingeschlittert:<br />
2018 bildete sich<br />
das Crossover-Ensemble des<br />
jungen deutschen Trompeters<br />
Michel Schroeder. Dass<br />
auch in der Krise etwas Gutes<br />
entstehen kann, zeigt das<br />
17-köpfige Ensemble nun auf<br />
dem Debüt-Album. Bunt ist<br />
nicht nur der Titel, sondern<br />
auch die Besetzung mit acht<br />
Bläsern, vier Streichern, einer<br />
Harfe, Klavier, Gitarre, Bass<br />
und Schlagzeug. Bunt wie die<br />
Besetzung ist auch die Stilistik<br />
des Ensembles, die von<br />
Swing über Free Jazz zu Latin<br />
und Klassik reicht, und auch<br />
Schroeders Kompositionen<br />
sind ausgesprochen vielfarbig<br />
und kontrastreich. Es gehört<br />
zu seinem Motto, dass die<br />
Musik ruhig innerhalb eines<br />
Stückes sehr unterschiedlich<br />
sein darf, was er auch auf<br />
der Platte umgesetzt hat.<br />
Sieben der acht Kompositionen<br />
stammen aus seiner<br />
Feder und reichen inhaltlich<br />
von der Auseinandersetzung<br />
mit dem Klimawandel in der<br />
Dystopie „Sommer 2068“ bis<br />
hin zur Hommage an Pippi<br />
Langstrumpf mit „Villa Kunterbunt“.<br />
Mit Duke Ellingtons<br />
„In a Sentimental Mood“, das<br />
sehr streicherlastig umgesetzt<br />
wird, will das Michel Schroeder<br />
Ensemble zeigen, wo es<br />
seine Wurzeln sieht. Schroeders<br />
Kompositionen sind<br />
melodielastig und im besten<br />
Sinne „bunt“ und versehen<br />
mit abwechslungsreichen Soli<br />
für seine Mitmusiker*innen,<br />
die diese fantasievoll und virtuos<br />
ausgestalten. Einen Wermutstropfen<br />
hat das Debüt-<br />
Album des Michel Schroeder<br />
allerdings leider doch: Allzu<br />
oft ist die Intonation nicht gut<br />
getroffen, was feinen Ohren<br />
einen Strich durch das Hörvergnügen<br />
machen könnte.<br />
Verena Düren<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />
75
Literatur<br />
Von Jan Kobrzinowski<br />
Christoph Wagner leistet sich seit jeher den Luxus, sich seine<br />
Interviewpartner selbst auszusuchen. Sein Kriterium: Wer hat<br />
die besten historisch wahren oder fiktiven oder kreativen Geschichten<br />
zu erzählen? Dazwischen schreibt er kluge Essays,<br />
in denen er Odd-Phänomene wie Pop in Zeitlupe, Rockminimalismus<br />
oder Afro-Futurismus untersucht. Etliches werde „hier<br />
nicht zum ersten Mal publiziert“, schreibt er in der Einleitung,<br />
sondern sei „zuvor in Fachzeitschriften zu lesen oder in Ausschnitten<br />
im Rundfunk zu hören“ gewesen. Gelegentlich fasst<br />
er mehrere Interviews zu einem einzigen Text zusammen.<br />
Christoph Wagner ist unterwegs als Suchender nach<br />
einem „musikalischen Areal der Stilkreuzungen und Vermischungen“,<br />
also nach Orten, an denen es interessant wird, wo<br />
Dinge sich reiben. Als lakonischer Interviewer stellt er stets<br />
die richtigen Fragen, die für die Befragten Räume erweitern. Er<br />
sucht nach neuen Ufern, Exilanten, Wagnissen, er fragt nach<br />
ungewöhnlichen Fusionen (George Crumb), Biografien, die<br />
nicht gradlinig sind (Christian Wolff), sucht den Zusammenhang<br />
von Musik und politischem und sozialem Bewusstsein (George<br />
Lewis und die AACM ), von Musikmachen und dem Körper<br />
(Meredith Monk), sucht nach der Freiheit im Rhythmus (Jaki<br />
Liebezeit), forscht über Pioniere des Synthesizers und elektronischer<br />
Heimstudiokunst (Patrick Gleeson, Morton Subotnick).<br />
Er berichtet über einen eindringlichen Pianisten (Borah<br />
Bergman) und eine eigenwillige Pianistin (Marilyn Crispell),<br />
fühlt verschiedenen Vertretern des Afrofuturismus (John Tchicai,<br />
Marshall Allen) auf den Zahn und spricht mit David Harrington,<br />
dem Leiter des Kronos Quartet, über die Horizonterweiterung<br />
des Streichquartetts. Er hat sich beim Ethnojazz-Veteranen<br />
und Embryo-Gründer Christian Burchard über den deutschen<br />
Rock-Underground und alternative Label-Gründungen erkundigt<br />
und Robert Wyatt dazu interviewt, wie dieser Jazzrock, Popmusik<br />
und Songschreiben unter einen Hut bringt.<br />
Die Ansätze und das Zuhause der Befragten sind grundverschieden,<br />
und dennoch umspannen Wagners Geistertöne<br />
wie rote Fäden seine Leitfragen: Welche Verbindungen und<br />
Spannungen gehen zeitgenössische Neue Musik, Minimalismus,<br />
traditionelle Folkmusik und Popmusik ein? Welche Rolle<br />
spielen Improvisation, die Stimme, wo und wie begegnen sich<br />
Tradition und Kreation? Die Lektüre ist spannend, ungewöhnlich<br />
und bringt haufenweise neue Einsichten.<br />
Christoph Wagner:<br />
Autorïnnen<br />
Geistertöne <strong>–</strong> Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen.<br />
Schott Musik, <strong>Mai</strong>nz 2020, 172 Seiten, 29,95 Euro<br />
Christoph<br />
Wagner<br />
Auf der Suche<br />
nach roten<br />
Fäden<br />
Für unseren Autor Christoph Wagner wurde der Traum eines<br />
jeden Musikjournalisten wahr: Interviews und Geschichten, die<br />
er in etlichen Jahren angesammelt hatte, in einem bebilderten<br />
Buch zu veröffentlichen. Da blieb nur die Qual der Wahl.<br />
Kilian Kemmer Trio<br />
… und Zarathustra tanzte<br />
GLM / Edel:Kultur<br />
W W W o<br />
Die ewige Wiederkehr des<br />
Immergleichen ist eine Vorstellung<br />
des Philosophen Friedrich<br />
Nietzsche, die man erschreckend<br />
finden kann. Oder<br />
faszinierend, wie der Pianist<br />
Kilian Kemmer, der übrigens<br />
in Philosophie promoviert.<br />
Sein Trio hat jedenfalls die<br />
Leichtigkeit, die es braucht,<br />
um die Gedanken zum Tanzen<br />
zu bringen. Bassist Masaki<br />
Kai hat einen schlanken Ton,<br />
der dieses Trio elegant und<br />
wendig immer wieder auf<br />
Touren bringt, und Schlagzeuger<br />
Matthias Gmelin ist ein<br />
Meister des Subtilen, der vor<br />
allem mit dem Besen immer<br />
wieder Nuancen zum Leuchten<br />
anregt. Eingestreut unter seine<br />
eigenen Songs hat Kemmer ein<br />
Stück von Federico Mompou<br />
<strong>–</strong> das in der Interpretation des<br />
Trios erfrischend bluesig klingt<br />
<strong>–</strong> und den unverwüstlichen<br />
Ellington-Klassiker „It Don’t<br />
Mean a Thing If It Ain’t Got<br />
That Swing“. …und Zarathustra<br />
tanzte ist eine schwelgerische<br />
Übung in Schönklang,<br />
bei dem man all den philosophischen<br />
Ballast, der Kemmers<br />
Stücken zugrunde liegt, auch<br />
einfach mal vergessen kann<br />
und einige Zeit „Auf den glückseligen<br />
Inseln“ verbringen<br />
kann, wo die Becken zischeln<br />
und das Klavier lyrisch, aber<br />
auch zupackend auf die Reise<br />
geht. Kurz vor Schluss wird<br />
man dann spätestens wieder<br />
an Nietzsche erinnert, denn<br />
dann spielt Kemmer allein<br />
am Klavier „Das Fragment an<br />
sich“, das Nietzsche selbst<br />
komponiert hat.<br />
Rolf Thomas<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Manfred Junker &<br />
Dani Solimine<br />
Guitarists Only<br />
mochermusic / MVH<br />
W W W W<br />
Die Archtop-Gitarristen Manfred<br />
Junker und Dani Solimine<br />
sind seit mehr als zehn Jahren<br />
ein eingespieltes Team. Zu<br />
hören sind zwei moderne Traditionalisten<br />
mit einem warmen<br />
Ton, die die Herausforderung<br />
der zweitkleinsten Besetzung<br />
auf sehr eigene Art bewältigen.<br />
Das liegt vor allem an den<br />
tiefen tragenden Basslines, die<br />
der Schweizer Dani Solimine<br />
mit dezenten Akkorden verbindet<br />
<strong>–</strong> seine 7-saitige Gitarre<br />
liefert mit ihrem erweiterten<br />
Tonumfang eine groovende Basis,<br />
über die Junker ausgiebig<br />
soliert. Abgesehen von zwei<br />
Originals der beiden Gitarristen<br />
werden hier nur Fremdkompositionen<br />
interpretiert, u.a. von<br />
Django Reinhardt, Jim Hall,<br />
Kenny Burrell, Wes Montgomery,<br />
Pat Metheny, Helmut<br />
Nieberle und Peter Bernstein.<br />
Und so geriet dieses Album zu<br />
einem ruhigen gitarristischen<br />
Trip durch die Jazz-Stile. Sehr<br />
gelungen ist die Umsetzung von<br />
Sacha Distels „La Belle Vie“,<br />
wo beide Gitarristen etwas<br />
cooler zur Sache gehen und ihr<br />
Spiel fast schon ein wenig an<br />
das Duo Attila Zoller & Jimmy<br />
Raney erinnert. Die Version<br />
des Django-Reinhardt-Titels<br />
„Manoir de mes rèves“ besitzt<br />
eine sehr eigene Atmosphäre,<br />
impressionistisch gefärbt<br />
erinnert sie an Billy Bauer.<br />
Ebenfalls gelungen sind die beiden<br />
Solo-Tracks der Gitarristen,<br />
wobei Manfred Junkers rein<br />
akustische Version von Bill Frisells<br />
„Ghost Town“ das Album<br />
countryesk ausklingen lässt.<br />
Lothar Trampert<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
76<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Sarah Neufeld<br />
Detritus<br />
One Little Independent / Indigo<br />
W W W W<br />
Kann Musik der Soundtrack zum<br />
Hoffnungsschimmer sein? Es<br />
steht uns frei, Emotionen und<br />
Bilder in Musik zu finden. Die<br />
kanadische Violinistin Sarah<br />
Neufeld ist eine Musikerin mit<br />
außerordentlichen Fähigkeiten,<br />
musikalische Magie freizusetzen.<br />
Oberflächlich betrachtet<br />
könnte Musik wie auf ihrem<br />
Solo-Album Detritus geradewegs<br />
in Klischees von keltischen<br />
Lichtwesen führen oder<br />
am anderen Ende für kopflastige<br />
Begründungen repetitiver Musik<br />
herhalten, sie tut aber weder<br />
das eine noch das andere. Sie<br />
bleibt bei aller Wirksamkeit und<br />
Kraftentfaltung auf magische<br />
Weise neutral, und wenn sich<br />
Klischees aufdrängen sollten <strong>–</strong><br />
so what! Erlebtes, Wieder-Erlebtes<br />
letztlich <strong>–</strong> Musik entsteht<br />
auch beim Hören. Neufelds<br />
sieben Stücke wirken ganzheitlich,<br />
es passiert einiges in Kopf,<br />
Bauch, Hirn, in den Zellen, du<br />
kannst auf einen zweckfreien<br />
Trip gehen; oder du wirfst vor<br />
dem Hören etwas ein und tanzt.<br />
Neufeld hatte mit der Tänzerin<br />
und Choreografin Peggy Baker<br />
zusammengearbeitet und entwickelte<br />
nun mit Unterstützung der<br />
Arcade-Fire- und Bell-Orchestre-<br />
Kollegen Pietro Amato, Stuart<br />
Bogie und Jeremy Gara ein<br />
Solo-Projekt, das mehr an ihre<br />
Duo-Zusammenarbeit mit dem<br />
Saxofon-Krafttier Colin Stetson<br />
erinnert. Beide wissen, wie man<br />
ins Innere von Klangerzeugern<br />
vordringt und sich mit ihnen<br />
vereint. Zum Nutzen der Musik.<br />
Sehr empfehlenswert, um in<br />
kopflastigen Zeiten ebendiesen<br />
freizukriegen.<br />
Jan Kobrzinowski<br />
PDF in 4c<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Stefano di Battista<br />
Morricone Stories<br />
Warner<br />
W W W W o<br />
Wenn es jemanden gab, der<br />
mit Tönen zu malen verstand,<br />
dann war es Ennio Morricone.<br />
Keiner hat so radikal<br />
filmisch gedacht wie der im<br />
vergangenen Jahr verstorbene<br />
Großmeister der Kinomusik.<br />
Insofern zeugt es schon von<br />
einem gewissen Wagemut,<br />
sich Morricones Œuvre zu nähern,<br />
insbesondere als Jazzer:<br />
Immerhin sind die Werke bis<br />
auf den letzten Akzent durchdacht,<br />
jeder Ton besitzt seine<br />
feste Funktion und Position.<br />
Hier zu improvisieren, hieße,<br />
das Genie zu dekonstruieren.<br />
Doch genau das versuchen<br />
Saxofonist Stefano di Battista<br />
sowie seine Bandkollegen Fred<br />
Nardin (p), Daniele Sorrentino<br />
(b) und Andre Ceccarelli (dr)<br />
auf dem neuen Album Morricone<br />
Stories <strong>–</strong> und treffen damit<br />
erstaunlicherweise fast immer<br />
ins Schwarze. Mit überaus<br />
sensiblem Spiel legt di Battista<br />
die zentralen Motive in Morricones<br />
Kompositionen frei und<br />
umgarnt sie mit geschickten<br />
Soli, die neue Wege beschreiten,<br />
ohne sich zu weit von<br />
ihrem Ursprung zu entfernen.<br />
Dabei mag es helfen, dass der<br />
52-Jährige weitgehend auf<br />
die berühmtesten Melodien<br />
verzichtet hat und stattdessen<br />
tief im Repertoire des Maestros<br />
gegraben hat, um Raritäten wie<br />
„Verushka“ oder das Titelthema<br />
aus Cosa Avete Fatto a Solange<br />
ans Licht zu bringen. Eine<br />
gute Entscheidung, entsteht so<br />
doch wenigstens kein Konflikt<br />
mit dem kollektiven Gedächtnis<br />
unzähliger Cineasten. Dagegen
Kolumne<br />
Jon Batiste<br />
We Are<br />
Verve / Universal<br />
W W W W o<br />
Adrian Younge<br />
The American Negro<br />
Jazz Is Dead / Indigo<br />
W W W W o<br />
Mario Biondi<br />
Dare<br />
o-tone / Edel:Kultur<br />
W W W W<br />
Harry Connick Jr.<br />
Alone with My Faith<br />
Verve / Universal<br />
W W W W<br />
Imelda May<br />
11 Past the Hour<br />
Decca / Universal<br />
W W W o<br />
Lilly<br />
The Song Is You<br />
Double Moon / Bertus<br />
W W W W<br />
Britta Rex<br />
On Air on Water<br />
Attitude<br />
W W W W<br />
Piers Faccini<br />
Shapes of the Fall<br />
No Format / Indigo<br />
W W W W<br />
Ida Sand<br />
Do You Hear Me?<br />
ACT / Edel:Kultur<br />
W W W o<br />
Chantal Acda<br />
Saturday Moon<br />
Glitterhouse / Indigo<br />
W W W W<br />
Esther Rose<br />
How Many Times<br />
Full Time Hobby /<br />
Rough Trade<br />
W W W o<br />
SOUL VOICES<br />
Als multitalentierter Instrumentalist,<br />
Sänger und sozialer<br />
Aktivist hat Jon Batiste im<br />
Alter von 34 Jahren schon sehr<br />
viel erreicht. We Are ist eine<br />
Hymne auf sein bisheriges<br />
Leben und vordergründig eine<br />
Platte, auf der er die schwarze<br />
amerikanische Kultur und Musik<br />
zelebriert. Hier aber nicht nur<br />
die vergangenen Sounds und<br />
Künstler des Jazz und Soul feiert,<br />
sondern ebenso seine Verwurzelung<br />
im Pop und HipHop<br />
der letzten beiden Jahrzehnte<br />
belegt. Darüber hinaus zeigt die<br />
Platte eine Ebene der Einfachheit<br />
mit erhabener technischer<br />
Genialität, was sie zu einem<br />
Album macht, das gleichermaßen<br />
für seine Musikalität wie<br />
sein komplexes Songwriting<br />
bewundert werden kann.<br />
Adrian Younges The American<br />
Negro ist zutiefst persönlich<br />
und nimmt einen Blick auf den<br />
systemischen Rassismus in den<br />
Vereinigten Staaten. Younge<br />
komponierte, mischte dabei<br />
schwarze Musik wie Jazz, Soul,<br />
Funk und mehr, spielt jedes<br />
Instrument der Rhythmusgruppe<br />
selbst und schrieb die Texte.<br />
Der Gesang wird von Loren<br />
Oden, Chester Gregory und Sam<br />
Harmonix beigesteuert. Insgesamt<br />
gibt es 26 Stücke, 11 davon<br />
sind reine Spoken-Word-Nummern.<br />
Die Musik, eine Hommage<br />
an die Soul-Konzeptalben von<br />
Younges bevorzugter musikalischer<br />
Ära, einschließlich ihrer<br />
üppigen Orchestrierungen,<br />
erinnert stark an Marvin Gayes<br />
What’s Going On.<br />
In den dreizehn Songs von<br />
Dare gibt sich Mario Biondi als<br />
mondial agierender Künstler. So<br />
finden sich Nummern von Oscar<br />
Brown Jr., Herbie Hancock,<br />
Donny Hathaway, aber auch<br />
ein Stück wie „Strangers in<br />
the Night“ von Bert Kaempfert.<br />
Allerdings nicht in Art der Version<br />
von Sinatra, sondern eher,<br />
wie es James Brown einst interpretierte.<br />
Zwar tummelt sich der<br />
Sizilianer ebenfalls in Soul und<br />
Funk-Gefilden, doch ihm geht<br />
es dabei mehr um eine perfekt<br />
arrangierte edle Variante, die<br />
Biondis rau-sinnlich charismatisches<br />
Gesangsorgan bestens<br />
begleitet.<br />
Harry Connick Jr. beschreibt<br />
den Aufnahmeprozess von<br />
Alone With My Faith pathetisch<br />
als etwas, das ihm Frieden und<br />
Trost durch den lyrischen Inhalt<br />
der Songs gebracht hat. Seine<br />
Hörer wissen schon lange,<br />
dass Connick ein exzellenter<br />
Sänger und Pianist ist, aber nun<br />
zeigt sich die ganze Bandbreite<br />
seines musikalischen Talents,<br />
und das ist nicht weniger als<br />
beeindruckend. Zwar mag es<br />
sein erster Versuch in der Gospelmusik<br />
sein, aber vielleicht<br />
gerade darum ist es gewagt,<br />
frisch und abwechslungsreich.<br />
Mit 11 Past The Hour ist der irische<br />
Superstar des Neo-Blues<br />
und Rockabilly, die 46-jährige<br />
Imelda May, nach drei Jahren<br />
Pause zurück auf der Szene<br />
und kehrt zu dem zurück, was<br />
sie am besten kann: originelles,<br />
starkes Songwriting, auch mal<br />
mit Pop-Flair <strong>–</strong> immer mitreißend<br />
gesungen. Die dunkel<br />
dramatischen Untertöne der<br />
elf Lieder, die auch gern von<br />
schwingenden Orchestermelodien<br />
untermalt werden, passen<br />
perfekt zu Imeldas unverwechselbarer,<br />
aufpeitschend<br />
sinnlicher Stimme.<br />
Im Unterschied zu manch<br />
anderen Kolleg*innen zeigt die<br />
japanisch-dänische Sängerin<br />
Lilly mit dem Jazzstandards-<br />
Album The Song Is You, dass bei<br />
dieser sogenannten Königsdisziplin<br />
des Jazz Einfühlsamkeit<br />
und Überraschung die entscheidende<br />
Interpretationsebene<br />
sein müsste. Denn wenn sich<br />
ein Künstler an solche Songs<br />
wie „My Foolish Heart“ oder<br />
„That Old Feeling“ wagt, dann<br />
sollte er sie nicht altbekannt<br />
klingen lassen. Das gelingt Lilly,<br />
ihre Fassungen präsentieren<br />
sich immer mit einem persönlichen<br />
Ausdruck.<br />
Mit jedem Stück von On Air on<br />
Water gibt die Braunschweigerin<br />
Britta Rex einen Blick in<br />
ihre Seele frei, singt mal auf<br />
Deutsch, mal auf Englisch sehr<br />
persönliche, fast philosophisch<br />
angehauchte poetische Texte.<br />
Dazu spielt ihr Jazztrio grandios<br />
antreibend, aber mitunter auch<br />
zurückhaltend zart, was Rex<br />
Freiräume ermöglicht, um mit<br />
ihren Scat-Fähigkeiten zu glänzen.<br />
Eigenwillig schön!<br />
Maghrebinisch eingefärbt von<br />
den Nordafrikanern Karim Ziad<br />
und Malik, baut der angloitalienische<br />
Multiinstrumentalist<br />
und Sänger Piers Faccini<br />
auf Shapes of the Fall einen<br />
Spannungsbogen aus Berberrhythmen<br />
und europäischem<br />
Songwriting. Wenn Ben Harper<br />
sich beim Stück „All Aboard“,<br />
ein Lied über die Sintflut,<br />
dazugesellt, dann ist auch der<br />
Desert-Blues ganz nah.<br />
Zehn Eigenkompositionen singt<br />
Ida Sand, die schwedische<br />
Queen des nordischen Soul, auf<br />
Do You Hear Me?. Wie dieser<br />
Titel es vermuten lässt, gibt sie<br />
hier Melodien zum Besten, die<br />
ihr aus dem Herzen kommen,<br />
sehr persönlich gemeint sind.<br />
Es ist ein beinah klassisches<br />
Singer/Songwriteralbum, dockt<br />
beim Soul an, klingt aber auch<br />
mal widerborstig, als würde<br />
Tom Waits ihr über die Schulter<br />
blicken. Prickelnd!<br />
Eigentlich war es Chantal<br />
Acda’s Plan, Saturday Moon<br />
ganz alleine aufzunehmen. Aber<br />
dann fand sie heraus, dass sie<br />
andere Menschen braucht, um<br />
ihre Musik zu machen. Und so<br />
wurde dieses Album, mit Hilfe<br />
von u.a. Bill Frisell und Mimi<br />
Parker, zu einem kleinen Juwel.<br />
Denn all ihre Kollaborationen<br />
ergaben erhabene balladeske<br />
Kompositionen voller Magie<br />
und Wärme. Für Freunde von<br />
Americana und Folk-Pop.<br />
Esther Roses How Many Times<br />
wurde von ihrer Band komplett<br />
live und in einem Take im Studio<br />
eingespielt. Mit ihren sanften<br />
Gesangsmelodien, in denen<br />
sie herzzerreißende Texte wie<br />
„how many times will you break<br />
my heart“ singt, und einer<br />
reichhaltigen organischen Instrumentierung,<br />
inklusive Fiddle<br />
und Lap Steel, verströmen die<br />
verspielt arrangierten Songs,<br />
die irgendwo zwischen Hank<br />
Williams und Rilo Kiley angesiedelt<br />
sind, ganz viel positive<br />
Stimmung.<br />
Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />
78 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
wirken der Swing bei „Gabriel’s<br />
Oboe“ und <strong>–</strong> noch schlimmer<br />
<strong>–</strong> bei „The Good, the Bad and<br />
the Ugly“ wie Fremdkörper.<br />
Den Segen Morricones scheint<br />
di Battista dennoch zu haben,<br />
hat dieser ihm doch immerhin<br />
das bislang unveröffentlichte<br />
„Flora“ geschenkt und die<br />
Morricone Stories somit um<br />
eine Weltpremiere bereichert.<br />
Thomas Kölsch<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Ack van Rooyen<br />
90<br />
Jazzline / Broken Silence<br />
W W W W<br />
Wie vor zehn Jahren, als<br />
anlässlich Ack van Rooyens<br />
80. Geburtstag Celebration<br />
erschien, hat der niederländische<br />
Flügelhornist und<br />
Trompeter wieder ein Album<br />
mit Paul Heller aufgenommen,<br />
um auch den nächsten<br />
runden Jahrestag im Kreis des<br />
Saxofonisten und weiterer<br />
Freunde und Weggefährten<br />
zu begehen. Herbert Nuss (p)<br />
und Hans Dekker (dr) waren<br />
bereits auf Celebration mit von<br />
der Partie, Peter Tiehuis (g)<br />
gehörte, wie der Jubilar selbst,<br />
sowohl Peter Herbolzheimers<br />
Rhythm Combination & Brass<br />
als auch den Skymasters an,<br />
Ingmar Heller (b) wiederum<br />
hat an zwei Alben mitgewirkt,<br />
die van Rooyen mit seinem<br />
Bruder aufgenommen hat.<br />
Freilich handelt es sich bei<br />
den Stücken des schlicht und<br />
einfach 90 betitelten Albums<br />
um Straight-Ahead-Jazz. Nur:<br />
Wann hört man Nummern wie<br />
„All of a Sudden My Heart<br />
Sings“ so gelöst und konzise<br />
auf den Punkt gebracht?<br />
Nahezu jede ist eng mit van<br />
Rooyens musikalischer Biografie<br />
verknüpft: „Canter No.<br />
2“ stammt aus der Feder von<br />
Kenny Wheeler, mit dem er im<br />
United Jazz + Rock Ensemble<br />
spielte. Edu Lobos „Pra Dizer<br />
Adeus“ war in Herbolzheimers<br />
Bigband ein Standard<br />
mit eingebautem Ack-van-<br />
Rooyen-Feature, „The Things<br />
We Did Last Summer“ seine<br />
erste Schallplattenaufnahme.<br />
„Ich habe von all den Leuten,<br />
mit denen ich gespielt habe<br />
und spiele, so viel gelernt.<br />
Nicht nur über Musik, sondern<br />
auch über das Leben“, sagt<br />
van Rooyen: „Ein schöner<br />
Lehrgang. Ich habe Glück<br />
gehabt.“ In seinem warmen<br />
positiven Ton hat diese Stimme<br />
der Dankbarkeit <strong>–</strong> für die<br />
Menschen, für das Leben <strong>–</strong><br />
seit nunmehr sieben Dekaden<br />
Gestalt angenommen. Möge<br />
sie noch lang zu hören sein.<br />
Harry Schmidt<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Nicole Johänntgen<br />
Henry III<br />
Selmabird Records<br />
W W W W<br />
Die Saxofonistin Nicole Johänntgen<br />
hat es wieder getan,<br />
schon der Titel des neuen<br />
Albums weist darauf hin, dass<br />
ihre wilde Quartettbesetzung<br />
mittlerweile zum dritten Mal<br />
am Start ist. Zusammen mit<br />
ihren drei Musikern aus New<br />
Orleans, Jon Ramm an der Posaune,<br />
Steven Glenn am Sousaphon<br />
und Paul Thibodeaux<br />
am Schlagzeug brennt die in<br />
der Schweiz lebende deutsche<br />
Saxofonistin ein wahres<br />
Feuerwerk an eingängigen<br />
Melodien, vorwärtstreibenden<br />
Grooves und brillanten Solospots<br />
ab. Mal ist man („Life“)<br />
an Maceo Parkers Soul-Power<br />
erinnert, mal an Secondline<br />
New Orleans Beats, mal an<br />
Discogrooves. Johänntgen<br />
hat sich eine ziemlich gute<br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 79
Kolumne<br />
Kurt Edelhagen & His Orchestra<br />
The Unreleased WDR Jazz<br />
Recordings 1957 <strong>–</strong> 1974<br />
Jazzline Classics / Broken Silence<br />
W W W W<br />
Ahmad Jamal<br />
Naked City Theme<br />
American Jazz Classics / In-Akustik<br />
W W W W o<br />
The Dave Pike Quartet<br />
feat. Bill Evans<br />
Pike´s Peak<br />
WaxTime Records / In-Akustik<br />
W W W W o<br />
Dizzy Gillespie<br />
At Newport<br />
WaxTime Records / In-Akustik<br />
W W W W<br />
„Während die prompte Rückkehr<br />
eines Symphonieorchesters<br />
als herausragender Versuch<br />
gewertet wird, die Kultur in<br />
Nachkriegsdeutschland wiederzubeleben,<br />
ist die Gründung einer<br />
Radio Bigband eigentlich viel<br />
bemerkenswerter“, schreibt die<br />
britische Virgin Encyclopedia of<br />
Jazz. Die Berliner Symphoniker<br />
hätten nämlich ununterbrochen<br />
existiert, während jazzorientierte<br />
Musik im untergegangenen<br />
Nazi-Reich unterdrückt wurde.<br />
Das über tausend Seiten starke<br />
Lexikon beginnt mit diesem<br />
Gedanken die Eintragung über<br />
Kurt Edelhagen <strong>–</strong> „one of the first<br />
post-war European bandleaders to<br />
bring in foreign jazz musicians“.<br />
Schon 1946 hatte der im<br />
westfälischen Herne geborene<br />
Pianist und Arrangeur mit<br />
großen Besetzungen in Clubs der<br />
Alliierten gespielt; dann leitete er<br />
bis in die 1970er Jahre herausragende<br />
Bigbands. „Das Orchester<br />
Edelhagen war in Amerika<br />
schon früh ein Begriff“, wird der<br />
langjährige Star-Posaunist Jiggs<br />
Whigham in den Liner Notes zu<br />
der Drei-CD-Box zitiert, „eine<br />
Jazzband in Deutschland, die<br />
gegroovt und geswingt hat“.<br />
Der langjährige WDR-Jazzchef<br />
Bernd Hoffmann holte aus<br />
den „Katakomben des Kölner<br />
Funkhauses“ Aufnahmen von<br />
1957 bis 1974 und dokumentiert<br />
die „Klanggeschichte“ der Band<br />
beim WDR mit ihren „Reaktionen<br />
auf stilistische Veränderungen<br />
in den Zeiten von Cool Jazz,<br />
Hardbop und Free Jazz“. Dabei<br />
versuchte Edelhagen stets einen<br />
eigenen Klang zu finden. Um sich<br />
vom klassischen amerikanischen<br />
Bigband-Sound abzusetzen, ließ<br />
er Europäer wie den niederländischen<br />
Trompeter Rob Pronk und<br />
den belgischen Pianisten Francis<br />
Boland Arrangements schreiben<br />
und vermied ein Repertoire aus<br />
gängigen US-Titeln. So sind<br />
denn abgesehen von einigen<br />
Klassikern wie „Sweet Georgia<br />
Brown“ und Nat Adderleys<br />
„Work Song“ die 40 Titel auf<br />
den drei Platten überwiegend<br />
Kompositionen von Mitgliedern<br />
der Band. Darunter befinden sich<br />
anspruchsvoll avantgardistische<br />
Stücke wie „Beach“ des Bassisten<br />
Peter Trunk. Kein Wunder,<br />
dass Edelhagens Orchester nicht<br />
überall gut ankam. „Die Band ist<br />
zu laut“, beschwerten sich Leute<br />
beim Kanzlerball in Bonn. Daran<br />
erinnerte sich Saxofonist Wilton<br />
Gaynair. Doch bei der Eröffnung<br />
der Olympischen Spiele 1972 in<br />
München bejubelten Massen<br />
die von der Bigband intonierte<br />
Einmarschmusik der Nationen.<br />
In der Tradition der deutschen<br />
Rundfunktanzorchester spielte<br />
die Band auch Tanzmusik für<br />
Schallplatten und Filmmusiken<br />
ein und war gelegentlich in TV-<br />
Shows zu sehen. Aber Edelhagen<br />
REISSUE<br />
WONDERLAND<br />
Truppe zusammengesucht,<br />
bei der man merkt, dass alle<br />
unheimlich gerne miteinander<br />
musizieren und musikalisch<br />
zusammengewachsen sind.<br />
Mein Favorit ist der stampfende<br />
„Discoland“-Sound mit<br />
Schwerstarbeit für das Sousaphon,<br />
das die discotypischen<br />
Oktavbassfiguren durchmetern<br />
darf. Darunter treibt der<br />
Drummer Paul Thibodeaux die<br />
Band an, während sich Altsaxofon<br />
und Posaune <strong>–</strong> und das<br />
beide großartig <strong>–</strong> solistisch<br />
austoben. Keine Sekunde hat<br />
der Zuhörer das Gefühl, dass<br />
ein Akkordinstrument fehlen<br />
könnte. „Sweet and Honest“<br />
mit einem Solo-Saxofon-Einstieg,<br />
das sich zu einer extrem<br />
bluesigen Nummer entwickelt,<br />
ist ein weiteres Highlight. Die<br />
Live-Aufnahme aus dem Pforzheimer<br />
Domicile Club von 2018<br />
fängt sowohl das musikalische<br />
Spektrum des Quartetts als<br />
auch die begeisterte Reaktion<br />
des Publikums bestens ein.<br />
Füßewippen garantiert!<br />
Angela Ballhorn<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
David Helbock<br />
The New Cool<br />
ACT / Edel:Kultur<br />
W W W W<br />
Mystisch mit offenen Sounds<br />
beginnt The New Cool und<br />
schafft damit eine Klangkulisse,<br />
die an Filmmusik erinnert.<br />
Helbock widmet sich jedoch<br />
dieses Mal nicht, wie bei<br />
seinem letzten Album, einem<br />
Filmkomponisten. Der Pianist<br />
erschafft vielmehr mit Arne<br />
Jansen an der Gitarre und<br />
Sebastian Studnitzky Klanglandschaften,<br />
denen eigene<br />
Kompositionen und Standards<br />
zugrunde liegen. So<br />
entwickelt sich auch aus der<br />
Klanglandschaft des Openers<br />
der Standard „I Remember<br />
Clifford“. The New Cool<br />
knüpft an eine Klangästhetik<br />
der 50er Jahre an und setzt<br />
diese mit den gestalterischen<br />
Mitteln des Jahres <strong>2021</strong> um.<br />
Es ist eine Gestaltung, in<br />
der die Musiker des Trios<br />
die Soundmöglichkeiten der<br />
Instrumente ausloten und<br />
musikalisch zu einem in sich<br />
geschlossenen Bandsound<br />
bringen. Sie haben es nicht<br />
nötig, technische Virtuosität<br />
zur Schau zu stellen, die technische<br />
Versiertheit verschafft<br />
ihnen vielmehr die Sicherheit,<br />
ihre musikalischen Gedanken<br />
langsam zu entwickeln. Oft ist<br />
die Musik auf das Wesentliche<br />
reduziert und entwickelt<br />
dadurch ihre eigene Ästhetik.<br />
Coolness trifft auf Minimalismus.<br />
Dieser Minimalismus<br />
wird besonders bei „Time<br />
After Time“ deutlich. Die<br />
Komposition, die zunächst von<br />
Cindy Lauper bekannt wurde,<br />
bevor Miles Daves sie zu<br />
einem Jazzstandard machte,<br />
ist in dieser Version mehr<br />
als eine Coverversion. Sie ist<br />
eine eigene zeitgenössische<br />
Klangwelt und steht damit<br />
vielleicht auch stellvertretend<br />
für das ganze Album.<br />
Thomas Bugert<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Josefine Cronholm / Kirk Knuffke<br />
/ Thommy Andersson<br />
Near the Pond<br />
Stunt / In-Akustik<br />
W W W W<br />
Wenn sich improvisierende<br />
Musiker mit traditionellen<br />
80 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
verstand sich primär als Jazz-<br />
Kapellmeister und engagierte<br />
aus dieser Sicht seine Bandmitglieder.<br />
„Die meisten Musiker werden<br />
beipflichten, dass die Jazz-Erfahrung<br />
ihren Höhepunkt erlebt,<br />
wenn vor Menschen aus Fleisch<br />
und Blut gespielt wird.“ Die auf<br />
einen Live-Auftritt bezogene Binsenweisheit<br />
aus Liner Notes von<br />
vor über fünfzig Jahren formuliert<br />
die millionenfache Wahrnehmung<br />
in heutigen Corona-Zeiten.<br />
Offenbar fühlten sich Ahmad<br />
Jamal und sein Trio im Club Jazz<br />
Workshop in San Francisco<br />
inspirierter als in irgendwelchen<br />
Studios. Mit dem Bassisten Jamil<br />
Nasser und dem Drummer Chuck<br />
Lampkin spielte der Pianist 1964<br />
Naked City Theme ein. Ergänzt<br />
werden sechs Titel aus dem Club<br />
durch vier Stücke von der Platte<br />
Extensions, die ein Jahr später<br />
in New York aufgenommen<br />
wurde. Das Album demonstriert<br />
perfekt, was Jamals Spielweise<br />
ausmacht: Ausschweifender<br />
Ornamentik folgen sparsame Sequenzen<br />
mit pointierten Pausen.<br />
Den beim Publikum erfolgreichen<br />
Jamal haben etliche Kritiker<br />
als technisch brillanten, Effekte<br />
haschenden Cocktail-Pianisten<br />
abgewertet. Aber wie Miles<br />
Davis verehrten viele Musiker<br />
den Pianisten, der vor seinem<br />
Übertritt zum Islam Fritz Jones<br />
hieß, als Genie. Ein Höhepunkt<br />
des Albums ist Jamals Komposition<br />
„One for Miles“. Das<br />
neuneinhalb Minuten lange<br />
Stück enthält packende Bassund<br />
Schlagzeugsoli.<br />
In der deutschsprachigen Jazz-<br />
Literatur findet sich kein Hinweis<br />
auf eine Zusammenarbeit des<br />
Vibrafonisten Dave Pike mit Bill<br />
Evans. Dabei hat der Amerikaner<br />
vor seiner erfolgreichen Zeit<br />
mit seinem Dave Pike Set in<br />
Deutschland eine LP mit dem<br />
genialen Pianisten als Sideman<br />
eingespielt. Das geschah im Februar<br />
1962, nachdem Evans seinen<br />
Bassisten Scott LaFaro durch<br />
einen Unfall verloren hatte und<br />
damit sein Trio zerbrochen war.<br />
Auf Pike´s Peak sind der Pianist<br />
und der Vibrafonist mit Herbie<br />
Lewis (b) und dem Schlagzeuger<br />
Walter Perkins zu hören. Das<br />
Quartett spielt unter anderem<br />
den Ohrwurm „Besame Mucho“<br />
und „Why Not“, eine Komposition<br />
von Pike im modalen Modus<br />
als Antwort auf Miles Davis‘ „So<br />
What“. „The music is fairly spontaneous.<br />
An excellent straightahead<br />
set“, urteilte ALLMUSIC<br />
und gab der Platte vier Sterne.<br />
Mit fünf Sternen bewertete<br />
ALLMUSIC das Album Dizzy<br />
Gillespie at Newport, produziert<br />
von Norman Granz beim Newport<br />
Jazz Festival am 6. Juli 1957. „He<br />
is playing better these days than<br />
he has at any other point in his<br />
career“, schrieb der Kritiker Bill<br />
Simon. Gillespies Bigband mit<br />
Stars wie Lee Morgan, Benny<br />
Golson, Al Gray und Winton Kelly<br />
spielte phantastisch. Sie war<br />
schon seit anderthalb Jahren<br />
zusammen und hatte im Auftrag<br />
der US-Regierung etliche Länder<br />
in aller Welt besucht. Einen<br />
berührenden Kontrast zu den<br />
überwiegend schnellen Stücken<br />
bildet die von Golson komponierte<br />
und für die Bigband arrangierte<br />
Ballade „I Remember Clifford“.<br />
Hans Hielscher<br />
Roots beschäftigen, wird es<br />
immer interessant. Besonders<br />
unbefangenen Zugang dazu<br />
hat man jenseits des Atlantik,<br />
aber auch in Skandinavien.<br />
Interkontinental entstand mit<br />
dem amerikanischen Kornettisten<br />
Kirk Knuffke und zwei<br />
schwedischen Musiker*innen<br />
Near the Pond. Vehikel dafür<br />
sind Lyrics in Gedichtform,<br />
drei davon aus der Feder von<br />
Carl Sandburg, Sohn schwedischer<br />
US-Einwanderer, Dichter,<br />
Folk-Music-Sammler und<br />
Gitarrist. Sängerin Josefine<br />
Cronholm, von Haus aus eher<br />
Wordless Improviser, scheint<br />
fasziniert von Themen, die<br />
Folkmusiker schon immer am<br />
meisten interessiert haben:<br />
Geschichten von Aus- und<br />
Einwanderern, Landbewohnern,<br />
der Arbeiterklasse. Dazu<br />
passt, dass der Avantgarde-<br />
Jazzer Knuffke sich selbst<br />
eigentlich als Roots-Musiker<br />
sieht: „Wir verstehen uns als<br />
Folkmusiker. Ich liebe Jazz,<br />
aber als ich aufwuchs, interessierte<br />
ich mich mehr für<br />
den Blues.“ Der schwedische<br />
Bassist Thommy Andersson<br />
findet ohnehin „Blues-<br />
Elemente auch in schwedischer<br />
Folkmusik“ und steuert<br />
entsprechend erdige Basslinien<br />
bei. Mit diesen Zutaten<br />
entstanden in frei improvisierter<br />
Atmosphäre bluesige<br />
Songs mit Worksong-Charakter<br />
sowie Folk-Balladen, zu<br />
deren Authentizität zeitweise<br />
noch der American-Roots-<br />
Spezialist Kenny Wollesen am<br />
Schlagzeug beiträgt. Knuffke<br />
harmonisiert hin und wieder<br />
Cronholms Leadvocals mit<br />
unprätentiöser Instrumentalisten-Stimme,<br />
und sein Kornett<br />
durchzieht wie ein roter Faden<br />
das gesamte Album, dem<br />
Thema angemessen in bluesigen<br />
Skalen improvisierend.<br />
Manchmal werden Erinnerungen<br />
an Don Cherry wach.<br />
Jan Kobrzinowski<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 81
Tonspuren<br />
Abe Rábade Trio<br />
Sorte<br />
Karonte / Galileo<br />
W W W W<br />
Ganz allein startet das Klavier<br />
im lyrischen Monolog.<br />
Man hört sofort die musikalische<br />
und menschliche<br />
Reife in Abe Rábades Spiel.<br />
Sowohl als Leader, aber auch<br />
als Sideman gehört der aus<br />
Galizien stammende Pianist<br />
schon seit zwei Jahrzehnten<br />
zur europäischen Szene. Mit<br />
Drummer Bruno Pedroso und<br />
Bassist Pablo Martín Caminero<br />
unterhält der 43-jährige<br />
ein souverän eingespieltes<br />
Trio. Stimmungsvolle atmosphärische<br />
Klangbilder, die<br />
Rábades reichhaltige Verwurzelung<br />
in der europäischen<br />
Klavier-Tradition erkennen<br />
lassen, wechseln sich ab mit<br />
fast rockigen Rhythmen. Das<br />
führt zu abwechslungsreichen<br />
Kompositionen. Stilvoll<br />
lässt er Raum zwischen<br />
den Noten in der Ballade<br />
„Desencanto“. „Travesia“<br />
hingegen ist ein kraftvoll<br />
angetriebener Jazz-Walzer,<br />
der so richtig rund wird durch<br />
Pablo Martín Camineros<br />
gestrichenes Kontrabass-<br />
Solo, der sich insgesamt als<br />
kommunikativer Gegenpart<br />
zu Rábade profiliert. Besonders<br />
in „Amencida“ bekommt<br />
Camineros viel solistischen<br />
Raum. Wem das Album<br />
vielleicht streckenweise zu<br />
melancholisch klingt, der<br />
dürfte von den funkigen<br />
Stücken zum Ende hin angenehm<br />
überrascht werden. Ob<br />
schwermütig oder fröhlichunbekümmert<br />
<strong>–</strong> Rábade ist<br />
ein vielseitiger Komponist<br />
und Instrumentalist.<br />
Andreas Schneider<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Thumbscrew<br />
Never is Enough<br />
Cuneiform / Broken Silence<br />
W W W W<br />
Thumbscrew (=Daumenschraube)<br />
nennt sich das Trio von<br />
Tomas Fujiwara (dr), Mary Halvorson<br />
(e-g) und Michael Formanek<br />
(d-b, e-b), das sich als<br />
demokratisches Kollektiv ohne<br />
Bandleader versteht. Jedes<br />
Mitglied hat denselben Anteil<br />
an der Musik, steuert dieselbe<br />
Anzahl von Kompositionen zum<br />
Repertoire bei und agiert als<br />
Solist und Begleiter zu gleichen<br />
Teilen. Das Eröffnungsstück<br />
gibt gleich die Richtung vor,<br />
wobei eine transparente Musik<br />
entworfen wird, die atmet und<br />
pulsiert, von Umsicht, Gelassenheit<br />
und Einfühlungsvermögen<br />
getragen wird und selbst<br />
versonnene Balladenklänge<br />
nicht scheut. Gelegentlich werden<br />
als Kontrast energischere<br />
Töne angeschlagen, die jedoch<br />
immer diszipliniert und proportioniert<br />
wirken und sich überzeugend<br />
in die Gesamtatmosphäre<br />
einpassen. Thumbscrew<br />
rufen die Gruppe Gateway in<br />
Erinnerung, das legendäre Trio<br />
von John Abercrombie, Dave<br />
Holland und Jack DeJohnette,<br />
das ab der zweiten Hälfte der<br />
siebziger Jahre mit ähnlich<br />
luftigen Klängen bewies,<br />
dass ein Gitarrentrio nicht<br />
immer nur die Muskeln spielen<br />
lassen muss. Thumbscrew<br />
entwickeln diesen Ansatz<br />
weiter, tragen ihn manchmal<br />
in psychedelische Sphären<br />
oder in Progrock-Terrain, ohne<br />
dabei die Feinfühligkeit über<br />
Bord zu werfen. Immer wieder<br />
kommen auch experimentelle<br />
Klänge ins Spiel, die allerdings<br />
nie zerfasern oder zerspielt<br />
werden, sondern den kompositorischen<br />
Impuls aufnehmen<br />
und weitertragen.<br />
Christoph Wagner<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
Frank Wingold<br />
To Be Frank<br />
Berthold / Cargo<br />
W W W W o<br />
Die 7-saitige Gitarre, die,<br />
obwohl vergleichsweise unüblich,<br />
auf eine ca. 150-jährige<br />
Geschichte zurückblicken<br />
kann, findet im Kölner Gitarristen<br />
Frank Wingold und seinem<br />
aktuellen Solo-Werk einen<br />
würdigen zeitgenössischen<br />
Repräsentanten. Durch die<br />
zusätzliche (siebte) Basssaite<br />
ergeben sich weitere Klangräume,<br />
die z.B. dem Bassspiel<br />
neue Möglichkeiten eröffnen.<br />
Auf To Be Frank <strong>–</strong> augenzwinkerndes<br />
Wortspiel mit dem<br />
eigenen Namen <strong>–</strong> nimmt sich<br />
Wingold die Freiheit, nur auf<br />
sich gestellt die Möglichkeiten<br />
des akustischen/elektrischen<br />
7-Saiters instrumentell wie<br />
musikalisch ohne Overdubs in<br />
zwei Themen-Blöcken auszuloten:<br />
Im ersten Block gibt’s<br />
9 Standards und eine Eigenkomposition,<br />
im zweiten sechs<br />
Improvisationen. Wingold<br />
verbleibt im Rahmen bekannter<br />
Stile, ohne klangexperimentell<br />
abzudriften. Die Songs werden<br />
am Thema orientiert mit<br />
unterschiedlichen spieltechnischen<br />
wie musikalischen<br />
Mitteln beleuchtet, gedreht<br />
und gewendet, den thematischen<br />
Fokus immer im Blick.<br />
Der Reiz liegt darin, wie er den<br />
unterschiedlichen Songs mit<br />
der nötigen Technik im Sinne<br />
eines orchestralen Ansatzes<br />
harmonisch, rhythmisch und<br />
improvisatorisch gerecht<br />
wird. Diese kommen trotz ihrer<br />
arrangierten Winkeligkeit mit<br />
Flow und Groove zur Entfaltung.<br />
„Joshua“ etwa, berühmt<br />
durch das zweite Miles-Davis-<br />
Quintett, zeigt, wie die Band<br />
zur Ein-Mann-Combo mit Drive<br />
wird. Gitarrenkunst jenseits<br />
irgendwelcher Frickelei.<br />
Andreas Ebert<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
This Is Pan<br />
Animal Heart<br />
Anuk<br />
W W W W<br />
Der Schweizer Saxofonist<br />
Matthias Kohler komponiert<br />
gerne kontrapunktisch. Konsequenterweise<br />
verzichtet er in<br />
seinem Quintett auf ein Klavier<br />
und setzt stattdessen auf die<br />
Multilinearität der Einzelstimmen.<br />
Seine kompetenten<br />
Mitstreiter heißen Lukas Thoeni<br />
(tp), Dave Gisler (e-g), André<br />
Pousaz (e-b) und Gregor Hilbe<br />
(dr). Kohlers Themen klingen<br />
häufig abstrakt und zerklüftet,<br />
die Rhythmen raffiniert, aber<br />
kraftvoll. Alle Solisten starten<br />
durch zu fantasievollen, tonal<br />
flexiblen Exkursionen. Überhaupt<br />
ist dieses dritte Album<br />
der Formation This Is Pan eine<br />
starke Gruppenleistung. Bassist<br />
Pousaz war auch für den Mix<br />
zuständig, Drummer Hilbe<br />
steuert zudem Elektronik bei.<br />
Im letzten Stück wurden bei der<br />
Postproduktion sogar noch ein<br />
paar (wortlose) Gesangsspuren<br />
ergänzt (Sissel Vera Pettersen).<br />
Einige seiner Stücke hat Bandleader<br />
Kohler diesmal übrigens<br />
Tieren gewidmet <strong>–</strong> Luchs,<br />
Wildschwein, Hirsch, Rotmilan<br />
und dem Pferd <strong>–</strong>, daher der Albumtitel.<br />
„Ein Animal Heart erlaubt<br />
es uns, unsere Gefühle zu<br />
zeigen und wirklich füreinander<br />
da zu sein“, sagt der Saxofonist.<br />
Die Musik seines Quintetts<br />
zeigt, was er meint. Trotz aller<br />
Architektur hat dieses Album<br />
viel Wärme, manchmal sogar<br />
Hitze. Tierisch gut.<br />
Hans-Jürgen Schaal<br />
<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />
82 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>
Kolumne<br />
Schramm Experience<br />
URAN<br />
VinDig<br />
W W W W W<br />
First Aid Kit<br />
Who by Fire <strong>–</strong> Live Tribute to<br />
Leonard Cohen<br />
Columbia / Sony<br />
W W W W<br />
Nick Cave & Warren Ellis<br />
Carnage<br />
Goliath / AWAL<br />
W W W<br />
„Wie zur Hölle“, schreibt die<br />
verschwisterte Seele, „soll man<br />
da noch arbeiten? Der Tag hat<br />
sich erledigt!“ Und auch ich<br />
musste feststellen, dass es sich<br />
an jenem Tag ausgearbeitet hatte.<br />
Dem Tag, der mir URAN der<br />
Leipziger Schramm Experience<br />
in die Timeline spülte, und zwar<br />
in Form des verstörungsstarren<br />
Videos zu „Pубин“ („Rubin“).<br />
Im sozialen Netz geteilt, Freundeskreis<br />
lahmgelegt. „Geht<br />
das Hypnotische irgendwann<br />
auch wieder weg?“, fragt einer.<br />
„Nope“, antworte ich. „Das<br />
haben Zeitlupenbassklarinettenschleifen<br />
so an sich. Die<br />
fräsen sich ins Hirn.“ Die Folge:<br />
Zermürbung, ja: Zersetzung bis<br />
hin zur Willenlosigkeit. Allein<br />
das in einen schrägen Balkanbegräbniskapellenbläsersatz<br />
eingebettete, ebenso enervierende<br />
wie sinnliche Pizzicato<br />
auf „Phoolan Devi“, das sich<br />
nicht nur ins Hirn, sondern<br />
überallhin bohrt! Und überhaupt<br />
all dieses Abgründig-Repetitive,<br />
Untermalung zu einem nicht<br />
eben jugendfreien Ritual, gegen<br />
das sich der ganze Eyes Wide<br />
Shut-Kram ausnimmt wie der<br />
leicht langweilende Aufguss für<br />
die armen Verwandten. Oder die<br />
dank tiefergelegter Streicher<br />
perfekt inszenierte Nachtmahr<br />
auf „Yung Bonaparte“! Selbst<br />
die Anklänge an eine unschuldig-osteuropäische<br />
Folkmelodie<br />
im Closer lassen das Dark-<br />
Ambient-Herz derart hoch<br />
schlagen, dass es wünschte,<br />
einem Bildhauer zu gehören,<br />
scheint URAN doch der perfekte<br />
Soundtrack für Situationen,<br />
in denen sich ästhetisches<br />
Schaffen mit körperlicher Arbeit<br />
paart: hochinspirierend und<br />
komplett überfordernd zugleich.<br />
Diejenigen, die schon ob der<br />
zunehmenden Eskalation des<br />
„Bolero“ der Ohnmacht nahe<br />