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JAZZTHETIK 300 – Mai / Juni 2021

Das Magazin für Jazz und Anderes – mit Jazzrausch Bigband, Diana Rasina, Fred Hersch, Flat Earth Society, Ceramic Dog & Marc Ribot, Tamara Lukasheva, Jakob Bro / Arve Henriksen / Jorge Rossy, Yelena Eckemoff, Polskie Nagrania, Christian Pabst, Isfar Sarabski und Charles Lloyd & the Marvels.

Das Magazin für Jazz und Anderes – mit Jazzrausch Bigband, Diana Rasina, Fred Hersch, Flat Earth Society, Ceramic Dog & Marc Ribot, Tamara Lukasheva, Jakob Bro / Arve Henriksen / Jorge Rossy, Yelena Eckemoff, Polskie Nagrania, Christian Pabst, Isfar Sarabski und Charles Lloyd & the Marvels.

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INHALT 05/06<br />

© Gerhard Richter<br />

48<br />

18<br />

8 Für die ganze Familie. Die Jazzrausch<br />

Bigband kommt kreativ durch die<br />

Pandemie. Berauscht: Verena Düren.<br />

10 Rabenschwarze Tinte. Die Flat Earth<br />

Society wird sarkastisch. Hans-Jürgen<br />

Schaal hört eine schräge Revue.<br />

12 Filigran. Gitarrist Jakob Bro träumt<br />

dreidimensional. Mit Hans-Jürgen Linke<br />

in der REM-Phase.<br />

14 Musikalische Madeleine.<br />

Christian Pabst sucht die verlorene Zeit.<br />

Thomas Bugert findet Gefallen.<br />

16 Debüt. Isfar Sarabski bringt den<br />

Planeten zum Klingen. Thomas Kölsch<br />

spürt Tradition und Moderne nach.<br />

18 Blind Date. Lücker Schickentanz<br />

suchen die verborgene Wahrheit.<br />

Holger Pauler bleibt die Luft weg.<br />

20 Austariert. Tamara Lukasheva hält<br />

ihr neues Album im Gleichgewicht.<br />

Abwägend: Hans-Jürgen Linke.<br />

26 Dolce Vita. Bei Village Zone ist<br />

Mitsingen erwünscht. Stefan Pieper ölt<br />

schon mal die Stimmbänder.<br />

34 Rückkehr. Noa widmet sich dem Great<br />

American Songbook <strong>–</strong> und trifft Gott im<br />

Café. Mit am Tisch: Rolf Thomas.<br />

36 Geradeaus. Anette von Eichel beweist<br />

den Mut, sich lebensecht zu zeigen.<br />

Victoriah Szirmai über eine, die sich traut.<br />

37 Durch die Blume. Yelena Eckemoff<br />

spielt Klavier mit grünem Daumen.<br />

Botanische Verse von Thomas Kölsch.<br />

38 Hartnäckig. Das Trio Firasso tanzt mit<br />

dem Kaugummi. Guido Diesing findet<br />

Positives in der Pandemie.<br />

40 Für Connaisseure. HiFi-Geräte von<br />

Pier Audio beweisen Savoir-faire.<br />

Peter Steinfadt sagt: „Oh là là!“<br />

41 Familientradition. In der Afrobeat-Dynastie<br />

Kuti steht die nächste Generation bereit.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf über Väter und Söhne.<br />

42 Unverkitscht. Diana Rasina singt romanische<br />

Romanzen. Victoriah Szirmai<br />

schreibt darüber romantische Romane.<br />

46 Schattenseiten. Burges / Gränzer / Schade<br />

und die anderen Farben der Liebe.<br />

Ohne rosarote Brille: Doris Schumacher.<br />

54 Mit 66 Jahren. Gitarrist Marc Ribot<br />

träumt sich in die Sixties. Aufgeweckt:<br />

Wolf Kampmann.<br />

56 Spirituell aufgeladen. Charles Lloyd<br />

will inspirieren und wachrütteln.<br />

Jan Kobrzinowski hört ein Tongedicht.<br />

58 Satchmos Erbe. Trompeter Martin Auer<br />

und seine heißen Fünf. Jazzgeschichtsstunde<br />

mit Rolf Thomas.<br />

58 Auf dem Weg. Friedrich Gulda galt als<br />

Wanderer zwischen den Welten.<br />

Hans-Jürgen Linke schnürt die Schuhe.<br />

60 Wiederbelebt. Das Label Polskie Nagrania<br />

kehrt mit Maciej Gołyźniaks Debüt zurück.<br />

Angela Ballhorn blickt nach Osten.<br />

62 Bald schlägt’s dreizehn. Trompeter<br />

Piotr Schmidt macht das Dutzend voll. In<br />

schwankender Stimmung: Andreas Ebert.<br />

64 Neue Welle. Junge Jazzer*innen aus<br />

Polen suchen ihre eigene Sprache.<br />

Karolina Juzwa blickt über den Tellerrand.<br />

66 Inszenierung. Das Moers Festival blickt<br />

zum 50. Bestehen aus der Zukunft aufs<br />

Heute. Mit Stefan Pieper im Zeittunnel.<br />

28 Renaissance. Schlagzeuger Tilo Weber<br />

stellt Alte Musik auf den Kopf.<br />

Im Handstand: Jan Kobrzinowski.<br />

30 Textilien. Mareille Merck und ihre Silbermöwe<br />

verweben feinen Stoff. Doris<br />

Schumacher findet den roten Faden.<br />

48 Afrofuturistisch. Logan Richardson entwickelt<br />

das Morgen aus dem Gestern.<br />

Eric Mandel reist in die Zukunft.<br />

50 Lieder ohne Worte. Fred Hersch singt<br />

beim Spielen im Kopf. Jan Kobrzinowski<br />

summt mit.<br />

4 Megaphon<br />

28 Time Tunnel<br />

65 Abo<br />

68 Tonspuren<br />

91 Hörbucht<br />

92 Termine<br />

94 London<br />

96 Impressum<br />

98 Zitat<br />

32 Lächelnde Ladys. Das Godemann Bauder<br />

Duo ehrt den schönen Geist einer<br />

Kollegin. Schöngeistig: Harry Schmidt.<br />

52 Verwegen. Pianistin Kris Davis ist auch<br />

Labelchefin. Christoph Wagner hört<br />

Pyroklastisches.<br />

links: Andreas Schickentanz / rechts: Logan Richardson <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 3


MEGAPHON<br />

Von Hans-Jürgen Linke<br />

Und jetzt also die Ausgabe<br />

mit der Nummer <strong>300</strong>. Das<br />

fällt natürlich nur Menschen<br />

auf, die das Dezimalsystem<br />

verinnerlicht und darum eine<br />

Vorliebe für Nullen mit einer<br />

anderen Ziffer davor haben.<br />

Aber schauen Sie mal nach:<br />

Auf der Titelseite, ja, genau da,<br />

steht diese Zahl. Weil: Abgesehen<br />

von all den Erscheinungsjahren,<br />

die eine Zeitschrift auf<br />

ihrem kosmischen Zeitkonto<br />

ansammeln kann, gibt es auch<br />

die pure Anzahl der Ausgaben,<br />

die produziert wurden, als<br />

erwähnenswerte Größe. Dreihundert<br />

sind es jetzt also. Das<br />

Jazzmagazin Ihres Vertrauens<br />

beglückwünscht sich selbst<br />

dazu und wünscht sich und<br />

seinen Leser*innen weitere<br />

Ausgaben.<br />

An der gegenwärtigen pandemischen<br />

Situation ist vieles bedrückend.<br />

Für Menschen, die<br />

bis zum letzten Frühling noch<br />

gewohnheitsmäßig Konzerte,<br />

Theater, Opern oder Festivals<br />

besucht haben, ist das Fehlen<br />

von öffentlichen Kulturveranstaltungen<br />

eine zunehmend<br />

traurige Einbuße an Lebensqualität.<br />

Dabei hatten viele<br />

Veranstaltungsorte schon vor<br />

einem Jahr zum Teil erhebliche<br />

Investitionen in Luftfilteranlagen<br />

getätigt und mit den<br />

Gesundheitsämtern Konzepte<br />

abgestimmt, die zumindest<br />

einen eingeschränkten und<br />

gesundheitlich risikoarmen<br />

Betrieb ermöglicht hätten.<br />

Inzwischen sieht es so aus, als<br />

würde der Kultur- und Veranstaltungsbetrieb<br />

vonseiten der<br />

Politik eine wesentlich geringere<br />

Wertschätzung genießen<br />

als etwa das Friseur-Gewerbe.<br />

Das aktuelle Maß an Missachtung<br />

des Kulturbetriebs durch<br />

die Politikerkaste wirft die<br />

Frage auf, wie ein Bereich des<br />

gesellschaftlichen Lebens und<br />

der gesellschaftlichen Arbeit,<br />

der offenbar für völlig nebensächlich<br />

gehalten wird, wieder<br />

in Gang kommen soll, wenn<br />

die Pandemie eingedämmt ist.<br />

Starren wir demnächst nur<br />

noch auf die Flachbildschirme<br />

und lassen die Welt an uns<br />

vorüberstreamen?<br />

Das Forum Veranstaltungswirtschaft<br />

zeigte sich äußerst<br />

unzufrieden mit den<br />

regelmäßig erneuerten<br />

Bund-Länder-Beschlüssen.<br />

Trotz aller Ankündigungen sei<br />

eine Öffnungs-Strategie für<br />

öffentliche Veranstaltungen<br />

bisher ausgeblieben. Die in<br />

Aussicht gestellten finanziellen<br />

Hilfen für eine Branche, die seit<br />

mehr als einem Jahr ins völlige<br />

Stocken geraten ist, lassen<br />

vielerorts auf sich warten.<br />

Alles deutet darauf hin, dass<br />

die wirtschaftliche, kulturelle<br />

und soziale Bedeutung der in<br />

der Veranstaltungswirtschaft<br />

zusammengeschlossenen<br />

Betriebe und Initiativen von<br />

der Politik weitgehend ignoriert<br />

wird. Die Chance einer umfassenden<br />

Test-Strategie böte<br />

immerhin die Möglichkeit, auch<br />

der Veranstaltungswirtschaft<br />

wieder in einem gewissen<br />

Umfang Aktivitäten zu ermöglichen.<br />

Das Forum Veranstaltungswirtschaft<br />

ist eine Allianz<br />

von fünf Verbänden, dem BDKV<br />

(Bundesverband der Konzertund<br />

Veranstaltungswirtschaft),<br />

dem EVVC (Europäischer<br />

Verband der Veranstaltungs-<br />

Centren), dem ISDV (Interessengemeinschaft<br />

der selbständigen<br />

Dienstleister*innen in der<br />

Veranstaltungswirtschaft), dem<br />

Livekomm (Verband der Musikspielstätten<br />

in Deutschland) und<br />

dem VPLT (Verband für Medienund<br />

Veranstaltungstechnik).<br />

Es ist lange her, aber immer<br />

noch wahr, dass Chris Barber<br />

einer von denen war, die den<br />

Deutschen nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg den Jazz brachten.<br />

Wie Glenn Miller spielte er<br />

Posaune, allerdings war er<br />

in seinen Anfängen auch als<br />

Skiffle-Musiker in einer Band<br />

mit Waschbrett-Rhythmusgruppe<br />

zugange. Später war<br />

er ein legendärer Bandleader<br />

und Mitbetreiber des Londoner<br />

Marquee Club. Er gab bis<br />

ins hohe Alter Konzerte, war<br />

freundschaftlich verbunden mit<br />

Eric Clapton, Van Morrison und<br />

Mark Knopfler. Im März starb er,<br />

kurz vor seinem 91. Geburtstag.<br />

Jazz macht glücklicher. Die<br />

Online-Verkaufsplattform<br />

OnBuy hat das in einer vergleichenden<br />

Studie nachgewiesen.<br />

Und zwar macht Jazz<br />

sogar glücklicher als Heavy<br />

Metal. Er erlaubt, Gefühle beim<br />

Zuhören zu erleben, dämpft<br />

Stress, senkt den Blutdruck,<br />

macht ausgeglichener und<br />

hat enorm positive Effekte auf<br />

Körper und Geist. Sogar Gedächtnisleistungen<br />

verbessert<br />

er zuweilen. Metal dagegen<br />

sorgt vor allem dafür, dass seine<br />

Hörer*innen ein mentales<br />

Ventil für ihre zornigen Gefühle<br />

finden. Die drittglücklichsten<br />

Musikhörer*innen gehen in die<br />

Oper. Folk-Anhänger*innen besetzen<br />

den undankbaren vierten<br />

Platz in diesem Ranking.<br />

Ralph Peterson Jr., Jahrgang<br />

1962, spielte auch Kornett<br />

und Trompete, war aber über<br />

drei Jahrzehnte vor allem<br />

als Schlagzeuger präsent. Er<br />

begann seine Karriere bei den<br />

Jazz Messengers, arbeitete<br />

mit den Großen seiner Generation<br />

wie Terence Blanchard,<br />

Craig Harris, Courtney Pine,<br />

Branford Marsalis und David<br />

Murray, um nur einige der<br />

wichtigsten zu nennen, und<br />

lehrte Schlagzeug am Berklee<br />

College in Boston. Er starb<br />

im März an den Folgen einer<br />

Krebserkrankung.<br />

Da war ein Foto in der letzten<br />

Ausgabe der <strong>JAZZTHETIK</strong>.<br />

Auf Seite 20/21 prangte es<br />

prachtvoll und zeigte das<br />

Doppler-Trio. Leider vergaßen<br />

wir zu erwähnen, dass Kevin<br />

Gruetzner der Urheber war,<br />

bei dem wir uns hiermit zerknirscht<br />

entschuldigen.<br />

Mark Whitecage war als<br />

Saxofonist und Klarinettist ein<br />

Vertreter der US-amerikanischen<br />

Jazz-Avantgarde und<br />

wurde in Europa vor allem<br />

durch seine Arbeit mit Gunter<br />

Hampels Galaxy Dream Band<br />

bekannt. In den 1990er Jahren<br />

arbeitete er mit Anthony Braxton<br />

und William Parker und<br />

in letzter Zeit mit dem nach<br />

New York emigrierten Kölner<br />

Trompeter Thomas Heberer. Er<br />

wurde 83 Jahre alt und starb<br />

im März.<br />

Die Bremer jazzahead! hat<br />

in diesem Jahr leider wieder<br />

(nur) digitales Format, gewinnt<br />

aber an Umfang: Mit dem Herbie<br />

Hancock Institute of Jazz<br />

startet die jazzahead! eine<br />

Kooperation zum UNESCO International<br />

Jazz Day <strong>2021</strong>, der<br />

von beiden Institutionen am<br />

Freitag, 30. April, gemeinsam<br />

gefeiert wird. Die Kooperationspartner<br />

wollen Aktivitäten<br />

bündeln und die weltweite<br />

Sichtbarkeit des Jazz verbessern.<br />

Näheres unter:<br />

www.jazzahead.de und<br />

www.jazzday.com<br />

powered by<br />

Das Team des Festivals<br />

Jazzdor hat lange<br />

gehofft und gezögert<br />

und muss nun doch das<br />

Festival, das vom 1. - 4. <strong>Juni</strong><br />

erstmals in Dresden stattfinden<br />

sollte, absagen. Alternativ<br />

wird an einem Outdoor-Programm<br />

gearbeitet, das im<br />

Rahmen der Berliner Jazzwoche<br />

vom 6. - 13. <strong>Juni</strong><br />

präsentiert werden soll.<br />

4 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Megaphon<br />

1 2<br />

© Egor Sachko<br />

5<br />

3<br />

4<br />

© Hans Kumpf<br />

Lou Ottens Nadin Deventer Ulrike Haage Maria Schneider Nils Wogram<br />

powered by<br />

Die Zeit der Absagen<br />

geht weiter. Das<br />

Jazzfestival Gronau, das<br />

sich aus 2020 in das aktuelle<br />

<strong>2021</strong> verschieben zu können<br />

hoffte, muss sich wieder<br />

verschieben beziehungsweise<br />

einige Konzerte absagen.<br />

Karten können zurückgegeben<br />

werden oder behalten ihre<br />

Gültigkeit für 2022. Das Konzert<br />

mit 4 Wheel Drive am 4. <strong>Mai</strong><br />

wird aber als Live-Stream<br />

zugänglich sein unter:<br />

www.jazzfest.de<br />

1) Die Tonband-Kompaktkassette<br />

hätte es ohne ihn<br />

vielleicht nicht gegeben, und<br />

auch an der Erfindung der CD<br />

hatte der niederländische Ingenieur<br />

Lou Ottens wesentlichen<br />

Anteil. Den größten Teil seines<br />

erfindungs- und erfolgreichen<br />

Berufslebens verbrachte er in<br />

Diensten der Firma Philips und<br />

lebte bis zu seinem Tode im<br />

März in Eersel bei Eindhoven.<br />

2) Der Preis des Europe Jazz<br />

Network für abenteuerlustiges<br />

Programmieren, im Original<br />

Adventurous Programming,<br />

geht in diesem Jahr (Tusch!) an<br />

Nadin Deventer für ihre innovative<br />

Arbeit bei den Berliner<br />

Jazztagen.<br />

Richtig reich geworden ist<br />

Richard Weize mit Bear Family<br />

Records vermutlich nicht, aber<br />

immerhin ereilte ihn jetzt das<br />

Bundesverdienstkreuz am<br />

Bande. Und zwar sehr verdient,<br />

denn sein Lebenswerk ist, wie<br />

Götz Alsmann in der Laudatio<br />

sagte, „eine einzige große<br />

Rettung kultureller Schätze,<br />

schlichtweg das Bewahren<br />

von musikalischem Weltkulturerbe.“<br />

Dem ist, außer endlos<br />

vielen Einzelheiten, nichts<br />

hinzuzufügen.<br />

Der Jazzpreis Baden-Württemberg<br />

geht an Christoph Neuhaus.<br />

Kultur-Staatssekretärin<br />

Petra Olschowski begründete<br />

die Wahl der Jury: „Christoph<br />

Neuhaus begeistert als ein<br />

außergewöhnlich vielseitiger<br />

Gitarrist und Komponist.<br />

Stilsicher und äußerst kreativ<br />

bewegt er sich musikalisch<br />

an der Schnittstelle zwischen<br />

Jazz, Groove, Blues und<br />

Folkmusic.“ Neuhaus arbeitet<br />

auch als Bildender Künstler.<br />

Während der Pandemie hat<br />

er darüber hinaus mit seinen<br />

Konzert-Screenings viel für die<br />

Musikszene im Land getan. Ein<br />

Termin für Preisverleihung und<br />

Preisträgerkonzert im Rahmen<br />

der Stuttgart Open steht noch<br />

nicht fest.<br />

3) Vor allem für ihre Kompositionen<br />

für audiovisuelle Medien<br />

hat Ulrike Haage den 12. Deutschen<br />

Musikautorinnenpreis<br />

<strong>2021</strong> erhalten. Laudator Volker<br />

Heise fasste bündig zusammen,<br />

wieso: „Du bist schlichtweg<br />

eine großartige und innovative<br />

Musikerin, die auf sehr vielen<br />

schmalen Graten wandelt<br />

und nie abstürzt. Du hast die<br />

seltene Eigenschaft, dass deine<br />

Filmmusik immer eigenständig<br />

ist und sich nie den Bildern<br />

unterwirft.“<br />

4) Eine der originellsten<br />

US-amerikanischen Bigband-<br />

Komponistinnen und -Arrangeurinnen<br />

der Gegenwart ist<br />

Maria Schneider. Für ihr Album<br />

Data Lords wurde sie jetzt in<br />

Frankreich mit dem Grand Prix<br />

de l’Académie du Jazz und zu<br />

Hause gar mit einem Grammy<br />

und einem zusätzlichen Grammy<br />

für ihre Instrumental-Komposition<br />

„Sputnik“ ausgezeichnet,<br />

die vermutlich nicht einem<br />

Impfstoff gewidmet ist.<br />

5) Nils Wogram ist noch jung,<br />

dennoch hat der Jahresausschuss<br />

des Preises der<br />

Deutschen Schallplattenkritik<br />

ihm einen Ehrenpreis zugesprochen,<br />

der leider aus pandemischen<br />

Gründen noch nicht<br />

verliehen ist, aber das wird<br />

noch. Ehre, wem Ehre gebührt!<br />

Die Tonne in Dresden war einer<br />

der bekanntesten Jazzclubs der<br />

DDR und wird in diesen Tagen<br />

40 Jahre alt. Umzüge, Wasserschäden<br />

und manch anderes<br />

Ungemach haben der Tonne<br />

nicht den Boden ausgeschlagen,<br />

und irgendwann wird sich<br />

auch herausstellen, wie der<br />

40. Geburtstag angemessen<br />

gefeiert werden kann. Glückwunsch!<br />

www.jazzclubtonne.de<br />

6) Beim Drei-Städte-Festival<br />

Enjoy Jazz, aber nicht nur dort,<br />

konnte man häufig Matthias<br />

Spindler begegnen und mit ihm<br />

in der Pause oder nach dem<br />

Konzert in lebhafte Gespräche<br />

über die Musik, ihre Geschichte,<br />

ihre Bezüge, ihre besonderen<br />

Qualitäten geraten. Zum Jazz<br />

war Spindler, Jahrgang 1954,<br />

schon in den 1960er Jahren<br />

gekommen. Mitte der 1970er,<br />

während seines Studiums der<br />

Geschichte und Soziologie,<br />

begann er mit Schallplatten-<br />

Rezensionen für das JAZZ<br />

PODIUM, später folgten Konzertkritiken<br />

für die Tageszeitungen<br />

RHEINPFALZ und MANN-<br />

HEIMER MORGEN und bald<br />

Arbeiten für den Hörfunk. Beim<br />

Hessischen Rundfunk arbeitete<br />

er als Autor, Moderator und Aufnahmeleiter,<br />

daneben forschte<br />

und publizierte er über Themen<br />

aus der Regionalgeschichte.<br />

Er ist nach kurzer Krankheit am<br />

7. April gestorben.<br />

Das Land Hessen hat ein<br />

neues Förderprogramm ins<br />

Leben gerufen, das besonders<br />

dem ländlichen Raum, in dem<br />

sonst weniger Kulturförderung<br />

ankommt, Segen bringen soll.<br />

Das Programm ist versammelt<br />

unter dem Titel „Ins Freie!“, die<br />

Bewerbungsfrist tickt. Näheres<br />

unter:<br />

www.diehl-ritter.de/de/insfreie<br />

In Leipzig tut sich was. Der<br />

Jazzclub wird Hauptmieter im<br />

zukünftigen Haus der Festivals<br />

in der Gottschedstraße 16 und<br />

kann dort also fortan machen,<br />

was er will. Er will vor allem<br />

dafür sorgen, dass Leipzig als<br />

Ort einer produktiven freien<br />

Kulturszene stärker wahrgenommen<br />

wird. Durch die Lage<br />

in der Innenstadt und die Nähe<br />

zu anderen Kultur-Institutionen<br />

soll eine interdisziplinäre Ko-<br />

6 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


6 7<br />

© Boris Breuer<br />

9 10<br />

© Manfred Rinderspacher<br />

8<br />

© Jürgen Volkmann<br />

11<br />

Matthias Spindler<br />

Trilok Gurtu<br />

Trans4JAZZFestival<br />

Luise Volkmann<br />

Kenny Wayne Shepherd<br />

Rotkehlchen<br />

Eberhard Weber <strong>–</strong><br />

Colours of Jazz<br />

operation gestärkt und ein vielfältig<br />

interessiertes Publikum<br />

angesprochen werden. Leider<br />

wird der Jazzclub bis mindestens<br />

Ende <strong>Mai</strong> keine Konzerte<br />

veranstalten können. Weiteres<br />

auf der Website<br />

www.jazzclub-leipzig.de<br />

Und noch etwas gibt es<br />

in Leipzig: eine<br />

Autorïnnen Ausstellung unseres<br />

Fotografen Arne Reimer bei der<br />

Agentur Punctum Fotografie.<br />

Das Thema ist Leipzig im Kampf<br />

gegen Corona, Titel der<br />

Ausstellung: Ihnen gewidmet.<br />

Virtuell zu sehen auf<br />

www.punctum.net<br />

powered by<br />

7) Nachdem im<br />

vergangenen Jahr aus<br />

bekannten Gründen<br />

das Trans4JAZZFestival<br />

ausfallen musste, gibt es in<br />

diesem Sommer über den<br />

Dächern von Ravensburg trotz<br />

aller Widrigkeiten vom<br />

30.6. - 4.7. die Konzertreihe<br />

Veitsburg Jazz, mit Cæcilie<br />

Norby, Ulf Wakenius und Lars<br />

Danielsson, sodann Trilok<br />

Gurtu, Florian Weber und<br />

Frederik Köster, außerdem Jon<br />

McCleery, der Band Lunaves<br />

aus Stuttgart und dem<br />

Londoner Pianisten Alfa Mist.<br />

Den Schlusspunkt setzt das<br />

Emil Brandqvist Trio.<br />

www.jazztime-ravensburg.de<br />

Darmstadt. Die Präsentation<br />

ihres Projekts und die<br />

Preisverleihung finden nach<br />

derzeitigen Planungsstand am<br />

1. Oktober im Rahmen des 17.<br />

Darmstädter Jazzforums statt,<br />

das dem Thema „Roots_Heimat:<br />

Wie offen ist der Jazz?“<br />

gewidmet ist.<br />

https://kathrin-preis.de<br />

Auch der 14. Record Store<br />

Day kann nicht so analog und<br />

real wie gewünscht gefeiert<br />

werden, weshalb eine virtuelle<br />

Ausgabe in zwei RSD-Drops<br />

am 12. <strong>Juni</strong> und 17. Juli<br />

vorgesehen ist. Zur Feier des<br />

Tages wurde eine Art virtuelle<br />

Schnitzeljagd mit Gewinnspiel<br />

konzipiert. Die Jagd ist in<br />

vollem Gange <strong>–</strong> als Preis winkt<br />

ein Technics Turntable Grand<br />

Class SL-1200G-Serie. Näheres<br />

unter:<br />

www.recordstoredaygermany.de<br />

Wenn es kaum öffentliche<br />

Konzerte gibt, bleibt als Chance<br />

für die heranwachsende<br />

Generation der Unterricht.<br />

Musiker*innen der beiden<br />

Klangkörper des Hessischen<br />

Rundfunks, Sinfonieorchester<br />

und Bigband, geben kostenfreien<br />

Online-Unterricht für<br />

interessierte Schulklassen.<br />

Mehr Informationen:<br />

www.hr-sinfonieorchester.de<br />

und www.hr-bigband.de<br />

zurückgezogen. Der Grund ist<br />

ein Bild der alten Konföderierten-Fahne,<br />

die auf einem<br />

Auto prangte, das Shepherd<br />

allerdings nicht mehr fährt.<br />

Dem ROLLING STONE sagte er,<br />

er habe längst beschlossen,<br />

die Flagge auf dem Autodach<br />

zu bedecken oder übermalen<br />

zu lassen, weil sie für etwas<br />

stehe, was er gründlich ablehne.<br />

Was nun?<br />

10) Die Wahl ist vorbei, gewonnen<br />

hat das Rotkehlchen,<br />

das sich jetzt zwitschernd „Vogel<br />

des Jahres <strong>2021</strong>“ nennen kann.<br />

Zum ersten Mal hat nicht ein<br />

Experten-Gremium gewählt,<br />

sondern Menschen, die vom<br />

Wahl-Aufruf des NABU erreicht<br />

wurden. Hoffen wir, dass<br />

das Rotkehlchen jetzt unverzüglich<br />

die nötigen Reformen<br />

einleitet, mit denen sich die<br />

Roten sonst eher schwergetan<br />

haben.<br />

11) Das Stadtmuseum<br />

Esslingen würde jetzt im<br />

Gelben Haus eine Ausstellung<br />

mit dem Titel Eberhard Weber<br />

<strong>–</strong> Colours of Jazz zeigen, wenn<br />

es denn öffnen dürfte. Da die<br />

Ausstellung bis zum 24.10. dort<br />

wäre, ergibt sich vielleicht<br />

doch noch eine Gelegenheit.<br />

Näheres unter<br />

www.museen-esslingen.de<br />

Kompromiss, sondern als Version<br />

dessen, was hätte stattfinden<br />

sollen und können: 16<br />

Künstler kommen in Monheim<br />

zusammen und entwickeln ihre<br />

Projekte. „The Prequel“ wird<br />

das Labor, die Werkstatt, der<br />

Think Tank, in dem die Zukunft<br />

erdacht wird. Bereits erworbene<br />

Tickets behalten ihre Gültigkeit<br />

für 2022; alternativ kann der<br />

Preis zurückerstattet werden.<br />

Wer die Festivalkarte für 2022<br />

behält, bekommt, abhängig<br />

von den Hygiene-Vorschriften,<br />

kostenlosen Zugang zu den<br />

öffentlichen Konzerten von<br />

„The Prequel“.<br />

www.monheim-triennale.de<br />

Die irritierende Stille in den Bergen<br />

geht zu Ende, das Montreux<br />

Jazz-Festival hat einen Plakat-<br />

Wettbewerb unter dem Titel<br />

„Restart“ ausgeschrieben. Mehrere<br />

Preise werden verliehen,<br />

außerdem sollen 30 Künstler die<br />

Gelegenheit erhalten, beim Festival<br />

ihre Werke auszustellen.<br />

Die Bekanntgabe der Gewinner<br />

erfolgt in diesen Tagen, und das<br />

55. Montreux-Festival findet vom<br />

1. - 17.7. statt.<br />

www.montreuxjazzfestival.com/de<br />

powered by<br />

8) Luise Volkmann,<br />

Trägerin des Kathrin-<br />

Preises, hatte<br />

mittlerweile ihre Residency mit<br />

intensiver Arbeitsphase in<br />

9) Eigentlich war Kenny<br />

Wayne Shepherd in der engeren<br />

Wahl für den Blues Music<br />

Award, aber die Blues Foundation<br />

hat ihre Nominierung<br />

Eigentlich war die Monheim<br />

Triennale für 1. - 4.7. geplant,<br />

nun ist sie wieder um ein Jahr<br />

verschoben worden. Anfang<br />

Juli <strong>2021</strong> wird es „The Prequel“<br />

geben, nicht als Ersatz oder<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 7


JAZZRAUSCH BIGBAND<br />

Bigband mit Familiensinn<br />

Es ist gerade einmal ein paar Jahre her, dass die Jazzrausch Bigband die Jazzszene auf den<br />

Kopf stellte. Mit ihrer Mischung aus Jazz und Techno begeistern die jungen Musiker*innen<br />

eine breite Masse an Fans. Mit téchne veröffentlicht das Ensemble nun sein neues Album.<br />

Von Verena Düren<br />

Unvergesslich scheint das erste Konzerterlebnis<br />

mit der Jazzrausch Bigband gewesen<br />

zu sein: geprägt von Neugierde in Verbindung<br />

mit der Begeisterung eines ausverkauften<br />

Opernhauses, in dem generationsübergreifend<br />

niemand auf seinem Sitz blieb. Seit ihrer<br />

Gründung 2014 hat die Bigband eine steile<br />

Karriere gemacht und weltweit circa 600<br />

Konzerte gespielt. Das Geheimnis dahinter<br />

ist nicht nur eine gute Bigband, sondern<br />

vor allem die einzigartige Verbindung von<br />

Jazz mit Techno. „Ich habe zu der Zeit in<br />

dem Münchner Club Rausch und Töchter<br />

eine Konzertreihe mit dem Titel Jazzrausch<br />

gemacht und dachte, es wäre schön, für die<br />

Reihe eine eigene Band zu haben“, berichtet<br />

Roman Sladek von den Anfängen. Da er in<br />

der Reihe versuchte, besondere, kreative<br />

Konzepte umzusetzen, war klar, dass auch<br />

die Band kein Durchschnitt sein würde. „Ich<br />

kam schnell auf die Bigband als Formation,<br />

weil diese durch die verschiedenen möglichen<br />

Kombinationen mehr Möglichkeiten bot<br />

als beispielsweise ein Trio.“<br />

Über seine Liebe zum Techno hatte<br />

Sladek schon privat Kontakt zu Leonhard<br />

Kuhn, der bis heute Haupt-Komponist für<br />

die Bigband ist: „Leonhard ist extrem gut<br />

und schnell, er ist der perfekte Partner“,<br />

schwärmt Sladek. Kuhn, der studierter<br />

Mathematiker ist und sich für zahlreiche geisteswissenschaftliche<br />

Themen interessiert,<br />

vereint so viel Input in sich, dass er problemlos<br />

alle paar Monate ein neues Programm<br />

herstellt. Das sechsjährige Jubiläum im<br />

vergangenen Jahr konnte die Jazzrausch<br />

Bigband mit einem etwa siebenstündigen<br />

Rave feiern <strong>–</strong> ausschließlich Stücke aus<br />

Kuhns Feder.<br />

Die restlichen 35 Musikerinnen und<br />

Musiker stammen aus einem Netzwerk<br />

rund um die Münchner Musikhochschule<br />

sowie aus dem Kontext der Jazzrausch-<br />

Konzertreihe. Seit der Club Rausch und<br />

Töchter aus Lärmschutzgründen nur ein Jahr<br />

nach der Gründung der Band geschlossen<br />

wurde, ist die Jazzrausch Bigband fester<br />

Gast im Techno-Club Harry Klein <strong>–</strong> und damit<br />

begannen die intensive Auseinandersetzung<br />

mit der Verbindung von Jazz und Techno und<br />

die richtig große Karriere. „Dass wir als feste<br />

Band im Harry Klein untergekommen sind, hat<br />

natürlich auch noch mal für eine Profilschärfung<br />

gesorgt“, so Sladek.<br />

Hinsichtlich der Ausrichtung und der<br />

Professionalisierung hatte er eher innerhalb<br />

der Band Überzeugungsarbeit zu leisten als<br />

nach außen. Von Kritik und Unverständnis für<br />

die Kombination der beiden Musikstile blieb<br />

die Band weitestgehend verschont. „Inhaltliche<br />

Glaubwürdigkeit und Authentizität sind<br />

uns sehr wichtig, und das überzeugt Publikum<br />

und Kritiker. Wir machen anspruchsvolle,<br />

mühevoll gemachte Musik, die Spaß<br />

8 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Marc Wilhelm<br />

macht.“ Die Fans sind erstaunlicherweise gar<br />

nicht ungewöhnlich jung <strong>–</strong> viele von ihnen<br />

sind über 45 Jahre alt. „Manchmal denke ich,<br />

wir sind der kleinste gemeinsame Nenner für<br />

Familien“, so Sladek lachend.<br />

Die Produktionswut des Gründer-Duos<br />

Sladek und Kuhn beschert nun die vierte<br />

Platte, die seit 2019 bei ACT erscheint: téchne<br />

heißt das Album, das ausnahmsweise auch<br />

Stücke anderer Komponisten beinhaltet. „Alle<br />

unsere Alben funktionieren über Themen,<br />

die ich in der Regel vorgebe und mit denen<br />

Leonhard dann arbeitet. Unser letztes Album<br />

Beethoven’s Breakdown war inhaltlich sehr<br />

stark vorgegeben, so dass wir nun wieder<br />

eine Platte machen wollten, die näher an der<br />

Band dran ist.“ Der Titel techné knüpft an den<br />

griechischen Begriff an, der keine Unterscheidung<br />

zwischen Kunst, Wissenschaft<br />

und Technik macht. Die Jazzrausch Bigband<br />

schafft nun eine Schnittstelle zwischen<br />

den Bereichen und porträtiert darüber auf<br />

ganz eigene Art und Weise den Begriff der<br />

Technik. So setzt sich das Stück „AI 101“ mit<br />

der Fehlermeldung und den engen Grenzen<br />

auseinander, die sich der Mensch durch seine<br />

Abhängigkeit von der Technik selbst setzt.<br />

Auch Literarisches fehlt nicht, beispielsweise<br />

bei einer Vertonung des Hugo-Ball-Gedichts<br />

„Der Literat“, während es in „Shufflings<br />

Steps“ um die Auseinandersetzung mit<br />

Kompositionstechniken geht. Neu dabei sind<br />

Werke von Theresa Zaremba und Andreas<br />

Unterreiner, deren Kompositionen bereits in<br />

Club-Sessions im Harry Klein zu hören waren.<br />

Geehrt fühlt sich die Band durch hochkarätige<br />

Gäste wie Nesrine, Viktoria Tolstoy,<br />

Wolfgang Haffner, Kalle Kalima, Nils Landgren<br />

und Jakob Manz, die zeigen, wie gut das<br />

Konzept ankommt. „Eine Bigband bietet sich<br />

ja grundsätzlich für Gäste an, aber dieses Mal<br />

war es wirklich wie eine Input-Kur und auch<br />

eine gute Möglichkeit, über die eigene Musik<br />

zu reflektieren.“<br />

Mit der Professionalisierung und dem<br />

Erfolg stieg auch die Verantwortung von<br />

Roman Sladek als Bandleader <strong>–</strong> auch in<br />

Pandemie-Zeiten: „Wir haben uns, und das<br />

ist schon mal schön und macht es leichter.<br />

Wir haben viel in Tests und Hygienekonzepte<br />

investiert, konnten daher einiges machen und<br />

haben versucht, per Rotationsverfahren alle<br />

einzubinden. Es dürfen nicht Hygienekonzepte<br />

entscheiden, mit wem man Musik macht.<br />

Bisher scheint das gelungen zu sein, denn es<br />

hat niemand aus der Band aufgehört.“ Eine<br />

große Unterstützung sei dabei auch der Zuspruch<br />

der Fans gewesen: „Wir haben sehr<br />

persönliche Nachrichten und auch private<br />

Spenden erhalten. Wir hatten zum Glück nie<br />

das Gefühl, nicht relevant zu sein.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Jazzrausch Bigband: téchne<br />

(ACT / Edel:Kultur)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 9


FLAT EARTH SOCIETY<br />

Rabenschwarze Revue<br />

© Willem Van Cauwenberghe<br />

Die Flat Earth Society aus Belgien wäre ein heißer Kandidat<br />

auf den Titel des rebellischsten, witzigsten, provokantesten,<br />

eklektischsten, energiegeladensten Jazzorchesters der Welt.<br />

Passenderweise startete die Band mit einer Zirkusnummer <strong>–</strong><br />

das war bereits 1997. Ihr neuester Streich: Boggamosta III,<br />

eine Zappa- und Sun-Ra-nahe HipHop-Jazz-Revue über die<br />

Verdummung in der digitalen Welt.<br />

Von Hans-Jürgen Schaal<br />

In Belgien hat sich die 15-köpfige Spaß-und-<br />

Risiko-Truppe rasch etablieren können: mit<br />

Theaterproduktionen, Rundfunkauftritten,<br />

Konzerttourneen. Ihre raffinierte Mischung<br />

aus Bigband-Tradition, Progrock-Kontrasten,<br />

Balkan-Gebläse, Zappa-Eklektik, Krimi-Feeling<br />

und Tango-Elementen riss das Publikum<br />

überall von den Sitzen. FES war 2002 die<br />

Hausband des Brügge-Festivals, präsentierte<br />

2003 eine Bigband-Oper bei der Ruhrtriennale<br />

in Duisburg, ging 2011 erstmals auf<br />

US-Tournee. Man arbeitete über die Jahre<br />

mit namhaften Künstlern wie Uri Caine, Mike<br />

Patton, Ernst Reijseger, Jimi Tenor und Toots<br />

Thielemans und hat stolze 20 Alben veröffentlicht.<br />

So unberechenbar ihre Musik ist,<br />

so verlässlich ist die Qualität dieser Band.<br />

Der Kopf und Motor hinter Flat Earth<br />

Society heißt Peter Vermeersch. Der 62-Jährige<br />

gilt als einer der „Paten“ der neueren<br />

belgischen Musikszene. Ursprünglich klassischer<br />

Klarinettist, profilierte er sich in den<br />

Neunzigern als Leader der Progrock-Band<br />

X-Legged Sally und als Produzent der Indie-<br />

Rock-Formation dEUS. Seit rund 20 Jahren,<br />

so schätzt Vermeersch, mache die Arbeit<br />

mit FES rund 80 Prozent seiner Aktivitäten<br />

aus. Denn für seine zahlreichen Theater- und<br />

Filmprojekte mobilisiert er mit Vorliebe diese<br />

Band.<br />

„Vor der Pandemie zielten wir immer auf<br />

etwa 30 Auftritte pro Jahr“, sagt Vermeersch.<br />

„Mit einer Theatertournee erreicht man<br />

diese Zahl natürlich leichter, als wenn man<br />

Einzelkonzerte organisieren muss. Zu Beginn<br />

wollte ich einfach nur ein paar befreundete<br />

Musiker zusammenbringen und mit ihnen<br />

gemeinsam spielen. Es gab kein Konzept<br />

oder musikalisches Programm <strong>–</strong> nur die<br />

Musiker selbst mit ihren jeweiligen Vorlieben,<br />

Erfahrungen, Talenten und Defiziten.<br />

Wir halten die Maschine am Laufen, indem<br />

wir ständig neue Stücke komponieren, neue<br />

Ideen und Herausforderungen angehen und<br />

für Produktionen sorgen. Gleichzeitig haben<br />

wir eine prägnante, effiziente Finanz- und<br />

Organisationsstruktur aufgebaut. Außerdem<br />

werden wir von der flämischen Regierung<br />

und der Stadt Gent unterstützt.“<br />

Eine von vielen Unternehmungen<br />

startete 2016. Peter Vermeersch und der<br />

Gitarrist David Bovée, der in den Anfangsjahren<br />

(bis 2003) Mitglied von FES gewesen war,<br />

erhielten den Auftrag, ein Bühnenprojekt mit<br />

Musikern aus Belgien und Gambia auf die<br />

Beine zu stellen. Die Sache wurde in Banjul<br />

(Gambia) erarbeitet und in Ostende (Belgien)<br />

aufgeführt <strong>–</strong> ein satirisches Performance-<br />

Spektakel mit sozialkritischen Texten und wild<br />

tobender Musik. Der Titel: Boggamosta <strong>–</strong> das<br />

Wort ist eine westafrikanische Adaption von<br />

„Bürgermeister“ („burgemeester“). „Danach<br />

überlegten wir, wie wir dieses Repertoire<br />

weiterentwickeln und erweitern könnten“,<br />

erzählt Vermeersch. „Es hatte einfach zu<br />

viel Spaß gemacht. Natürlich bot es sich an,<br />

das Material mit FES auszuarbeiten. Und so<br />

kam David wieder in die Band zurück.“ 2018<br />

erschien das Projekt als FES-Album. Und es<br />

inspirierte Vermeersch und Bovée, weitere<br />

Stücke für dieses Performance-Konzept zu<br />

schreiben. So entstand Boggamosta III <strong>–</strong> die<br />

Nummer zwei sparte man sich einfach.<br />

Mit den Boggamosta-Projekten scheint<br />

eine neue Phase in der FES-Geschichte<br />

zu beginnen. „Wir mussten für die Band<br />

einen neuen Sound und eine neue Bühnenpräsenz<br />

entwickeln. Wir brauchten eine<br />

heiße, groovende, pulsierende Atmosphäre,<br />

Gesang wurde wichtig, Elektronik kam<br />

dazu. Die Notenständer verschwanden, die<br />

Solisten gingen nach vorne <strong>–</strong> alles frontal<br />

zum Zuschauer.“ Den zehn neuen Songs auf<br />

Boggamosta III <strong>–</strong> fünf sind von Vermeersch,<br />

fünf von Bovée <strong>–</strong> liefert die Bigband eine<br />

ebenso rockende wie virtuose Basis. Solistische<br />

Highlights setzen u.a. Bruno Vansina<br />

(bar-s) und Peter Vermeersch (cl). Obendrein<br />

glänzen die Musiker der Band in jedem Stück<br />

als Vokalisten mit originellen Refrains und frechem<br />

Sprechgesang an der Grenze zum Rap.<br />

Boggamosta III ist eine fulminante, bizarre<br />

Bigband-Polit-Revue von überwältigender<br />

Energie. „Wir wollen ein anderes Publikum<br />

erreichen, nicht unbedingt die Jazzleute“,<br />

sagt Vermeersch. „Aber um diese Musik zu<br />

spielen, braucht man Musiker mit Jazzkönnen<br />

und Jazzhaltung. Und darum das FES.“<br />

Die Songs der Revue geben ein<br />

düster-sardonisches Bild der aktuellen<br />

menschlichen Komödie zwischen Künstlicher<br />

Intelligenz und globaler Verdummung.<br />

Vermeersch sagt: „Die Texte sind in der<br />

Tat mit rabenschwarzer Tinte geschrieben.<br />

Sie sind eine Mischung aus den kranken<br />

Gedanken, die in den Köpfen verrückter<br />

narzisstischer Staatsführer gären, und einer<br />

sarkastischen Reaktion darauf. Es fühlt sich<br />

gut an, sich über diese junge Kreatur namens<br />

Homo sapiens lustig zu machen.“ Jetzt fehlt<br />

eigentlich nur noch eins: das Live-Publikum.<br />

Denn Boggamosta III gehört dringend auf die<br />

Bühne. „Die Pandemie zwang uns zu einer<br />

ziemlich komplizierten Übe- und Aufnahmemethode.<br />

Es waren nie mehr als fünf Leute im<br />

Raum <strong>–</strong> mit zwei Metern Abstand, Belüftung<br />

und mit Atemmasken, wenn man den Platz<br />

verließ. Es wird sehr aufregend für uns, wenn<br />

wir dieses Repertoire endlich im wirklichen<br />

Leben spielen können.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Flat Earth Society: Boggamosta III<br />

(Igloo Records / Broken Silence)<br />

10 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


JAKOB BRO<br />

Dreidimensionaler<br />

Traum<br />

© Mike Højgaard<br />

Jakob Bros Musik<br />

klingt, als müsse er<br />

sich keine Sorgen<br />

machen. Sie muss und<br />

will niemandem etwas<br />

beweisen, und sie ist frei<br />

von althergebrachten<br />

Ordnungsvorstellungen<br />

wie Rhythmus/Melodie<br />

oder Frontline/Begleitung<br />

oder Bandleader/<br />

Sideman. Alles, wofür<br />

sie um Aufmerksamkeit<br />

wirbt, ist: Klang. Und wie<br />

etwas klingt, hört man am<br />

besten, wenn es nicht so<br />

laut ist.<br />

12 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Von Hans-Jürgen Linke<br />

Das erste Stück arbeitet an der Rekonstruktion<br />

eines Traumes, „Reconstructing a<br />

Dream“. Es ist reine Programmmusik. Wer<br />

einen Traum rekonstruiert, beschäftigt sich<br />

mit flüchtigen Motiven, Übergangsphänomenen,<br />

unterschiedlichen Interpretationen,<br />

die sich tatsachenfreien Vorgängen annähern<br />

und sich, ohne anzustoßen, in einem<br />

feinen Nebel bewegen, der die sogenannte<br />

(und nicht ganz erwünschte) Wirklichkeit<br />

noch verhüllt. Was mag geschehen sein?<br />

Man hört, sehr leise, einen tiefen, weich<br />

angeschlagenen Gitarrenton, drei Sekunden<br />

später setzt eine Melodie in einem<br />

exotischen Modus ein, offenbar auf einer<br />

Shakuhachi gespielt. Dann eine melodische<br />

Phase, in der die Gitarre sich unaufdringlich<br />

neben der Flöte bewegt.<br />

Moment mal: Flöte? Davon steht nichts im<br />

Line-up. Stattdessen steht da: „Arve Henriksen,<br />

trumpet“.<br />

Manchmal ist es leicht, auf Arve<br />

Henriksen hereinzufallen, so präzise und<br />

aufmerksam hat er am Klangspektrum<br />

seines Trompetenspiels gearbeitet. Aber<br />

die Aufmerksamkeit ist nicht nur geweckt,<br />

sondern gleich auch angespannt. Wer ein<br />

Album mit Arve Henriksen einspielt, weiß<br />

in der Regel, dass es für viele Hörerinnen<br />

und Hörer automatisch ein Arve-Henriksen-<br />

Album sein wird. Seine melodischen Ideen<br />

sind so intensiv, seine Artikulationen so<br />

ungewöhnlich und variabel, dass es fast<br />

unmöglich ist, ihn zunächst nicht im Vordergrund<br />

zu hören.<br />

Jakob Bro hat das natürlich gewusst<br />

und billigend in Kauf genommen. Es macht<br />

gar nichts, sagt er, wenn ein anderer Musiker<br />

im Focus steht. Arve Henriksens Art zu<br />

spielen ist so speziell, dass man sowieso<br />

immer genau hinhört. Und wer genau hinhört,<br />

merkt bald auch, wie sich Gitarre und<br />

Schlagzeug dazu, daneben, darunter, dabei<br />

verhalten. Henriksen wird eingebunden in<br />

eine Musik, die ihre Präsenz und ihre Tiefe<br />

durch dynamische Behutsamkeit und durch<br />

intensiven und experimentellen Klangsinn<br />

erhält.<br />

„Das erste Mal, dass ich Arve persönlich<br />

getroffen habe“, sagt Jakob Bro, „war<br />

beim Frühstück im Hotel in Lugano, bevor<br />

wir ins Studio gegangen sind.“ Den Musiker<br />

Arve Henriksen hat er allerdings schon<br />

vorher lange gekannt. Eine gute Woche vor<br />

dem Aufnahmetermin hat er ihm die Stücke<br />

zugeschickt, in Form von Noten, Sounds,<br />

Melodien und Phrasierungen, auf einer<br />

akustischen Gitarre mehr angedeutet als<br />

präzise aus- und vorgeführt. Arve sei dann<br />

sehr gut vorbereitet gewesen auf das, was<br />

ihn erwartete und was von ihm erwartet<br />

wurde.<br />

Jazz-Gitarristen sind, auch wenn sie<br />

in die Kategorie der Klangforscher oder<br />

der Melodiker gehören, normalerweise mit<br />

mehr Noten pro Minute und einer anderen<br />

Dynamik zu vernehmen als Jakob Bro. Er<br />

zeigt sich auf diesem Album als außerordentlich<br />

zurückhaltender Musiker. Beim<br />

Vergleich mit Klischees vom landläufigen<br />

Berufsbild des Jazz-E-Gitarristen lacht<br />

er fröhlich. „Ich versuche nicht, meine<br />

Musik in der Band durchzusetzen oder zu<br />

behaupten. Ich bin eher bestrebt, Raum zu<br />

lassen oder Raum zu geben und zu sehen,<br />

was daraus entstehen kann.“ Das fördert<br />

die Konzentration, sowohl in der Band beim<br />

Spielen wie auch des geneigten Publikums<br />

beim Hören der Aufnahmen, und schnell<br />

wird klar, wie sehr Jakob Bro und Jorge<br />

Rossy am Gesamtklang mitarbeiten.<br />

Die Kompositionen des Albums Uma<br />

Elmo sind filigrane und überraschende Gebilde.<br />

Der Song „To Stanko“ ist ein Requiem<br />

für den 2018 verstorbenen polnischen Trompeter<br />

Tomasz Stanko. Jakob Bro hat lange<br />

mit ihm gearbeitet, war mit ihm befreundet<br />

und nennt ihn unter seinen wichtigsten<br />

Einflüssen. „Mit einem Ton konnte er<br />

eine Geschichte erzählen“, sagt er. Arve<br />

Henriksen kann und tut das auch, aber sein<br />

verhangener, lyrischer und immer in kleinen<br />

Nebenbemerkungen klanglich verfremdeter<br />

Ton klingt auch hier nie, als wolle er einfach<br />

ein guter Trompeter sein oder gar Stanko<br />

nachahmen. Dass „To Stanko“ nach genau<br />

vier Minuten und 33 Sekunden endet, also<br />

jener Zeitdauer, die John Cage zum Titel<br />

seiner (oft gespielten, dabei ungebrochen<br />

rätselhaften) Komposition „4:33“ gemacht<br />

hat, sei purer Zufall, sagt Jakob Bro. Aber<br />

ein wunderbarer Zufall, über den nicht<br />

nur Cage, der Erfinder der künstlerischen<br />

Zufallsoperationen, wohl ziemlich erfreut<br />

gewesen wäre.<br />

Auch wenn <strong>–</strong> wie in dem längsten<br />

Stück des Albums, „Housework“ <strong>–</strong> die<br />

klangliche Vielgestaltigkeit zum Teil in munteres<br />

Zusammenkleben auszuarten scheint,<br />

wirkt hier nichts wie Übermut. Die Subtilität<br />

und die nie aufgegebene dynamische<br />

Zurückhaltung machen jede Klang-Collage<br />

zu einer intensiven, mit dreidimensionalem<br />

Raumgefühl gestalteten Konzentrations-<br />

Musik.<br />

Dass der „Morning Song“ einmal in<br />

der Mitte (einige Zeit nach der eröffnenden<br />

Traum-Rekonstruktion) auftaucht und<br />

später in einer zweiten Version das Album<br />

beschließt, zeigt, dass Jakob Bro, bei aller<br />

avantgardistischen Raffinesse seiner Musik,<br />

auch ein warmherziger Romantiker ist.<br />

Und seine Ansichten vom „Slaraffenland“<br />

sind pure Schwelgerei.<br />

Aktuelles Album:<br />

Jakob Bro: Uma Elmo (ECM / Universal)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 13


Literatur<br />

Von Guido Diesing<br />

Wilfried<br />

Schaus-Sahm<br />

Weltstars im<br />

Stahlwerk<br />

Als ab den 90er Jahren plötzlich Stars aus Jazz und Weltmusik<br />

zu Konzerten nach Duisburg kamen, die zuvor jahrzehntelang<br />

einen großen Bogen um das westliche Ruhrgebiet gemacht<br />

hatten, war dies vor allem einem Mann zu verdanken: Als Erfinder<br />

und künstlerischer Leiter des Traumzeit-Festivals schuf<br />

Wilfried Schaus-Sahm eine Plattform, auf der Musiker von<br />

Weltrang in einem einzigartigen Industrie-Ambiente auftraten.<br />

Wie es ihm nach Anfängen als Mitglied eines kleinen Jazz-<br />

Vereins in einem Stadtteilkulturzentrum gelang, später Künstler<br />

wie Herbie Hancock, Juliette Gréco, Laurie Anderson oder Sonny<br />

Rollins (eine auch nur annähernd vollständige Liste würde jeden<br />

Rahmen sprengen) nach Duisburg auf das Gelände eines stillgelegten<br />

Stahlwerks zu bekommen, und was er mit ihnen erlebt hat,<br />

erzählt Schaus-Sahm nun in seinem Buch Grappellis Geigenkasten.<br />

Mal im Plauderton, mal mit eingestreuten Hintergrundinfos,<br />

reiht er Anekdoten aus über 30 Jahren als Konzertveranstalter<br />

und Festivalmacher aneinander. Bisweilen scheint er sich im<br />

Nachhinein selbst über die eigene Naivität, aber auch die gehörige<br />

Portion Chuzpe zu wundern, mit der er manches Projekt anging<br />

und vielleicht gerade deshalb am Ende Erfolg hatte.<br />

Es ist ein Rückblick auf eindrucksvolle Begegnungen, aber<br />

auch vereinzelte menschliche Enttäuschungen. Schaus-Sahm ermöglicht<br />

dem Leser nicht nur einen schlaglichtartigen Blick hinter<br />

die Kulissen großer Bühnen, sondern auch auf die Abläufe und<br />

Zwänge kommunaler Kulturpolitik, die er nach seinem Wechsel<br />

aus der freien Szene ins städtische Kulturamt kennenlernte.<br />

Auf knapp 200 Seiten, angereichert und aufgelockert mit<br />

zahlreichen Fotos der beschriebenen Konzerte, erfährt man<br />

Nähkästchen-Details über die Eigenheiten von Künstlern wie Van<br />

Morrison, der ein Hotelzimmer mit Spezialmatratze, aber ohne Minibar<br />

zur Bedingung für seine Zusage machte, und schüttelt den<br />

Kopf über den Tourmanager von Jan Garbarek, der eine Szene<br />

machte, weil beim Catering nicht die verlangte Mineralwassermarke<br />

auf dem Tisch stand. Immer wieder wird der große Respekt<br />

des Festivalmachers für Musiker deutlich, die ohne Allüren allein<br />

durch ihre Persönlichkeit und natürliche Autorität überzeugten.<br />

Er gewährt Einblicke in die Vorarbeiten und Umwege, die es<br />

bisweilen brauchte, um mit Auftragsarbeiten eigene Akzente zu<br />

setzen, und verschweigt auch nicht Pläne, die er aus verschiedensten<br />

Gründen nicht realisieren konnte, so z.B. ein ambitioniertes<br />

Tanztheaterstück über Miles Davis’ Jack Johnson-Album, für<br />

das John McLaughlin, Bill Laswell und Robert Wilson (als Regisseur)<br />

bereits ihr Mitwirken zugesagt hatten, dessen Finanzierung<br />

aber nach vielversprechenden Signalen bedauerlicherweise<br />

letztlich doch im NRW-Kultusministerium versandete. Was das<br />

hätte werden können!<br />

Wilfried Schaus-Sahm: Grappellis Geigenkasten <strong>–</strong> Konzertanekdoten.<br />

192 Seiten, Books on Demand, Norderstedt, 24,99 Euro<br />

Viele Alben, die in der Pandemie<br />

entstanden sind, haben eine<br />

melancholische bis düstere Stimmung.<br />

Erfrischend anders ist Christian Pabsts<br />

neues Album Balbec.<br />

Von Thomas Bugert<br />

Als sich vor über einem Jahr<br />

die Corona-Pandemie global<br />

ausbreitete und es mit dem<br />

Lockdown von heute auf<br />

morgen keine kulturellen Veranstaltungen<br />

mehr gab, veränderte<br />

sich auf einen Schlag<br />

auch das Leben der Künstler.<br />

Christian Pabst nutzte diese<br />

Zeit zum Lesen und widmete<br />

sich Marcel Prousts Auf der<br />

Suche nach der verlorenen<br />

Zeit. Auf über 4.000 Seiten<br />

schreibt der Ich-Erzähler über<br />

seine Kindheit zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts in einem<br />

Badeort in Frankreich.<br />

Alle in Prousts Roman<br />

beschriebenen Orte gibt<br />

es auch in der realen Welt,<br />

einzige Ausnahme ist der<br />

Badeort Balbec, der frei erfunden<br />

ist und damit in einer<br />

imaginären Welt liegt. „Ich<br />

denke, das Buch hat mich<br />

auch inspiriert, weil ich es in<br />

einem Moment gelesen habe,<br />

in dem die Zeit auf einmal<br />

komplett stillgestanden hat“,<br />

erzählt Christian Pabst über<br />

sein neues Album. „Vor der<br />

Pandemie war ich eigentlich<br />

im Dauerstress. Ich war die<br />

ganze Zeit nur am Arbeiten,<br />

Reisen und Spielen. Von heute<br />

auf morgen hat sich alles<br />

verändert. Vorher sind zwei<br />

bis drei Wochen wie im Flug<br />

vergangen. Auf einmal hat<br />

sich die Zeitspanne angefühlt<br />

wie drei Jahre. Ich denke, das<br />

Buch hat mich auch angesprochen,<br />

weil es viel darum<br />

geht, wie man Zeit empfindet.<br />

In dem Roman geht es um<br />

jemanden, der ein Buch<br />

schreiben will, aber nicht anfangen<br />

kann. Man folgt seinen<br />

ganzen Erfahrungen, und erst<br />

auf der allerletzten Seite hat<br />

er eine Offenbarung, in der er<br />

Vergangenheit, Zukunft und<br />

Gegenwart in einem Moment<br />

wahrnimmt. Das öffnet ihm<br />

die Augen und er versteht,<br />

was er machen muss. Das ist<br />

ein Teil, der mich sehr interessiert<br />

hat. Die sieben Stücke<br />

auf dem Album sind für mich<br />

sieben Sensationen in einem<br />

Moment. Die Titel des Albums<br />

sind eine Reise. Es beginnt<br />

mit ,Revelation‘ und führt dich<br />

über ,Snake‘ nach ,Balbec‘.<br />

Nach ,Snow‘ braut sich ein<br />

Sturm zusammen. ,Golden‘ ist<br />

für mich eine Assoziation mit<br />

der Sonne. Mit ,Flight‘ geht<br />

es dann weiter zur nächsten<br />

Reise oder CD.“<br />

Auch wenn sich Pabst<br />

einem real existierenden Roman<br />

widmet, wäre es falsch,<br />

die Musik als Programmmusik<br />

zu bezeichnen, die die<br />

literarische Vorlage musikalisch<br />

umsetzt. Der Roman ist<br />

vielmehr ein Ausgangspunkt,<br />

von dem aus sich Pabst aufgemacht<br />

hat. Der Groove des<br />

Titelsongs „Balbec“ würde<br />

demnach den Badeort auch<br />

nicht wie im Roman in der<br />

Normandie verorten, sondern<br />

in südlicheren Gefilden.<br />

Neben einer stark lyrisch<br />

ausgeprägten Seite in Pabsts<br />

Spiel zeichnen sich die Kompositionen<br />

durch Melodien<br />

und Grooves aus, die einen<br />

hohen Wiedererkennungswert<br />

haben und sich im Ohr<br />

festsetzen. „Melodisches<br />

Spiel ist mir sehr wichtig,<br />

auch in der Improvisation. Ich<br />

finde es immer interessant,<br />

wenn eine Komposition improvisiert<br />

klingt und Improvisationen<br />

komponiert. Ich finde<br />

es spannend, diese beiden<br />

Welten miteinander zu vermischen<br />

und den Aspekt des<br />

Geschichtenerzählens, der in<br />

der Komposition enthalten ist,<br />

in der Improvisation weiterzuführen“,<br />

erzählt Pabst.<br />

Um die Aspekte des Storytellings<br />

und der verwischten<br />

Grenzen in einem Trio<br />

umsetzen zu können, bedarf<br />

es der entsprechenden Mitmusiker.<br />

Mit André Nendza an<br />

Kontra- und E-Bass sowie Erik<br />

Kooger am Schlagzeug hat<br />

14 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


CHRISTIAN PABST<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

© Patrycja Rozwora<br />

Pabst die Musiker gefunden,<br />

mit denen er dieses Konzept<br />

umsetzen kann. „Ich sage<br />

ihnen oft auch meine Assoziationen<br />

oder Bilder“, erzählt<br />

Pabst. „Meistens ist es so,<br />

dass ich eine Idee liefere und<br />

wir sie dann im Zusammenspiel<br />

weiterentwickeln. Gerade<br />

in einer kleinen Besetzung wie<br />

dem Klaviertrio ist die Balance<br />

zwischen Komposition und Improvisation<br />

sehr wichtig. Was<br />

schreibt man auf <strong>–</strong> und was<br />

schreibt man gerade nicht auf.<br />

Für mich ist es sehr wichtig,<br />

dass die intuitive Verbindung<br />

zu einer Idee da ist. Ich finde<br />

das wichtiger als die Töne, die<br />

gespielt werden. Die anderen<br />

beiden müssen auch in dieser<br />

Welt sein. Da sie offen sind für<br />

die inspirative Arbeit und die<br />

Frage nach der Welt, die wir<br />

hier kreieren wollen, macht es<br />

mir unfassbar Spaß, mit ihnen<br />

zu arbeiten.“<br />

Intuition ist für Pabst auch<br />

beim Komponieren das Wichtigste:<br />

„Für mich ist Komponieren<br />

auch immer ein harter<br />

Prozess. Wenn mich eine Idee<br />

selbst nicht berührt, finde ich<br />

es auch langweilig, mich damit<br />

auseinanderzusetzen. Wenn<br />

ich eine Idee habe, von der<br />

ich das Gefühl habe, dass in<br />

ihr Bedeutung ist und sie mir<br />

etwas sagt, dann schreibe<br />

ich sie nie auf. Wenn ich mich<br />

dann einen Tag später noch<br />

erinnere, dann habe ich das<br />

Gefühl, dass da etwas ist, mit<br />

dem man arbeiten kann. Man<br />

muss auch den Mut haben,<br />

Sachen wegzuwerfen“, erklärt<br />

Pabst seinen Kompositionsansatz<br />

für Balbec. Man kann<br />

das Album als direkte Weiterführung<br />

seines vorigen Albums<br />

Inner Voice hören und verstehen.<br />

So resümiert Pabst: „Die<br />

beiden CDs hängen zusammen.<br />

Balbec ist die extrovertierte<br />

Variante von Inner Voice. Ich<br />

wollte kein düsteres Pandemieprojekt<br />

machen. Vielmehr<br />

will ich eine hoffnungsvollere<br />

Botschaft verbreiten. Die<br />

Musik soll Leuten Optimismus<br />

geben.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Christian Pabst: Balbec<br />

(Jazzsick Records / Membran)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 15


ISFAR<br />

SARABSKI<br />

Auf<br />

Rachmaninoffs<br />

Spuren<br />

© Peter Hönnemann<br />

16<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Tradition und Moderne <strong>–</strong> beides hat in der Musik von Isfar Sarabski einen festen Platz.<br />

Hier das fast schon als klassisch zu bezeichnende harmonische und melodische Konzept<br />

eines ausgebildeten Konzertpianisten, dort die rhythmischen Freiheiten eines Jazzers, der<br />

sein Erbe nur zu gerne in die Zukunft integriert. Vor etwa zehn Jahren hat der charmante<br />

Mann aus Aserbaidschans Hauptstadt Baku damit begonnen, die Bühnen dieser Welt zu<br />

erobern. Jetzt hat er endlich sein atemberaubend schönes Debütalbum Planet veröffentlicht.<br />

Von Thomas Kölsch<br />

Fast schon melancholisch klingen<br />

die Akkorde, verträumt und<br />

romantisch-sakral wie ein Gebet<br />

in Moll. Dann auf einmal Arpeggios,<br />

perlend und treibend, die<br />

Melodie zum Strom anschwellen<br />

lassend. Könnte Rachmaninoff<br />

sein. Ist aber Sarabski. Der<br />

31-Jährige, der nach mehreren<br />

Aufnahmen mit Rain Sultanov<br />

jetzt mit Planet sein erstes eigenes<br />

Album vorlegt, ist von dieser<br />

Verwirrung nicht enttäuscht.<br />

Ganz im Gegenteil, er ist stolz auf<br />

den Vergleich zwischen der Solo-<br />

Aufnahme seines Titelstücks<br />

und dem Werk des russischen<br />

Komponisten. „Ich liebe klassische<br />

Musik, vor allem die von<br />

Rachmaninoff“, sagt er. „Was er<br />

an Klaviermusik geschrieben hat,<br />

ist in meinen Augen pure Magie.“<br />

Und die webt nun auch Sarabski.<br />

Immer wieder taucht er in das romantische<br />

Erbe ein, bedient sich<br />

der entsprechenden Tonsprache,<br />

nur um sie in mehreren seiner<br />

Stücke im nächsten Moment an<br />

einen Jazz irgendwo zwischen<br />

dem Esbjörn Svensson Trio und<br />

Brad Mehldau zu überführen.<br />

„Meiner Meinung nach kennt<br />

Musik keine Grenzen. Alles ist<br />

möglich, solange die Menschen<br />

dadurch berührt werden.“<br />

Diese Einstellung ist Sarabski<br />

quasi in die Wiege gelegt worden.<br />

„Mein Vater ist ein großer<br />

Musikliebhaber, der sowohl Jazz,<br />

Rock, Soul und Funk als auch<br />

Klassik schätzt und eine beträchtliche<br />

Plattensammlung besitzt.<br />

Mit ihr bin ich aufgewachsen.<br />

Ich kann mich noch gut daran<br />

erinnern, wie ich zum ersten<br />

Mal Dizzy Gillespie hörte, oder<br />

auch Bach oder Chopin. Schon<br />

damals wollte ich herausfinden,<br />

wie diese Musik Bilder in meinem<br />

Kopf entstehen lassen konnte.“<br />

Unterstützt wurde er dabei von<br />

seiner Mutter, einer Geigenlehrerin,<br />

<strong>–</strong> und von den Geschichten<br />

über seinen Urgroßvater Huseyngulu<br />

Sarabski, einen berühmten<br />

Opernsänger, Schauspieler und<br />

Theaterautor, der 1908 die Hauptrolle<br />

in der ersten orientalischen<br />

Oper der Welt übernahm (Uzeyir<br />

Hajibeyovs Leyli and Majnun) und<br />

seitdem zu den Gründer vätern<br />

des Genres gezählt wird. Ihm zu<br />

Ehren hat der 31-Jährige bei dem<br />

epischen „The Edge“ auch die<br />

Tar mit einbezogen, ein Saiteninstrument<br />

aus seiner Heimat. „Mein<br />

Großvater hat die Tar gespielt“,<br />

erklärt Sarabski, „und durch ihren<br />

einzigartigen Klang bringt sie<br />

eine neue Qualität in die Musik.<br />

Außerdem sind Traditionen wichtig,<br />

denn auf ihnen fußt ein jeder<br />

Mensch, ob er sie nun ablehnt<br />

oder auslebt. Sie zu respektieren,<br />

ist daher ein Zeichen des<br />

Respekts.“<br />

Gleichzeitig scheut Sarab ski<br />

sich nicht, das Althergebrachte<br />

neu zu interpretieren: Zwischen<br />

den acht Eigenkompositionen<br />

(„Planet“ liegt sowohl als<br />

Soloaufnahme als auch in einer<br />

furiosen Triofassung vor) findet<br />

sich eine rasante Version von<br />

Tschaikowskis Schwanensee-<br />

Thema, an der auch Jacques<br />

Loussier seine Freude gehabt hätte.<br />

„Ich mag dieses Ballett sehr“,<br />

bekennt Sarabski, „aber ich<br />

wollte einmal sehen, wie die Musik<br />

mit einem Jazz-Feeling wirkt.<br />

Die Idee für das Arrangement ist<br />

letztlich die logische Folge meiner<br />

fortwährenden Suche nach den<br />

Parallelen zwischen moderner<br />

und klassischer Musik.“<br />

Eine Suche, auf der ihn<br />

Drummer Alexander Mashin und<br />

Bassist Makar Novikov kongenial<br />

unterstützen. „Ich bin sehr froh,<br />

dass die beiden in den vergangenen<br />

zehn Jahren diesen Weg mit<br />

mir gegangen sind“, so Sarabski.<br />

„Es war nicht immer leicht, weil<br />

ich meine Arbeit überaus kritisch<br />

betrachte und immer wieder<br />

etwas zu verbessern hatte.<br />

Gleichzeitig habe ich diese Zeit<br />

gebraucht, um Erfahrungen zu<br />

sammeln und meine Melodien<br />

sowie meine Vorstellungskraft zu<br />

schärfen. Jetzt bin ich wirklich<br />

sehr zufrieden mit dem Ergebnis.“<br />

Das kann sich hören lassen.<br />

Obwohl Planet wie ein Album<br />

aus einem Guss erscheint, gibt<br />

es doch an jeder Ecke etwas zu<br />

entdecken: arabische Skalen<br />

zwischen europäischem<br />

Bar-Jazz bei „Novruz“, funkige<br />

Grooves bei „G-Man“, ein<br />

starkes Bass-Solo in der Ballade<br />

„Limping Stranger“, ein paar<br />

Spritzer Hollywood-Sinfonik im<br />

Opener „Déjà-vu“ <strong>–</strong> und immer<br />

wieder das virtuose jubilierende<br />

Spiel von Isfar Sarabski, dem<br />

man sich einfach nicht entziehen<br />

kann. Und Sarabski plant<br />

bereits den nächsten Schritt.<br />

Die Zwangspause durch die<br />

Pandemie habe er genutzt, um<br />

sich mit elektronischer Musik<br />

zu beschäftigen, sagt er. „Ich<br />

mag diese Sounds total gerne,<br />

verstehe sie allerdings noch<br />

nicht komplett“, schränkt er<br />

ein. „Nichtsdestotrotz arbeite<br />

ich gerade an einem Album,<br />

das Electronica, Jazz und auch<br />

Klassik miteinander verbindet.“<br />

Außerdem hofft er natürlich, bald<br />

wieder live auftreten zu können.<br />

„Es ist schön, im Studio zu sitzen<br />

und die eigenen Kompositionen<br />

so lange einzuspielen, bis sie so<br />

klingen, wie ich sie mir vorgestellt<br />

habe“, erklärt er. „Aber erst<br />

durch die Energie des Publikums<br />

werden sie vollkommen.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Isfar Sarabski: Planet (Warner)


LÜCKER<br />

SCHICKENTANZ<br />

Blind Date mit Folgen<br />

Ich atme, also bin ich. Blechbläser dürften<br />

den Satz, ohne zu zögern, unterschreiben.<br />

Die Atmung ist nicht nur wichtig für die<br />

Sauerstoffzufuhr, sondern auch Stilmittel<br />

zum Erzeugen von Klängen, Melodien<br />

und Geräuschen. Der Posaunist Andreas<br />

Schickentanz hat sich mit der Materie intensiv<br />

auseinandergesetzt und die Erkenntnisse<br />

auf seine Musik übertragen. Seine mit dem<br />

Schlagzeuger Björn Lücker eingespielte Duo-<br />

CD Suspicion About the Hidden Realities<br />

of Sound widmet sich der Frage: Wie<br />

entstehen Klänge und welche bewussten und<br />

unbewussten Entscheidungen stehen dahinter?<br />

Von Holger Pauler<br />

Der Name der CD, verrät Schickentanz,<br />

geht auf ein Buch von<br />

Robert Boyles zurück: Suspicion<br />

About the Hidden Realities of<br />

Sound. Darin hat dieser unter<br />

anderem die Eigenschaften<br />

von Gasen und Luft erforscht.<br />

„Mehr als einmal hatte ich<br />

den Verdacht, dass Luft ein<br />

paar versteckte Qualitäten<br />

oder Kräfte hat, denn Luft ist<br />

nicht, wie viele glauben, eine<br />

einfache elementare Substanz,<br />

sondern eine wilde Mischung“,<br />

heißt es dort. „Ich fand die Idee<br />

interessant und habe sofort<br />

Parallelen zu unserer Musik<br />

entdeckt“, sagt Schickentanz.<br />

Letztlich gehe es nicht nur<br />

darum, Klänge zu entwickeln,<br />

sondern auch darum, sie zu<br />

entschlüsseln.<br />

Ein Motto lautet dabei:<br />

Reduktion statt Überfrachtung.<br />

Flächendeckende Ambient-<br />

Sounds überwiegen, nur selten<br />

unterbrochen von ekstatischen<br />

Momenten. Das Schlagzeug<br />

wird zwischendurch zum<br />

Schlagwerk, es rauscht und<br />

quietscht, Klänge werden<br />

verstärkt und verzerrt. Bandmaschinen<br />

kommen ebenso zum<br />

Einsatz wie elektronische Hilfsmittel.<br />

Loops und Phaser laden<br />

dazu ein, sich zurückzulehnen.<br />

Auch wenn die Stücke in der<br />

Form frei sind, unterscheidet<br />

sich das Duo erheblich von der<br />

klassischen freien Improvisation,<br />

da mehr die Suche nach<br />

Klängen im Vordergrund steht<br />

als die totale Auflösung von<br />

Strukturen. Da passt es ins<br />

Klangbild, dass Schickentanz<br />

den Trompeter Jon Hassell als<br />

Vorbild nennt, einen Pionier des<br />

Harmonizer-Sounds, der die<br />

Töne um vielschichtige Harmonien<br />

und Oktaven erweitert und<br />

verfremdet.<br />

Der erste Titel, „Forrest“,<br />

wird von Echos aus dem Off bestimmt,<br />

analoge Sounds wechseln<br />

sich mit elektronischen<br />

Verfremdungen ab, „Water“<br />

beginnt mit Geräuschen auf<br />

der Posaune, die klingen, als<br />

kämen sie vom Meeresgrund:<br />

Es tröpfelt und rauscht. „The<br />

Beast Under My Bed“ beginnt<br />

ebenfalls zurückhaltend leise,<br />

nimmt aber zwischendurch<br />

bedrohliche, fast paranoide<br />

Ausmaße an. Schweißperlen<br />

werden hörbar, Alien trifft auf<br />

Darth Vader <strong>–</strong> ehe es langsam<br />

ausfadet. „Weird Ostinatos“<br />

wird von einem kurzen viertaktigen<br />

Thema, fast einer Art Jingle,<br />

begleitet, um das sich die<br />

Musiker fast tänzelnd herumbewegen.<br />

„Es geht uns vor allem<br />

um Sounds und dynamische<br />

Strukturen“, sagt Schickentanz.<br />

Die Aufnahme wurde<br />

bereits am 6. Oktober 2019 im<br />

Hamburger Studio Milchkettenmusik<br />

produziert. Die Musiker<br />

trafen sich dazu eher zufällig,<br />

obwohl sie sich schon zwei<br />

Jahre kannten. Schickentanz<br />

wollte ursprünglich mit seinem<br />

Quartett in einem Hamburger<br />

Club auftreten, entschied<br />

sich aber aus Kostengründen<br />

dagegen. „Ich habe statt-<br />

© Babette Brandenburg<br />

18<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


dessen vorgeschlagen, solo<br />

aufzutreten, leider waren<br />

die Veranstalter davon nicht<br />

wirklich begeistert“, sagt der<br />

59-jährige Wahl-Kölner und<br />

lacht. Die Veranstalterin schlug<br />

schließlich vor, einen Doppel-<br />

Solo-Abend mit anschließender<br />

Begegnung zu organisieren,<br />

ohne den Namen von Björn<br />

Lücker zu erwähnen. „So sind<br />

wir dann unbekannterweise<br />

zusammengekommen“, sagt<br />

Schickentanz. Ein echtes Blinddate.<br />

Dabei half, dass beide<br />

bereits ein Soloprogramm (plus<br />

Solo-CDs) im Tornister hatten<br />

und in diesem Bewusstsein<br />

aufeinandertrafen.<br />

„Wir verstehen uns nicht<br />

nur musikalisch und persönlich<br />

sehr gut, sondern ziehen auch<br />

am gleichen Strang, was die<br />

unerlässliche Organisation<br />

und neue Ideen für die Band<br />

angeht“, sagt Lücker. Vorschläge<br />

und Visionen würden<br />

umgehend besprochen und<br />

in die Tat umgesetzt. Das sei<br />

seiner Erfahrung nach „nicht<br />

selbstverständlich“. Bei<br />

dem Studiotermin hätten<br />

sie sich schnell auf<br />

bestimmte Strukturen<br />

und Absprachen<br />

geeinigt.<br />

Und obwohl die<br />

Stücke nicht<br />

im klassischen<br />

Sinne notiert<br />

sind, kann man<br />

von Kompositionen<br />

sprechen. „Wenn wir uns jetzt<br />

zu Konzerten treffen, können<br />

wir auf Stücke zurückgreifen,<br />

die wir bereits gespielt haben.<br />

Wenn wir uns zum Beispiel auf<br />

,Forrest‘ oder ,Water‘ einigen,<br />

wissen wir, in welche Richtung<br />

es gehen soll.“<br />

Auf der Bandcamp-Seite<br />

von Andreas Schickentanz<br />

kann man das sehr gut anhand<br />

eines Live-Sets nachhören, das<br />

die beiden im Dezember 2019<br />

erneut im Hamburger Studio<br />

aufgenommen haben. Themen<br />

und Muster, die man von der<br />

CD kennt, tauchen dort wieder<br />

auf, wenn auch leicht modifiziert.<br />

Aber gerade das gehört<br />

schließlich dazu. „Studio und<br />

Live-Auftritte sollen sich ergänzen,<br />

nicht gleichen.“<br />

Neben seinen Solo-Experimenten<br />

unterhält Schickentanz<br />

ein eigenes Quintett. Außerdem<br />

ist er Mitglied im Cologne<br />

Contemporary Jazz Orchestra.<br />

Björn Lücker hat vor zehn Jahren<br />

das Björn Lücker Aquarian<br />

Jazz Ensemble ins Leben<br />

gerufen. Daneben widmet auch<br />

er sich dem Solo-Spiel und<br />

zahlreichen anderen Projekten<br />

vom Trio bis zu Großformationen.<br />

Unter anderem tourte er<br />

im Trio mit Florian Weber und<br />

dem 2020 verstorbenen Gary<br />

Peacock. Und obwohl beide<br />

Musiker vom Jazz kommen,<br />

mögen sie sich keiner Sparte<br />

zuordnen. „Es ist ein<br />

Angebot an ein offenes,<br />

neugieriges Publikum,<br />

das auf der Suche nach neuen<br />

Klängen und Formen ist“, sagt<br />

Schickentanz <strong>–</strong> und das zudem<br />

wissen will, aus welchen<br />

versteckten Kanälen diese<br />

Geräusche gekrochen kommen.<br />

Aktuelles Album:<br />

Lücker Schickentanz: Suspicion About<br />

the Hidden Realities of Sound<br />

(Float Music / Galileo)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 19


Titel<br />

20<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Harald Hoffmann<br />

TAMARA<br />

LUKASHEVA<br />

DIE ALLGEGENWÄRTIGE<br />

GLEICHUNG<br />

„Singet leise, leise, leise.“ Klingt nach einem Wiegenlied.<br />

Ist aber keines, die Sache ist komplizierter. Mit Wiegenliedern<br />

sollen Kinder in den Schlaf gesungen werden, aber hier<br />

erfährt man in der zweiten Strophe, dass Kinder schon<br />

längst schlummern. Allerdings nicht in ihrem Bettchen,<br />

sondern in einem Fluss. Eine gewisse Amaleya weint und<br />

wacht, und beim Anblick dieses doppelten „W“ in „weinen“<br />

und „wachen“ liegt der Gedanke an eine Wagner’sche<br />

Sprachfigur nicht ganz fern.<br />

Von Hans-Jürgen Linke<br />

„Singet leise“ ist pure deutsche Romantik:<br />

ein Gedicht von Clemens von Brentano. Es<br />

bezieht sich auf ein Märchen, in dem ein<br />

Müller, der Rhein und eine traurige Prinzessin<br />

Hauptrollen spielen. Tamara Lukasheva<br />

hat ein Lied daraus gemacht, das ihr<br />

Soloalbum Gleichung eröffnet. „Gleichung“,<br />

das sei, sagt sie, nicht unbedingt mathematisch<br />

gemeint, obwohl sie als Komponistin<br />

viele Berührungen zwischen Musik und<br />

Mathematik kennt. „Gleichung“ soll eher auf<br />

etwas Ausgeglichenes hindeuten, auf eine<br />

Balance, ein Gleichgewicht. Zum Beispiel in<br />

ihrer inneren Verfassung bei der Arbeit an<br />

diesem Album.<br />

Tamara Lukasheva begleitet sich auf<br />

ihrem Album selbst auf dem Klavier. Man<br />

sollte aber nicht den Fehler machen, nur das<br />

Klavier für ein Musikinstrument zu halten,<br />

das es zu beherrschen gilt, und die Stimme<br />

für etwas Gegebenes. Gegeben sind an<br />

der Gesangsstimme nur die organischen<br />

Voraussetzungen, also Stimmbänder, Lunge,<br />

die einschlägige Muskulatur, körperliche<br />

Resonanzräume. Das ist nicht mehr als das<br />

Material, aus dem Sängerinnen und Sänger<br />

ihr Musikinstrument selbst erfinden und<br />

entwickeln müssen. Sängerinnen und Sänger<br />

fügen also der schwer überschaubaren<br />

Menge an Musikinstrumenten noch eines<br />

hinzu, das körpernah und sehr individuell<br />

funktioniert. Das macht viel Arbeit und Mühe.<br />

Am Klavier arbeitet Tamara Lukasheva<br />

auf ihrem Album manchmal zurückhaltend<br />

wie eine klassische Klavierbegleiterin, die<br />

mit ökonomisch eingesetztem, dezentem<br />

Spiel der Gesangstimme den Auftritt inszeniert.<br />

Manchmal aber hört man vom Klavier<br />

auch verfremdete Klanggebungen, perkussive<br />

Phrasen, geräuschhafte Präparationen.<br />

Aber nichts davon breitet sich dominant aus,<br />

nichts davon wird zu einem bestimmenden<br />

Momentum des Albums. Keine Waagschale<br />

neigt sich, alles bleibt ausgeglichen und vielgestaltig.<br />

Eine allgegenwärtige Gleichung.<br />

Die Stimme artikuliert klar, mit weichem<br />

Timbre und oft in geradezu intimer Nähe zum<br />

Mikrofon und damit dem Hörer*innen-Ohr.<br />

Wenn die Artikulation stärker am klassischen<br />

Liedgesang orientiert wäre, dann<br />

würde man diese Lieder eher dem Genre<br />

des europäischen Kunstliedes zurechnen als<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 21


Titel<br />

einer bekannten Spielart des Jazz. Tamara<br />

Lukasheva aber singt ungekünstelt. Sie<br />

phrasiert oft auf markante Weise unklassisch<br />

und mit einer eher subtilen als dramatischen<br />

Dynamik. Manchmal fügt sie auch rhythmisch<br />

akzentuierte Scats in ihre Lieder. Da<br />

ist der Jazz ganz nah.<br />

Aber Gleichung ist dennoch in kaum<br />

einem herkömmlichen Sinn ein Jazzalbum.<br />

Die Lieder suchen und finden ganz und gar<br />

eigene Wege. „Wenn man von der Perspektive<br />

der Jazztradition ausgeht“, sagt<br />

Tamara Lukasheva, „bin ich schon lange<br />

keine Jazzsängerin mehr.“ Allerdings und<br />

andererseits ist der Jazz in den vergangenen<br />

Jahrzehnten stilistisch und idiomatisch<br />

enorm dehnbar und flexibel geworden. Er<br />

hat sich an vielen Orten der Welt von seiner<br />

afroamerikanischen Herkunft emanzipiert,<br />

hat sich mit Traditionslinien weit jenseits<br />

davon verbunden und aus sich heraus eine<br />

unabsehbare Vielfalt von individuellen Wegen<br />

und Variationen erzeugt. So ist der Jazz:<br />

Er überwindet Fremdheit, schafft Berührung<br />

und Austausch, wo zuvor Distanz war. Es<br />

spricht also wenig dagegen, dass Tamara<br />

Lukasheva auch mit und nach diesem Album<br />

weiterhin als Jazzsängerin gelten kann.<br />

Vom erfolgreichen Weglaufen<br />

Tamara Lukasheva ist in Odessa geboren,<br />

der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen<br />

Meer <strong>–</strong> also ziemlich weit entfernt von<br />

afroamerikanischen Weltgegenden. Und<br />

in Odessa ist sie in einer Musikerfamilie<br />

aufgewachsen. Na klar, kann man sich da<br />

zusammenreimen, die Weichen für eine Musikerinnenkarriere<br />

waren also früh gestellt:<br />

eine professionell erfahrene Sängerin im<br />

Jazzgewerbe. Dann begann sie, eigene Musik<br />

zu komponieren. Und damit wurde vieles<br />

anders. Das Komponieren und das Improvisieren<br />

schienen ihr verschiedene Quellen<br />

zu haben. Beim Komponieren, sagt sie, sei<br />

sie weniger vom Jazz beeinflusst als beim<br />

Singen. Eine größere Rolle spiele hier die Art<br />

von Musik, mit der sie aufgewachsen sei,<br />

also die weite Welt der sogenannten klassischen<br />

Musik. Was aber bei ihrem Komponieren<br />

herauskam, erregte in ihrer näheren<br />

Umgebung eher ablehnende Haltungen. Die<br />

Musikschule, an der sie arbeitete, aber auch<br />

die Eltern verfolgten andere Vorstellungen<br />

von Musik und vom Musikerinnen-Beruf und<br />

wollten das, was sich da entwickelte, nicht<br />

unbedingt unterstützen.<br />

Was nun? „Ich bin weggelaufen“, sagt<br />

Tamara Lukasheva. „Ich bin ein freiheitsliebender<br />

Mensch. Ich musste meine Familie<br />

und meine alte Umgebung verlassen und<br />

mich selbst auf die Probe stellen.“ Und:<br />

„Ich wollte an einem Ort leben, wo meine<br />

Art, Musik zu machen, akzeptiert wird.“ So<br />

zog Tamara Lukasheva mit gerade mal 22<br />

Jahren von Odessa nach Deutschland. Sie<br />

ließ sich, nach kurzer Suchbewegung durch<br />

einige Städte des Landes, in Köln nieder. Sie<br />

studierte Jazzgesang an der Hochschule für<br />

Musik und Tanz und begann, eigene Bands<br />

zu gründen und bei anderen Bands mitzuarbeiten.<br />

Sie war oder ist unter anderem<br />

eine der drei Kusimanten, leitet das Tamara<br />

Lukasheva Quartet, arbeitet mit der WDR<br />

Bigband, aber auch im Duo etwa mit dem<br />

Schlagzeuger Dominik Mahnig oder dem<br />

Trompeter Matthias Schriefl. Längst sind ihr<br />

Gesicht, ihre Stimme und ihre Musik in Köln<br />

wohlbekannter, fester und hoch geschätzter<br />

Teil der Musikszene, die sich zu einer vielsprachigen,<br />

bunten und ziemlich niveauvollen<br />

erweiterten Jazzszene entwickelt hat.<br />

Genre-Schranken spielen in der Kölner Szene<br />

eine immer geringere Rolle, freimütig setzt<br />

man sich über solcherlei Zuordnungs-Fragen<br />

hinweg und nimmt neue Ufer in den Blick.<br />

In dieser Umgebung ist Tamara Lukasheva<br />

als Komponistin, Pianistin und vor allem als<br />

Sängerin präsent.<br />

Für ihre Arbeit hat sie mittlerweile<br />

etliche renommierte Preise bekommen, etwa<br />

den Neuen Deutschen Jazzpreis (2017), das<br />

Kölner Horst-und-Gretl-Will-Stipendium<br />

(2018) und den WDR-Jazzpreis für Komposition<br />

(<strong>2021</strong>). Längst ist sie in Köln eingewöhnt<br />

und eingebürgert <strong>–</strong> künstlerisch, beruflich<br />

und auch sprachlich. Dass für eine Sängerin<br />

nicht nur die Musik, sondern auch die<br />

Sprache intensive Aufmerksamkeit braucht,<br />

ist für sie selbstverständlich.<br />

Keine bitteren Fragen<br />

Die Pandemie war in den vergangenen<br />

Monaten unvermeidbar ständiger Begleiter<br />

ihrer Arbeit. Anfangs schienen die Auswirkungen<br />

durchaus bedrohlich. „Ich konnte<br />

fast nichts mehr von dem machen, was ich<br />

machen wollte und wovon ich gelebt habe“,<br />

sagt Tamara Lukasheva. Damit meint sie<br />

vor allem: auf der Bühne stehen, Konzerte<br />

geben, sich anregen lassen und mit anderen<br />

Musikerinnen und Musikern zwanglos und<br />

produktiv zusammenarbeiten.<br />

Andererseits erschienen bald neue<br />

Perspektiven am Horizont. Die waren eng<br />

verbunden mit der Chance, sich auf sich<br />

selbst zu konzentrieren und mehr aus sich<br />

selbst zu schöpfen als aus der Interaktion mit<br />

anderen. Das habe ihr, sagt sie, eine neue<br />

Ausgeglichenheit ermöglicht. Vielleicht enthält<br />

der Text des Liedes „Der Schatten“ eine<br />

Art Schlüssel zu der inneren Haltung, die<br />

sich in der Isolation bewährt hat: „Nur nicht<br />

bittere Fragen tauschen / Antwort ist doch<br />

nur Meeresrauschen“, schreibt Theodor<br />

Fontane.<br />

Auf dem Album, sagt Tamara Lukasheva,<br />

ist nichts zu hören, was nicht ihrer<br />

eigenen Entscheidung und ihren eigenen<br />

Gestaltungsideen entspräche. Dass die<br />

deutsche Romantik mit Brentano und Novalis<br />

dabei eine tragende Rolle spielt; dass Texte<br />

ICH WOLLTE AN EINEM ORT<br />

LEBEN, WO MEINE ART, MUSIK<br />

ZU MACHEN, AKZEPTIERT WIRD.<br />

eine musikalische familiäre Umgebung, mit<br />

zwölf Jahren zum ersten Mal und ziemlich<br />

folgenreich mit Jazz in Berührung gekommen,<br />

Unterricht in Klavier und Gesang, dazu<br />

Jazzklavier und Jazzgesang, erst an der<br />

Musikfachschule in Odessa, dann Studium<br />

an der Musikhochschule Sergej Prokofjew in<br />

Donezk. Schon mit 17 ging sie mit der Odessa<br />

Bigband auf Tournee, in Russland und der<br />

Ukraine. Sie sang in kleineren Jazzformationen,<br />

bald auch im Duo mit dem mittlerweile<br />

recht prominenten und erfolgreichen Pianisten<br />

Vadim Neselovskyi <strong>–</strong> eine Zusammenarbeit,<br />

die nicht beendet ist und immer wieder<br />

aktuell werden kann.<br />

Mit Anfang 20 war Tamara Lukasheva in<br />

der Ukraine und im benachbarten Russland<br />

von Rainer Maria Rilke oder von der sozialistischen<br />

Frauenrechtlerin Clara Müller-<br />

Jahnke darin vorkommen, aber auch von der<br />

Mystikerin Hildegard von Bingen oder dem<br />

poetischen Preußen Theodor Fontane, zeigt<br />

einen weiten literarischen Horizont. Und<br />

die leichte Vorliebe für Texte der Romantik<br />

bedeutet keine Verengung auf diese Epoche.<br />

Tamara Lukasheva hat viel recherchiert<br />

und viel gelesen. „Ich habe Gedichte<br />

gesucht, bei denen ich das Gefühl hatte,<br />

sie sprechen mich an und ich kann mit den<br />

Texten arbeiten.“ Nach über einem Jahrzehnt<br />

in Deutschland sind solche intensiven<br />

Berührungen längst auch außerhalb ihrer<br />

Muttersprache möglich geworden. Wenn<br />

man genau hinhört <strong>–</strong> und ihre Musik verlangt<br />

22 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Taiisiya Chernishova<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 23


Titel<br />

geradezu danach, genau hinzuhören <strong>–</strong>, bleibt<br />

zuweilen ihr leichter, feiner Akzent nicht verborgen.<br />

Ihn zu verbergen, gehörte allerdings<br />

auch nicht zu ihren Absichten. Dass sie<br />

sich deutscher Lyrik aus der Position einer<br />

Fremden nähert, ist nun mal eine unleugbare<br />

Tatsache und prägt auch ihren Zugang zu<br />

den alten Texten. Ihre Musik ist stets mitgetragen<br />

von einem Impuls der Überwindung,<br />

nicht aber Leugnung von Fremdheit. Und<br />

es geht ja auch nicht nur um die Fremdheit<br />

der Zugereisten und die Fremdheit der spät<br />

gelernten Fremdsprache, sondern auch<br />

um Berührungen und Überschneidungen<br />

zwischen verschiedenen musikalischen<br />

Traditionslinien.<br />

Wenn und wie Tamara Lukasheva die<br />

deutsche Lyrik versteht und interpretiert, das<br />

ist immer auch Ergebnis einer Aneignung<br />

von unbekanntem Terrain. Immer noch stellt<br />

© Mary Kalugina<br />

ICH MUSSTE MICH<br />

SELBST AUF DIE PROBE<br />

STELLEN.<br />

sie sich dabei selbst auf die Probe. Und sie<br />

weiß, dass es bei lyrischen Texten nicht nur<br />

um ein semantisches Verständnis geht. Ihre<br />

Musik rührt an tiefer liegende Schichten,<br />

in denen Sprachen <strong>–</strong> Muttersprachen wie<br />

Fremdsprachen <strong>–</strong> wirken: Klang, Rhythmik,<br />

Melodik.<br />

Nur eins der vertonten Gedichte stammt<br />

nicht aus dem deutschen Sprachraum und<br />

von einer Autorin, die sie schon länger<br />

begleitet. Das ist die 2010 im Alter von nur<br />

17 Jahren verstorbene Asja Klimanova.<br />

Deren Gedicht „Alte Häuser“ war schon<br />

auf Lukashevas Album Homebridge (2019)<br />

enthalten und hat jetzt eine Neuaufnahme<br />

unter dem Titel „Neue alte Häuser“ erfahren.<br />

Asja Klimanova sei auch in ihrer Heimat nur<br />

in kleinen Zirkeln bekannt gewesen, sagt<br />

Tamara Lukasheva. Asjas Vater habe sich<br />

sehr um die Veröffentlichung der Texte seiner<br />

Tochter bemüht. Inzwischen ist er selbst<br />

gestorben. Im Lied „Neue alte Häuser“ klingt<br />

Tamara Lukashevas Gesang so lebendig und<br />

unmittelbar, wie er eigentlich nur in der Muttersprache<br />

klingen kann. Trotzdem lautet die<br />

Schlusszeile dieses Gedichts (in deutscher<br />

Übersetzung): „Es stellt sich heraus: Das bist<br />

nicht du.“<br />

Gleichung ist ein Album, das einen Blick<br />

zurück unternimmt, das Brücken, Annäherungsbewegungen<br />

und Übergänge zeigt<br />

und dabei manchmal in eine dunkle Tiefe<br />

gerät. Ihre Lieder gestalten Situationen der<br />

Selbstbefragung und Selbstvergewisserung.<br />

Die Interpretationen, die Tamara Lukasheva<br />

mit ihrer Stimme, ihren Kompositionen und<br />

ihrem Klavierspiel den Texten beigesellt,<br />

zielen nicht darauf, Erklärungen zu liefern<br />

und Eindeutigkeiten herzustellen. Sie lassen<br />

eher weite Resonanzräume entstehen. In denen<br />

herrscht ein oft fahles, manchmal aber<br />

plötzlich aufscheinendes, überhelles Licht.<br />

Wenn einige der vertonten Texte an religiös<br />

motivierte Fragen zu erinnern scheinen,<br />

nimmt sie das in Kauf. Schließlich hat auch<br />

ein Text der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard<br />

von Bingen ihren Platz in diesen Resonanzräumen<br />

gefunden. Er handelt von der<br />

Liebe und von, wie man heute sagen würde,<br />

der Raumzeit, und er muss nicht unbedingt<br />

etwas aussagen, was nach Erklärung einer<br />

aktuellen Situation klingt. Tamara Lukashevas<br />

Lieder entfalten vor allem Fragen und<br />

legen nicht unbedingt Antworten nahe.<br />

Dass am Ende des Albums mit dem<br />

Titel „Prelude Nr. 2“ ein Lied ohne Text steht,<br />

also ein nummeriertes Klavier-Vorspiel, hat<br />

nicht nur mit dem Impuls zu tun, genormte<br />

Verhältnisse umzukehren. Tamara Lukasheva<br />

gibt dem Präludium den Untertitel „Gewässer<br />

unter Erde. Poesie ohne Worte“. Der<br />

Resonanzraum ist gekrümmt.<br />

Singet leise, leise, leise.<br />

Aktuelles Album:<br />

Tamara Lukasheva: Gleichung<br />

(wismART / NRW)<br />

24 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


GEORG RUBY VILLAGE ZONE<br />

Mitsingen erwünscht<br />

Bei Konzerten frei improvisierter Musik sieht man oft versunkene,<br />

ernste Gesichter <strong>–</strong> vor allem, wo diese Spezialdisziplin heute weniger<br />

von ästhetischer Rebellion kündet, sondern eher eine Sache des<br />

Bildungsbürgertums ist. Georg Ruby, Improvisator, Komponist, Pianist<br />

und Pädagoge, hält von solchen Konnotationen überhaupt nichts, wenn<br />

es um Musik, um wache Kommunikation, um Freude an der Sache geht.<br />

Von Stefan Pieper<br />

Davon zeugt die neue CD<br />

seines Quartetts Village<br />

Zone. Unter dem Titel Saluti<br />

a Peppino wird frei gespielt<br />

und instant komponiert <strong>–</strong> auf<br />

höchstem Niveau, aber nicht<br />

ohne humorvolle Auswege.<br />

Einen davon markiert schon<br />

der Titel des Albums: Im Opener<br />

haben sich Georg Ruby (p),<br />

Stephan Goldbach (b), Daniel<br />

Weber (dr) und Sascha Ley<br />

(voc) gerade erst auf komplexe<br />

Klangdialoge eingeschworen<br />

<strong>–</strong> da öffnet sich ein Fenster<br />

zum „Saint Tropez Twist“ und<br />

der berühmte italienische Gassenhauer<br />

von Peppino di Capri<br />

lässt es so fröhlich rocken und<br />

krachen wie nie. Wohlgemerkt<br />

im Twist-Rhythmus. Wenn sich<br />

vier Menschen mit Emotionen,<br />

Fantasie und Erfahrungen gegenüberstehen,<br />

wollen sie ja<br />

auch ihr Innerstes herauskehren.<br />

Noch eine zweite Nummer<br />

des italienischen Schlagerund<br />

Folklore-Altmeisters<br />

bereichert das neue Album:<br />

„Le stelle d’oro“.<br />

„Ich bin mit diesen<br />

Stücken groß geworden<br />

und habe sie immer im Ohr<br />

gehabt“, verrät Georg Ruby<br />

den Hintergrund dieser überraschenden<br />

Einlagen. Dahinter<br />

verbirgt sich eine künstlerische<br />

Haltung, die sich über<br />

Schubladen hinwegsetzt und<br />

dem eigenen Erfahrungsschatz<br />

im Jazz Rechnung trägt. Die<br />

vier wollen ja auch eine mit<br />

ganzer Leidenschaft swingende<br />

Jazzband sein. Ruby<br />

verweist darauf, dass auch in<br />

der freien Impro-Szene sowas<br />

wie eine Jazzpolizei unterwegs<br />

ist: „Es gibt hier ungeschrie-<br />

26 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> oben: Georg Ruby, Stephan Goldbach; unten: Daniel Weber, Sascha Ley; alle Bilder © Jean Laffitau


ene Gesetze, dass du keinen<br />

Groove spielen und keine<br />

Akkorde benutzen darfst. Ich<br />

habe trotzdem Lust auf so was<br />

und breche mit der elitären<br />

Konvention, weil es mir wichtig<br />

ist. Wir machen ja auch Performance<br />

auf der Bühne dabei.<br />

Mit allem, was wir anpacken,<br />

wollen wir eine Geschichte<br />

produzieren und nicht beliebig<br />

sein.“<br />

Humor ist für die 13<br />

Stücke auf Saluti a Peppino<br />

das ideale Bindemittel: „Zu viel<br />

frei gewählter Ernst hat doch<br />

mit Qualität nichts zu tun.“<br />

Erfrischend wirken für Georg<br />

Ruby Auftrittserfahrungen über<br />

den Tellerrand der eigenen<br />

kulturellen Nische hinaus.<br />

Überraschenderweise habe er<br />

gerade bei Klassikkonzerten<br />

erlebt, dass sich das Publikum<br />

spontan öffne, weil eben nicht<br />

alles sofort in der Spezialistenschublade<br />

lande.<br />

Aus so viel künstlerischer<br />

Aufgeklärtheit entsteht auf<br />

Saluti a Peppino ein eigenwilliger<br />

Fluss, der sich auch so<br />

manche labyrinthische Wendung<br />

und Verbiegung leistet.<br />

Freie Klangdialoge leiten über<br />

zu individuell ausgeformten, ja<br />

rezitativischen Momenten. Und<br />

es faszinieren die Interaktionen<br />

zwischen Rubys mal kraftvoll<br />

geradeheraus gespieltem,<br />

dann feinsinnig präpariertem<br />

Klavier, dem filigranen Bassspiel<br />

und einer fantasievoll<br />

aufgeladenen Geräuschpoesie<br />

des Schlagzeugs. Vor allem<br />

der vokale Aspekt hat mächtig<br />

viel Ausstrahlung: Für vier<br />

Stücke verbindet Ruby sein<br />

Trio mit der luxemburgischen<br />

Sängerin Sascha Ley. Dass<br />

diese auch Schauspielerin ist,<br />

nimmt man ihr angesichts ihrer<br />

sprühenden Darstellungslust<br />

ohne Weiteres ab, gipfelnd in<br />

einer springlebendigen Interpretation<br />

von Michel Legrands<br />

„What Are You Doing the Rest<br />

of Your Life“.<br />

Als eine „spirituelle kommunikative<br />

Allianz“ bezeichnet<br />

Georg Ruby seine Band. „Ich<br />

brauche eine Kommunikation<br />

mit guten Musikern, die sich<br />

nicht unterordnen wollen, in<br />

einer Musik, die sie miteinander<br />

spielen und die nicht nur<br />

einer komponiert.“ Deswegen<br />

steht hinter den Titeln auch<br />

immer das Wort Instant Composing.<br />

Für Ruby ist es die Lust<br />

an der Kommunikation, und er<br />

sieht hier noch viel Wachstumspotenzial.<br />

„Ich möchte, dass<br />

wir künftig auch in Konzerten<br />

diesen Prozess noch weiter<br />

verstärken, wo wir von einer<br />

Stimmung in die andere fließen<br />

und wo dann auch ganz spontan<br />

ein Song herauskommen<br />

soll.“<br />

Mit sieben Jahren hat<br />

Georg Ruby seinen ersten<br />

Schallplattenspieler geschenkt<br />

bekommen. Besagte Stücke<br />

von Peppino di Capri waren<br />

auf der ersten Single, derer<br />

er habhaft wurde. Die Platte<br />

PDF in 4c<br />

aus der Kindheit war auch ein<br />

Schlüssel zu Italien. „Wenn du<br />

in Italien bist und sagst, dass<br />

du Peppino di Capri kennst,<br />

fallen dir alle sofort um den<br />

Hals“, bricht Ruby eine Lanze<br />

für musikalische Überlieferungskultur,<br />

die im deutschen<br />

Kulturraum etwas verschüttet<br />

wirkt.<br />

Das künstlerische Koordinatensystem<br />

von Georg Ruby<br />

ist weitläufig. Kein Wunder<br />

bei jemandem, der, von seinen<br />

zahllosen internationalen<br />

Kollaborationen abgesehen,<br />

die Kölner Jazzhaus-Initiative<br />

mitbegründet hat, ein Label<br />

pflegt und bis zum vergangenen<br />

Jahr die Jazzabteilung an<br />

der Musikhochschule Saarbrücken<br />

geleitet hat. Hier wie dort<br />

macht er immer wieder eine<br />

etwas bedenkliche Beobachtung,<br />

die irgendwo auch<br />

typisch deutsch anmutet: „Wenige<br />

Menschen hierzulande<br />

trauen sich zu singen.“ Das sei<br />

in Italien anders. Und so möchte<br />

Village Zone auf seinem<br />

neuen Album in ausgesuchten<br />

Momenten mit einer Portion<br />

gesundem italienischen Geist<br />

gegensteuern: „Ich freue mich,<br />

dass es in unserer Band keine<br />

Berührungsängste gibt.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Georg Ruby Village Zone: Saluti a Peppino<br />

(JazzHausMusik / Galileo)


Kolumne<br />

ime<br />

unnel<br />

Der Berliner Schlagzeuger Tilo Weber ist<br />

fasziniert von sehr alter Musik. So führt er<br />

seine Band Four Fauns nun zurück bis in die<br />

Renaissance. Heraus kommt ein Album mit<br />

sehr gegenwärtiger Musik.<br />

Der Leiter der Jazz-Spezialeinheit<br />

Im Zweiten Weltkrieg herrschte an den verschiedensten Fronten<br />

ein erbitterter Krieg. Eine dieser Fronten war die öffentliche Meinung.<br />

Propagandaminister Goebbels hatte erkannt, wie wichtig<br />

die Medien und die Künste an dieser Front sind. Neben Filmen<br />

war das Radio als noch relativ neues Medium besonders interessant,<br />

da man damit über die Fronten hinweg weit ins Feindesland<br />

seine Propaganda verbreiten konnte. Neben Wortbeiträgen<br />

spielte bei diesem Feldzug auch die Musik eine wichtige Rolle.<br />

Wie so oft heiligte auch hierbei der Zweck die Mittel. Da der<br />

Jazz die angesagte Musik der Zeit war, war er, trotz öffentlicher<br />

Ablehnung, auch für die Propagandasendungen interessant. Zu<br />

bekannten US-amerikanischen Titeln wurden neue englische<br />

Propagandatexte verfasst und mit musikalischer Begleitung<br />

hinter die Fronten gesendet. Die Band, die dieses Konzept<br />

umsetzte, nannte sich nach dem Außenministeriumsmitarbeiter<br />

Karl Schwedler Charlie and His Orchestra.<br />

Die Musiker, die die Titel einspielten, zählten zu den besten<br />

Studiomusikern, die verfügbar waren. Für den Propagandasieg<br />

war musikalisches Können wichtiger als alles andere. So spielten<br />

in der Band auch einige Musiker, die ansonsten in Konzentrationslagern<br />

gelandet wären. Der musikalische Leiter dieser Jazz-<br />

Spezialeinheit war der am 18. <strong>Juni</strong> 1901 geborene Lutz Templin.<br />

Hochoffiziell hatte er die Genehmigung, Feindsender abzuhören,<br />

um über die aktuellen Hits informiert zu sein und diese herausschreiben<br />

und arrangieren zu können. Zwischen 1940 und 1943<br />

nahm die Band über 100 Titel auf, die natürlich in Deutschland<br />

weder erhältlich noch zu hören waren. Die aufgenommenen<br />

Platten waren ausschließlich dafür bestimmt, an Radiostationen<br />

verteilt zu werden. Als die Bombardierung Berlins zunahm,<br />

siedelte Lutz Templin mit seinem Orchester nach Stuttgart um, wo<br />

er auch nach dem Krieg blieb und unter anderem kurzzeitig Leiter<br />

des Tanzorchesters des Süddeutschen Rundfunks war.<br />

Thomas Bugert<br />

Von Jan Kobrzinowski<br />

Eine Comic-Figur, die irgendwie<br />

an den Kleinen Prinzen erinnert,<br />

betrachtet mit dem Fernrohr das<br />

Geschehen auf dem Planeten:<br />

Knappheit der Ressourcen, Massenmigration,<br />

Waffenhandel,<br />

Ungleichheit. Gummibärchen<br />

und Kinderschuhe in Bewegung,<br />

Spielzeuge und Gießkannen.<br />

Zum YouTube-Video erklingt Tilo<br />

Webers Komposition „Canon<br />

Couperin“, die er François Couperin<br />

(1668-1733) gewidmet hat,<br />

einem der jüngeren unter den<br />

hier vertretenen alten Komponisten.<br />

Nun ist Tilo Webers<br />

Herangehen an Alte Musik alles<br />

andere als naiv. Der Opener<br />

„Se la mia morte brami“, ein<br />

Stück des italienischen Fürsten,<br />

Renaissance-Komponisten und<br />

Finsterlings Carlo Gesualdo,<br />

weist die Richtung für das<br />

ganze Album: „Musik, die ich<br />

sehr mag und für immer noch<br />

sehr modern und frisch halte,<br />

komplett durch die Mangel zu<br />

drehen. Hier habe ich ca. 20<br />

Takte des Stücks übernommen,<br />

ansonsten eine Basslinie in die<br />

Melodie gesetzt, die Gegenstimme<br />

in diese eingepasst, Dinge<br />

umgedreht und vertauscht.“ Er<br />

sei kein Experte in Alter Musik:<br />

„Das wäre maßlos übertrieben.<br />

© Oliver Potratz<br />

Claudio Puntin, der Klarinettist,<br />

ist bei uns der einzige lupenreine<br />

Klassiker.“ Tilo Weber selbst<br />

mischt bei ziemlich vielen sehr<br />

verschiedenen Projekten mit,<br />

bei den Trios von Clara Haberkamp<br />

und David Friedman, der<br />

Sängerin Magdalena Ganter,<br />

bei Otis Sandsjös Y-Otis <strong>–</strong> und<br />

er trommelt für das Berliner<br />

Ensemble, z.B. in Benjamin von<br />

Stuckrad-Barres Panikherz.<br />

Auf Faun Renaissance<br />

gibt es keinen Anspruch von<br />

totaler Freiheit im Umgang,<br />

sondern eher den von der<br />

Lust angespornten Drang zur<br />

Auseinandersetzung mit dem<br />

alten Material. „Erschreckend<br />

zeitgenössisch“ nennt Weber<br />

die Alte Musik, denn heute<br />

werde so viel Musik gemacht,<br />

die viel altmodischer klinge.<br />

Die Anfangsmelodie<br />

von „Kyrie V“ geht auf einen<br />

gregorianischen Choral zurück.<br />

Beim Transkribieren hatte Tilo<br />

Weber ein Swingfeeling im Ohr<br />

und fragte sich, „wie das wohl<br />

klingen würde, wenn wir das wie<br />

einen Jazzstandard spielten.“ In<br />

der Video-Animation von Andreas<br />

Metzler (YouTube) fliegen<br />

die Musiker dann als Mönche<br />

absurd-psychedelisch durch den<br />

Weltraum. Und die Taube (der<br />

Heilige Geist), die Papst Gregor<br />

die Choralmelodien direkt ins<br />

28<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


TILO WEBER Aus Alt mach Neu<br />

© Annika Weinthal<br />

Ohr zwitschert, ist der Hinweis<br />

auf die Entstehungsgeschichte<br />

der Gregorianik.<br />

In Johannes Ockeghems<br />

„O Rosa Bella“ bewegen sich<br />

anfangs nur zwei Stimmen, dann<br />

löst sich erst die Klarinette in<br />

den freien Raum, es übernimmt<br />

die Trompete, und wenn dann<br />

im dritten Teil der Bass mit der<br />

von Weber dazu geschriebenen<br />

Linie einsetzt, hört man das<br />

anfängliche Thema, wenn auch<br />

„komplett auf den Kopf gestellt“.<br />

Alles wird vom feinen, melodischen<br />

Schlagzeug umspielt. Hier<br />

passiert nicht das hergebrachte<br />

„Jazz meets Klassik“, es wird<br />

nicht einfach über klassische<br />

Kadenzen improvisiert, es<br />

entsteht etwas Neues, schwer<br />

zu Klassifizierendes. Die älteste<br />

Komposition des Albums, „Ma<br />

fin est mon commencement“,<br />

ein dreistimmiges Vokalstück<br />

von Guillaume de Machaut<br />

(1<strong>300</strong>-1377), „verjazzen“ die<br />

Fauns zwar quasi, vom Two-Beat<br />

bis zum fugenhaften Swing. An<br />

der Struktur des Originals wurde<br />

hier kaum etwas verändert. Hier<br />

ging es Weber darum, an diesem<br />

Paradebeispiel für Konzeptmusik<br />

mit rückwärts gesungenen, gegenläufigen<br />

Cantus-Linien vorzuführen,<br />

„dass, man aus einer<br />

Stimme alle anderen Stimmen<br />

generieren kann, indem man sie<br />

spiegelt und vertauscht.“ Der<br />

Witz ist, dass man das nicht unbedingt<br />

merkt, denn alles klingt<br />

am Ende sehr homogen.<br />

Wie kommt nun ausgerechnet<br />

ein Schlagzeuger auf solche<br />

Ideen? „Schon vor einigen Jahren<br />

habe ich Lust bekommen, zu<br />

komponieren und mehr zu sein<br />

als ‚einfach nur Schlagzeuger‘.<br />

Mein Spiel selbst veränderte<br />

sich durch das Komponieren.<br />

Es hat mich komplementiert.<br />

Es kann sein, dass es ungewöhnlich<br />

ist, dass ich nun die<br />

Renaissance-Musik hergenommen<br />

habe, aber ich mag diese<br />

Musik einfach.“ Dem getupften,<br />

perkussiven, eher zurückhaltenden<br />

Spiel, für das Weber<br />

inzwischen bekannt ist, liegt eine<br />

bewusste Entscheidung nicht<br />

nur zur Zurückhaltung zugrunde.<br />

„Ich will auch, dass diese Band<br />

akustisch, unverstärkt spielt.<br />

Auch in anderen Bands möchte<br />

ich gerade so laut spielen, dass<br />

ihr weicher, warmer Klang zum<br />

Ausdruck kommt. Als Schlagzeuger<br />

bist du in der besonderen<br />

Verantwortung, die Lautstärke<br />

und auch den Klang richtig zu<br />

handeln.“<br />

Tilo Weber hört sich<br />

Interpretationen der Originale<br />

der alten Stücke an und arbeitet<br />

dann an Klavier und Kontrabass<br />

seine Ideen aus. „Ich schreibe<br />

immer mit einem Sound im Kopf,<br />

nie abstrakt nur mit Blick auf die<br />

Noten.“ Dabei nimmt er schon<br />

genau vorweg, wie seine Kollegen<br />

Richard Koch (tp), Claudio<br />

Puntin (cl, b-cl) und James<br />

Banner (b) diese persönlich artikulieren<br />

würden. Einfühlsamkeit,<br />

Erfahrung und ihre unterschiedlichen<br />

Backgrounds machen<br />

die Mitglieder des Quartetts zu<br />

einem echten Ensemble, das<br />

sich hervorragend ergänzt.<br />

Am Schluss bleibt das Kyrie<br />

zu Palestrinas Missa Papae<br />

Marcelli in seiner Struktur fast<br />

unverändert. Weber, der auch<br />

klassische Komposition studiert<br />

hat, reizte es, die perfekte<br />

diatonische Stimmführung des<br />

Stückes zu erhalten. „Hier gab<br />

es lediglich fünf Stimmen auf<br />

drei zu verteilen. Wenn es schon<br />

so großartige pure Musik gibt,<br />

sollte man sie auch einfach<br />

spielen.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Tilo Weber & Four Fauns:<br />

Faun Renaissance<br />

(LP und digital: Malletmuse Records)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 29


MAREILLE MERCK<br />

Flug über die Saiten<br />

Von Doris Schumacher<br />

Larus <strong>–</strong> der Name des Trios verweist auf die<br />

Silbermöwe (Larus argentatus) und ist eine<br />

Reminiszenz an Mareille Mercks Heimat<br />

Rügen. Mittlerweile lebt die junge E-Gitarristin<br />

in Zürich und ist dabei, sich in der Schweizer<br />

Jazzszene einen Namen zu machen. Im März<br />

hat sie ihren Erstling Fadenschlag vorlegt.<br />

Fein vernähter Stoff, könnte man sagen <strong>–</strong> die<br />

Anspielung ans Textile zieht sich wie ein roter<br />

Faden durchs Album. Mareille Mercks Stärke<br />

ist die Durchlässigkeit ihres Spiels. Schon<br />

durch die Trio-Besetzung ist musikalische<br />

Transparenz sozusagen Programm. Zudem<br />

versteckt sie sich nicht hinter schnellen Riffs,<br />

lauten Effekten oder virtuosen Läufen. Die<br />

Musik kommt aus der Stille und spinnt um eingängige<br />

Melodien herum ihr Netz. Gleichzeitig<br />

versteht Merck es, komplexe rhythmische<br />

Strukturen und überraschende Akkordfolgen<br />

zu einem großen Ganzen zu verweben.<br />

Die Hörbarkeit stehe dabei an erster<br />

Stelle, sagt sie: „Wenn dann nach einem<br />

Konzert jemand zu mir kommt und sagt: ,Ich<br />

höre ja eigentlich keinen Jazz, aber das hat<br />

Mareille Merck veröffentlicht das<br />

Debütalbum ihres Trios und zeigt, dass<br />

es ihr um mehr geht als um Technik.<br />

mir richtig gut gefallen‘ <strong>–</strong> dann ist das für mich<br />

eine Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu<br />

sein.“ Die Technik beherrscht sie zweifellos,<br />

aber anstatt sie voll auszuspielen, setzt sie sie<br />

lieber sinnvoll ein: „Ich habe unglaublich viel<br />

Zeit damit verbracht, theoretisches Wissen zu<br />

erlernen und umzusetzen. Dabei habe ich gemerkt,<br />

dass ich mich nicht darin verlieren will.<br />

Ich möchte nur das zum Klingen zu bringen,<br />

was ich wirklich meine, fühle und sagen will.<br />

Ich glaube, so hat man die besten Chancen,<br />

klare musikalische Aussagen zu finden, die für<br />

das Publikum verständlich sind.“<br />

Kennengelernt haben sich Mareille<br />

Merck, Florian Bolliger (b) und Janic Haller<br />

(dr) beim Studium in Luzern. Es habe nur eine<br />

Probe gebraucht, um herauszufinden, dass sie<br />

mit den beiden ein Trio bilden wollte, erzählt<br />

die Gitarristin. Genau wie sie legen die beiden<br />

den Fokus auf Zusammenspiel, Atmosphäre<br />

und Sound. „Jedes Instrument kann bei uns<br />

die verschiedensten Funktionen erfüllen. Wir<br />

befinden uns in einem musikalischen Raum<br />

und gestalten die Musik. Ich bringe quasi<br />

den Grundriss mit, aber das Haus bauen wir<br />

gemeinsam. Wir gestalten, arrangieren und<br />

entwickeln zusammen, wie ein Stück klingt<br />

oder wohin es führt.“<br />

Manche Motive in ihren Kompositionen<br />

verbindet Merck mit Bildern oder Situationen.<br />

Da ist zum Beispiel „Ouzo“. Eine sanft<br />

fließende, freundliche Melodie, der warme<br />

Sound der E-Gitarre. Kurz verdichtet sich<br />

das Geschehen, dann löst es sich mit hellen<br />

Klängen wieder auf. Sie erklärt: „Das Stück<br />

beschreibt das Gefühl, nach etwas zu viel<br />

Ouzo im griechischen Restaurant nach Hause<br />

zu laufen. Die Welt drum herum bewegt sich,<br />

alles ist etwas schwammig und verwischt.<br />

Das versuchen wir mit zerbrechlichen<br />

Harmonien und dehnbarem Time-Gefühl zu<br />

gestalten.“ Dabei ist ein jeder Ton bewusst<br />

gesetzt. Nichts routinemäßig runtergespielt,<br />

keine Effekte nur aus Verlegenheit eingesetzt.<br />

Stilistisch ist Mareille Merck durchaus<br />

vielseitig. So nutzt sie Spieltechniken aus dem<br />

klassischen Bereich ebenso wie aus Funk und<br />

natürlich Jazz. Wie sie überhaupt zur E-Gitarre<br />

gekommen ist? Schon in der Familie habe<br />

es viel Musik gegeben, erzählt sie. Seit dem<br />

Kindergarten hätten sie und ihre Schwestern<br />

Musikunterricht bekommen. In der Musikschule<br />

waren E-Piano und Keyboard die<br />

Instrumente der Wahl. Später in der Musikschulband<br />

immer wieder der heimliche Blick<br />

zur E-Gitarre. „Das war einfach das coolste<br />

Instrument, das ich mir vorstellen konnte.“<br />

Zu Hause spielten der Vater und die jüngere<br />

Schwester klassische Gitarre. Mareille brachte<br />

sich die Grundlagen selbst bei. „Zu meinem<br />

dreizehnten Geburtstag bekam ich meine<br />

erste E-Gitarre. Von da an habe ich zu Hause<br />

die Stücke der Band geübt. Irgendwann<br />

sollte ich die Melodie eines Songs auf dem<br />

Keyboard spielen, obwohl sie eigentlich für<br />

Gitarre gedacht war. Da habe ich meinen Mut<br />

zusammengenommen und gefragt, ob ich es<br />

auf der Gitarre probieren dürfte. Ab da durfte<br />

ich Lead-Gitarristin der Band sein.“<br />

Gitarrenunterricht folgte, u.a. bei Kalle<br />

Kalima in Berlin. Dann das Jazz-Studium.<br />

Das Debütalbum zu veröffentlichen, sei ein<br />

großer Schritt gewesen, sagt Mareille Merck.<br />

Auf die Zeit der Vorarbeit spielt auch der Titel<br />

des Albums an: Fadenschlag. Die gleichnamige<br />

Eröffnungsnummer sei das erste<br />

Stück gewesen, das das Trio gemeinsam<br />

ausprobiert hätte. Eine helle, klare Melodie,<br />

leicht gezupfte Passagen, kurze Momente<br />

der Verdichtung, dann ein Weitergleiten<br />

und Schweben. „In unserer Musik gibt es<br />

Momente, die sich anfühlen, als würden wir <strong>–</strong><br />

und mit uns die Hörerinnen und Hörer <strong>–</strong> über<br />

die verschiedenen Landschaften fliegen. Über<br />

weite Felder, dichte Wälder oder übers Meer<br />

durch den ein oder anderen Sturm. Ein Flug<br />

mit der Silbermöwe sozusagen.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Mareille Merck Larus: Fadenschlag<br />

(physisch: Mons Records / NRW Vertrieb;<br />

digital: The Orchard)<br />

30 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


GODEMANN<br />

BAUDER DUO<br />

Das Lächeln der alten Ladys<br />

Sechs Jahre haben sich der Gitarrist Massoud Godemann und<br />

der Bassist Gerd Bauder für ihr zweites Duoalbum Zeit gelassen.<br />

Beautiful Mind ist eine sehr persönliche Hommage an die 2020<br />

verstorbene Sängerin Regy Clasen.<br />

Von Harry Schmidt<br />

Wie lähmend die Pandemie<br />

im Bereich der Kultur generell<br />

wirkt, bedarf keiner weiteren<br />

Ausführung: Dieses Jahr voller<br />

Absagen und Ausfälle ist an<br />

niemandem spurlos vorübergegangen.<br />

Doch keine Regel ohne<br />

Ausnahme: Manches wurde<br />

auch beschleunigt, nahm inmitten<br />

des jäh hereingebrochenen<br />

Vakuums Fahrt auf. Das haben<br />

auch Massoud Godemann und<br />

Gerd Bauder erfahren: Zwar<br />

wurde der Plan, ihrem 2014 erschienenen<br />

Debüt Togetherness<br />

einen zweiten Longplayer folgen<br />

zu lassen, bereits vor geraumer<br />

Zeit gefasst, doch die Umsetzung<br />

des Vorhabens hätte unter<br />

normalen Umständen sicherlich<br />

noch etwas auf sich warten<br />

lassen, erklärt Godemann.<br />

Dass ihr Duoalbum Beautiful<br />

Mind nun bereits vorliegt,<br />

hat durchaus mit dem Lockdown<br />

zu tun: „Um die Zeit sinnvoll<br />

zu nutzen, haben wir das<br />

meiste im März und April vergangenen<br />

Jahres aufgenommen“,<br />

so Godemann. Nicht von<br />

32 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


ungefähr bildet das Titelstück<br />

den Auftakt zu diesem gleichermaßen<br />

hoffnungsfrohen<br />

wie innigen Album: Tatsächlich<br />

war „Beautiful Mind“ der erste<br />

Tune, den der 59-Jährige, aus<br />

dessen Feder sechs der acht<br />

Stücke stammen, für das neue<br />

Album geschrieben hat <strong>–</strong> um<br />

der im vergangenen März<br />

verstorbenen Regy Clasen zu<br />

gedenken. In der Hamburger<br />

Sängerin verlor Godemann<br />

eine enge Freundin: „Sie war<br />

nicht nur eine großartige Musikerin,<br />

Texterin und Denkerin,<br />

sondern auch ein fantastischer<br />

Mensch. Ein schöner Geist<br />

<strong>–</strong> deshalb der Titel.“ Um eine<br />

Würdigung über die Trauer hinaus<br />

sei es ihm gegangen, „in<br />

der Sprache, in der sie lebte,<br />

in der Musik“, sagt Godemann.<br />

Wie nah ihm das Thema geht,<br />

wird an dieser Stelle spürbar:<br />

„Ich muss immer aufpassen,<br />

dass es nicht ins Pathetische<br />

abgleitet <strong>–</strong> dann wäre es ja<br />

ein Ausnutzen ihres Seins.“<br />

Letztendlich sei Clasen aber<br />

der Atem der gesamten Platte<br />

gewidmet.<br />

Dass Bauder mit Godemann<br />

nicht nur im Duo spielt,<br />

sondern seit 20 Jahren auch<br />

als Bassist im Massoud Godemann<br />

Trio (MG3) mitwirkt, führt<br />

zu einer außergewöhnlichen<br />

Vertrautheit der musikalischen<br />

Kommunikation: „Unsere<br />

Hauptintention ist die Auflösung<br />

der Struktur von Solist<br />

und Begleitung. Wir versuchen<br />

gewissermaßen eine riesengroße<br />

Gitarre mit zehn Saiten<br />

zu werden“, beschreibt der<br />

in Hamburg aufgewachsene<br />

Sohn französisch-persischdeutscher<br />

Eltern den Ansatz<br />

des Duos. Wichtig sei, dass es<br />

„freen“ klinge <strong>–</strong> „etwas frecher<br />

als normal, aber nicht abwegig<br />

free“, ungefähr so lässt sich<br />

seine Wortschöpfung übersetzen.<br />

Auffällig ist die gesangliche<br />

Anlage der Stücke. Hörbar<br />

wird beides <strong>–</strong> Kantabilität<br />

und Interplay auf Augenhöhe<br />

<strong>–</strong> etwa in den intimen<br />

Dialogen ihrer Bossa-Jazz-<br />

Verschmelzung „Blue Boss“.<br />

Vom Hamburger Multikulti-<br />

Szeneviertel Sternschanze,<br />

Godemanns Lebensmittelpunkt,<br />

inspiriert ist „Kebop“. Den<br />

kompletten Rollentausch<br />

vollziehen sie mit „Blue in<br />

Green“, dem einzigen Cover.<br />

Der Kompositionsprozess sei<br />

bei ihm eine „Mischung aus<br />

Emotion, Inspiration und Kognition“,<br />

erklärt Godemann. Beim<br />

Überprüfen der Ausgangsidee<br />

spiele Gesang eine wichtige<br />

Rolle: „Meine Stimme weist mir<br />

die Richtung.“ Die so entstandenen<br />

Themen dienen dann<br />

als „Matrix zur Improvisation“,<br />

deren Anteil in ihrer Musik<br />

deutlich überwiege.<br />

Improvisation steht auch<br />

im Mittelpunkt von Talkin’<br />

Jazz Soloing 1: Mit seinem bei<br />

Schell Music erschienenen<br />

Lehrbuch legt Godemann die<br />

Quintessenz aus 30 Jahren<br />

Unterrichtstätigkeit vor. Als<br />

Hauptproblem identifiziert er,<br />

dass einstudierte Skalen, Licks<br />

und Patterns den Blick aufs<br />

Wesentliche verstellen. Anstatt<br />

sich „Stoff draufzuschaffen“,<br />

gelte es zurückzuschalten und<br />

Übungsroutinen zu durchbrechen.<br />

„Man muss erst mal<br />

lernen, frei zu sprechen. Wer<br />

das beherrscht, kann dann<br />

auch ein paar Zitate von Einstein,<br />

Simone de Beauvoir oder<br />

Gandhi einbauen.“<br />

Sein eigener Weg zum<br />

Instrument begann autodidaktisch:<br />

Pfadfinder, Peter Burschs<br />

Gitarrenbücher, „Akkordspionage“<br />

(Godemann). Unterricht<br />

kam erst wesentlich später<br />

hinzu: zunächst zwei Jahre bei<br />

Les Wise, wofür Godemann<br />

nach Wien zog, dann, zurück in<br />

Hamburg, bei Joe Pass, dessen<br />

MPS-Album Intercontinental<br />

einst das entscheidende<br />

Schlüsselerlebnis dafür gewesen<br />

war, die Laufbahn eines<br />

Jazzgitarristen einzuschlagen.<br />

Stan Getz’ Jazz Samba, aber<br />

auch Led Zeppelin, Deep<br />

Purple und Frank Zappa gaben<br />

weitere wichtige Impulse.<br />

Mittlerweile steht der Gitarrist<br />

seit über vier Jahrzehnten mit<br />

Bands unterschiedlichster Musikrichtungen<br />

auf der Bühne <strong>–</strong><br />

nach Anfängen im Hardrock,<br />

Blues, Pop und Latin sind das<br />

heute neben dem Duo mit Gerd<br />

Bauder vor allem MG3 und<br />

Barocco Blue.<br />

Auf Beautiful Mind hört<br />

man seine Gibson ES 175 (von<br />

1958) sowie die ES 295 (von<br />

1952): „Das sind alte Ladys, die<br />

man sehr behutsam behandeln<br />

muss. Aber wenn man höflich<br />

zu ihnen ist, belohnen sie einen<br />

mit unglaublichem Lächeln und<br />

viel Liebe.“ Wie sieht er der<br />

Zeit entgegen, in der er sie mal<br />

wieder auf die Bühne ausführen<br />

darf? „Ich lechze danach!“<br />

Seine Botschaft, auch vor dem<br />

Hintergrund der Pandemie:<br />

„Bitte nicht vergessen, dass<br />

Musik ein wesentlicher Bestandteil<br />

der Seelengestaltung<br />

ist <strong>–</strong> und dass auch nachfolgende<br />

Generationen eine Seele<br />

haben: Gebt den Jungen eine<br />

Chance!“<br />

Aktuelles Album:<br />

Godemann Bauder Duo: Beautiful Mind<br />

(STF Records)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 33


Für die israelische Sängerin Noa ist ihr<br />

neues Album eine Heimkehr zu ihren<br />

Anfängen. Auf Afterallogy widmet sie sich<br />

nach einer langen Karriere zusammen mit<br />

ihrem langjährigen musikalischen Partner,<br />

dem Gitarristen Gil Dor, den Songs des Great<br />

American Songbook.<br />

Von Rolf Thomas<br />

Noa ist nämlich in der Bronx<br />

groß geworden und mit den<br />

amerikanischen Song-Klassikern<br />

aufgewachsen, die sie zu Anfang<br />

ihrer Karriere auch auf der Bühne<br />

performt hat. Auf ihren Schallplatten<br />

hat sie sich aber meist<br />

ihrer eigenen Musik gewidmet,<br />

die mehr mit ihren jemenitischen<br />

und hebräischen Wurzeln zu<br />

tun hatte. Nach all den Jahren<br />

hat die Sängerin mit Afterallogy<br />

<strong>–</strong> schon der Titel ist eine<br />

augenzwinkernde Hommage an<br />

die Helden des Bebop, die ihren<br />

Stücken gerne hochtrabende<br />

Titel wie „Ornithology“ verpassten<br />

<strong>–</strong> nun endlich das Jazzalbum<br />

gemacht, das sie in all dieser<br />

Zeit in sich trug. Aber Noa wäre<br />

nicht Noa, wenn sie Klassiker<br />

wie „Darn That Dream“ oder<br />

„Lush Life“ einfach nur singen<br />

würde. Zusammen mit Gil Dor<br />

hat sie sich die Lieder zu eigen<br />

gemacht, hat sie auf einzigartige<br />

Weise arrangiert und eigene<br />

Musik und auch Texte in die<br />

bekannten Songs eingeflochten<br />

<strong>–</strong> auch ein paar Originale haben<br />

es auf das Album geschafft.<br />

Eröffnet wird es von „My<br />

Funny Valentine“, dem Lied,<br />

von dem fast jeder die Fassung<br />

von Chet Baker im Ohr haben<br />

dürfte. Was Noa an dem Song<br />

fasziniert, gibt Einblicke in ihr<br />

tief empfundenes Verständnis<br />

nicht nur dieses Songs. „‚My<br />

Funny Valentine‘ ist ein Song,<br />

den ich liebe, seit ich ein Kind<br />

war“, erzählt sie. „Ich singe das<br />

Lied seit dreißig Jahren, und es<br />

war auch ein Teil unseres ersten<br />

Auftritts. Das Arrangement auf<br />

dem Album entstand spontan.<br />

Mein harmonischer Ansatz<br />

entstand über viele, viele Jahre<br />

hinweg, und das funktioniert<br />

natürlich nur mit Songs, die man<br />

gut kennt. Das Lied war schon<br />

zum Zeitpunkt seiner Entstehung<br />

sehr relevant. Es geht darum,<br />

jemanden zu lieben, der nicht<br />

perfekt ist, der nicht unbedingt<br />

schön ist und der vor allem nicht<br />

immer lustig ist. Eine Person<br />

liebt die Menschlichkeit und das<br />

NOA<br />

Heimkehr zum<br />

Songbook<br />

Imperfekte eines anderen. Das<br />

ist heute vielleicht noch viel relevanter,<br />

da wir uns im Cyberspace<br />

als Menschen begegnen, die eigentlich<br />

in Wirklichkeit gar nicht<br />

existieren. Menschen verändern<br />

ihr Image nach irgendwelchen<br />

Vorstellungen, für mich ist das der<br />

Ausdruck einer tiefen Misere.<br />

Perfektion ist unmenschlich,<br />

deshalb liebe ich die Botschaft<br />

dieses Songs.“<br />

Wie von selbst fügt sich<br />

auch ein Song in die Kollektion,<br />

zu dem Gil Dor die Musik<br />

geschrieben hat und der mit dem<br />

Great American Songbook ausnahmsweise<br />

nichts zu tun hat.<br />

„‚Oh, Lord!‘ ist ein hebräischer<br />

Song“, erläutert Noa. „Er beruht<br />

auf einem wunderbaren Gedicht<br />

von Leah Goldberg, zu dem Gil<br />

die Musik geschrieben hat. Ich<br />

habe schon einmal ein ganzes<br />

Album mit Songs gemacht, die<br />

auf ihren Gedichten basieren,<br />

und das war vor allem in Israel<br />

© Ronen Akerman<br />

34 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


sehr erfolgreich. In diesem Gedicht<br />

beschreibt sie ein Zusammentreffen<br />

mit Gott. Sie trifft ihn<br />

in einem Café, wo sie ihn hinter<br />

dem Zigarettenrauch erkennt.<br />

Er sieht sehr müde und verloren<br />

aus. Leben ist immer noch möglich,<br />

sagt er, als ob er irgendein<br />

Philosoph wäre. Er kommt ihr vor,<br />

als ob er bald sterben würde und<br />

sich für irgendetwas entschuldigen<br />

wolle. Gott sitzt in einem<br />

Café mitten im Zigarettenrauch<br />

und entschuldigt sich <strong>–</strong> ich liebe<br />

diese Vorstellung. Gleichzeitig<br />

klingt sie für mich, als ob man sie<br />

gut singen könnte. Mir schwebte<br />

so eine dunkle Duke-Ellington-<br />

Melodie vor. Gil schrieb dann die<br />

Idee dazu.“<br />

Dass sie nicht einfach nur<br />

das singt, was auf dem Papier<br />

steht, ist das große Plus von<br />

Afterallogy, und wohl nirgends<br />

auf dem Album wird das deutlicher<br />

als bei „Anything Goes“.<br />

Nur etwas länger als zwei<br />

Aktuelles Album:<br />

Noa: Afterallogy<br />

(Naïve /Soulfood)<br />

Minuten dauert die Version von<br />

Noa und Gil Dor <strong>–</strong> der Gitarrist<br />

zaubert hier ganze Genre-Traditionen<br />

aus dem Hut <strong>–</strong> und steht<br />

exemplarisch für die wagemutige<br />

Vorgehensweise der Sängerin,<br />

die sich nicht scheut, an den für<br />

viele heiligen Texten herumzuschnipseln.<br />

„Das großartige<br />

‚Anything Goes‘ von Cole Porter<br />

ist wohl mein Lieblings-Showtune<br />

aller Zeiten“, stellt Noa mit<br />

großer Freude fest. „Ich liebe<br />

Cole Porter sowieso, weil er so<br />

clever ist. ‚Anything Goes‘ hat<br />

wahnsinnig viele Strophen. Frank<br />

Sinatra, Barbra Streisand, Ella<br />

Fitzgerald <strong>–</strong> alle singen andere<br />

Strophen. Ursprünglich geht es<br />

um verrückte Situationen, die auf<br />

dem Klatsch der Zeit beruhen, in<br />

der der Song entstand <strong>–</strong> Anspielungen,<br />

die man heute gar<br />

nicht mehr verstehen kann. Also<br />

dachte ich: Warum schreibe ich<br />

nicht einfach ein paar neue Zeilen?<br />

Natürlich im Geist von Cole<br />

Porter. Zum Glück gab mir der<br />

Verlag dazu die Erlaubnis, denn<br />

normalerweise mögen die es<br />

nicht, wenn man mit den Songs<br />

herumspielt. Ich brachte Anspielungen<br />

auf Trump und Netanyahu<br />

unter und sage zum Schluss: So<br />

think again / it’s not infectious /<br />

think of the things connecting<br />

us / friends and foes / anything<br />

goes. Ich denke, gerade in Zeiten<br />

von Corona ist es eine gute Idee,<br />

darüber nachzudenken, was uns<br />

verbindet.“<br />

© Ronen Akerman<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 35


ANETTE VON EICHEL<br />

Blaubartisch und eulenspiegelig<br />

Inner Tide ist das erste Album von Anette von Eichel, auf<br />

dem sie nicht nur alle Texte und Kompositionen beigesteuert<br />

sowie die Produktion übernommen hat <strong>–</strong> sie blickt auf dem<br />

Cover auch erstmals frontal in die Kamera. Obwohl oder<br />

gerade weil die Kölner Jazzsängerin es als eine Art Tabu<br />

unserer Gesellschaft empfindet, sich lebensecht zu zeigen.<br />

Von Victoriah Szirmai<br />

„Ich bin jetzt an dem Punkt meines Frauseins<br />

angekommen, wo ich mich wirklich<br />

ganz geradeaus zeigen möchte“, sagt sie.<br />

„Und ich fände es schön, wenn wir das alle<br />

ein bisschen mehr machen würden. Wenn<br />

einfach der Raum da wäre, dass sich Menschen<br />

trauen, sich zu zeigen.“ Und zeigen<br />

tut sich von Eichel schon im ersten Sekundenbruchteil<br />

der Platte, die klarstellt, dass<br />

wir es hier mit einer zum Fürchten guten<br />

Modern-Jazzerin zu tun haben. Die damit<br />

im Raum stehende Drohung des Anstrengenden<br />

wird jedoch nicht eingelöst, im Gegenteil:<br />

Der ins Album ziehende Opener „It’s<br />

What We Do“ präsentiert sich zwar nicht<br />

gerade gefällig, dafür anregend, fesselnd<br />

und gleichzeitig wohltuend <strong>–</strong> wenn man sich<br />

erst einmal auf ihn eingelassen hat.<br />

Dann aber offenbart sich dem Hörer<br />

eine derart liedzentrierte Platte, dass sie<br />

fast schon ein Singer/Songwriter-Zyklus<br />

sein könnte, Popmusik, die „wir als Band<br />

dann im Sinne des Jazz befreien“ <strong>–</strong> und die<br />

an den zentralen Fragen des Lebens rührt.<br />

Da gibt es etwa den verheißungsvollen<br />

„Secret Garden“, in dem man sich selbst<br />

verlieren (und auch wiederfinden) kann,<br />

oder „All We Need“, das mit berückender<br />

Leichtigkeit all jene Dinge aufzählt, die wir<br />

im Leben brauchen, vom Apfelbaum über<br />

den Mechaniker bis hin zur Zahnbürste.<br />

In der „Merry-go-Round“-Zeile „Let us<br />

give it no name“ geht es oberflächlich betrachtet<br />

darum, einer Verbindung zwischen<br />

zwei Menschen keine Definition überzustülpen,<br />

weil der aktuelle Schwebezustand<br />

ebenso schön wie fragil ist und durch seine<br />

Benennung unwiederbringlich zerstört<br />

würde. Genauso gut könnte die Aussage<br />

auch mit dem ersten Gebot verbunden sein,<br />

das besagt: „Du sollst dir kein Bildnis noch<br />

irgendein Gleichnis machen“, beraubte man<br />

das Göttliche durch eine Benennung doch<br />

seiner Divinität. Dem fraglichen „It“ einen<br />

Namen zu geben, könnte auch Erlösung bedeuten,<br />

etwas bannen, indem man es beim<br />

Namen nennt. Von Eichel indessen zielt auf<br />

eine Handlungsmaxime nahezu kantischer<br />

Strahlkraft ab: „Wenn wir etwas sehen, sind<br />

wir so schnell damit beschäftigt zu überlegen,<br />

in welches Schublädchen das wohl<br />

passt. ,Let us give it no name‘ ist die Idee<br />

davon, es überhaupt nicht in Schublädchen<br />

zu tun <strong>–</strong> und dadurch nicht kleinzumachen.“<br />

Dann ist da noch „Fallen“. Eine ganze<br />

Welt in einem Wort. Gefallen. Von Eichel<br />

© Maya Claussen<br />

ist es zum Gedankenexperiment geraten.<br />

„If I had fallen for you then” <strong>–</strong> ja, was<br />

wäre dann? Was wäre gewesen, wenn<br />

ich gefallen, dir verfallen wäre? Wäre ich<br />

zerfallen? Machen wir uns nichts vor: Fallen<br />

ist schön. Die Kontrolle abzugeben, völlig.<br />

Sich dem Fall ins Unbekannte zu überlassen.<br />

Gewiss, das geht nur, wenn Vertrauen<br />

da ist. „Doch das Ich hat gespürt: Ich kann<br />

nicht vertrauen“, erklärt von Eichel ihre<br />

Überlegungen. „Es war total verführt, es<br />

zu tun, es wäre wahnsinnig gern mit in<br />

diesen Wald gegangen, wo alles so schön<br />

ist, ganz in Grün, ganz moosig, mit Farnen<br />

und diesen hohen Bäumen, in deren Kronen<br />

das Licht sich bricht. Der Text aber nimmt<br />

eine blaubartische Wendung: Das Du ist ein<br />

Verführer, der mit allen Frauen das Gleiche<br />

macht. Und das Ich erkennt, dass das, was<br />

es für so besonders hielt, letzten Endes gar<br />

nichts Besonderes war.“ So bedauert das<br />

Ich zwar die Aufgabe der romantisierten<br />

Idee einer Symbiose, ist gleichzeitig aber<br />

auch froh, sich dagegen entschieden zu<br />

haben.<br />

Zurück bleibt Gleichgültigkeit. Davon<br />

erzählen die mit jeder Menge quietschendem<br />

Free Jazz aufwartenden „Stones“.<br />

Statt der von den Apologeten gewaltfreier<br />

Kommunikation für korrekt erachteten<br />

Ich-Botschaften gibt es hier Blaming pur:<br />

„Our love is getting smaller, bit by bit, you<br />

cut it into pieces.“ Oder: „You cut off our<br />

connection.“ Und obwohl „das Du ja den<br />

ganzen Scheiß macht“, hält sich das Ich mit<br />

seiner Wut dergestalt zurück, dass sie vom<br />

Saxofon kanalisiert werden muss, das sie<br />

regelrecht auszuspeien scheint, dem Angesprochenen<br />

direkt vor die Füße. Das Ich<br />

wendet sich derweil ohne einen weiteren<br />

Blick ab. Es ist ihm völlig gleichgültig, ob<br />

das Du vom imaginären Steinschlag begraben<br />

wurde oder unbeschadet davongekommen<br />

ist. Es spielt einfach keine Rolle mehr.<br />

In diesem Sinne ist Inner Tide ein<br />

Abschiedsalbum; und aus dem Album verabschiedet<br />

sich von Eichel mit „In Silence“,<br />

einem Duett von gestrichenem Bass und<br />

Klavier. „Ursprünglich wollte ich hier ohne<br />

Text singen“, erinnert sie sich, „aber das<br />

Stück wurde durch den stimmlichen Sound<br />

so dinglich. Also habe ich mir überlegt, hier<br />

nicht zu singen. Ist es nicht ein großartiges<br />

Narrenstück, die Platte einer Sängerin ohne<br />

Gesang enden zu lassen? Sie hat das Stück<br />

geschrieben, aber sie ist nicht dabei. Das<br />

fand ich so ein bisschen eulenspiegelig.“<br />

Und genau darin liegt auch der Charme<br />

des Albums: So aufgewühlt die inneren<br />

Gezeiten der Anette von Eichel auch sein<br />

mögen, sie bergen immer auch einen mal<br />

mehr, mal weniger fassbaren Humor.<br />

Aktuelles Album:<br />

Anette von Eichel: Inner Tide<br />

(Double Moon Records / Challenge Records / H’Art)<br />

36 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Unproduktivität kann man<br />

der russischen Pianistin<br />

Yelena Eckemoff wahrlich<br />

nicht unterstellen. Ganz<br />

im Gegenteil: Seit ihrem<br />

Debütalbum Cold Sun (2010)<br />

hat sie 14 weitere Platten<br />

veröffentlicht, auf denen sie<br />

mit ihrem atmosphärischkonzeptionellen<br />

Jazz Bilder malt und<br />

kleine Geschichten<br />

erzählt, meistens über<br />

Pflanzen, Tiere oder<br />

Naturphänomene.<br />

© Janne Nykänen<br />

© Lianna Slaughter<br />

Von Thomas Kölsch<br />

Eine Flut von Klängen, mit<br />

denen die 59-Jährige sich<br />

kontinuierlich zu profilieren versucht,<br />

was sich in Aufnahmen<br />

mit Genre-Größen wie Peter<br />

Erskine, Morten Lund und Manu<br />

Katché widerspiegelt. Jetzt holt<br />

sie zum nächsten Schlag aus<br />

und bringt mit Adventures of the<br />

Wildflower eine Doppel-CD auf<br />

den Markt, auf der sie Leben,<br />

Sterben und Wiedergeburt<br />

einer Akelei musikalisch und<br />

literarisch nachvollzieht <strong>–</strong> und<br />

damit einen mitunter anstrengenden,<br />

oft aber auch<br />

unterschwelligen<br />

Soundtrack für<br />

den heimischen<br />

Schrebergarten<br />

schafft.<br />

Die auch Columbine<br />

genannte Akelei, die Eckemoff<br />

zur floralen Heldin ihrer<br />

Geschichte auserkoren hat,<br />

begleitet die Pianistin schon ihr<br />

ganzes Leben lang. „In meiner<br />

Kindheit war ich von ihnen<br />

umgeben“, erinnert sie sich.<br />

„Meine Großmutter ließ sie in<br />

ihrem Garten wachsen, weil sie<br />

die Farben so sehr liebte.“ Zu<br />

dieser Erinnerung gesellte sich<br />

irgendwann ein Artikel über die<br />

Kommunikation von Pflanzen,<br />

die auf diese Weise eine Art<br />

Gemeinschaft bilden. „Ich begann<br />

mir vorzustellen, wie sich<br />

eine einzelne Pflanze<br />

darin fühlen<br />

und wie sie auf ihre Nachbarn<br />

reagieren würde. Bald hatte ich<br />

ein Körnchen einer Idee über<br />

eine Wildblume.“<br />

Nach und nach wuchs<br />

diese Idee, manifestierte sich<br />

in einer schlichten, fast schon<br />

kindlichen Abfolge von Ereignissen<br />

aus dem Leben einer<br />

Blume, die Eckemoff nicht nur<br />

niederschrieb, sondern auch<br />

mit ihren Gemälden darstellte.<br />

Und natürlich mit ihren Kompositionen.<br />

Dabei erweist sich die<br />

erste CD als eine zunächst willkürlich<br />

erscheinende Abfolge<br />

von mitunter recht avantgardistischen<br />

Klangbildern (vor allem<br />

im anstrengenden „Chickens“),<br />

während die zweite eher mit<br />

längeren romantisierenden<br />

Melodiebögen aufwartet. Beides<br />

hat Eckemoff nach eigenen<br />

Angaben mit „umfangreichen<br />

Notenblättern“ skizziert; doch<br />

erst unter Einbeziehung ihrer<br />

finnischen Band hat sie den<br />

Garten samt dem dazugehörigen<br />

Wildwuchs zum Leben<br />

erwecken können.<br />

Mit der Rhythmus-Sektion<br />

(Vibrafonist Panu Savolainen,<br />

Bassist Antti Lötjönen und<br />

Drummer Olavi Louhivuori)<br />

hat Eckemoff bereits 2013<br />

bei den Aufnahmen zu<br />

Blooming Tall Phlox zusammengearbeitet<br />

und sie nun um<br />

den Saxofonisten Jukka Perko<br />

und den Gitarristen Jarmo<br />

Saari erweitert. Letzterer greift<br />

mitunter <strong>–</strong> etwa im Coming-ofage-Stück<br />

„Butterflies“ <strong>–</strong> zu<br />

Glasharfe und Theremin, um<br />

zusätzliche Färbungen in die<br />

Gartengemälde einfließen<br />

zu lassen, die von derartigen<br />

Ansätzen durchaus profitieren.<br />

Ohnehin muss man sich auf die<br />

(inhaltlich eher handlungsarmen,<br />

weil statischen, musikalisch<br />

dafür umso vielfältigeren)<br />

Adventures of the Wildflower<br />

gezielt einlassen, um sie wirklich<br />

zu begreifen. Die eine oder<br />

YELENA ECKEMOFF<br />

Jazz für Schrebergärten<br />

der andere unter den Gartenfreunden<br />

könnte sich dazu aber<br />

durchaus berufen fühlen, um<br />

beim Jäten und Säen ein bisschen<br />

Abwechslung zu haben.<br />

Und vielleicht blüht demnächst<br />

auf ein paar zusätzlichen Grünflächen<br />

eine kleine Akelei.<br />

Aktuelles Album:<br />

Yelena Eckemoff:<br />

Adventures of the Wildflower<br />

(L&H Production / In-Akustik)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 37


FIRASSO Der mit dem Kaugummi tanzt<br />

© Friederike Imhorst<br />

Allzu viel Positives kann man dem Coronavirus ja wirklich nicht<br />

nachsagen, gerade was seinen Einfluss auf Musik und Kultur allgemein<br />

angeht. Doch immerhin, bei der Aufnahme und Veröffentlichung von<br />

Tales, dem Debüt des Trios Firasso, hat die Pandemie nachgeholfen.<br />

Von Guido Diesing<br />

Wer beim Wort Debüt an<br />

vorsichtige erste Schritte,<br />

eine gewisse Unreife und die<br />

Suche nach dem eigenen Weg<br />

denkt, könnte mit Blick auf<br />

das Trio Firasso nicht weiter<br />

danebenliegen. Tatsächlich<br />

sind die drei aus dem Ruhrgebiet,<br />

die sich an der Essener<br />

Folkwang-Hochschule kennengelernt<br />

haben, schon seit<br />

über fünf Jahren in gleicher<br />

Besetzung zusammen, bestens<br />

aufeinan der eingespielt und an<br />

ihren Instrumenten über jeden<br />

Zweifel erhaben. Die Chance,<br />

kurzfristig bei einem Festival<br />

für zeitgenössische Musik<br />

einzuspringen, hat Nils Imhorst<br />

(b), Robert Beck (cl, b-cl) und<br />

Marko Kassl (acc) 2015 als<br />

Gruppe zusammengeführt. Eine<br />

glückliche Fügung, wie Robert<br />

Beck rückblickend feststellt:<br />

„Es hat so gut geklappt, dass<br />

wir uns gesagt haben: Wir<br />

versuchen weiterzumachen.“<br />

Gesagt, getan. Über die<br />

Jahre war die Gruppe eine<br />

Konstante für die drei Musiker,<br />

wenn sie auch nicht immer an<br />

erster Stelle stand. „Jeder von<br />

uns hat so seine Projekte, und<br />

dieses Trio war immer etwas,<br />

wo man einfach zusammenkommt<br />

und zum Spaß spielt“,<br />

sagt der Klarinettist. „Wir<br />

haben gespielt, was uns so unter<br />

die Finger kam <strong>–</strong> Piazzolla,<br />

Klezmerstücke, Moondog, John<br />

Zorn, dazu ein, zwei Stücke von<br />

Nils.“ Der besondere Reiz des<br />

Gruppenklangs lag und liegt in<br />

den unterschiedlichen Erfahrungen,<br />

die die drei Musiker<br />

mitbringen. Beck hat klassische<br />

Klarinette studiert, Kassl fühlt<br />

sich besonders in der zeitgenössischen<br />

Musik und im<br />

38 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> v.l.: Nils Imhorst, Robert Beck und Marko Kassl


Tango zu Hause, und Imhorst ist<br />

studierter Jazzbassist.<br />

Natürlich seien die<br />

stilistischen Einflüsse nicht so<br />

eindeutig den einzelnen Musikern<br />

zuzuordnen, relativiert<br />

Beck: „In der Realität sind die<br />

Grenzen doch etwas fließender.<br />

Was das Komponieren<br />

angeht, ist Nils auf jeden Fall<br />

der Erfahrenste. Er arrangiert<br />

auch viel für eine Bigband, die<br />

er leitet. Sonst ist es so, dass<br />

Marko vom Akkordeon her viel<br />

von Piazzolla in den Fingern<br />

hat, wenn er schreibt. Ich habe<br />

durch die Klarinette eher einen<br />

Klezmer-Bezug. In meiner Jugend<br />

in den 90ern war gerade<br />

der Giora-Feidman-Hype, da<br />

hab ich viel Klezmer gespielt.<br />

Ich glaube nicht, dass ich von<br />

der Klassik viel mitbringe, was<br />

man in unserer Musik hören<br />

könnte.“<br />

Dann kam Corona. Und<br />

damit die Entscheidung, endlich<br />

die schon länger virulente Idee<br />

umzusetzen, eine CD aufzunehmen.<br />

Einfach nur das vorhandene<br />

Programm abzuspulen, das<br />

sich über die Jahre angesammelt<br />

hatte, war ihnen dabei<br />

jedoch nicht genug. „Wir haben<br />

uns gesagt: Eigentlich lohnt es<br />

sich nicht, etwas aufzunehmen,<br />

was es schon gibt. Lass uns<br />

probieren, was dabei rauskommt,<br />

tatsächlich nur eigene<br />

Sachen einzuspielen und auch<br />

explizit dafür zu schreiben. Es<br />

war auch ein bisschen eine<br />

Trotzreaktion. Das war unser<br />

Festhalteprojekt durch das<br />

Jahr. Wir haben es tatsächlich<br />

drei, vier Tage um den 20. Oktober<br />

herum aufgenommen, als<br />

gerade die zweite Welle kam.<br />

Wenn wir dann zwischendurch<br />

aufs Handy guckten, rauschten<br />

die ganzen Absagen rein. Da<br />

hat es sehr gutgetan, trotzdem<br />

etwas zu machen.“<br />

Das Ergebnis ist ein feiner,<br />

sehr kultivierter kammermusikalischer<br />

Klang, mal mit Hang<br />

zur Melancholie, dann wieder<br />

mit viel Spaß an originellen<br />

Einfällen, krummen Takten<br />

und Lust am musikalischen<br />

Geschichtenerzählen. Den<br />

Titel Tales trägt das Album<br />

mit gutem Grund, haben doch<br />

viele der Tracks eine narrative<br />

Qualität, der im Booklet durch<br />

mögliche inhaltliche Assoziationen<br />

noch weiteres Futter<br />

gegeben wird. Dort heißt es<br />

etwa über „Käues“, das starke<br />

Eröffnungsstück des Albums:<br />

„Wie in Kaugummi treten und<br />

einen Tanz veranstalten, um<br />

ihn abzuschütteln.“ Mit seinem<br />

vertrackten Siebenertakt führt<br />

der Opener mitten in eine bunte<br />

Klangwelt, in der auch eine<br />

stimmungsvolle Hommage an<br />

Ennio Morricone Platz hat und<br />

der Zusammenklang von Klarinette<br />

und Akkordeon bisweilen<br />

an Gianluigi Trovesis Aufnahmen<br />

mit Gianni Coscia erinnert.<br />

Bleibt die Frage nach dem<br />

Bandnamen. Die Vermutung, es<br />

handle sich um eine Silben-<br />

Kombination aus den Vornamen<br />

der Mitglieder, führt ins Leere,<br />

schließlich sind hier nicht<br />

Finn, Rasmus und Sophia am<br />

Werk, sondern Marko, Robert<br />

und Nils. Hätte sich da nicht<br />

der Name Maroni angeboten?<br />

Robert muss lachen: „Den<br />

hatten wir tatsächlich mal<br />

auf der Liste, das klang uns<br />

dann aber ein bisschen zu<br />

kindertheatermäßig.“ An das<br />

Haribo-Prinzip <strong>–</strong> drei Silben aus<br />

drei Wörtern <strong>–</strong> haben sie sich<br />

dennoch gehalten: Das Kunstwort<br />

Firasso setzt sich aus Fire,<br />

Rain & Espresso zusammen,<br />

wie das Trio bis vor Kurzem<br />

auch hieß. „Wir haben damals,<br />

als wir eingesprungen sind,<br />

ganz dringend einen Namen<br />

gebraucht“, erklärt Robert.<br />

„Dann lief ,Fire and Rain‘ von<br />

James Taylor im Radio, und wir<br />

haben dazu einen Espresso<br />

getrunken. Nur prägt sich der<br />

Name sehr schlecht ein, und<br />

es gibt immer Nachfragen. So<br />

haben wir gedacht: Nehmen<br />

wir Firasso, das hat noch einen<br />

Bezug zu uns früher, aber ist ein<br />

bisschen knackiger.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Firasso: Tales<br />

(GLM Music / Edel:Kultur, VÖ: 7.5.)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 39


High Fidelity: Die Listening-Session<br />

PIER<br />

AUDIO<br />

Musikgenuss auf<br />

Französisch<br />

Dietmar Hölper did it again. Seine<br />

Mission lautet: Vertrieb von langlebigen,<br />

hochmusikalischen Produkten<br />

zu verhältnismäßig günstigen Preisen.<br />

Dieses Credo zieht sich durch<br />

sein gesamtes Marken- und Produktportfolio.<br />

Das hat er nun durch einen<br />

Hersteller aus Frankreich ergänzt.<br />

Von Peter Steinfadt<br />

Der Westerwäldler entdeckte für den HiFi-<br />

Markt jüngst den hierzulande unbekannten<br />

Hersteller Pier Audio aus Frankreich und<br />

vertreibt diesen nun in Deutschland. Und<br />

Geschmack hatte man in Frankreich ja<br />

schon immer. Nicht nur, was die formidable<br />

Optik und beneidenswerte Stilsicherheit<br />

angeht <strong>–</strong> man denke nur an den einzigartigen<br />

Citroën DS 21, im Volksmund als „die<br />

Göttin“ der Automobile verehrt <strong>–</strong>, auch viele<br />

audiophile Ohren haben, bedingt durch oft<br />

außergewöhnliche technische Lösungen<br />

und exquisites Design, ihr Zuhause in der<br />

Grande Nation.<br />

Pier Audio bietet zwei Elektronik-Linien<br />

an. Die Classic-Serie mit reinen Röhrengeräten<br />

und die Gold-Serie mit einem<br />

Hybridkonzept aus Transistor- und Röhrentechnologie.<br />

In Hybridkonzepten werden<br />

die Stärken beider Welten miteinander<br />

technisch vermählt: In der Vorstufe von Verstärkern<br />

wandeln Röhren die zarten Signale<br />

von Musikquellen um und geben diese im Anschluss<br />

an die kräftigen, kontrolliert aufspielenden<br />

Transistoren in der Endstufensektion<br />

weiter. Dies bedeutet, so denn die Idee gut<br />

umgesetzt wird, ein Maximum an Feinzeichnung<br />

(Röhren), kombiniert mit Kraft und<br />

(Bass-)Kontrolle (Transistoren).<br />

Beim jüngsten Spross von Pier Audio,<br />

dem Modell MS 580 SE, geht dieses Konzept<br />

voll auf. Beim MS-580 SE kommen drei<br />

Doppeltrioden des Typs 6N11 sowie vier<br />

Toshiba-Leistungstransistoren zum Einsatz.<br />

Es handelt sich um hochselektierte N.O.S.<br />

(New Old Stock)-Röhren. Der Verstärker<br />

verfügt über vier Hochpegeleingänge und<br />

eine einwandfrei funktionierende Bluetooth-Sektion<br />

für Hörer*innen mit einem<br />

Faible für gestreamte Musik. Zum Hybridverstärker<br />

gesellt sich die Röhren-Phono-<br />

Vorstufe-Pier-Audio MM/MC 8, die für alle<br />

am Markt erhältlichen MM- und MC-Standardtonabnehmer<br />

geeignet ist. Im MC-<br />

Bereich kann die Empfindlichkeit zwischen<br />

High-Output- und Low-Output-Systemen an<br />

der Frontseite eingestellt beziehungsweise<br />

umgeschaltet werden. Praktisch. Drei<br />

N.O.S.-Röhren (Militärtypen von 1965 und<br />

1970) übernehmen hier die Vorverstärkung.<br />

Beide Geräte verfügen über ein VU-Meter,<br />

das den jeweiligen Leistungsinput optisch<br />

wiedergibt. Dieses kleine Gimmick mit den<br />

zappelnden Nadeln in den Leistungsbereichen<br />

ist hübsch anzuschauen und auch<br />

wunderbar retro.<br />

Versprechen die gut verarbeiteten<br />

Geräte auch guten Klang? Wir legen mal<br />

Platten auf. An Promises (Luaka Bop, <strong>2021</strong>)<br />

von Floating Points / Pharoah Sanders mit<br />

dem London Symphony Orchestra kommt<br />

man in diesem Jahr nicht vorbei. Das sehr<br />

ruhige, neunsätzige Werk des Electro-<br />

Komponisten Sam Shepherd entfaltet sich<br />

geduldig, repetitiv und minimalistisch. Das<br />

Sanders´sche Saxofon ist frei von den<br />

bekannten Free-Ausbrüchen des nunmehr<br />

Achtzigjährigen und bringt einen gehörigen<br />

Schuss Transzendenz ins musikalische<br />

Geschehen. Hier liefert das Franzosenduo<br />

Dynamik und Timbre vor einem rabenschwarzen<br />

Hintergrund und musiziert<br />

ausdrucksstark, mitreißend und mit lässiger<br />

Autorität. Der souveräne hochauflösende<br />

Charakter der Kombi aus Verstärker und<br />

Phonovorverstärker wird den feinen und<br />

feinsten Ziselierungen des Werks mehr als<br />

gerecht. Großartige, so nie gehörte Musik<br />

und eine wegweisende Aufnahme.<br />

Ähnlich minimalistisch, aber aus ganz<br />

anderem Holz ist die Erstlings-LP Amapiano<br />

Selections von Teno Afrika (Awesome<br />

Tapes from Africa, 2020). Entstanden in<br />

Townships, ist die südafrikanische Variante<br />

der Club-Musik namens Amapiano ein<br />

Hybrid aus Deep House, Kwaito-Musik und<br />

Jazz. Die Platte verzichtet auf Vocals und<br />

zeichnet sich durch eine DIY-Ästhetik aus.<br />

Völlig entschlackt blubbern hier Rhythmusmaschine,<br />

Sequencer und Synthie-<br />

Einsprengsel vor sich hin. Die Musik ist<br />

dennoch sehr eingängig und lässt die Wadenmuskulatur<br />

zucken, wie es sich für gute<br />

House-Musik gehört. Die Piers faszinieren<br />

hier durch Sauberkeit und Kontrolle in den<br />

unteren Tonlagen und geben den Sounds<br />

aus Südafrika eine gehörige Portion Wärme<br />

mit auf den Weg.<br />

Summa summarum: Die getestete<br />

French Connection besticht durch ihre<br />

überzeugende Ruhe, kontrollierte Kraft und<br />

Transparenz und ist ein weiterer Beweis<br />

dafür, dass exzellentes HiFi mit High-End-<br />

Attitüde auch in erschwinglichen Preisregionen<br />

zu Hause sein kann. Zwei Genussmaschinen<br />

für audiophile Connaisseure,<br />

die natürlich auch mit Zuspielern andere<br />

Hersteller kombinierbar sind. Der UVP-Preis<br />

beläuft sich für den Hybridverstärker MS 50<br />

SE auf 1.399 Euro, der Phonovorverstärker<br />

MM/MC 8 kostet 1.199 Euro.<br />

Website:<br />

www.dietmar-hoelper.de<br />

40 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


FEMI & MADE KUTI<br />

Kein Generationenkonflikt<br />

Sie sind Teil einer der größten Musikdynastien<br />

aller Zeiten. Der eine ist Sohn, der andere Enkel<br />

des legendären Afrobeat-Zauberers Fela Kuti.<br />

Auf dem Doppelalbum Legacy + präsentiert<br />

Femi nun seinen Sohn Made und führt mit dieser<br />

gemeinsamen Musik die Familientradition auf<br />

eine weitere Ebene.<br />

Von Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />

Ganz simpel gesagt, schlägt<br />

dieses Zweierset aus den Alben<br />

Stop the Hate und For(e)ward<br />

eine Brücke von der Gegenwart<br />

in die Zukunft. Wenn man in den<br />

Afrobeat eintauchen will, sind<br />

die Platten eine großartige Art,<br />

damit anzufangen, denn beide<br />

machen eine Menge Spaß.<br />

Femi, Jahrgang 1962, nutzt seine<br />

ganze Erfahrung mit Live-Musik,<br />

um einen Song zu kreieren, und<br />

sein 25-jähriger Sohn Made stellt<br />

sich selbst vor, indem er zeigt,<br />

dass er zwar aus der Kuti-Family<br />

stammt, aber ein ganz eigener<br />

Künstler ist.<br />

Was sich zunächst als<br />

imposante Sammlung von achtzehn<br />

Tracks aus Highlife, fetten<br />

Bläsersätzen, großen Chören,<br />

Dancehall, Dubstep und Soul<br />

zeigt, erweist sich beim tieferen<br />

© Sean Thoms<br />

Einsteigen als überraschend<br />

komplex und raffiniert. Femi führt<br />

in den Afrobeat-Sound einer<br />

größeren Band ein und fungiert<br />

als Leader, in der gleichen Rolle<br />

wie einst sein Vater Fela; Made<br />

dagegen ist eher der modern<br />

kühle Solist. „Ich habe eine<br />

innere Uhr für Afrobeat, denn<br />

Afrobeat-Rhythmen zu spielen,<br />

ist mir in die Wiege gelegt.<br />

Darum fühle ich mich manchmal<br />

fast zu wohl dabei“, eröffnet<br />

Made Kuti das Zoom-Interview<br />

mit einem kleinen Lächeln.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Made, wie war es,<br />

mit Ihrem Vater zu arbeiten?<br />

Made Kuti: Es war und ist eine<br />

der erhellendsten und angenehmsten<br />

kreativen Reisen, die<br />

ich je erlebt habe. Es gibt eine<br />

Verbindung zwischen Eltern und<br />

Kind, wenn man ein Werk wie<br />

dieses zusammenstellt, bei dem<br />

es darum geht, sein Inneres zu<br />

kanalisieren, um das auszudrücken,<br />

von dem man glaubt, dass<br />

es für einen selbst wahr ist. In<br />

der Lage zu sein, diesen sehr<br />

persönlichen Prozess zu vollziehen<br />

und ihn mit einer Person zu<br />

teilen, von der man weiß, dass<br />

sie genauso leidenschaftlich mit<br />

dem Klang und der Botschaft der<br />

Musik verbunden ist, ist etwas<br />

ganz Besonderes für mich. Wir<br />

haben jede Seite des Albums<br />

unabhängig voneinander<br />

komponiert und uns erst in der<br />

Mixing-Phase zusammengesetzt,<br />

um uns die Musik des anderen<br />

richtig anzuhören, aber das<br />

machte die Reise noch schöner<br />

und experimenteller.<br />

Femi Kuti: Ja, wahrscheinlich<br />

war es die erfreulichste Sache,<br />

die ich bisher gemacht habe.<br />

Anders als meinem Vater war es<br />

mir wichtig, Made mit aufzuziehen,<br />

bei ihm zu sein. Nun<br />

genieße ich es, zu sehen, wie<br />

schön und wunderbar er sich<br />

entwickelt hat. Vor allem, dass<br />

er alle Instrumente auf seinem<br />

Album spielt, hat mich wirklich<br />

fasziniert und sehr stolz gemacht<br />

[lächelt].<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Wolltet ihr mit den<br />

beiden Platten, die als Doppelalbum<br />

zusammengefasst sind,<br />

eure jeweilige Sichtweise von<br />

Afrobeat demonstrieren, also die<br />

gegenwärtige und die zukünftige<br />

Ausrichtung?<br />

Femi Kuti: Ja, wir denken, dass<br />

Stop the Hate sehr viel mit der<br />

Gegenwart zu tun hat. Aber<br />

jedes Werk, das ich geschaffen<br />

habe, reflektierte sehr bewusst<br />

die unmittelbaren menschlichen,<br />

sozio-politischen und wirtschaftlichen<br />

Belange. Und mit jedem<br />

Album war sich jedes künstlerische<br />

Mitglied der Familie<br />

bisher sehr bewusst, die Musik<br />

voranzutreiben. Wir stellen uns<br />

das gerne so vor, als ob Fela ein<br />

Universum gefunden hätte. Mein<br />

Bruder [Seun] und ich wagten<br />

uns weit hinaus in unerforschtes<br />

Gebiet und entdeckten viele<br />

Galaxien und Himmelskörper,<br />

und mein Sohn Made tut jetzt<br />

das Gleiche, indem er weit in<br />

unerhörtes Gebiet vordringt<br />

und seine eigenen einzigartigen<br />

Kreationen schafft.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Sie singen über<br />

das, was in Nigeria vor sich<br />

geht, aber es könnte sich auf<br />

jeden Ort der Welt beziehen, wo<br />

es noch immer Ungerechtigkeit<br />

gibt.<br />

Femi Kuti: Wir betrachten unsere<br />

Lieder nicht als Protestsongs.<br />

Wir singen einfach über Dinge,<br />

die uns beschäftigen, aber auch<br />

Millionen anderer Menschen<br />

betreffen. Das was wir wollen,<br />

ist eine positive Veränderung zu<br />

einem besseren Leben für alle<br />

Menschen. Ich engagiere mich<br />

in jeder Bewegung, die gegen<br />

Ungerechtigkeit und Korruption<br />

ist und für Gleichberechtigung,<br />

Frauenrechte und solche objektiven<br />

Themen steht.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Made, ist es eine<br />

Last, aus einer solchen Dynastie<br />

wie der Kuti-Familie mit so vielen<br />

guten Musikern und politischen<br />

Aktivisten zu kommen?<br />

Made Kuti: Da gibt es überhaupt<br />

keinen Druck. Es ging wirklich<br />

immer um die Schönheit der Musik<br />

und die eklatante Ungerechtigkeit,<br />

die ich jeden Tag in Lagos<br />

und auf der ganzen Welt sehe.<br />

Ich wollte schon immer einen<br />

Weg finden, einen positiven<br />

Beitrag zu meiner Gemeinschaft<br />

zu leisten. Und wenn ich das tun<br />

kann, indem ich es schaffe, auch<br />

meine Anliegen durch meine<br />

Kunstform zu reflektieren, dann<br />

ist es das, was ich versuche zu<br />

machen.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf: Das Coronavirus<br />

hält die Menschheit seit einem<br />

Jahr in seinen lähmenden<br />

Fängen.<br />

Wie gehen sie damit privat um?<br />

Made Kuti: Mein Vater und ich<br />

trainieren täglich unsere Körper<br />

so hart wie möglich, um in Form<br />

für unsere Zukunft zu bleiben.<br />

Außerdem verbringen wir viel<br />

unschätzbare Zeit mit unserer<br />

Familie. Ich selbst habe die<br />

Beziehung zu meinem Partner<br />

intensiviert und lese seit einigen<br />

Monaten unglaublich viele<br />

Bücher aus den verschiedensten<br />

Bereichen. Das alles hilft,<br />

meinen Geist und meinen Körper<br />

gesund zu erhalten.<br />

Aktuelles Album:<br />

Femi & Made Kuti: Legacy +<br />

(Partisan / PIAS)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 41


Ihr aktuelles Album nennt Diana Rasina schlicht Romance.<br />

Im Englischen ein hübsches Wortspiel, bedeutet es dort doch<br />

sowohl „Romanze“ als auch „romanisch“. Und während<br />

es mit Romanzen ja so eine Sache ist, die oftmals in einem<br />

Hätte-ich-doch-Nur oder Hätte-ich-doch-Nie endet, birgt der<br />

Konsum romanischer Lieder Lustvolles ohne Reue.<br />

Von Victoriah Szirmai<br />

Nach dem Solodebüt A Capella und den<br />

Romanian Tales im Quartett widmet sich<br />

die rumänische Sängerin nun im Trio mit<br />

Miroslav Jankech (acc) und Alex Kohtaro<br />

Yoshii (g) romanischen Liebesliedern<br />

vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dabei<br />

kommen sowohl weitverbreitete Sprachen<br />

wie Italienisch, Spanisch oder Französisch<br />

als auch Nischendialekte wie das Judäo-<br />

Spanische zum Tragen <strong>–</strong> und damit die immense<br />

kulturelle Vielfalt des romanischen<br />

Europa. Die Idee, das Romanische mit dem<br />

Romantischen zu verbinden, liegt ob der<br />

etymologischen und kulturgeschichtlichen<br />

Verwandtschaft der Begriffe nahe.<br />

Rasina war es darum zu tun, diese<br />

Verbindung weiter auszuloten <strong>–</strong> und dabei<br />

gleichzeitig die Entwicklung des Konzepts<br />

der romantischen Liebe aufzuzeigen,<br />

ausgehend von der Lyrik der Troubadoure<br />

im Süden Frankreichs, kann diese doch<br />

ob ihrer primären Sujets <strong>–</strong> Unerfülltheit<br />

und Schmerz <strong>–</strong> als legitimer Vorbote der<br />

abendländisch-romantischen Liebe gelten.<br />

Und so nimmt es nicht wunder, dass die<br />

Tonalität der fünfzehn Lieder größtenteils<br />

molldurchtränkt ist, sehnsüchtig, weh.<br />

Nebstdem bezeichnet „Romanze“ nicht<br />

nur das Liebesabenteuer, sondern eine<br />

literarisch-musikalische Gattung, die auf<br />

der Iberischen Halbinsel ihre Heimat hat<br />

und bis zur höfischen Musik des spanischen<br />

Mittelalters zurückverfolgt werden<br />

kann.<br />

Genau dorthin fühlt sich der Hörer<br />

mittels des Openers „La dama d’Aragó“<br />

zurückversetzt. Die spärliche Gitarrenbegleitung<br />

erinnert an die zum Schreittanz<br />

rufende Musik der Renaissance, derweil<br />

der Gesang an katalanische Folklore<br />

gemahnt. Weniger feierlich-getragen geht<br />

es beim korsischen „Furtunatu“ zu, dessen<br />

ausgeprägter Rhythmus einem langsamen,<br />

dennoch höchst akzentuierten Tango<br />

gleichkommt <strong>–</strong> und auch dessen Sehnen<br />

ausdrückt, was vor allem am Akkordeon<br />

liegt, das über die gesamte Plattenlänge<br />

einem in Tränen zerfließenden Bandoneon<br />

gleicht. Mit dem portugiesischen „Solidão“,<br />

das ob seines warmen Gitarrenintros<br />

zunächst in trügerischer Sicherheit wiegt,<br />

geht die Romanze aber schon gründlich<br />

schief, wovon Misstöne in Stimme und<br />

Akkordeon künden: Es ist, als hörte man<br />

die Liebe unaufhaltsam den Berghang<br />

hinabrutschen.<br />

Die erste Überraschung des Albums<br />

stellt sich mit einem wehmütigen Akkordeonauftakt<br />

vor, vermeintlich erneut ein<br />

Tango, bis sich herausstellt, dass wir es<br />

hier mit Jacques Brels Bittwerk „Ne me<br />

quitte pas“ zu tun haben, langsam, schleppend,<br />

schwer <strong>–</strong> und definitiv depressionsfördernd.<br />

Kurz, es erwischt einen kalt.<br />

Unvorbereitet. Mit hochgeklapptem Visier.<br />

Und dann das gelingende Kunststück: Auf<br />

nahezu wundersame Weise weiß Rasina<br />

mit dem sizilianischen „Mi votu e mi rivotu“<br />

von eher milongischem Tonfall ein zwar<br />

fröhlicheres, aber immer noch genügend<br />

düsteres Stück folgen zu lassen, um nicht<br />

die schöne Depression zu zerstören, bevor<br />

die anschließende, nur von dezentem<br />

Gitarrenklang begleitete Ballade „Corazón<br />

de sal“ einmal mehr staunen macht, wie<br />

vollendet die Sängerin es versteht, Gefühle<br />

in Töne zu verwandeln <strong>–</strong> und umgekehrt.<br />

Das neapolitanische „I‘ te vurrìa<br />

vasá“, dessen ungemein kitschige<br />

Andrea-Bocelli-Version nebst bombastischem<br />

Streicherarrangement an dieser<br />

Stelle ganz schnell vergessen werden<br />

soll, beweist, dass dem Duett von Rasina<br />

und Akkordeon plus der sich behutsam<br />

dazugesellenden Gitarre ein ganz eigener<br />

42<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Georg Cizek-Graf<br />

DIANA RASINA<br />

Romanische Romanzen<br />

Zauber innewohnt, nicht zuletzt begründet<br />

in der wirklich schönen Melodie, die auch<br />

komplett kitschfrei interpretiert werden<br />

kann. Dem Akkordeon eignet bei seinem<br />

Solo einmal mehr etwas Bandoneonartiges,<br />

ja Piazzollahaftes, schaut doch der<br />

„Libertango“ hier gar nicht mal so verstohlen<br />

um die Ecke. Das rätoromanische<br />

„Jeu sun d’amur surprida“ schwirrt derart<br />

luftig-leicht einher, dass man sich seinem<br />

Ursprung zum Trotz als Publikum einer Pariser<br />

Sommerkomödie wähnt, mehr noch:<br />

als Protagonist, würde man diese Weise<br />

nebst einschlägigem Lächeln doch auch<br />

selbst nach einer alles neu machenden<br />

Nacht in Frankreichs Hauptstadt auf den<br />

Lippen tragen.<br />

Nach dem angenehm unprätentiös<br />

interpretierten Donizetti-Stück „Una<br />

furtiva lagrima“ besticht das asturische<br />

„Ayer vite na fonte“ mit einem ans Debüt<br />

gemahnenden A-cappella-Auftakt, bevor<br />

nach knapp anderthalb Minuten behutsam<br />

die Band einsetzt. Damit ist der Weg<br />

bereitet für die zweite Überraschung des<br />

Albums: Das sephardische „Hija mia“<br />

könnte glatt ein Zwilling des populären<br />

Schlaflieds „Durme, Durme“ sein, nur<br />

dass es einen derart flotten Rhythmus<br />

hat, dass es nicht gerade zum Einschlafen<br />

angetan ist. Dafür aber zur wiederholten<br />

Faszination davon, welche Wandelwege<br />

die jüdischen Melodien der Diaspora<br />

nehmen.<br />

Etwas aus der Reihe fällt der einem<br />

sehr fröhlichen, nachgerade alpinen Kreistanz<br />

ähnelnde Closer „La mushata armãnã“,<br />

der das mollumkränzte Album mit einer <strong>–</strong><br />

vielleicht allzu <strong>–</strong> beschwingten Note beschließt.<br />

Festzuhalten bleibt, dass es all den<br />

hier versammelten Stücken, aus welcher<br />

Epoche und welchem Kulturkreis sie auch<br />

stammen, gelingt, die mehr oder weniger<br />

melancholischen Regungen romantischer<br />

Liebe hörbar zu machen <strong>–</strong> ohne Kitsch, mit<br />

Gefühl.<br />

Aktuelles Album:<br />

Diana Rasina: Romance<br />

(Bayla Records / Galileo)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 43


Die Erde ist eine Scheibe<br />

Andrés Linetzky’s Vale Tango<br />

My Choice<br />

Winter & Winter / Edel:Kultur<br />

W W W W<br />

Luciano Biondini / Stefano<br />

Maurizi / Mirco Mariottini<br />

Dialogues<br />

Enja / Yellowbird / Edel:Kultur<br />

W W W W o<br />

Nataša Mirković &<br />

Michel Godard<br />

Risplendenti, riversi<br />

Dreyer Gaido / Note 1<br />

Musikvertrieb<br />

W W W o<br />

Katerina Papadopoulou &<br />

Anastatica<br />

Anástasis <strong>–</strong> A Journey<br />

Through Old Greek Music<br />

Saphrane / Galileo<br />

W W W W<br />

Noëmi Waysfeld<br />

Soul of Yiddish<br />

AWZ / Broken Silence<br />

W W W W o<br />

Sinikka Langeland<br />

Wolf Rune<br />

ECM / Universal<br />

W W W W o<br />

Fjarill<br />

Poësi<br />

Butter & Fly / Indigo<br />

W W W o<br />

Gabriele Muscolino<br />

Gabriele Muscolino<br />

Visage / Galileo<br />

W W W W o<br />

Paul Bremen<br />

Out of Excuses<br />

Galileo<br />

W W W o<br />

Ray Cooper<br />

Land of Heroes<br />

Westpark Music / Indigo<br />

W W W o<br />

Benedikt<br />

Balcony Dream<br />

Koke Plate<br />

W W W W o<br />

Erlend Apneseth Trio<br />

Lokk<br />

Hubro / Cargo<br />

W W W W<br />

Os Barbapapas<br />

DooWooDooWoo<br />

Fun in the Church / Bertus /<br />

Zebralution<br />

W W W o<br />

Man kennt das Problem:<br />

Nach der längst überfälligen<br />

Entdeckung eines Musikers,<br />

den alle anderen schon ewig<br />

kennen, steht man vor der<br />

Frage: Wo soll ich nur anfangen?<br />

Das Münchner Label<br />

Winter & Winter hat zur Feier<br />

seines 25-jährigen Bestehens<br />

eine elegante Lösung gefunden:<br />

Es gibt die Frage an diejenigen<br />

weiter, die es am besten wissen<br />

sollten <strong>–</strong> die Musiker selbst. So<br />

bekommen im Jubiläumsjahr in<br />

der Reihe My Choice Künstler<br />

wie Uri Caine, Jim Black oder<br />

Guy Klucevsek die Gelegenheit,<br />

sich mit ihrer eigenen Stückauswahl<br />

zu präsentieren. Der<br />

argentinische Tango-Pianist<br />

Andrés Linetzky hat dazu aus<br />

acht Alben, die er seit 1997 für<br />

das Label aufgenommen hat, ein<br />

Programm zusammengestellt,<br />

das einen guten Überblick über<br />

seine Rolle bei der Wiederbelebung<br />

des getanzten Tangos<br />

gibt. Besonders stimmungsvoll<br />

sind zwei Liveaufnahmen aus<br />

der legendären Bar El Chino,<br />

zwei weitere Titel verweisen mit<br />

Klezmer-Anklängen auf Linetzkys<br />

Großvater, der vor seiner<br />

Auswanderung nach Buenos<br />

Aires Klezmermusiker war.<br />

Dialoge zu dritt führt das<br />

bereits im Sommer 2018 gegründete<br />

Trio des Akkordeonisten<br />

Luciano Biondini mit Stefano<br />

Maurizi (p) und Mirco Mariottini<br />

(cl) auf seinem Debütalbum.<br />

Dialogues füllt ein breites Spektrum<br />

zwischen mediterraner<br />

Folklore, ungeraden Taktarten<br />

und filigraner moderner<br />

Kammermusik aus und besticht<br />

mit sensiblem Zusammenspiel.<br />

In ihrer Bearbeitung von Paul<br />

Motians „Bird Song“ schaffen<br />

die drei eine originelle Synthese<br />

aus Satie und Jimmy Giuffre <strong>–</strong><br />

konzentriert und nie geschwätzig.<br />

Interessante Vergleichsmöglichkeiten<br />

bietet schließlich<br />

eine Version von Charlie Hadens<br />

„Silence“, die die ursprüngliche<br />

Instrumentierung des Trios<br />

Haden-Garbarek-Gismonti von<br />

Bass-Sax-Klavier zu Akkordeon-<br />

Klarinette-Klavier auf links<br />

dreht, dem Stück aber dennoch<br />

hundertprozentig gerecht wird.<br />

Luciano Biondini gehört<br />

auch zur Besetzung, mit der<br />

die bosnisch-österreichische<br />

Sängerin Nataša Mirković ihr<br />

neues Album mit Michel Godard<br />

(serpent, e-b) aufgenommen<br />

hat. Durch Jarrod Cagwin zum<br />

Quartett ergänzt, begegnen die<br />

Musiker traditionellen Liedern<br />

aus Albanien, Kroatien und dem<br />

Kosovo mit derselben Finesse<br />

und Sorgfalt wie barocken Arien<br />

von Falconiero und Cavallo.<br />

Nachdenklich und behutsam<br />

tastend, nehmen sie sich alle<br />

Zeit, um eine Stimmung zu<br />

schaffen, in der die Grenzen<br />

zwischen Ländern und Epochen<br />

verschwimmen. Wenn etwa<br />

in „Marea Alta“ flächige<br />

Akkordeonharmonien und der<br />

plüschig-weiche Serpent-Klang<br />

der Sängerin den Klangteppich<br />

ausrollen, scheint die Zeit<br />

stillzustehen.<br />

Die griechische Sängerin<br />

Katerina Papadopoulou<br />

findet in ihrem neuen Projekt<br />

Anástasis für die traditionelle<br />

griechische Musik die hübsche<br />

Metapher der Auferstehungsrose<br />

oder Rose von Jericho,<br />

einer Pflanze, die auch lange<br />

Trockenheit überlebt, vom<br />

Wind an andere Orte getragen<br />

wird und dort zu neuem<br />

Leben erwacht. Definitiv nicht<br />

die Musik, die man früher als<br />

Hintergrundbeschallung beim<br />

Griechen seines Vertrauens<br />

serviert bekam, aus Gründen:<br />

Vor allem die Tänze mit Dudelsack<br />

und Trommel könnten Teile<br />

der Kundschaft verunsichern.<br />

Neben ausdrucksstark gesungenen<br />

Liedern gehört auch<br />

eine schmissige Tarantella aus<br />

Apulien zum Programm, bevor<br />

die Rose zum Abschluss mit<br />

einem hebräischen Wiegenlied<br />

wieder in den Schlaf gesungen<br />

wird.<br />

Mit einer ernsten, von<br />

dunklen Cello-Klängen beherrschten<br />

Version des „Kol<br />

Nidreï“ endet auch das neue<br />

Album von Noëmi Waysfeld auf<br />

Hebräisch, was zeigt, dass die<br />

französische Sängerin dessen<br />

Titel Soul of Yiddish nicht als<br />

dogmatische Einschränkung<br />

versteht. Unter den zuvor zu<br />

hörenden zwölf jiddischen Gesängen<br />

finden sich traditionelle<br />

Lieder ebenso wie Originalkompositionen<br />

zu Gedichten von<br />

Rivka Kopé und eine Bearbeitung<br />

von Barbaras Chanson „À<br />

peine“. Gitarrist Kevin Seddiki,<br />

der die Arrangements für Geige,<br />

Gitarre und Kontrabass geschrieben<br />

hat, schafft es, selbst<br />

einem lagerfeuererprobten<br />

Evergreen wie „Dona dona“ etwas<br />

Neues abzugewinnen, und<br />

DIE ERDE IST<br />

verwandelt „Dans ma chambre“<br />

in ein kunstvolles Zwiegespräch<br />

zwischen Gesang und Geige.<br />

Mit der Auswahl des Liedes<br />

„Di goldene pave“ von Chava<br />

Alberstein macht Waysfeld<br />

deutlich, welche Traditionslinie<br />

sie weiterführt und weiterentwickelt.<br />

Zurückgenommen und<br />

musikalisch aufs Nötigste<br />

reduziert zeigt sich Sinikka<br />

Langeland auf Wolf Rune, ihrem<br />

ersten Soloalbum für ECM. In<br />

der Beschränkung auf Gesang<br />

und Kantele entwickelt die<br />

Aufnahme im Zusammenspiel<br />

der manchmal etwas spröden<br />

44 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Stimme und der kargen Instrumentierung<br />

einen ganz eigenen<br />

meditativen und spirituellen<br />

Reiz <strong>–</strong> eine Andacht zu Ehren<br />

der Natur. Die Klänge wurzeln in<br />

archaischen Vorzeiten, weisen<br />

aber gleichzeitig mit experimentellen<br />

Elementen in die<br />

Zukunft. Dazu passend reicht<br />

die Auswahl der vertonten Texte<br />

vom 13. Jahrhundert (Meister<br />

Eckhart) bis in die Gegenwart<br />

(Jon Fosse). Nebenbei ist das<br />

Album ein eindrucksvolles Plädoyer<br />

für die Vielseitigkeit der<br />

Kantele. Die Norwegerin wählt<br />

das jeweils passende unter drei<br />

Modellen mit 5, 15 und 39 Saiten<br />

aus, die sie abwechselnd zupft,<br />

mit dem Bogen streicht oder mit<br />

einem E-Bow bearbeitet.<br />

Poetisch wird’s auf dem<br />

neuen, bereits neunten Album<br />

des Duos Fjarill. Auf Poësi<br />

singen die beiden Wahl-Hamburgerinnen<br />

aus Südafrika und<br />

Schweden Gedichte von Nelly<br />

Sachs und Pär Lagerkvist. Bei<br />

der Vertonung der anspruchsvollen<br />

Lyrik, immerhin von zwei<br />

Literaturnobelpreisträger*in<br />

nen, setzen die Fjarill-Frauen<br />

auf Songwriter-Folk mit einer<br />

großen Portion Pop im besten<br />

Sinne: zugänglich, aber<br />

nicht anbiedernd. Besonders<br />

eindrucksvoll gelingt der Spagat<br />

zwischen Lyrik und Pop in<br />

„Kära, tag en brand ur elden“,<br />

das mit seinem treibenden und<br />

erhebenden Rhythmus geradezu<br />

euphorisierend wirkt. Es geht<br />

um große Themen, mal in<br />

Schwedisch und mal in Deutsch.<br />

Die Gedichtzeilen beweisen<br />

eindrucksvoll ihre Eignung als<br />

Songtexte und öffnen den Raum<br />

für Interpretationen: „Tiefdunkel<br />

ist des Heimwehs Farbe immer“.<br />

EINE SCHEIBE<br />

Von vornherein zum Singen<br />

gemacht, aber nicht weniger<br />

poetisch sind die Texte von<br />

Gabriele Muscolino, der nach<br />

zwei Alben als Sänger der<br />

Südtiroler Gruppe Nachtcafé<br />

jetzt sein Solodebüt veröffentlicht.<br />

Seine angenehm sonore<br />

und etwas knarziger gewordene<br />

Stimme mischt sich glänzend<br />

mit dem eher herben Harmoniegesang<br />

von Angelika Pedron.<br />

In den Arrangements trifft die<br />

cantautori-nahe Begleitung der<br />

irischen Bouzouki auf Folkelemente<br />

von Geige, Cello und<br />

Akkordeon; für zwei Gastauftritte<br />

schaut Martin Tourish (acc)<br />

von der Irish-Folk-Band Altan<br />

vorbei. Muscolino kann ebenso<br />

überzeugend Stimmungen<br />

beschreiben wie Geschichten<br />

erzählen, die er mit sicherer<br />

Hand in gefällige Melodien<br />

kleidet. Nicht so verrückt wie<br />

Vinicio Capossela und folkiger<br />

als Gianmaria Testa, doch wer<br />

die beiden mag, sollte auch<br />

diesem reifen Album etwas<br />

abgewinnen können.<br />

Nach vielen Jahren in der<br />

Kölner Bluegrass- und Jazzszene<br />

gibt es für Paul Bremen keine<br />

Entschuldigung mehr, nicht<br />

längst ein Album veröffentlicht<br />

zu haben, das ausschließlich<br />

aus Eigenkompositionen besteht.<br />

So nennt der Geiger und<br />

Mandolinist es dann auch: No<br />

More Excuses. Die Besetzung<br />

fällt mit Geige, Mandoline,<br />

Gitarre und Bass konventionell<br />

aus, wird bisweilen mit Banjo,<br />

Dobro, E-Gitarre und Cello<br />

ergänzt und bietet die Möglichkeit,<br />

neben den typischen<br />

Bluegrass-Zutaten Country, Folk<br />

und Jazz auch Rock-Elemente<br />

einzubauen. Auch wenn sich<br />

die Gesangsstücke nicht ganz<br />

auf dem Niveau der Instrumentals<br />

bewegen, sind sie unerlässlich,<br />

schließlich, so Bremen,<br />

habe jeder Songwriter die<br />

Pflicht, mindestens einen River-<br />

Song und einen Train-Song zu<br />

schreiben. Als Kölner hat er<br />

das Glück, dank der Eisenbahnbrücken<br />

über den Rhein beides<br />

in einem Abwasch erledigen zu<br />

können.<br />

Auch wenn Ray Cooper<br />

die Oysterband bereits 2013<br />

verlassen hat <strong>–</strong> mit seiner Musik<br />

bewegt er sich auch solo in<br />

ähnlich folkrockigen Regionen.<br />

Der Multiinstrumentalist ist<br />

weniger der Typ, der blutige<br />

Balladen aus alten Zeiten singt,<br />

sondern ein musikalischer<br />

Chronist, der beobachtet und<br />

kommentiert, was er aktuell<br />

um sich herum wahrnimmt. In<br />

„The Beast“ singt er es explizit:<br />

Die Vergangenheit soll doch<br />

bitte bleiben, wo sie war: in<br />

Burgruinen, alten Folksongs und<br />

unter der Erde. Wenn er fordert<br />

„We Need More Heroes“ sind<br />

keine Sagenhelden gemeint,<br />

sondern Whistleblower*innen,<br />

Krankenpfleger*innen und<br />

alle, die dafür kämpfen, dass<br />

längst überwunden geglaubte<br />

Ansichten wieder aufleben.<br />

Überraschend: Zu seinem<br />

Instrumentarium gehört neben<br />

Cello, Gitarre, Mandoline und<br />

Klavier auch die Kantele.<br />

Aus der lebendigen<br />

Musikszene Oslos stammt die<br />

Gruppe Benedikt. Hervorgegangen<br />

aus einem Soloprojekt des<br />

Norwegers Hans Olav Settem,<br />

ist sie nach und nach zu einer<br />

neunköpfigen Band herangewachsen,<br />

einfach weil Settem<br />

seit seinem Umzug in die Hauptstadt<br />

ständig neue Mitstreiter<br />

kennenlernt und einbindet.<br />

Dennoch wirkt Balcony Dream<br />

nicht überladen. Die Songs<br />

zeichnen sich durch ansprechende<br />

Melodien und eine gewisse<br />

grundsätzliche Sanftheit<br />

aus. Wenn die Begleitung der<br />

hingehauchten Stimme orchestrale<br />

Züge annimmt und auch<br />

noch ein Banjo einsetzt, sind<br />

Ähnlichkeiten zu Sufjan Stevens<br />

nicht zu überhören. Settem<br />

nennt aber auch Leonard Cohen<br />

und Nico als Einflüsse.<br />

Ein weiteres gutes Beispiel<br />

für die Durchlässigkeit der<br />

norwegischen Musikszene ist<br />

Erlend Apneseth. Der Hardangergeiger<br />

hat nicht nur im Folk<br />

einen guten Namen. Er spielt<br />

mit Jazzern, macht zeitgenössische<br />

und experimentelle<br />

Musik, und immer ist das<br />

Ergebnis unberechenbar und<br />

modern. So auch auf Lokk, dem<br />

neuen Album seines Trios mit<br />

Stephan Meidell (g) und Øyvind<br />

Hegg-Lunde (dr). Die Stücke,<br />

die für ein Tanztheaterprojekt<br />

entstanden sind, weisen viele<br />

rhythmusbetonte Passagen,<br />

aber auch Soundscapes auf, in<br />

die Apneseth stimmungsvolle<br />

Feldaufnahmen der Rufe von<br />

Hirtinnen einfügt. Schafft das<br />

Trio schon in Konzertsituationen<br />

durch Echtzeit-Verfremdung<br />

mit Live-Elektronik und Loops<br />

dichte Texturen, wird die Atmosphäre<br />

durch die anschließende<br />

Nachbearbeitung im Studio<br />

noch geheimnisvoller.<br />

Die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass jemand, der sich von einem<br />

Bandnamen wie Os Barbapapas<br />

angezogen fühlt, auch in der<br />

Musik der gleichnamigen Band<br />

etwas Ansprechendes findet,<br />

ist hoch. Das brasilianische<br />

Quartett knüpft an alte Exoticaund<br />

Tropicália-Traditionen an<br />

und gönnt sich dafür gleich zwei<br />

Perkussionist*innen. Die liefern<br />

die meist entspannte rhythmische<br />

Basis für Surf-Gitarre,<br />

Bass, Glasharfe und Topfgitarre<br />

(was auch immer das sein mag).<br />

Dass Grenzen oder sonstige<br />

Beschränkungen dabei bedeutungslos<br />

sind, unterstreicht der<br />

Slogan ihres Labels Fun in the<br />

Church: „Outernational Music<br />

for Interplanetary People“.<br />

Leider ist ihr Album wegen der<br />

erschwerten Aufnahmesituation<br />

unter Pandemiebedingungen<br />

nur 25 Minuten lang, in denen<br />

die Frage letztlich nicht beantwortet<br />

wird: Befinden wir uns<br />

hier gerade unter Wasser oder<br />

irgendwo im hintersten Winkel<br />

der Galaxis?<br />

Guido Diesing<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 45


BURGES / GRÄNZER / SCHADE<br />

Von der Schönheit des Scheiterns<br />

Burges / Gränzer /<br />

Schade blicken<br />

zum zweiten Mal<br />

in menschliche<br />

Abgründe und<br />

spannen den Bogen<br />

vom Seelenschmerz<br />

zur Selbstironie.<br />

© Chris Gonz<br />

46<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Von Doris Schumacher<br />

Jenseits schillernder Welten <strong>–</strong><br />

Farben der Liebe heißt das neue<br />

Album des Brandenburger Trios<br />

<strong>–</strong> und wer jetzt fragt, ob es sich<br />

als Untermalung für kuschelige<br />

Momente eignet, dem kann man<br />

antworten: na ja. Ungeeignet<br />

ist es für alle, die glauben, die<br />

Farben der Liebe seien Hellblau<br />

und Rosarot. Geeignet für jene,<br />

denen die Schattenseiten der<br />

Liebe und des Lebens nicht<br />

fremd sind.<br />

Da fliegen auf dem Cover<br />

zwei wie Engel ohne Flügel<br />

aufeinander zu <strong>–</strong> und man weiß<br />

nicht, ob sie sich noch in der<br />

Mitte treffen, bevor der Abgrund<br />

sie verschlingt (Design: C.eS <strong>–</strong><br />

theARTer). Da geht es um einen<br />

Sohn, von dem die Mutter nur<br />

noch verkohlte Einzelteile findet,<br />

die nach einem Drohnenangriff<br />

in der Wüste liegen („Der<br />

Dienst“). Da gibt es das Paar,<br />

das so gegensätzlich ist, dass es<br />

schon wieder urkomisch wirkt<br />

(„Por una mirada“). Es geht um<br />

Geflüchtete, um Enttäuschte,<br />

um Einsame, Unverstandene,<br />

Lebensmüde. Doch durch die<br />

Verzweiflung weht stets ein<br />

kräftiger Hauch der Poesie. „Ich<br />

glaube, ich hätte nicht die Gabe,<br />

seichte Texte zu vertonen“,<br />

antwortet Katharina Burges auf<br />

die Frage, ob ihr die Texte als<br />

Komponistin nicht auch nahegehen.<br />

„Ich glaube, wenn man<br />

anfängt zu komponieren, ohne<br />

dass einem etwas nahegeht,<br />

dann macht man was falsch.<br />

Dann hat es nicht die Wucht,<br />

dann ist nicht die Seele drin.“<br />

Und Seele ist ganz viel drin in<br />

diesem Album, das doch eher<br />

ein Programm ist, denn es ist<br />

definitiv für die Bühne gemacht.<br />

Stilistisch richten sich die<br />

Vertonungen stark nach den<br />

Inhalten <strong>–</strong> da klingt’s mal nach<br />

der Partitur eines Horrorfilms<br />

(„Das letzte Land“), mal nach<br />

einer verrauchten Jazzbar<br />

(„Liebelei“), mal erinnert ein<br />

Streichquartett an Schubert<br />

(„Sternenblicke“), mal beginnt<br />

etwas wie eine romantische<br />

Klavierfantasie („Ein längst<br />

vergangener Sommer“). Und<br />

immer, wenn man sich gerade<br />

entspannt zurücklehnen will,<br />

kriechen einem Torsten Gränzers<br />

Texte ins Ohr und zwingen<br />

zum Aufhorchen. Perkussionist<br />

Göran Schade klappert kokett<br />

mit Kastagnetten, wenn Katharina<br />

Burges die Dramaqueen im<br />

Stil großer Opern gibt. Torsten<br />

Gränzer bleibt bei ihren vokalen<br />

Ausbrüchen cool und gibt zu, er<br />

verstehe ja gar nicht, wovon sie<br />

überhaupt rede. Kein Wunder,<br />

sie singt ja auch auf Spanisch<br />

(„Por una mirada“). Um die<br />

humorvolle Seite dieses Stücks<br />

zu verstehen, muss man freilich<br />

das dazugehörige Video gesehen<br />

haben. Allein vom Hören<br />

erschließt sie sich nicht.<br />

Beim ersten Album hatte<br />

Katharina Burges noch ältere<br />

Texte Gränzers vertont. Die fürs<br />

zweite schrieb dieser alle neu.<br />

Teilweise, sagt Gränzer, seien<br />

die Kompositionen schon vor<br />

den Texten dagewesen. „Katharina<br />

hat eine tolle Art zu komponieren<br />

und ihr Gefühl reinzubringen“,<br />

erklärt er. „Da fällt mir<br />

dann auch textlich was dazu<br />

ein. ,Der Dienst‘ zum Beispiel.<br />

Da war die Komposition schon<br />

fast ausarrangiert. Ich wusste<br />

gleich, da gehört was dazu, das<br />

einen auch textlich schockt. Ein<br />

Thema, das aufrüttelt. Und dann<br />

natürlich auch ,Die Einsamkeit‘.<br />

Der Song löste so eine Traurigkeit<br />

bei mir aus, dass ich sofort<br />

ein Bild dazu hatte. Man geht<br />

durch einsame Straßen und<br />

fühlt sich nirgendwo zugehörig.“<br />

Themen, die immer da sind,<br />

mit denen wir uns aber zu wenig<br />

beschäftigen, gehören auf die<br />

Bühne, finden Burges / Gränzer /<br />

Schade. Dazu zählen auch Depression<br />

oder Suizid („Stufen“).<br />

Fühlt sich da nicht so manch einer<br />

vor den Kopf gestoßen? Die<br />

Reaktionen seien überwiegend<br />

sehr positiv, so das Trio. „Wir<br />

wollen nicht provozieren“, fügt<br />

Gränzer hinzu. „Wir entlassen<br />

unser Publikum immer mit einem<br />

positiven Gefühl.“<br />

War beim ersten Album<br />

noch Elektronik mit im Spiel,<br />

kommen auf dem zweiten drei<br />

Streicher und ein Saxofonist zum<br />

Einsatz. „Es ist immer schöner,<br />

mit Live-Musikern zu arbeiten“,<br />

erklärt Göran Schade. „Es war<br />

leicht, die richtigen Kollegen zu<br />

finden, da wir hier in Brandenburg<br />

ein sehr gutes Symphonieorchester<br />

haben mit Musikern,<br />

die in vielen Stilen versiert sind.“<br />

Ob sie aus dem Jenseits<br />

schillernder Welten auch mal<br />

einen kleinen Abstecher hinüber<br />

ins Diesseits machen <strong>–</strong> dorthin,<br />

wo Glanz und Glamour zu finden<br />

sind? „Ich glaube, in so einer<br />

Plastikwelt würden wir es nicht<br />

wirklich aushalten“, erklären<br />

die drei einhellig. Komplett<br />

illusionslos geben sie sich aber<br />

doch nicht. „Ich glaube, ganz<br />

ohne Illusionen kann man als<br />

Künstler nicht wirklich leben“,<br />

so Burges. „Wir wünschen uns,<br />

dass wir mit dem, was wir tun,<br />

Anerkennung finden.“ Gränzer<br />

meint dazu: „Ich persönlich versuche,<br />

die schönen Momente<br />

festzuhalten. Die schillernden<br />

Welten, die gibt’s einfach nicht.<br />

Wenn wir uns die Schattenseiten<br />

immer wieder bewusst<br />

machen, dann wissen wir, was<br />

wir am Leben schätzen können.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Burges / Gränzer / Schade: Jenseits<br />

schillernder Welten <strong>–</strong> Die Farben der Liebe<br />

(Grenzton / Dance All Day)<br />

© Chris Gonz<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 47


LOGAN<br />

RICHARDSON<br />

Logan’s Run<br />

Auf sein Blue-Note-Debüt blickt der Saxofonist Logan<br />

Richardson heute eher skeptisch zurück. Mit neuem<br />

Wohnsitz Rom, neuer Platte im Rücken und Plänen für die<br />

Zukunft in der Schublade, schaut er lieber nach vorne.<br />

Daher auch der Albumtitel: Afrofuturism.<br />

Von Eric Mandel<br />

Das Wort löst gewisse Assoziationen aus:<br />

Der Begriff Afrofuturism wurde Mitte der<br />

Neunziger populär, als Klammer für futuristische<br />

Elemente in Jazz, Funk, Rap und<br />

dem neuen Ding Techno: Synthesizer, FM-<br />

Synthese, Sequencer, Drum-Machines,<br />

dazu psychedelische Cover mit Bezügen<br />

zur Zukunft (Raumschiffe), aber auch<br />

zur Vergangenheit (Pyramiden). Heute<br />

umfasst es einen Kanon, der von Sun Ra<br />

bis zu Produzenten wie Hieroglyphic Being<br />

und Ras G reicht, schließt aber auch die<br />

Romane von Octavia Butler und Samuel<br />

R. Delany mit ein, Filme wie Brother from<br />

Another Planet sowie kulturelle Felder wie<br />

die Beziehung zwischen Star Trek-Schauspielerin<br />

Nichelle Nichols (Lt. Uhura) und<br />

der NASA, Dogon-Astrologie oder den<br />

fiktiven Staat Wakanda aus den Black<br />

Panther-Comics.<br />

Der Witz an Logan Richardsons<br />

neuem Album ist, dass es zunächst nach<br />

nichts von alledem klingt. Vom Ton her<br />

ist er weniger ein Jünger Coltranes als<br />

eher ein Schüler Michael Breckers, sein<br />

Bandsound eher von Lyle Mays und der<br />

Pat Metheny Band herzuleiten als von<br />

Funkadelic oder den Headhunters. Es gibt<br />

ausufernde Ensemble-Stücke, die sich<br />

aus süßlichen Gefilden in einen freitonalen<br />

Rausch emporschwingen, aber auch<br />

ein Duett mit Cello, eine unbegleitete<br />

Saxofon-Komposition („For Alto“), den<br />

Gesang seiner Großmutter, schwebende<br />

Vokal-Passagen sowie Logan-Dialoge<br />

mit dem Drum-Computer, die von jenem<br />

synthetisch-samtweichen 80er-Sound<br />

durchtränkt sind, der Thundercat zu einem<br />

Grammy verholfen hat.<br />

Als Logan Richardson das hört,<br />

muss er lachen: „Ich verstehe, worauf du<br />

hinauswillst, aber ich fasse den Begriff<br />

Afrofuturismus noch viel weiter auf. Für<br />

mich ist jede schwarze Person, die sich<br />

heutzutage mit all den dafür nötigen<br />

Technologien durchs Leben schlägt und<br />

vielleicht noch ein Business betreibt, ein<br />

Afrofuturist.“ Damit meint er natürlich<br />

nicht zuletzt sich selbst. Nach Lehrjahren<br />

in Berklee, Projekten mit Nasheet Waits<br />

und Jason Moran und einer Reihe von<br />

eigenen Alben hat er sich vom Hardbop-<br />

Korsett befreit und einen distanzierten<br />

Blick aufs Business entwickelt.<br />

Der Afrofuturismus wie oben definiert<br />

ist für ihn schon wieder retrofuturistisch,<br />

ein „Brand“, der die Befriedigung<br />

gewisser Erwartungen verspricht, die<br />

Richardson viel zu eng scheinen. Warum<br />

muss Afrofuturismus wie Sun Ra klingen<br />

und nicht beispielsweise wie Chick Coreas<br />

Elektric Band? Dem Schubladendenken<br />

wieder einen Schritt voraus zu sein, den<br />

Rahmen immer wieder zu sprengen und<br />

48 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


sich dabei selbst zu verwirklichen <strong>–</strong> das<br />

ist sein Afrofuturismus, und damit im Sinn<br />

lässt sich das hypereklektische Album<br />

prima entschlüsseln.<br />

Auf eine Einleitung von seinem<br />

Kumpel Stefon Harris, der hier nicht als<br />

Vibrafonist, sondern als MC dient, folgt<br />

„The Birth of Us“, ein Selbstporträt seiner<br />

aktuellen Band Blues People. Der längste<br />

und tumultuöseste Song des Albums ist<br />

gewissermaßen der Honigtopf, mit dem<br />

Logan ins Innere des Werkes lockt, wo<br />

im Folgenden noch ganz andere, zartere<br />

und experimentellere Dinge passieren.<br />

Herzstück des Albums ist ein Klagegesang<br />

zwischen Logans Alt und dem Cello von<br />

Ezgi Karakus, gewidmet einem dunklen<br />

Kapitel der Black History in den USA, das<br />

er in entsprechend düsteren Farben ausmalt:<br />

„Die Black Wall Street war Greenwood,<br />

ein Viertel von Tulsa, Oklahoma. Zur<br />

Zeit der Segregation war es ein Schwarzes<br />

Handels- und Finanzzentrum, ungefähr<br />

30 Blocks mit eigenen Geschäften und<br />

Banken. Es war das reichste schwarze<br />

Viertel in den USA und ein Dorn im Auge<br />

der Regierung. Als Konsequenz wurde es<br />

im Jahr 1921 unter einem Vorwand vernichtet:<br />

ein Massaker mit Fliegerbomben<br />

und Hunderten Toten und Verletzten. Es ist<br />

ein totgeschwiegenes Kapitel der Black<br />

History vor genau 100 Jahren, an das ich<br />

erinnern will.“<br />

Hier ist sich Logan Richardson mit allen<br />

Afrofuturist*innen einig: Nur wer seine<br />

Vergangenheit kennt, kann seine Zukunft<br />

selbst schreiben. Seine Zukunft stellt er<br />

sich gegenwärtig mit seiner Verlobten<br />

Laura Taglialatela vor, die auf dem Album<br />

als Sängerin zu hören ist. Mit ihr plant er<br />

weitere Produktionen auf seinem Label<br />

Wax Industries, gewissermaßen seine<br />

Konsequenz aus den Erfahrungen mit<br />

der Industrie und die Umsetzung seiner<br />

Maxime: Sei dein eigener Boss. Mit dem<br />

UK-Label Whirlwind hat er einen Partner<br />

gefunden, der das Album auch wirklich<br />

auf Wax, also Vinyl, veröffentlicht. Nachdem<br />

er bisher in ständigem Pendelverkehr<br />

zwischen seiner Heimatstadt Kansas<br />

City, New York und Rom kreiste, plant er<br />

nun schwerpunktmäßig von Europa aus<br />

seine nächsten Schritte, unter anderem<br />

eine Album-Trilogie mit Afrofuturism als<br />

Auftakt.<br />

Wenn er von seinen neuen Plänen<br />

und Freiheiten schwärmt, wird deutlich,<br />

wie sehr ihm seine zwiespältige Blue-<br />

Note-Erfahrung in den Knochen steckt:<br />

„Ich habe ihnen ein Album gegeben, das<br />

niemand sonst hätte machen können, mit<br />

PDF in 4c<br />

Jason Moran, Pat Metheny und Nasheet<br />

Waits, aber rückblickend kann ich nicht<br />

behaupten, dass sie sich besonders<br />

darum gekümmert hätten.“ So zieht er es<br />

nun vor, mit dem eigenen Mutterschiff in<br />

Richtung Zukunft zu reisen.<br />

Aktuelles Album:<br />

Logan Richardson: Afrofuturism<br />

(Whirlwind / Indigo)


FRED HERSCH<br />

Instrumentals mit<br />

Gesang im Kopf<br />

Fred Hersch lässt sich nicht unterkriegen und<br />

veröffentlicht zur Corona-Zeit nicht etwa in sich gekehrte,<br />

nachdenkliche und melancholische Improvisationen,<br />

sondern baut mit sanglichen Klavier-Songs auf<br />

Zugänglichkeit.<br />

Von Jan Kobrzinowski<br />

„Von all den Songs mit Lyrics<br />

kenne ich diese auswendig und<br />

singe sie in meinem Kopf mit“,<br />

sagt Fred Hersch im Video-<br />

Interview. „Ich versuche, so zu<br />

phrasieren, wie ein Sänger das<br />

täte.“ Er sitzt an seinem Flügel im<br />

Landhäuschen in den Wäldern<br />

von Pennsylvania. Er und sein<br />

Lebensgefährte haben das<br />

Haus vor 16 Jahren „rund um<br />

den Steinway-B-Flügel herum“<br />

gebaut. „Ich denke, Songs from<br />

Home war das richtige Projekt<br />

zur richtigen Zeit. Ich wollte, dass<br />

die Leute sich in mein Wohnzimmer<br />

eingeladen fühlen, und spiele<br />

einfach ein paar Songs für sie,<br />

die ich gerne spiele. Nicht mehr<br />

und nicht weniger. Ich bin nicht<br />

besessen von der Idee, dass es<br />

perfekt klingen muss. Es klingt<br />

gut genug.“ Understatement,<br />

denn mit technischer Hilfe von<br />

Fachleuten aus der Ferne ist ein<br />

lebendig klingendes Soloalbum<br />

entstanden <strong>–</strong> eines der besten<br />

der letzten Zeit.<br />

„Mein Repertoire besteht<br />

meist aus drei Teilen: populäre<br />

Lieder mit Texten,<br />

Jazz-Kompositionen sowie<br />

Originalstücke von mir. Der<br />

Titel war absichtlich gewählt.<br />

Keine Hintergrundmusik, aber<br />

zugänglich, und sie versucht,<br />

den Moment einzufangen. Ich<br />

denke, dass jeder zumindest<br />

einen der Songs kennt. Ältere<br />

kennen die Standards, Leute,<br />

die in den 60er und 70ern dabei<br />

waren, kennen Joni Mitchell,<br />

Jazzguys kennen Kenny<br />

Wheeler. Ich begann mit 20 Stücken.<br />

Einige davon gelangen<br />

mir in einem oder zwei Takes,<br />

andere gerieten nicht, wie ich<br />

sie haben wollte.“ Bei denen,<br />

die dringeblieben sind, schaffte<br />

er dann, das zu sagen, was er<br />

wollte.<br />

„Für ein gutes Set musst<br />

du einen Bogen haben. Was<br />

ich von älteren Sängerinnen<br />

lernte, ist z.B. der Eleveno’clock-Song,<br />

der vorletzte<br />

Song, immer eine Ballade,<br />

die dich wie in der Hand<br />

50<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Mark Niskanen<br />

hält. Nach zehn oder zwölf<br />

Songs hast du nichts mehr zu<br />

beweisen. Da musst du etwas<br />

spielen, das dir wirklich etwas<br />

bedeutet. Ich spiele dann eine<br />

Ballade oder etwas von Monk.<br />

Aber absichtlich ist hier kein<br />

Monk-Tune auf dem Album.<br />

Mein Fokus lag auf Songs mit<br />

Lyrics.“<br />

Den Opener „Wouldn’t It<br />

Be Loverly” habe er durcharrangiert,<br />

das Intro aber sei<br />

spontan zustande gekommen,<br />

sagt Hersch. „Im Solo ging ich<br />

dann tatsächlich verloren, aber<br />

gerade das öffnete die Tür zu<br />

etwas Interessantem. Selbst<br />

wenn live etwas schiefgeht,<br />

gerate ich nicht mehr in Panik.<br />

Es ist eher so: ,Okay, das ist<br />

interessant, lass uns sehen,<br />

wo das hinführt.‘“ Auf Jimmy<br />

Webbs „Wichita Lineman“<br />

folgt „After You‘ve Gone“, von<br />

Hersch ganz im traditionellen<br />

Stride-Stil gespielt. Er verzichtet<br />

auch hier auf virtuose<br />

Sperenzchen, streut ein paar<br />

klassische Kadenzen ein und<br />

hier und da eine Prise Monk.<br />

Auch diesmal darf Joni<br />

Mitchell nicht fehlen. Für<br />

meine einsame Insel: Freds<br />

Version von „All I Want“<br />

vom Album Blue. „Get Out of<br />

Town“ ist ein Gruß an all die<br />

Fellow-New-Yorkers, die die<br />

Zeit „for the duration” auf dem<br />

Land verbringen. Das Thema<br />

des Cole-Porter-Songs spielt<br />

Hersch fast sanglicher, als je<br />

eine Sängerin es interpretieren<br />

könnte. Freds Mutter trug<br />

den blumigen Namen Florette,<br />

in „West Virginia Rose“ <strong>–</strong> im<br />

Medley mit dem Folk-Tune „The<br />

Water Is Wide“ <strong>–</strong> „besingt“<br />

er sie instrumental. Mit dem<br />

Hersch-Original „Sarabande“<br />

folgt das nachdenklichste Stück<br />

des Albums, das die Tiefe auslotet,<br />

in der der Pianist sich mit<br />

seinem Instrument auseinandergesetzt<br />

hat. Nach dem melodiösen<br />

Thema von „Consolation<br />

(A Folk Song)“ entfaltet er die<br />

Kenny-Wheeler-Komposition<br />

in einer Art Improptu. Dann,<br />

als Eleven-o’clock-Song,<br />

wunderbar getupft, die einzige<br />

„wirkliche Corona-Ballade“: Ellingtons<br />

„Solitude“. „Ein Stück,<br />

dass ich kaum je gespielt habe.<br />

Das wollte ich wirklich ganz<br />

ruhig haben.“ Augenzwinkernd<br />

erinnert er dann mit „When I’m<br />

Sixty-Four“ an sein fortgeschrittenes<br />

Alter.<br />

Zu Beginn des Shutdowns<br />

hatte sich Fred Hersch nicht<br />

mehr wirklich als Musiker<br />

gefühlt und war ziemlich<br />

deprimiert. Nun, sagt er, sei es<br />

ganz okay, von zu Hause Konzerte<br />

zu geben, sogar Geld zu<br />

verdienen, ohne in ein Flugzeug<br />

zu steigen, zu reisen oder auf<br />

Klavieren zu spielen, die ihm<br />

nicht gefallen. „Mir gefiel das<br />

schon vorher nicht allzu sehr,<br />

und ich glaube nicht, dass ich<br />

wieder so beschäftigt sein<br />

werde wie vorher. Aber jetzt<br />

schreibe, spiele, unterrichte<br />

ich, interagiere mit Leuten, ich<br />

meditiere, mache Übungen, es<br />

ist wunderschön hier draußen.<br />

Und jetzt im Frühling werde ich<br />

mehr spazieren gehen.“<br />

Charity war schon<br />

immer Fred Herschs Sache.<br />

Fundraising-Gigs für die Jazz<br />

Foundation, Konzerte für die<br />

Steinway Hall mit acht anderen<br />

Pianisten und eine EP mit<br />

Esperanza Spalding brachten<br />

insgesamt etwa 50.000 Dollar<br />

ein. „Eine meiner nächsten<br />

Wohltätigkeitsaktionen ist für<br />

Feeding America, ein Netzwerk,<br />

das sich um Leute kümmert, die<br />

sich von Food Banks ernähren<br />

müssen. Ich kann zwar<br />

keine 20.000-Dollar-Schecks<br />

ausschreiben, aber etwas<br />

beisteuern müssen wir alle.“<br />

Fred Herschs nächstes<br />

Projekt nimmt auch bereits<br />

Gestalt an: Er arbeitet an Originalmusik<br />

für Trio und Streichquartett<br />

und hofft, diese im<br />

Sommer aufnehmen zu können.<br />

Wenn alle geimpft sind. Dabei<br />

sein werden Drew Gress (b)<br />

und Jochen Rückert (dr). „Es ist<br />

Zeit für einen Wechsel <strong>–</strong> heraus<br />

aus der Komfortzone.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Fred Hersch: Songs from Home<br />

(Palmetto / Broken Silence)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 51


Kris Davis ist nicht nur die <strong>–</strong> laut DOWN-BEAT-Kritikerpoll <strong>–</strong> aktuell beste<br />

Jazzpianistin; sie betreibt auch ihr eigenes Label Pyroclastic Records<br />

KRIS DAVIS Die Verwegene<br />

Von Christoph Wagner<br />

2016 hat Kris Davis Pyroclastic<br />

Records gegründet. Das mag<br />

tollkühn erscheinen in Zeiten,<br />

da Plattenfirmen reihenweise<br />

aufgeben und die Branche in<br />

einer tiefen Krise steckt. Doch<br />

mit herausragenden Alben von<br />

Craig Taborn, Angelica Sanchez,<br />

Eric Revis, Cory Smythe, Ben<br />

Goldberg und der Labelchefin<br />

selbst hat Davis‘ Label seither<br />

für Furore gesorgt.<br />

Christoph Wagner: Heute ein<br />

Plattenlabel zu gründen <strong>–</strong> ist das<br />

nicht verrückt?<br />

Kris Davis: Vielleicht bin ich<br />

verrückt. (lacht) Ich war an<br />

einem Punkt in meiner Karriere<br />

angelangt, wo ich eine Plattform<br />

für all meine nächsten Alben<br />

kreieren wollte. Darüber hinaus<br />

wollte ich etwas Größeres<br />

schaffen, das der Jazz-Community<br />

hilft. Die Idee war, das Label<br />

als eine Non-Profit-Organisation<br />

zu führen und andere Musiker<br />

dazuzunehmen. Die Mission des<br />

Labels ist es, nicht kommerzielle<br />

Musik zu unterstützen, zu veröffentlichen<br />

und zu vertreiben.<br />

Christoph Wagner: Immer wieder<br />

haben es Musiker mit eigenen<br />

Labels versucht. In den 1980er<br />

Jahren sagte mir der Saxofonist<br />

Ned Rotherberg von Lumina Records:<br />

„Wenn du Geld verlieren<br />

willst, gründe ein Label.“ Wie<br />

wollen Sie das vermeiden?<br />

Kris Davis: Pyroclastic Records<br />

ist nicht auf Gewinn ausgerichtet.<br />

Deshalb sind wir auf<br />

Geldgeber angewiesen. Wir<br />

haben ein Gremium von Sponsoren,<br />

von denen jeder jährlich<br />

einen festen Betrag beisteuert.<br />

Dadurch steht uns jährlich eine<br />

gewisse Summe zur Verfügung,<br />

mit der wir arbeiten können, d.h.<br />

wir können fünf bis sechs Alben<br />

pro Jahr veröffentlichen, und<br />

die Kosten für die Herstellung,<br />

den Vertrieb, die Publicity etc.<br />

sind gedeckt. Durch den Verkauf<br />

versuchen wir, etwas von dem<br />

Geld wieder zurückfließen zu<br />

lassen, um es in die nächsten<br />

Veröffentlichungen zu stecken.<br />

Wir müssen also keine Gewinne<br />

erwirtschaften, sondern können<br />

mit dem Geld, das uns zur Verfügung<br />

steht, die Musik fördern.<br />

Christoph Wagner: Wer sind die<br />

Leute, die das Label sponsern?<br />

Kris Davis: Das sind Musikbegeisterte,<br />

die die Künste und<br />

die Musik unterstützen wollen:<br />

Philanthropen! Jeden dieser<br />

Unterstützer habe ich auf andere<br />

Weise kennengelernt. Einer<br />

davon ist der Schriftsteller David<br />

Breskin von der Shifting Foundation,<br />

der seit Jahren auch<br />

als Plattenproduzent tätig ist.<br />

Die Stiftung vergibt Stipendien<br />

an Musiker, ob Bill Frisell, Dan<br />

Weiss oder Mary Halvorson,<br />

für spezielle Projekte und wenn<br />

es passt, bringen wir die Musik<br />

dann als Album heraus. Eine<br />

© Caroline Mardok<br />

andere Mäzenin hab ich auf<br />

Twitter kennengelernt. Sie ist<br />

einfach ein Fan. Einem Unterstützer<br />

bin ich bei einem Konzert<br />

in Boston begegnet. So wächst<br />

der Kreis der Förderer.<br />

Christoph Wagner: Übernehmen<br />

die Unterstützer noch andere<br />

Aufgaben?<br />

Kris Davis: Sie initiieren Spendenaktionen<br />

und helfen, weitere<br />

Sponsoren zu gewinnen.<br />

Christoph Wagner: Sind Sie für<br />

die künstlerische Ausrichtung<br />

des Labels zuständig?<br />

Kris Davis: Ja, mit einem<br />

kleinen Gremium fällen wir die<br />

Entscheidungen, welche Alben<br />

wir veröffentlichen wollen. Wir<br />

besprechen die Vorschläge.<br />

Manche der Projekte wurden<br />

von der Shifting Foundation<br />

gefördert und haben Priorität,<br />

weil sie uns nichts kosten.<br />

Christoph Wagner: Was sind die<br />

Kriterien, die ein Album erfüllen<br />

muss, damit es auf Pyroclastic<br />

erscheint?<br />

Kris Davis: Wir halten Ausschau<br />

nach kreativer, abenteuerlicher,<br />

nicht kommerzieller Musik. Darüber<br />

hinaus achten wir darauf,<br />

dass genügend Frauen und<br />

afroamerikanische Musiker vertreten<br />

sind. Das ist für mich mit<br />

Sicht auf das Gesamtprogramm<br />

ein wichtiges Kriterium.<br />

Christoph Wagner: Können Sie<br />

ein paar Zahlen nennen, was<br />

die Auflage und den Verkauf<br />

anbelangt?<br />

Kris Davis: Normalerweise<br />

ist die Auflage einer CD 2000<br />

Stück. Ungefähr ein Viertel ist<br />

für die Publicity vorgesehen:<br />

Fachmaga zine, Zeitungen, Radio,<br />

Websites etc. Ungefähr die<br />

Hälfte geht in den Verkauf. Der<br />

betreffende Musiker bekommt<br />

<strong>300</strong> Stück zum Direktverkauf bei<br />

Auftritten. Wenn die weg sind,<br />

kann man mehr haben.<br />

Christoph Wagner: Wie viele<br />

Leute arbeiten für das Label?<br />

Kris Davis: Ich habe die Gesamtaufsicht,<br />

aber wir haben<br />

Freiberufler, die sich unterschiedlichen<br />

Aufgaben widmen,<br />

und einen Vertrieb, der die CDs<br />

verkauft. Es gibt eine Person, die<br />

dafür sorgt, dass die Alben auf<br />

den verschiedenen Internet-<br />

Plattformen erhältlich sind, eine<br />

andere kümmert sich um die<br />

Publicity, füttert die sozialen<br />

Medien.<br />

Christoph Wagner: Wie sieht die<br />

Zukunft aus?<br />

Kris Davis: Am schwierigsten<br />

ist es vorauszusehen, wie sich<br />

das Verhältnis von CDs und<br />

digitalen Downloads entwickeln<br />

wird. Wird es die Compact Disc<br />

in zehn Jahren noch geben?<br />

Mit solchen Fragen schlagen<br />

wir uns herum. Darüber hinaus<br />

arbeite ich momentan mit einer<br />

Firma zusammen, um den CO 2<br />

-<br />

Fußabdruck jeder CD zu verkleinern.<br />

Wir schauen uns genau<br />

an, wie viel Energie und CO 2<br />

-<br />

Ausstoß mit der Produktion, den<br />

Lieferwegen, der Verschickung<br />

etc. eines Albums verbunden<br />

sind und wie wir das reduzieren<br />

können. Gleichzeitig geht es<br />

darum, einen Ausgleich für den<br />

CO 2<br />

-Ausstoß zu schaffen, um ihn<br />

auf null zu bringen.<br />

Christoph Wagner: Das sind<br />

große Ziele.<br />

Kris Davis: Wir müssen in<br />

die Zukunft blicken und die<br />

Probleme angehen, mit denen<br />

wir konfrontiert sind. Das gilt<br />

auch für uns Jazzmusiker. Jeder<br />

sollte seinen Beitrag leisten.<br />

Irgendwann werden wir möglicherweise<br />

überhaupt keine CDs<br />

mehr herstellen, was vom ökologischen<br />

Standpunkt her am<br />

besten wäre. Doch im Moment<br />

sind sie noch unverzichtbar.<br />

Website:<br />

www.pyroclasticrecords.com<br />

52 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


MARC RIBOT<br />

Hoffnung<br />

© Ebru Yildiz<br />

Gitarrist Marc Ribot ist eine Ikone der New Yorker Downtown-Avantgarde-<br />

Jazz-Szene und neben Elliott Sharp und John Zorn auch einer der letzten<br />

Aufrechten jenes Biotops, die seit den 1980er Jahren immer noch Zeichen<br />

der kreativen Destruktion setzen. Mit einem neuen Album seiner Band<br />

Ceramic Dog macht er seinem Ruf einmal mehr Ehre.<br />

54<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Von Wolf Kampmann<br />

Hope ist das fünfte Album von Marc Ribots<br />

Band Ceramic Dog, die es seit 2008 mit<br />

Bassist Shahzad Ismaily und Drummer<br />

Ches Smith gibt. Der optimistische Titel ist<br />

überraschend, gibt der notorische Zyniker<br />

Ribot doch selten den Herold der Hoffnung.<br />

Unter veränderten Umständen zeigen<br />

manche Menschen jedoch auch ein anderes<br />

Gesicht. „Ursprünglich sollte der Titel Better<br />

Luck Next Time lauten“, so Ribot. „Nachdem<br />

Donald Trump aus dem Amt gekickt wurde,<br />

erschien uns der Titel aber nicht mehr passend.<br />

Die Menschen tanzten auf der Straße.<br />

Hoffnung ist ja nicht dasselbe wie Optimismus.<br />

Ich würde es als sehr vorsichtige<br />

Hoffnung bezeichnen, vermindert durch viele<br />

Enttäuschungen der Vergangenheit.“ Aber<br />

typisch Ribot folgt auf die Einschränkung sogleich<br />

die Einschränkung der Einschränkung:<br />

„Vielleicht kam der letzte Satz etwas zu ernst<br />

rüber. Ich würde gern ein lächelndes Gesicht<br />

dahintersetzen.“<br />

Apropos Vergangenheit. Auf den<br />

bisherigen vier Alben von Ceramic Dog hat<br />

sich meist eine durchgehende Stimmung<br />

vom Anfang bis zum Ende gezogen. Auf Hope<br />

ist das anders. Die Platte scheint alles zu<br />

umarmen, wofür Marc Ribot in den letzten 35<br />

Jahren gestanden hat. Waren seine jüngeren<br />

Platten teilweise sehr politisch, vertont<br />

er hier eine Art Lebensreise. Ribot ist sich<br />

unsicher. „Vielleicht beschreibt es ja wirklich<br />

diesen berühmten Augenblick vor dem Auge<br />

eines Sterbenden, an dem sein ganzes Leben<br />

noch einmal vorbeizieht. Aber das Album dokumentiert<br />

auch unsere Suche nach Freude.<br />

Für viele von uns war es der erste Studiotermin<br />

nach Monaten des Shutdowns. Es war<br />

so ein starkes Gefühl der Erlösung, endlich<br />

wieder miteinander spielen zu können. Wir<br />

suchten nach der Befreiung von etwas, das<br />

einfach tödlich war.“<br />

Im Grunde ist es ja erstaunlich, dass<br />

Marc Ribot überhaupt mit einer Band fünf<br />

Alben durchhält. Fast all seine Formationen<br />

von den Rootless Cosmopolitans über Shrek<br />

bis zu den kommerziell sehr erfolgreichen<br />

Los Cubanos Postizos brachten es auf genau<br />

zwei Platten. Auch Ceramic Dog war nicht<br />

als Langzeitprojekt geplant. „Ursprünglich<br />

wollten wir genau eine Platte machen. Aber<br />

dann hatten wir zu viel Material. Und so<br />

wurde eine kontinuierlich arbeitende Band<br />

daraus. Mittlereile muss ich konstatieren,<br />

dass Ceramic Dog mit Ausnahme meiner<br />

Tochter meine am längsten anhaltende<br />

Beziehung ist.“<br />

Auch wenn Ribot selbst behauptet,<br />

Ceramic Dog hätte sich von 2008 bis heute<br />

nicht substanziell verändert, lässt sich dem<br />

Trio doch über die Jahre ein bemerkenswerter<br />

Paradigmenwechsel attestieren.<br />

War es ursprünglich eine Jazzband, die<br />

sich dem Rock annäherte, wurde daraus<br />

eine lupenreine Rockband, die sich jetzt,<br />

13 Jahre nach ihrer Gründung, wieder dem<br />

Jazz annähert. Ribot lehnt Kategorisierungen<br />

für seine Musik zwar entschieden ab, hat<br />

dazu aber eine schöne Anekdote auf Lager.<br />

Als Jugendlicher hatte er Trompete gelernt,<br />

trug aber eine Zahnspange <strong>–</strong> und beendete<br />

seine Bläserkarriere entsprechend früh.<br />

Auf seinem kleinen Transistorradio hörte er<br />

die Beatles, Rolling Stones, Booker T. & The<br />

MGs, James Brown und andere Acts der<br />

Sixties. „Ich fand Keith Richards cool und<br />

beschloss, Gitarre zu lernen. Einige Jahre<br />

später orientierte sich alles immer mehr an<br />

den Charts und ich entdeckte den Jazz als<br />

Form der musikalischen Freiheit. Die besten<br />

Gitarristen schienen Jazzgitarristen zu sein.<br />

Als ich von <strong>Mai</strong>ne nach New York zog, nahm<br />

ich an vielen Jam-Sessions teil. Nach etwa<br />

einem Jahr bekam ich einen Job bei Brother<br />

Jack McDuff, einem echten Jazzmusiker.<br />

Allerdings stellte sich schnell heraus, dass<br />

McDuff mein Spiel hasste. Er starrte mich auf<br />

der Bühne an, als wollte er mich töten. Ich<br />

fragte mich, warum zur Hölle er mich dann<br />

angeheuert hatte. Eines Tages jedenfalls<br />

sagte er zu mir: „Du bist kein Jazzmusiker.<br />

Du bist nicht einmal ein R&B-Musiker. Du<br />

bist ein Rockmusiker.“ Und das sagte er mit<br />

aller Verachtung, die er in dieses Wort legen<br />

konnte.“<br />

Was Ribot mit Mitte 20 noch als Demütigung<br />

empfand, akzeptiert der Rockwolf<br />

im Jazzpelz längst als Stärke. Insofern<br />

verwundert es nicht, dass sein Album<br />

voller Referenzen an den britischen Rock<br />

der Sixties ist. Einzelne Songs erinnern an<br />

die Rolling Stones oder David Bowie, einer<br />

ist sogar eine Coverversion von Donovan.<br />

Auch wenn sich gegen Ende des Albums<br />

immer mehr Jazz-Elemente breitmachen und<br />

Darius Jones ein berauschendes Saxofon<br />

spielt, zieht sich dieser British Tinge doch<br />

durch das Album. „Ich bin ein Archäologe“,<br />

frohlockt Ribot. „Ich grabe in meiner Musik<br />

meine eigene Erinnerung aus. Es gibt viele<br />

Musiker, die sich mit Geschichte beschäftigen.<br />

Ich würde mich dazu zählen, aber<br />

ich forsche nicht in der Bibliothek, sondern<br />

wenn ich schlafe. Wenn ich mich auf die<br />

Rolling Stones beziehe, dann nicht, indem<br />

ich ihre originalen Songs analysiere. Mich<br />

interessiert die Rekonstruktion ihrer Songs in<br />

meiner Erinnerung an das Radio im Chevrolet<br />

meines Vaters. Du hörst auf der Platte keine<br />

Person von <strong>2021</strong>, die sich für britischen Rock<br />

der Sixties interessiert, sondern jemanden,<br />

der <strong>2021</strong> ein Kind in den Sixties ist.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Marc Ribot’s Ceramic Dog: Hope<br />

(Enja / Yellowbird / Edel:Kultur)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

55


CHARLES LLOYD<br />

Bluesman auf spirituellem Weg<br />

Charles Lloyd sieht in seinem Musizieren nicht weniger als einen<br />

Dienst an der Menschlichkeit. Nicht viel hält er von Etiketten und<br />

Hineindeutungen in seine Musik, so auch nicht von der Idee „Back<br />

To the Roots“, obwohl Tone Poem, das neue Album seiner Marvels,<br />

ganz danach klingt.<br />

© Dorothy Darr<br />

56 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Von Jan Kobrzinowski<br />

„Vielleicht schließt sich ein<br />

Kreis. Mag sein, dass ich nach<br />

Hause zurückkehre. Ich liebe<br />

es, im Dienst zu sein, für eine<br />

bessere Welt zu spielen, von<br />

der du besser nicht sprechen<br />

solltest, weil du nur missverstanden,<br />

wenn nicht gar dafür<br />

verhaftet wirst.“ Ein Musiker<br />

wie Charles Lloyd hat dieser<br />

Welt schon eine so unglaubliche<br />

Menge von Musik<br />

geschenkt, so viele Menschen<br />

inspiriert, was bleibt da noch<br />

zu tun? Man legt seine Musik<br />

kaum wegen des Wunsches<br />

nach abstraktem Erkenntnisgewinn<br />

auf, eher dient sie dazu<br />

(so wie ihr Urheber selbst), uns<br />

sinnlich zu bereichern, zu träumen,<br />

die Wahrheit im Klang zu<br />

suchen. „Ich will niemandem<br />

ein Glaubenssystem geben“,<br />

sagt er. „Ich möchte lieber das<br />

Wesentliche enthüllen und<br />

es mit der Welt teilen. Ich bin<br />

wach und will etwas erforschen.<br />

Wenn du unterwegs<br />

warst, um etwas Neues zu<br />

erforschen, kommst du zurück<br />

und bist nicht mehr derselbe.<br />

Man sagt: ,What you‘re looking<br />

for is looking for you.‘ Ich<br />

möchte inspirieren und Trost<br />

spenden, wie es auch mir<br />

passiert ist. Ich fühle mich<br />

jung. Selbst in Gesellschaft der<br />

großen Anzahl von Künstlern,<br />

mit denen ich in diesem langen<br />

Leben spielen durfte, besitze<br />

ich immer noch Anfängergeist.<br />

Mit dem Vorteil, dass ich jetzt<br />

mit meiner ganzen Erfahrung<br />

darangehen kann.“<br />

Opener von Tone Poem<br />

sind zwei Stücke von Ornette<br />

Coleman: „Peace“ und<br />

„Ramblin’“. Die melodische<br />

Unbefangenheit, mit der<br />

Colemans frühes Quartett<br />

unterwegs war, scheint sich<br />

gut als gemeinsamer Nenner<br />

mit einer heutigen Version von<br />

Charles Lloyd und den Marvels<br />

zu eignen. „Ornette und ich<br />

waren Freunde, er war zwar<br />

ein wenig älter als ich, aber wir<br />

waren Compadres. Er besaß<br />

eine besondere, einzigartige<br />

Fähigkeit: Er konnte seine<br />

eigene Kosmologie gestalten,<br />

er ließ seine Stücke wie seine<br />

Kinder herumspazieren. Die<br />

Marvels und ich, wir nehmen<br />

sie jetzt mit an die frische Luft<br />

auf einen Spaziergang.“ Und<br />

dieser geht weiter in gewohnte<br />

Gefilde, mit einer zurückgelehnt<br />

zeitlosen Instrumental-<br />

Country-Version von Leonard<br />

Cohens „Anthem“. „,There is<br />

a crack, a crack in everything.<br />

That‘s how the light gets in.‘<br />

Der Mann ist ein Poet. Man<br />

schlug mir vor, ein komplettes<br />

Album mit diesen Songs zu<br />

machen, aber ich wollte das<br />

nicht. Wenn du nach Entertainment<br />

suchst, bist du bei mir an<br />

der falschen Adresse. Ich bin<br />

nicht daran interessiert, etwas<br />

glatt zu machen, ich bin ein<br />

Bluesman auf einem spirituellen<br />

Weg.“<br />

Bluesig fährt er fort mit<br />

dem Sechsachtel-Flötenstück<br />

„Dismal Swamp“, gefolgt vom<br />

Titel-Song, einer programmatischen<br />

Suite, getragen von<br />

E-Gitarre und Lapsteel, die<br />

die Marvel-Klangzauberer in<br />

einen lockeren Afrogroove<br />

münden lassen. „Monk’s<br />

Mood“ hatte Lloyd schon auf<br />

Vanished Gardens als Duo<br />

mit Bill Frisell aufgenommen.<br />

„Thelonious Monk ist der musikalische<br />

Architekt“, merkt er<br />

an. Darüber, wie Monk bei den<br />

Marvels klingen soll, herrscht<br />

große Einigkeit bei Frisell,<br />

Greg Leisz, Reuben Rogers<br />

und Eric Harland. Entspannt<br />

und zurückgelehnt machen sie<br />

den Raum auf für die lyrische<br />

Perligkeit von Lloyds Tenor-<br />

Improvisationen.<br />

Gäbe es die Marvels<br />

nicht, müssten sie eigens hierfür<br />

erfunden werden. Charles<br />

Lloyd und seine Weggefährten<br />

sind sich in dieser Besetzung<br />

schon seit 2015 treu. „Es<br />

hätte sein können, dass mein<br />

Quartett mit Keith Jarrett, Jack<br />

DeJohnette und Cecil McBee<br />

ebenso lange zusammenbleibt<br />

wie das Modern Jazz Quartet,<br />

für 30 Jahre. Aber es dauerte<br />

gerade mal dreieinhalb Jahre.<br />

Du weißt nie, wie lange du<br />

zusammenbleiben kannst. Ich<br />

weiß, was gut für mich ist, was<br />

ich hören möchte, fühle mich<br />

wie ein Küchenchef, der ein<br />

Designer Meal machen will<br />

und nichts Aufgewärmtes. Ich<br />

suche neue Territorien, neue<br />

Sonnenauf- und -untergänge.<br />

In diesem Sinne bin ich<br />

ambitioniert“, bekennt Charles<br />

Lloyd. Und auf die Frage, was<br />

er jungen Musikern heute mit<br />

auf den Weg geben würde:<br />

„Wir als Künstler sollten den<br />

Leuten Wachsamkeit geben,<br />

etwas zum Aufwachen, um sie<br />

zu inspirieren. Genau das passierte<br />

mir in jungen Jahren. Ich<br />

hatte kaum eine andere Wahl,<br />

als das zu tun, was ich immer<br />

noch tue. Wir haben keine<br />

Alternative, wir sind keine<br />

Kaufleute. Musiker, Schriftsteller,<br />

auch Journalisten<br />

wollen Botschaften in die Welt<br />

bringen. Und wir beklagen die<br />

Bedingungen im Moment und<br />

den Mangel an Respekt für die<br />

Humanität. Aber wir müssen<br />

weitergehen und die Liebe<br />

im Herzen bewahren für das,<br />

was wir tun. All den jungen<br />

Künstlern kann ich nur sagen,<br />

dass sie sich weiter inspirieren<br />

lassen sollten, so wie wir es<br />

damals taten.“<br />

Auf Monk lässt Charles<br />

Lloyd „Ay Amor“, Ignacio<br />

Jacinto Villa Fernández’ (aka<br />

Bola de Nieve) berühmten<br />

Bolero, in einer verträumten<br />

Instrumentalversion folgen und<br />

gleich darauf Gabor Szabos<br />

„Lady Gabor“ als Reminiszenz<br />

an einen weiteren Weggefährten<br />

aus den 60er Jahren.<br />

Den Abschluss machen das<br />

hymnische Rubato „Prayer, for<br />

Breona“ und als Bonustrack<br />

die Country-Ballade „In My<br />

Room“.<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Aktuelles Album:<br />

Charles Lloyd & The Marvels:<br />

Tone Poem<br />

(Blue Note / Universal, erhältlich<br />

auch als audiophile Vinyl-Version<br />

in der Tone-Poet-LP-Serie)<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 57


MARTIN AUER<br />

Tribut an Satchmo<br />

© Gregor Baron<br />

Das Etikett<br />

„Wanderer<br />

zwischen Welten“<br />

wird schnell<br />

geklebt, wenn der<br />

Name Friedrich<br />

Gulda fällt: ein<br />

Konzertpianist aus<br />

dem sogenannten<br />

klassischen Fach,<br />

der auch Jazz spielt.<br />

Zwei Welten? Nur<br />

wenn man einem<br />

stromlinienförmigen<br />

Verständnis von<br />

Stilistik anhängt.<br />

Von Hans-Jürgen Linke<br />

Gleich zwei Jahrestage lassen in diesen Tagen an Louis Armstrong<br />

denken <strong>–</strong> vor 120 Jahren wurde er geboren, vor 50 Jahren starb er.<br />

Mit Hot 5 erinnert das Quintett des Trompeters Martin Auer an den<br />

wohl größten Trompeter, den der Jazz hervorgebracht hat.<br />

Von Rolf Thomas<br />

Das Martin Auer Quintett spielt mittlerweile<br />

seit einem Vierteljahrhundert zusammen <strong>–</strong> da<br />

traut man sich auch eine Würdigung von<br />

Louis Armstrong im eigenen, markanten Klang<br />

zu. „Natürlich ist es immer eine Gratwanderung,<br />

altes Material in ein neues Gewand zu<br />

kleiden“, gibt Auer zu. „Das erfordert einen<br />

gewissen Mut und die Überzeugung, dem<br />

Publikum einen Mehrwert zu bieten. Mit unserer<br />

Bearbeitung wollen wir zeigen, welche<br />

großartigen Kompositionen Armstrong und<br />

seine Frau Lil Hardin in ihrer frühen Schaffenszeit<br />

kreiert haben. Gleichzeitig wollen wir die<br />

jüngeren Zuhörer dazu animieren, sich auch<br />

den Originalen zuzuwenden.“<br />

Die entstanden allesamt in den 20er<br />

Jahren des 20. Jahrhunderts, als Armstrong<br />

die Hot 5 und die Hot 7 betrieb, seine wohl<br />

berühmtesten Bands. Damals entstanden die<br />

Meilensteine, die Armstrong berühmt gemacht<br />

haben. „Die meisten dieser rund 80 Kompositionen<br />

sind heute vergleichsweise unbekannt,<br />

zu ihrer Zeit waren sie jedoch Welthits“,<br />

weiß Auer. „Stücke wie ‚West End Blues‘,<br />

‚Struttin’ With Some Barbecue‘ oder ‚Hotter<br />

Than That‘ sind bis heute unübertroffen, weil<br />

sie eindrucksvoll belegen, wie virtuos diese<br />

fünf Musiker ihre Instrumente beherrschten.“<br />

Dafür hat Auers gesamtes Quintett Hand angelegt.<br />

Zwar hat Saxofonist Florian Trübsbach<br />

die Mehrzahl der elf Titel arrangiert, aber auch<br />

Pianist Jan Eschke, Bassist Andreas Kurz,<br />

Schlagzeuger Bastian Jütte und der Bandleader<br />

haben Songs ein neues Gewand verpasst.<br />

Auer hat sich dabei für „King of the Zulus“ entschieden,<br />

das in seiner Version überraschend<br />

modern klingt.<br />

Wie man mit solchen Ikonen umgehen<br />

kann, zeigt zum Beispiel der legendäre „West<br />

End Blues“ <strong>–</strong> hier hat Auers Quintett das<br />

eingängige Intro kurzerhand an den Schluss<br />

des Songs verlegt. Die Bandmitglieder haben<br />

sich zunächst intensiv mit den Originalen<br />

auseinandergesetzt und sich dann auf ihre<br />

jeweiligen Lieblingsstücke geeinigt. Die kreativen<br />

Neueinspielungen begeben sich durchaus<br />

auch mal in ungewöhnliche Bahnen <strong>–</strong> so klingt<br />

der New-Orleans-Klassiker „Muskrat Ramble“<br />

auf einmal sehnsüchtig wie ein Bossa Nova,<br />

Schlagzeuger Jütte hat hier Pause. So wird<br />

einer der größten Musiker aller Zeiten gewürdigt,<br />

ohne ihn nur zu imitieren.<br />

Aktuelles Album:<br />

Martin Auer Quintett: Hot 5<br />

(Laika / Rough Trade)<br />

Zwei der Welten, um die es<br />

geht, sind die sogenannte<br />

klassische Musik und der<br />

Jazz. Genau genommen kommt<br />

noch eine dritte Musik-<br />

Welt hinzu, nämlich die der<br />

westlichen Musik des 20.<br />

Jahrhunderts und danach, zu<br />

der Vertreter der sogenannten<br />

Klassik oft eine ähnlich distanzierte<br />

Beziehung pflegen wie<br />

zum Jazz: Warum muss das so<br />

schräg klingen?<br />

Für Friedrich Gulda lag<br />

die Sache anders. Er hatte<br />

keine Berührungsangst mit<br />

schrägen Klängen, wenn auch<br />

eine emotionale Distanz zur<br />

Dodekaphonie. Er hatte nichts<br />

gegen markierte Rhythmik<br />

und Offbeat und nichts gegen<br />

Improvisation oder improvisatorische<br />

Lücken im Notenmaterial.<br />

Er liebte den Jazz<br />

seiner Zeit, der noch nicht<br />

free war. Dass er ein herausragender<br />

Beethoven-Interpret<br />

war, hinderte ihn nicht daran,<br />

Bebop zu spielen. Und schon<br />

gar nicht daran, hybride,<br />

spätromantisch fundierte<br />

Musik für klassisch besetzte<br />

und erweiterte Klangkörper zu<br />

komponieren.<br />

Unter der Leitung von<br />

Gerd Müller-Lorenz hat<br />

das Bläserensemble der in<br />

Hannover ansässigen NDR<br />

Radiophilharmonie eine<br />

der erfolgreichsten Kom-<br />

58 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


positionen Friedrich Guldas<br />

eingespielt, ein fünfsätziges<br />

Cello-Konzert, bei dem Oliver<br />

Mascarenhas Violoncello<br />

spielt und das Bläserensemble<br />

um Markus Ottenberg (e-g),<br />

Mario Ehrenberg (e-b) und<br />

Lennard Schmidt (dr) erweitert<br />

ist. Bei der Uraufführung<br />

1981 hatte der große Heinrich<br />

Schiff Violoncello gespielt <strong>–</strong><br />

Gulda hatte das Werk für ihn<br />

geschrieben.<br />

Guldas Komposition geht<br />

von einer einzigen, grenzenlosen<br />

Musik-Welt aus. Er<br />

versucht keine Integration und<br />

keine Grenzverwischung, sondern<br />

stellt kühn nebeneinander,<br />

was im Kopf und im Leben<br />

eines modernen Musikhörers<br />

zusammentrifft: Rock, lyrische<br />

Musik im romantischen Idiom,<br />

Volksmusik, Heurigenbegleitklänge,<br />

eine ausgiebige<br />

Solokadenz des Cellisten, ein<br />

barockes Menuett und Jimi<br />

Hendrix’ „Purple Haze“. Mit<br />

einem wunderbar mitreißend<br />

sägenden Verzerrer-Gitarrensolo<br />

des Cellisten. Das Ganze<br />

ist aus der Sicht traditionell<br />

gesinnter Klassik nicht leicht<br />

überschaubar und enthält<br />

spieltechnische Schwierigkeiten,<br />

die Mascarenhas außerordentlich<br />

stilsicher meistert.<br />

Bei dem Live-Mitschnitt aus<br />

dem Landesfunkhaus Hannover<br />

vernimmt man geradezu<br />

verräterisch deutlich eine<br />

enorme Spielfreude.<br />

Eine dreiteilige, ebenfalls<br />

durch und durch polystilistische<br />

Suite des etwas weniger<br />

bekannten Nikolai Kapustin,<br />

bei der Johannes Nies am<br />

Klavier zu hören ist, ergänzt<br />

das Album. Aber für einen<br />

kompletten Gulda braucht es<br />

noch eine weitere Ergänzung:<br />

Die letzten vier Stücke gehören<br />

dem Bebop. Die Aufnahme<br />

entstand 1958 im legendären<br />

Rolf-Liebermann-Studio<br />

in Hamburg, und zum Trio<br />

gehörten Gulda (der auch zur<br />

Flöte greift), der Bassist Hans<br />

Last (der unter dem Künstler-<br />

Vornamen James später für<br />

etwas anderes berühmt wurde)<br />

und der Schlagzeuger Karl<br />

Sanner. Das Trio spielt den<br />

Bebop filigran, aufmerksam,<br />

eher subtil als auftrumpfend,<br />

für Menschen, die diese und<br />

manche andere Musik wirklich<br />

lieben.<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Aktuelles Album:<br />

Oliver Mascarenhas:<br />

Friedrich Gulda, Konzert für<br />

Violoncello und Blasorchester;<br />

Nikolai Kapustin, Drei Stücke;<br />

Friedrich Gulda spielt Jazz<br />

(Dreyer Gaido / Note 1 Musikvertrieb)<br />

OLIVER MASCARENHAS<br />

SPIELT GULDA<br />

Ohne Berührungsängste<br />

© Liudmila Jeremies<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

59


MACIEJ GOŁYŹNIAK<br />

Eine lebhafte Geschichte<br />

des polnischen Jazz<br />

Dass unser Nachbarland<br />

Polen eine äußerst lebendige<br />

Jazzszene hat, ist kein Geheimnis.<br />

Polnische Musiker wie Krzysztof<br />

Komeda, Tomasz Stańko oder<br />

Michał Urbaniak sind aus der<br />

europäischen Jazzgeschichte<br />

nicht wegzudenken. Umso<br />

schöner ist es, dass das<br />

altehrwürdige Schallplattenlabel<br />

Polskie Nagrania wiederbelebt<br />

wurde und sowohl eine Reihe<br />

von Re-Issues wie auch aktuelle<br />

Projekte der polnischen<br />

Jazzszene auf den Markt bringt.<br />

60 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

© Wiktor Franko


Von Angela Ballhorn<br />

Das neueste Album des Labels hat der<br />

Schlagzeuger Maciej Gołyźniak aufgenommen.<br />

The Orchid ist ein spannendes Projekt,<br />

das sich im Grenzbereich von Jazz, Rock und<br />

akustischem Ambient bewegt. Die Besetzung<br />

(b, p, dr und flh) erscheint konventionell, doch<br />

Pianist Łukasz Damrych ist ein Soundwizard<br />

an den Keyboards, E-Bassist Robert<br />

Szydło klingt eher nach Rock, und der junge<br />

Flügelhornist Łukasz Korybalski richtet in dem<br />

interessanten Gebräu einen klanglichen Gruß<br />

an Nils Petter Molvær und Mathias<br />

Eick.<br />

Nach 20 Jahren Erfahrung als<br />

Sessionmusiker im Pop- und Rock-Bereich<br />

war es Zeit für Maciej Gołyźniaks<br />

Soloalbum. „Meine Erfahrung im Studio<br />

hilft enorm, weil ich genau weiß, was ich<br />

technisch haben möchte. Ich habe viel<br />

Zeit in den Albumsound investiert.“ Sich<br />

selbst sieht Gołyźniak im Hintergrund, auch<br />

als Leader möchte er dort bleiben. „Ich brauche<br />

die Kommunikation mit den Mitmusikern.<br />

Ich wollte punchy Drums, elektrischen Bass<br />

und eine Menge Synthesizer. Łukasz Damrych<br />

ist überragend im Kreieren von Sounds.“<br />

Die Kompositionen sind in Blöcken<br />

entstanden, in Strophen, Refrains, Intros<br />

und Outros. „Sehr wenige Parts der CD sind<br />

improvisiert. Zwar ist das nicht die Definition<br />

von Modern Jazz, aber es geht darum, wie<br />

es am Ende klingt: Ist es gut? Berührt die<br />

zerbrechliche Melodie von ,The Orchid‘?“<br />

Ein unerwarteter Twist des Albums ist, dass<br />

Łukasz Korybalski seine Flügelhornparts über<br />

die fertigen Aufnahmen gespielt hat, hier also<br />

keinerlei Interaktion mehr stattfinden konnte.<br />

Trotzdem klingen die Aufnahmen ungemein<br />

homogen.<br />

Maciej Gołyźniaks Vita ist interessant.<br />

Als Fünfjähriger saß er erstmals hinter einem<br />

Drumset <strong>–</strong> seine Mutter wollte aber nicht,<br />

dass er ein Instrument spielt, weil sie vom<br />

harten Musikerleben wusste. „Lange Jahre<br />

wusste sie nicht mal, dass ich Schlagzeug<br />

spiele. Ich war im Schul-Basketballteam.<br />

Aber nur im ersten Jahr habe ich wirklich<br />

Basketball gespielt, danach war ich in der<br />

Band.“ Seine ersten Gruppen waren Bluesbands,<br />

weil Blues dem Jazz am nächsten ist.<br />

Nach vielen Tourneen als Sessionmusiker<br />

dachte Gołyźniak erstmals über eigene Musik<br />

nach. „Ich bin vor 15 Jahren nach Warschau<br />

gezogen und brauchte zehn Jahre, um zu<br />

verstehen, dass niemand mich als Jazzmusiker<br />

auf dem Zettel hatte. Also brauchte<br />

ich selber eine Band. Der wichtigste Faktor<br />

war der Mut, etwas selber zu machen.“<br />

Spricht Gołyźniak über sein Label, hört<br />

man die Ehrfurcht vor der großen Tradition, da<br />

Polskie Nagrania für viele Musikinteressierte<br />

fest zum Soundtrack ihres Lebens gehört.<br />

Für ihn waren sowohl Krzysztof Komedas<br />

Astigmatic als auch Zbigniew Namysłowskis<br />

Kujaviak Goes Funky wichtig. Komeda, der<br />

polnische Jazzheld mit dem tragischen Tod,<br />

hat einen besonderen Platz im Herzen des<br />

Drummers. Er ist der Pianist, der für ihn die<br />

schönsten Melodien überhaupt spielt. „Er<br />

berührt dich, er war der emotionalste Klavierspieler.<br />

Es ist schwer, so tiefe Gefühle in einer<br />

anderen Sprache auszudrücken.“<br />

Manifestation der Freigeister<br />

Der Journalist Piotr Metz vertieft den Einblick<br />

in die Geschichte des polnischen Jazz:<br />

„Natürlich wurde schon vor dem Krieg in<br />

Polen Jazz gespielt. Stalins Tod veränderte<br />

viel, 1955/56 war politischer Frühling in Polen.<br />

Sofort wurde das erste Jazzfestival in Sopot<br />

organisiert. Es war eine Manifestation der<br />

Freigeister <strong>–</strong> die die Regierung erlaubte. Bei<br />

der Voice of America hatte die Jazzikone Willis<br />

Conover eine wöchentliche Show. Dieses<br />

Programm war ein Fenster in die Welt und hat<br />

die Musik in Polen verändert. Die Zeitschrift<br />

SIMPLY JAZZ kam Ende der 50er Jahre auf<br />

den Markt und erschien wöchentlich. Jazz<br />

wurde von der Regierung als ungefährlich<br />

eingestuft, ohne dass ich sagen könnte,<br />

warum. Das war eine einmalige Stellung im<br />

damaligen Osteuropa. Bei aller Zensur, die<br />

es in der kommunistischen Zeit gab, durfte<br />

sich der Jazz frei entwickeln. Die Jazzmusiker<br />

komponierten zu der Zeit Soundtracks<br />

zu polnischen Filmen <strong>–</strong> für Regisseure, die<br />

später Weltkarriere machten wie Polanski.<br />

Die Graphic-Art-Künstler und Musiker waren<br />

die besten zu der Zeit, die polnische Schule<br />

auf Weltniveau.<br />

Jede andere polnische Kunstform<br />

beneidete die Jazzszene um ihre Möglichkeiten,<br />

es gab Festivals wie das Jazz Jamboree,<br />

eines der ältesten in Europa. Polskie<br />

Nagrania startete in den frühen 60ern, und<br />

polnische Künstler konnten in Schweden<br />

oder Deutschland spielen, sogar unter dem<br />

strikten Regime. Nach dem Fall der Berliner<br />

Mauer in den 90ern kam eine schwierige<br />

Phase <strong>–</strong> kommerziell gesehen, weil Polen<br />

auf einmal auf dem freien Markt war. In den<br />

späten 80ern hatte sich eine Gruppe junger<br />

aufstrebender Jazzmusiker gegen das<br />

Establishment aufgelehnt, die Bewegung<br />

Yass war offen gegenüber Reggae, Punk und<br />

Worldmusic. Yass förderte neue Musiker wie<br />

Leszek Możdżer zutage. Er ist mittlerweile<br />

ein Popstar <strong>–</strong> zu seinen Konzerten kommen<br />

Zehntausende, er hat ein besseres Standing<br />

als jeder Rockmusiker in Polen.“<br />

Auch Piotr Metz spricht über Komedas<br />

Bedeutung für die Jazzszene: „Kritiker sagen,<br />

dass Komeda seine eigene Musik gespielt<br />

hat, nicht unbedingt Jazz. Seine Musik war<br />

von Anfang an wie Filmmusik. Nach seinem<br />

Album Astigmatic war Komeda eine Ikone,<br />

die jeden polnischen Jazzmusiker beeinflusste.<br />

Komedas Legende ist auch mit seiner<br />

Karriere in den Staaten verbunden, als er die<br />

Musik für Polanskis Rosemary’s Baby geschrieben<br />

hatte. Er war einer der gefragtesten<br />

Filmmusikkomponisten in Hollywood. Die<br />

Welt stand ihm offen, aber dann kam die Tragödie<br />

seines Todes, was auch zur Legende<br />

gehört. Es gab eine Periode, in der Komeda<br />

fast vergessen war. Aber seit den späten 90er<br />

Jahren hat er wieder seinen festen Platz und<br />

ist der populärste Jazzkomponist überhaupt,<br />

wenn man danach geht, wie viele Alben mit<br />

seiner Musik aufgenommen wurden.“<br />

Metz schließt mit einer interessanten<br />

Fußnote: „Nach Marcin Wasilewskis erstem<br />

wichtigen Gig gratulierte Komedas Witwe<br />

Zofia dem Pianisten. Sie versprach, ihm ein<br />

Buch mit unveröffentlichten Kompositionen zu<br />

geben. Gerade heute Morgen habe ich eine<br />

Nachricht von ihm bekommen, dass er Ende<br />

April zu Komedas 90. Geburtstag diese Kompositionen<br />

für das polnische Radio spielen wird.“<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Aktuelles Album:<br />

Maciej Gołyźniak Trio: The Orchid<br />

(Polish Jazz Vol. 85, 2020)<br />

(Polskie Nagrania / Warner)<br />

Re-Issues:<br />

Krzysztof Komeda: Astigmatic (1965)<br />

Tomasz Stańko: Musik for K (1971)<br />

Tomasz Stańko: Musik ’81 (1982)<br />

Zbigniew Namysłowski Quintet:<br />

Kujaviak Goes Funky (1975)<br />

Michał Urbaniak: Constallation in Concert (1973)<br />

Jan „Ptaszyn“ Wróblewski: Komeda <strong>–</strong><br />

Moja Slodka Europejska Ojczyzna (2016)<br />

(Alle: Polskie Nagrania / Warner)<br />

Website:<br />

www.warnermusic.de/polskie-nagrania-polish-jazz<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 61


PIOTR SCHMIDT<br />

In schwankender Stimmung<br />

„Ein Film sollte musikalisch nur so viel wie nötig ausgestaltet sein. Es ist besser, man hat zu<br />

wenig als zu viel Musik.“ Dieses Credo der polnischen Jazz- und Filmmusiklegende Krzysztof<br />

Komeda scheint auch die konzeptionelle Vorgabe für das aktuelle Album Dark Forecast des<br />

polnischen Trompeters Piotr Schmidt zu sein <strong>–</strong> ausbalanciert in der Wahl der musikalischen<br />

Mittel, der Instrumentierung und Stimmungen über die gesamte Länge der Produktion.<br />

© Maq Records<br />

Von Andreas Ebert<br />

Schmidt wuchs in einem musikalischen<br />

Umfeld auf, wie es<br />

besser nicht hätte sein können.<br />

Als Sohn einer Chor dirigentin<br />

und eines in Polen bekannten<br />

Jazzpublizisten schlug er<br />

als das musikalischste von<br />

drei Kindern als Einziger eine<br />

Profi-Musikerlaufbahn ein. Die<br />

Gelegenheit, sein Wunschinstrument,<br />

das Saxofon, zu<br />

erlernen, ergab sich nicht, nur<br />

Trompete und Fagott waren im<br />

Angebot. „Ich wäre wohl der<br />

einzige Jazzfagottist in Polen<br />

gewesen“, meint Piotr Schmidt<br />

dazu schmunzelnd.<br />

Seinem Freund Bartek<br />

Pieszka, Vibrafonist des Schulorchesters,<br />

war es zu verdanken,<br />

dass Schmidt nach sechs<br />

Jahren Klassik am Klavier, zwei<br />

Jahren Klassik an der Trompete<br />

und einer Menge Jazz-Hören<br />

daheim nicht aufgab und sich<br />

zum Jazzspielen anspornen ließ.<br />

Beide besuchten die Jazzabteilung<br />

der Musikakademie von<br />

Katowice. „Ohne diesen Impuls,<br />

ohne jemanden, der mich zum<br />

Spielen und nicht nur Hören<br />

antreibt, hätte ich es möglicherweise<br />

aufgegeben, Musiker<br />

zu sein. Klassische Musik zu<br />

spielen, fasziniert mich nicht.<br />

Jazz gibt mir die Freiheit, die ich<br />

so sehr in meinem Leben auf so<br />

vielen Ebenen schätze, Freiheit<br />

zu kreieren, beim Führen einer<br />

Melodie, beim musikalischen<br />

Geschichten-Erzählen, es resultiert<br />

alles aus der Geschichte<br />

und der Natur dieser Musik.“<br />

Frühe Einflüsse waren<br />

Miles Davis, Bobby McFerrin<br />

und Johann Sebastian Bach.<br />

In der Band mit Bartek Pieszka<br />

wurden zunächst die üblichen<br />

Standards gespielt, im darauf<br />

folgenden Hardbop-Quintett<br />

im zweiten College-Jahr dann<br />

eigene sowie Stücke von<br />

Billy Harper, Cedar Walton<br />

oder Lee Morgan. „Von 2006<br />

bis 2010 gewannen wir fast alle<br />

62 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Jazzwettbewerbe, zu denen wir<br />

fuhren. Die finanziellen Erlöse<br />

daraus erlaubten uns, jeweils<br />

die nächsten paar Monate zu<br />

überstehen.“ Ein Stipendium<br />

in Louisville/Kentucky brachte<br />

2006 einen weiteren Schub.<br />

„Das Stipendium öffnete meinen<br />

Verstand. Es gab eine Menge<br />

großartiger Musiker dort und<br />

wunderbare Lehrer, die mir eine<br />

Menge Zeug über Jazz und<br />

Improvisation auf eine andere<br />

Weise zeigten. Es öffnete mir<br />

die Augen für eine Menge<br />

coole Sachen, die ich später<br />

ausprobierte und auf der Bühne<br />

verwendete.“<br />

Dennoch meint Schmidt,<br />

dass eine USA-Erfahrung nicht<br />

unbedingt notwendig ist. „In der<br />

globalen Welt kann man alles<br />

von zu Hause lernen. Internet,<br />

Google, YouTube <strong>–</strong> das sind<br />

die Werkzeuge und Wissensquellen,<br />

die für jeden verfügbar<br />

sind.“ Zur Jazzausbildung sagt<br />

er: „Meiner Meinung nach können<br />

Jazzstudien jungen Leuten<br />

wirklich helfen zu spielen, aber<br />

abseits davon ermöglichen sie<br />

auch angenehme finanzielle Unterstützung<br />

für viele Profis. Ich<br />

bin einen vollen Tag an der Uni,<br />

um mit Studenten zu arbeiten.<br />

An den anderen sechs Tagen<br />

mache ich, was ich will.“<br />

Mit einer täglichen,<br />

stringent durchgehaltenen<br />

Übe-Praxis von drei bis vier<br />

Stunden („Üben ist für mich wie<br />

eine Sucht. Ich muss es einfach<br />

tun. Aber wenn ich lange Noten<br />

oder etwas ganz Einfaches übe,<br />

lese ich dabei oft Bücher oder<br />

schaue mir etwas auf YouTube<br />

© Aleksandra Kasztalska<br />

an.“) und verschiedenen Bandprojekten<br />

wie seinem regulären<br />

akustischen Quartett oder der<br />

Formation Schmidt Electric arrangiert<br />

sich Schmidt mit allen<br />

Widrigkeiten. „Es scheint, dass<br />

es in Polen nicht so schlecht ist<br />

für Musiker. Glücklicherweise<br />

gibt die Regierung Fördermittel<br />

für Künstler, es gibt Hilfsfonds<br />

für Kreative.“<br />

Dark Forecast, Piotr<br />

Schmidts zwölfte Veröffentlichung,<br />

spiegelt in ihren elf Stücken<br />

treffend die schwankende<br />

Stimmung der gegenwärtigen<br />

Zeit wider: melancholisch, lyrisch,<br />

free, aber nicht ekstatisch,<br />

verhangen, schwebend,<br />

mal bissig oder leicht traurig,<br />

fließend, kontrolliert, aber<br />

immer mit dem nötigen Atem.<br />

Für die Aufnahmen wurde das<br />

Quartett durch zwei Gäste<br />

ergänzt, Walter Smith III (ts)<br />

und Matthew Stevens (g), auch<br />

wenn sie nicht bei den Sessions<br />

anwesend sein konnten. „Beide<br />

spielten ihre Parts in örtlichen<br />

Studios in den USA ein,<br />

weil ihre Anreise wegen des<br />

Lockdowns nicht möglich war“,<br />

erklärt Schmidt. „Ich wollte das<br />

Quartett als Hauptkörper erhalten,<br />

aber dessen ungeachtet<br />

habe ich es, wo ich es für nötig<br />

erachtete, mit zusätzlichen<br />

Instrumenten angereichert.“<br />

Das Album, das es<br />

voraussichtlich auch auf Vinyl<br />

geben wird, besteht aus sechs<br />

Schmidt-Originalen, drei im<br />

Studio improvisierten Gruppen-<br />

Tracks und zwei Komeda-<br />

Klassikern aus Roman Polanskis<br />

Film Knife in the Water.<br />

„Komeda ist ein konzeptioneller<br />

Künstler“, sagt Schmidt. „Seine<br />

Kompositionen sind zeitlos.<br />

Vielleicht habe ich diese beiden<br />

Balladen gewählt, weil sie für<br />

einen Film geschrieben wurden.<br />

Sie haben eine beeindruckende<br />

Atmosphäre und Kraft. Komeda<br />

ist ein Komponist, zu dem<br />

zurückzukehren sich lohnt.“<br />

Aktuelles Album:<br />

Piotr Schmidt: Dark Forecast<br />

(o-tone / Edel:Kultur)


ÜBER DEN TELLERRAND<br />

Generation Next <strong>–</strong> die<br />

neue Welle im polnischen<br />

Jazz<br />

Während die Welt aus dem Ruder läuft und<br />

wir uns fragen, wie die Musikindustrie in<br />

ein paar Jahren aussehen wird, während<br />

wir gezwungen sind, Gewohnheiten zu<br />

ändern und unser Verhalten zu überdenken,<br />

sind diejenigen im Vorteil, die sich<br />

anpassen, experimentieren und kreativ<br />

an Herausforderungen herangehen. Eine<br />

besonders schwierige Zeit für die junge<br />

Generation, die gerade jetzt in die Musikwelt<br />

eintritt.<br />

Von Karolina Juzwa<br />

Als Organisatorin der Intl <strong>–</strong> International<br />

Jazz Platform, einem Treffpunkt zum<br />

Erfahrungsaustausch für junge Musiker<br />

aus ganz Europa, beobachte ich schon<br />

seit neun Jahren die jungen Künstler, die<br />

ver suchen, einen Platz in dieser Welt zu<br />

finden. Polnische akademische Ausbildungsprogramme<br />

für Jazzmusiker gehören nicht<br />

zu den offensten für Innovationen. Dort<br />

konzentriert man sich eher darauf, traditionelle<br />

Jazzpfade zu meistern, und ermutigt<br />

junge Musiker nicht gerade bei der für die<br />

improvisierte Musik unabdingbaren Suche<br />

nach ihrer Vision von einer Musik, der sie<br />

ihr Leben widmen möchten.<br />

Ich möchte hier besonderes Augenmerk<br />

auf die Zukunft des polnischen Jazz<br />

richten, auf diejenigen, die schon dabei<br />

sind, dessen Grundfeste zu erschüttern mit<br />

einer neuen Stimme europäischer Musik.<br />

Viele von ihnen finden Raum für Experimente<br />

im Ausland, studieren in Dänemark oder<br />

Holland und versuchen, innovative Ansätze<br />

auf die polnische Szene zu übertragen.<br />

Es gibt eine Reihe junger polnischer<br />

Künstler, die ihren eigenen unverwechselbaren<br />

Klang und ihre eigene Sprache haben,<br />

ohne auf Einflüsse anderer Genres zu<br />

verzichten. Szymon Pimpon Gąsiorek<br />

ist Schlagzeuger und Komponist, lebt<br />

derzeit in Kopenhagen und gehört<br />

zu den Musikern, die im Ausland<br />

nach neuen Ufern suchen und<br />

dafür das kreative Umfeld des<br />

Rytmisk Musikkonservatorium in<br />

Dänemark nutzen. Gąsiorek ist<br />

Mitglied vieler Bands, doch die<br />

wichtigste Rolle spielt sein eigenes<br />

Projekt. Das Pimpono Ensemble<br />

ist ein Kollektiv junger Idealisten,<br />

die kompromisslos ihre Träume zum<br />

Ausdruck bringen und Punk-Energie,<br />

Experimentelles und emotionale Melodien<br />

mischen. Ihre neuesten Aufnahmen auf<br />

Survival Kit sind für mich der Höhepunkt<br />

der Veröffentlichungen von 2020.<br />

Joanna Duda ist Pianistin, Komponistin<br />

und bildende Künstlerin. Ihre Welt sind die<br />

Klangkunst und das Experiment, in dem<br />

das Klavier und andere Klangressourcen<br />

Grundlage für rhythmische Strukturen<br />

sind. Das neueste Material ihres Trios mit<br />

Max Mucha (b) und Michał Bryndal (dr)<br />

bekommt gerade den letzten Schliff, um<br />

im <strong>Mai</strong> veröffentlicht zu werden <strong>–</strong> definitiv<br />

etwas, worauf man sich freuen kann. Die<br />

formschaffende Rolle der Elektronik ist<br />

für das Narrativ ebenso wichtig wie die<br />

Instrumente. Duda experimentiert mit Trio-<br />

Konventionen am Rande von Jazz, Klassik<br />

und Dance Music und lässt sich ebenso<br />

von klassischen Komponisten wie Feldman,<br />

Prokofiev und Bach inspirieren wie von<br />

früher Jungle Music der 1990er.<br />

Malediwy ist ein weiteres mutiges<br />

Projekt starker Persönlichkeiten: Marek<br />

Pospieszalski (sax) und Qba Janicki (dr).<br />

Beide kommen aus reicher musikalischer<br />

Umgebung und kreieren Musik, die vom<br />

traditionellen Free Jazz abweicht und<br />

stattdessen Techniken und strukturelle<br />

Denkweisen umfasst, die typisch für die<br />

Soundart-Szene sind. Neu und visionär:<br />

Dolce Tsunami von 2020. Verstärkte akustische<br />

Instrumente, Loop-Techniken und<br />

elektroakustische Geräte verleihen ihrer<br />

Musik ein aufregendes und beispielloses<br />

Ambiente.<br />

Amalia Umeda (Amalia Obrębowska)<br />

ist eine neue und aufstrebende Künstlerin<br />

in der Welt der improvisierten Musik. Die<br />

klassisch ausgebildete Geigerin zeigt schon<br />

zu Beginn ihrer Karriere ihr Händchen für<br />

Improvisation. In ihren Kompositionen kombiniert<br />

sie Einflüsse von Meistern wie Bobo<br />

Stenson, Keith Jarrett oder Tomasz Stańko<br />

mit polnischer und weltweiter Volksmusik.<br />

Kuba Więcek, Saxofonist und auch<br />

Absolvent des Rytmisk in Dänemark, ist<br />

der jüngste Instrumentalist in der aktuellen<br />

Edition von Polskie Nagrania (Vol. 82, 2019).<br />

Eine unruhige Seele auf der ständigen<br />

Suche nach neuen musikalischen Inspirationen,<br />

reißt er die Musiker seines Trios<br />

aus ihren Komfortzonen ins offene Wasser<br />

neuer Ideen mit. Derzeit testet er auch<br />

seine Stärken als Musikproduzent zwischen<br />

Jazz- und Popkultur.<br />

Immortal Onion ist ein junges Trio aus<br />

dem Norden Polens mit Ziemowit Klimek<br />

(b), Tomir Śpiołek (p) und Wojtek Warmijak<br />

(dr), das sich durch kühne stilistische<br />

Vielfalt und die gekonnte Kombination von<br />

rhythmisch komplexen, energiegeladenen<br />

Riffs mit minimalistischen und lyrischen<br />

Themen auszeichnet. Sie sprechen vor<br />

allem junge Zuhörer an, die alle ihre<br />

Veröffentlichungen und Auftritte verfolgen,<br />

sowohl live als auch virtuell.<br />

Es gibt viele weitere Namen, die mutig<br />

Präsenz in der polnischen und europäischen<br />

improvisierten Musikszene zeigen.<br />

Sie alle weichen ab von traditionellen<br />

Einflüssen, beziehen die Vielfalt der Genres<br />

ein und zeigen offen ihre persönliche<br />

Suche. Als ich 2012 die Intl Jazz Platform<br />

gründete, war es mein Ziel, Musikern<br />

wie diesen Raum zum Experimentieren<br />

zu bieten, inspiriert mit Gleichaltrigen zu<br />

lernen, ihre Persönlichkeiten zu entwickeln,<br />

Mut und Selbstakzeptanz zu gewinnen. Sie<br />

alle sind Suchende, stellen die Sprache,<br />

Erfahrungen und Emotionen ihrer Generation<br />

vor und haben keine Angst davor, mit<br />

der Jazzkonvention zu experimentieren, um<br />

sich diese letztlich zu eigen zu machen.<br />

Übersetzung: Jan Kobrzinowski<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Karolina Juzwa hat Englisch, Philologie und<br />

Europäische Politik studiert. Sie arbeitet als<br />

Koordinatorin bei der Wytwórnia Foundation und ist<br />

Managerin und Hauptkuratorin des Summer Jazz<br />

Academy Festivals in Łódź. Sie ist Initiatorin und<br />

Koordinatorin der Intl Jazz Platform, Bildungsprogramm<br />

für professionelle Künstler, organisiert in<br />

Zusammenarbeit mit dem Europe Jazz Network (EJN).<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

64 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


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Rezensionen über die interessantesten Musiker und<br />

Musikerinnen aus Jazz, Blues, Weltmusik, (Post-)<br />

Rock, Indie, Singer/Songwriter, Electronica, Ambient,<br />

Neue Musik, Improv und Free. Und vieles mehr.<br />

1<br />

Oliver Mascarenhas<br />

Plays Works by<br />

Gulda and Kapustin /<br />

Gulda spielt Jazz<br />

(DreyerGaido)<br />

4<br />

Ceramic Dog<br />

& Marc Ribot<br />

Hope<br />

(enja / Yellowbird)<br />

2<br />

Jens Wawrczeck<br />

Celluloid<br />

(Edition audoba)<br />

5<br />

Jakob Bro<br />

Uma Elmo<br />

(ecm / Universal)<br />

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3<br />

Jazzrausch BigBand<br />

Techné<br />

(ACT / Edel:Kultur)<br />

6<br />

Kurt Edelhagen<br />

The Unreleased<br />

Recordings<br />

(Jazzline /<br />

Broken Silence)<br />

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<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

65


MOERS-FESTIVAL Im dunklen Zeittunnel<br />

Die Vorbereitungen für das<br />

50. Moers-Festival laufen und<br />

sind selbst Gegenstand von<br />

Improvisation.<br />

Von Stefan Pieper<br />

Das Moers-Festival <strong>2021</strong> findet vom 21. bis<br />

25. <strong>Mai</strong> statt. „Wir planen optimistisch und<br />

hoffnungsvoll, dass wir etwas Publikum in<br />

die Halle lassen können. Aber wir werden<br />

auch den Ausflug in die virtuelle<br />

Realität weiterentwickeln“, fasst Tim Isfort<br />

den aktuellen Stand vor dem<br />

50. Moers-Festival zusammen. Noch mehr<br />

in die Zukunft gedacht wurde bei der<br />

Programm-Pressekonferenz: Darin wagten<br />

Archäologen aus dem Jahr 2040 einen<br />

Rückblick auf die Zustände im Jahr <strong>2021</strong>.<br />

Die Teilnehmenden wurden dafür in einen<br />

dystopischen Zeittunnel abgeseilt.<br />

Eine ehemalige, heute nur noch über<br />

einen Kanaldeckel zugängliche Unterführung<br />

unter einer Moerser Hauptstraße ist ein Lost<br />

Place, an dem es um mehr geht als einfach<br />

nur darum, die Programmpunkte für ein<br />

Festival zu verkünden. Wie wird irgendwann<br />

in den Geschichtsbüchern über das Heute,<br />

über diese so merkwürdig beginnenden<br />

2020er Jahre berichtet? Die Reflexion über<br />

Zeit soll das Narrativ für die Jubiläums-<br />

Festivalausgabe sein.<br />

Beklemmend wirkt, dass manche<br />

Requisiten im verlassenen Tunnel schon wie<br />

aus einem anderen, vergangenen Leben anmuten:<br />

Das aktuelle Festivalplakat zeigt ein<br />

sich innig umarmendes Paar. Die physisch<br />

greifbare Gegenwart an diesem Vormittag in<br />

der Unterwelt<br />

könnte hingegen<br />

dem (ersten) Blade Runner-Film entstammen:<br />

Ein merkwürdig kostümierter „Schamane“<br />

unterzieht sämtliche vorschriftsmäßig<br />

FFP 2-maskierte Besucher einer<br />

merkwürdigen Reinigungszeremonie, eine<br />

Performance-Tänzerin im Fetisch-Anzug untermalt<br />

die Ansprachen des Festival-Teams.<br />

Damals, als Menschen sich noch draußen<br />

und öffentlich umarmten und der R4 auf der<br />

Wiese parken durfte, war vieles anders.<br />

Mitten in der heißen Planungs- und<br />

Organisationsphase nahm sich der Festivalleiter<br />

Zeit für ein langes, ruhiges Gespräch.<br />

Inszenierung durch ästhetische Botschaften<br />

bestimmt unter Tim Isforts künstlerischer<br />

Leitung die jüngste Generation des Moers-<br />

Festivals. Dass solche Theatralik so manche<br />

Jazzpolizisten verärgert <strong>–</strong> geschenkt!<br />

66 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


© Andreas Menzel<br />

„Menschen haben es nicht gern, wenn man<br />

Angestammtes verändert“, zeigt sich Isfort<br />

entspannt.<br />

50 Jahre Moers-Festival werfen Fragen<br />

auf: Was ist die Zukunft von Festivals?<br />

Was war der Antrieb? Denen soll mit einer<br />

„Mischung aus Wahrheit und fantasievoller<br />

Weitererzählung beigekommen werden. Es<br />

gibt nicht die eine Erzählung und die eine<br />

Wahrheit, und auch nicht nur die von Burkhard<br />

Hennen, von Reiner Michalke oder von<br />

Peter Brötzmann“, sondern von zahllosen<br />

Menschen. Weltweit. Längst ist die Aufarbeitung<br />

von fünf Jahrzehnten Festivalhistorie<br />

zum Fulltime-Projekt geworden.<br />

Isforts tatkräftig praktizierter hoher Respekt<br />

vor sämtlichen Aspekten der Festivalhistorie<br />

möchte den Gründergeist von Moers<br />

wachhalten. „Wir wollen die Welt nicht mehr<br />

so, wie sie war“, lautete damals das Credo,<br />

unter dem Peter Brötzmanns Klänge zuweilen<br />

zum politischen, aber immer zum ästhetischen<br />

Manifest wurden. Heute und künftig<br />

lautet das Anliegen, solche Erweckungserlebnisse<br />

an neue Generationen weiterzugeben,<br />

auch wenn dafür heute vor allem<br />

Inszenierungen als Motor fungieren und man<br />

dafür kämpfen muss, dass Gegenkultur von<br />

früher nicht ausschließlich zum Lifestyle<br />

verkommt. Nun geht es darum, für die Kultur<br />

zu kämpfen, die gerade von der Pandemie,<br />

mehr noch: vom politisch-administrativen<br />

(Nicht-)Umgang mit ihr, bedroht ist.<br />

Isfort vermeidet das böse Wort, das mit<br />

C anfängt, und kreiert stattdessen das Bild<br />

vom „Seeungeheuer“, einem verspielten<br />

Anti-Narrativ gegen das offizielle Angst-<br />

Framing in den Nachrichtenkanälen. Genug<br />

Respekt vor der Situation ist im Spiel und<br />

war es auch im letzten Jahr, als Moers als<br />

symbolisches Schiff auf den Ozean hinausfuhr,<br />

während fast alle anderen im Hafen<br />

blieben. Denn es liegt an der Kultur, sich<br />

PDF 4c<br />

auch unter feindlichen Bedingungen öffentlich<br />

einzumischen. Aber: „Es ist im zweiten<br />

Jahr nicht ein facher geworden“, bewertet<br />

Tim Isfort die aktuelle Situation. Genauso<br />

hatte er im vergangenen Jahr die Zustände<br />

fürs Jahr <strong>2021</strong> eingeschätzt, als viele andere<br />

naiv annahmen, dass schon bald alles vorbei<br />

sei. Maximale Vorkehrungen für ein Festival<br />

in der Pandemie sind getroffen, sogar ein<br />

Schnelltest-Zentrum soll zu Pfingsten aufgebaut<br />

werden.<br />

Was, wie und mit wem zu Pfingsten<br />

passieren wird, da müssen wir uns überraschen<br />

lassen. So manches in der Programmplanung<br />

kann sich wohl noch kurzfristig<br />

ändern und bleibt Gegenstand von Improvisation.<br />

(Fast) alle bisherigen Improviser-in-<br />

Residence werden den sozialen Kosmos in<br />

Moers bereichern. Öffentlichkeitswirksame<br />

„Unterwanderungen“ finden statt, auch mitten<br />

in der Stadt und im grünen Park jenseits<br />

der zwei (!) neuen Festivalbühnen. Auf der<br />

Agenda stehen zahllose Namen aus ebenso<br />

diversen musikalischen Kontexten. Die beiden<br />

umtriebigen Amerikaner Kevin Shea und<br />

Matt Mottel mischen bereits seit Februar als<br />

Improviser-in-Residence die Residenzstadt<br />

auf. Und die Welt wird, wo immer es geht,<br />

in Moers zu Gast sein: „Man macht sich<br />

keine Vorstellung, wie wir jedes Jahr dafür<br />

kämpfen müssen, etwa afrikanische Musiker<br />

aus dem Kongo oder aus Äthiopien zu holen,<br />

mit allen Visa- und Einreisegenehmigungen.“<br />

Aber genau diese kulturelle Völkerverständigung<br />

führt schon seit einem halben<br />

Jahrhundert dazu, dass die Welt auf eine<br />

kleine Provinzstadt am Niederrhein blickt.<br />

Tim Isfort: „Burkhard Hennen hat der Stadt<br />

Moers mit der Gründung dieses Festivals<br />

ein riesiges Geschenk für alle Ewigkeiten<br />

gemacht.“<br />

Website:<br />

www.moers-festival.de


Floating Points & Pharoah<br />

Sanders<br />

Promises<br />

Luaka Bop / K7<br />

W W W W W<br />

Als Pharoah Sanders Elaenia,<br />

das Debütalbum des britischen<br />

Elektronikmusikers und Komponisten<br />

Sam Shepherd, hörte, der<br />

als Floating Points auftritt, soll<br />

er hingerissen gewesen sein.<br />

Es ist fast zehn Jahre her, dass<br />

der jetzt 80-jährige Tenorsaxofonist<br />

Sanders ein neues<br />

Album aufgenommen hat, was<br />

diese Veröffentlichung nun umso<br />

erstaunlicher macht. Tatsächlich<br />

ergibt die Affinität zwischen<br />

Sanders und dem 34-jährigen<br />

Shepherd Sinn. Denn trotz der<br />

Generationsunterschiede eint sie<br />

in ihren Arbeiten der Drang nach<br />

ständiger Erweiterung. Darum<br />

passen die beiden Protagonisten<br />

auf Promises, bei dem<br />

sie mit dem London Symphony<br />

Orchestra zu hören sind, auch<br />

so perfekt zusammen, ihre hier<br />

zu hörende gemeinschaftliche<br />

Energie ist bemerkenswert. Die<br />

zweiteilige Suite entfaltet sich in<br />

einer kontinuierlichen wortlosen<br />

Komposition und klingt wie ein<br />

kreativer Vertrauensvorschuss,<br />

eine kosmische Gemeinschaft,<br />

die über Generationen, Genres<br />

und musikalische Barrieren hinweg<br />

etwas Schönes erschafft.<br />

Sanders ist ja bekannt für seine<br />

rasenden Soli und wütenden<br />

TONSPUREN<br />

Klangbögen, besonders während<br />

seiner Jahre als John-Coltrane-<br />

Sideman und auf den eigenen<br />

Meisterwerken Karma oder<br />

Black Unity. Aber hier spielt er<br />

mit beneidenswerter Zurückhaltung<br />

und Anmut, indem er<br />

wunderbare melodische Figuren<br />

in die offenen Räume einarbeitet,<br />

die ihm Shepherds Klangflächen,<br />

die der auf Klavier, Cembalo,<br />

Orgel und elektronischen Equipment<br />

erzeugt, und die Schwingungen<br />

der Streicher bieten.<br />

Diese drei Ebenen fügen sich so<br />

vollkommen aneinander, weil sie<br />

aus der Offenheit und Konvergenz<br />

der Akteure resultieren. Die<br />

Chance steht gut, dass Sie so<br />

etwas noch nie gehört haben.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Nik Bärtsch<br />

Entendre<br />

ECM / Universal<br />

W W W W o<br />

Er ist vor allem als Leiter der<br />

Bands Mobile und Ronin<br />

bekannt, der Schweizer Pianist,<br />

Komponist und Konzeptualist Nik<br />

Bärtsch. Nun erscheint bei ECM<br />

sein erstes Solo-Album, das er<br />

parallel zur Arbeit mit seinen<br />

Gruppen entwickelt hat. Der Titel<br />

Entendre (Hören) ist Programm,<br />

denn die weitestgehend ruhige<br />

Platte ist geprägt von dem<br />

genauen Hören und langsamen<br />

organischen Prozessen in der<br />

Entwicklung des Klangs. Die<br />

sechs Tracks bezeichnet er fast<br />

alle nur als „Module“, da er<br />

diese nicht als gesetzte Stücke,<br />

sondern vielmehr als Schablonen<br />

versteht. In seinen Stücken<br />

verbindet Bärtsch klassische<br />

Traditionen und Minimal Music<br />

mit dem Groove des Jazz. Letzterer<br />

verleiht den Werken auch bei<br />

großer Ruhe immer auch etwas<br />

Fließendes, so beispielsweise in<br />

„Modul 26“. Besonders facettenreich<br />

wird Bärtschs Solo-Platte<br />

durch seinen gut durchdachten<br />

und sehr feinsinnigen Anschlag<br />

wie auch die Elemente eines<br />

präparierten Klaviers, wie es<br />

beispielsweise in „Modul 5“<br />

erklingt. Eindrucksvoll ist hier<br />

zu hören, wie sehr Bärtsch es<br />

versteht, durch seinen Anschlag<br />

die verschiedensten Facetten<br />

aus ein und demselben Ton<br />

(zumindest zunächst) herauszuholen.<br />

Es scheint, als wäre<br />

es dem Pianisten bei dieser<br />

Aufnahme in idealer Atmosphäre<br />

(mit Manfred Eichner in einem<br />

Studio in Lugano) gelungen, alle<br />

Vorsätze und Erwartungen hinter<br />

sich zu lassen und der Musik<br />

die Chance zu lassen, sich ganz<br />

in Ruhe und organisch zu entwickeln.<br />

Das überträgt sich auch<br />

auf den Hörer und macht die CD<br />

zu einem Hörgenuss.<br />

Verena Düren<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Philipp Schiepek &<br />

Walter Lang<br />

Cathedral<br />

ACT / Edel:Kultur<br />

W W W W<br />

Gitarre und Klavier kommen als<br />

Duo im Jazz nicht oft zusammen,<br />

und das hat natürlich<br />

seine Gründe, die auch dem<br />

Münchner Pianisten Walter<br />

Lang geläufig sind. Deshalb<br />

hat er seit einiger Zeit über ein<br />

Duo mit akustischer Gitarre mit<br />

Nylonsaiten nachgedacht <strong>–</strong> und<br />

in dem jungen Gitarristen Philipp<br />

Schiepek genau den richtigen<br />

Mann dafür gefunden. Die<br />

beiden lassen sich ungeheuer<br />

viel Raum und erkunden einen<br />

schlanken Klang, bei dem der<br />

weiche Anschlag Langs genau<br />

die richtige Folie ist, auf der sich<br />

Schiepeks Exkursionen entfalten<br />

können. Die Kraft einfacher Melodien<br />

ist es, die auf Cathedral<br />

ihren Zauber entfaltet. Langs<br />

zehn Stücke <strong>–</strong> sein Kompagnon<br />

hat das sehnsüchtige „Pilgrimage“<br />

beigesteuert <strong>–</strong> enthalten<br />

sich jeglicher Kraftmeierei, und<br />

die beiden Musiker nehmen sich<br />

jeweils die Zeit, die es braucht,<br />

um den Songs Gehalt zu verleihen.<br />

Die sparsame Verwendung<br />

der Noten macht den Titelsong<br />

zu einem romantischen Kleinod,<br />

andere Stücke („The World Is<br />

Upside Down“, „Light at the<br />

End of the Tunnel“) scheinen<br />

geradezu Bezug auf Lockdown-<br />

Zeiten zu nehmen. Kaum zu<br />

glauben, dass Lang ansonsten<br />

im Dancefloor-Sound des Trio<br />

Elf zu Hause ist, aber im Grunde<br />

frönt er auch dort seine Liebe<br />

zur hymnischen Melodie. Folkloristisch<br />

anmutende Stücke wie<br />

„Estrela Cadente“ <strong>–</strong> was so viel<br />

wie Sternschnuppe bedeutet <strong>–</strong><br />

oder „Gliding Over Meadows“<br />

ergänzen das Repertoire und<br />

machen Cathedral zu einem<br />

ruhigen Meisterwerk.<br />

Rolf Thomas<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Makiko Hirabayashi<br />

Weavers<br />

Enja / Edel:Kultur<br />

W W W W W<br />

Mit Weavers beschreitet die<br />

japanische Pianistin Makiko<br />

Hirabayashi neue Wege: Nach<br />

68 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


zwei Dekaden und vier Alben im<br />

Trio mit der Perkussionistin Marilyn<br />

Mazur und dem Bassisten<br />

Klavs Hovman tritt die Klaviervirtuosin<br />

und Komponistin hier<br />

erstmals mit einem Quartett an.<br />

Seit 30 Jahren in Kopenhagen<br />

beheimatet, gilt die in Tokio und<br />

Hongkong aufgewachsene, in<br />

Berklee klassisch ausgebildete<br />

Hirabayashi als Wanderin<br />

zwischen den Welten. Auch<br />

Weavers vereint geografisch<br />

weit auseinanderliegende<br />

Ausgangs- und Bezugspunkte:<br />

Anlässlich des Festivals<br />

Mahrajazz trat sie 2018 in Haifa<br />

auf mit Thommy Andersson<br />

(b) und Bjørn Heebøll (dr). Der<br />

erste Lockdown reduzierte ihre<br />

musikalische Praxis dann radikal<br />

auf Duette mit dem Saxofonisten<br />

Fredrik Lundin. Als sich<br />

im Frühsommer die Möglichkeit<br />

von Aufnahmen im schwedischen<br />

Nilento Studio ergab, zog<br />

Hirabayashi beide Besetzungen<br />

zu einer neuen Formation<br />

zusammen. Das Ergebnis<br />

begeistert: Die neun Tunes<br />

von Weavers <strong>–</strong> sieben aus der<br />

Feder von Hirabayashi, Lundin<br />

steuert das elegische „Winter<br />

Landscape in Black & White“<br />

bei <strong>–</strong> fügen sich zu einem so<br />

vielfältigen wie kohärenten Album,<br />

dessen Schlusspunkt eine<br />

inspirierte Interpretation von<br />

Carla Bleys mit nahöstlichen<br />

Motiven spielendem „Vashkar“<br />

bildet. Eine Synthese von skandinavischem<br />

Jazz, ostasiatischer<br />

Musikkultur, klassischer<br />

Kammermusikhaltung und<br />

folkloristischen Progressionen,<br />

für die der Terminus Weltmusik<br />

zu kurz greift. Mal rhapsodisch,<br />

mal lyrisch, mal extrovertiert,<br />

aber nie beliebig <strong>–</strong> frühlingsfrischer<br />

Anfangszauber.<br />

Harry Schmidt<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

PDF in 4c<br />

Mark Feldman<br />

Sounding Point<br />

Intakt / Harmonia Mundi<br />

W W W W<br />

Eine Geige allein, das hört man<br />

im Jazz nicht sehr häufig. Mark<br />

Feldmans erstes Solo-Album<br />

trug den Titel Music for Violin<br />

Alone und erschien 1995 bei<br />

John Zorns Label Tzadik. Ein<br />

gutes Vierteljahrhundert später<br />

ist jetzt bei Intakt sein zweites<br />

Solo-Werk herausgekommen.<br />

Es kondensiert musikalische<br />

Erfahrungen, die er in den<br />

mindestens 25 Jahren davor<br />

gesammelt hat. Darum sollte<br />

man keine Musik erwarten,<br />

die man ohne Weiteres als<br />

„Jazz“ identifizieren würde.<br />

Dazu arbeitet Feldman allzu<br />

schrankenlos mit neuzeitlichen<br />

Spieltechniken und Formen und<br />

verachtet Virtuosität nicht. Oft<br />

scheint es aber, als verhalte er<br />

sich ironisch zu diesen Kategorien.<br />

Mark Feldman arbeitet<br />

in jeder Hinsicht auf einem<br />

ungemein elaborierten Niveau<br />

und in Regionen, wo er zu<br />

Hause ist; das ist nun mal kein<br />

eng begrenztes Terrain. Das<br />

Eröffnungsstück ist eine Komposition<br />

von Sylvie Courvoisier,<br />

für die Musik ein ähnlich weites<br />

Feld ist wie für ihren langjährigen<br />

Partner. Das dritte Stück<br />

(„Peace Warriors“) stammt<br />

von Ornette Coleman und weist<br />

stürmische, gleichwohl überaus<br />

sorgfältig arrangierte Overdubs<br />

auf. Etliche Stücke sind<br />

improvisiert, aber ihrem Formgefühl,<br />

ihren Verläufen und den<br />

verwendeten Spieltechniken<br />

merkt man keine Unterschiede<br />

zu geschriebener Musik an.<br />

Mark Feldmans Musik klingt<br />

nicht geplant, auch wenn sie<br />

mit kleinteiliger Aufmerksamkeit<br />

gebaut ist. Manchmal<br />

wirkt sie einfach, als habe er


Kolumne<br />

Dinosaur Jr.<br />

Sweep It Into Space<br />

Secretly / Cargo<br />

W W W o<br />

Motorpsycho<br />

Kingdom of Oblivion<br />

(Stickman / Soulfood)<br />

W W W W o<br />

Dry Cleaning<br />

New Long Leg<br />

Beggars / Rough Trade<br />

W W W W<br />

Todd Snider<br />

First Agnostic Church of Hope<br />

and Wonder<br />

Aimless / Membran<br />

W W W W<br />

Ryley Walker<br />

Course in Fable<br />

Husky Pants / Cargo<br />

W W W W<br />

Godspeed You! Black Emperor<br />

G-d’S Pee at State’S End!<br />

Constellation / Cargo<br />

W W W W W<br />

Sara Watkins<br />

Under the Pepper Tree<br />

New West / Rough Trade<br />

W W W o<br />

Portugal the Man<br />

Oregon City Sessions<br />

Approaching Airballoons /<br />

Cargo<br />

W W W W o<br />

Dinosaur Jr. sind Dinosaur Jr.<br />

Wo man bei anderen Bands<br />

Weiterentwicklung erwartet,<br />

ist man bei den Dinowelpen<br />

froh, dass alles beim Alten<br />

bleibt. Sweep It Into Space<br />

hätte ebenso gut 1991 aufgenommen<br />

worden sein können.<br />

Jaulende Gitarren, dreckiger<br />

Sound, rumpelnde Grooves<br />

und zwei nörgelnde Sänger. J<br />

Mascis und Co. gehören neben<br />

den Melvins und Mudhoney zu<br />

den Letzten ihrer Art, und ihre<br />

sture Weigerung, dem Zeitgeist<br />

Tribut zu entrichten, hat<br />

etwas enorm Beruhigendes.<br />

Auch wenn die Band diesmal<br />

nicht die zündendsten Songs in<br />

petto hat, bleiben Dinosaur Jr.<br />

die lebendige Erinnerung daran,<br />

dass im Rock mal andere<br />

Regeln galten als heutzutage.<br />

Dasselbe trifft auf das norwegische<br />

Trio Motorpsycho zu,<br />

bei dem allerdings erstaunlich<br />

ist, in welcher Schlagzahl<br />

es seine komplexen Alben<br />

rauswirft. Nur acht Monate<br />

nach dem Mammutwerk The<br />

All Is One legt es Kingdom of<br />

Oblivion nach. Outtakes des<br />

Vorgängers wurden aufgemotzt<br />

und mit neuen Songs zu<br />

einem weiteren Konzeptalbum<br />

verbaut, das streckenweise<br />

auch Led Zeppelin V heißen<br />

könnte. Ein Wunderhorn des<br />

psychedelischen Hardrock,<br />

das einmal mehr die Extraklasse<br />

von Motorpsycho bestätigt.<br />

Wenn sich zuletzt immer mehr<br />

Stimmen häuften, Gitarrenrock<br />

wäre endgültig tot, setzt<br />

die junge Londoner Band<br />

Dry Cleaning eine bewusste<br />

Zäsur. Auf ihrem Debütalbum<br />

New Long Leg kombiniert sie<br />

Einflüsse von den Modern<br />

Lovers über Sonic Youth bis The<br />

Fall. Vor allem der monotone<br />

Sprechgesang von Florence<br />

Shaw vereint Kim Gordon und<br />

Mark E. Smith. Untermalt von<br />

einem stoischen Soundtrack,<br />

der zuweilen an Can oder Neu!<br />

erinnert, erzählt sie von den<br />

unverzichtbaren Beiläufigkeiten<br />

des Lebens. Ob die Band<br />

nur ein Relikt ist oder die Vorhut<br />

einer neuen musikalischen<br />

Haltung, wird sich zeigen.<br />

Der amerikanische Songwriter<br />

Todd Snider ist zwar ein alter<br />

Hase, aber sein spezieller Mix<br />

aus Country Music, Blues und<br />

nasalem Sprechgesang erinnert<br />

auf First Agnostic Church<br />

BODY & SOIL<br />

of Hope and Wonder einmal<br />

mehr an die besten Momente<br />

des jungen Beck und der Eels.<br />

Seine Arrangements sind extrem<br />

minimalistisch, wodurch<br />

jeder einzelne Ton umso pointierter<br />

und aufgeräumter wirkt.<br />

Genau der richtige Aufbruch<br />

für den Frühling.<br />

Der Chicagoer Songpoet Ryley<br />

Walker beschreibt längst sein<br />

eigenes Genre. Die Anlage von<br />

Course in Fable erinnert ein<br />

wenig an sein Debüt Primrose<br />

Green, nur dass er die Grundelemente<br />

Folk, Jazz, Drone<br />

und Psychedelic diesmal viel<br />

subtiler verarbeitet. Hinzu<br />

kommt ein gewisser Sinn für<br />

Minimal Music, die durch<br />

Produzent John McEntire in<br />

die Produktion getragen wird.<br />

Walker hat es mittlerweile<br />

nach New York verschlagen,<br />

und McEntire lebt in Oregon,<br />

doch beide vereint nach wie<br />

vor jener typische Chicago<br />

Sound, der sich über alle Kategorisierungen<br />

hinwegsetzt.<br />

Jede Form der Kategorisierbarkeit<br />

ist auch dem kanadischen<br />

Kollektiv Godspeed<br />

You! Black Emperor fremd.<br />

Auf G_d’S Pee at State’S End,<br />

ihrem ersten Album seit sechs<br />

Jahren, versteigen sie sich zu<br />

einer Art viersätziger Sinfonie<br />

über die Apokalypse, die ihrer<br />

Meinung nach längst begonnen<br />

hat. Die beiden instrumentalen<br />

Long Tracks sind von<br />

verstörender Eindringlichkeit,<br />

das Intro zum ersten Song<br />

erinnert in seiner Intensität<br />

an den „21st Century Schizoid<br />

Man“. Erleichterung gewähren<br />

nur die beiden kürzeren<br />

Zwischentracks.<br />

Sara Watkins’ Under the Pepper<br />

Tree ist eine exzentrische<br />

Rückschau auf Lieder, die ihre<br />

Jugend bestimmt haben. Musical-<br />

und Film-Songs, Beatles-<br />

Nummern, Tagesschlager und<br />

andere versunkene Schätze<br />

werden zu einem surrealen<br />

Folk-Traum zusammengesetzt,<br />

der eher Chimären der Originale<br />

gleicht als Adaptionen.<br />

Die Arrangements erfolgen<br />

mit viel Liebe zum Detail, die<br />

Wiederbegegnung mit den<br />

durchweg bekannten Liedern<br />

ähnelt dennoch eher einem<br />

Spiegellabyrinth, bei dem man<br />

die Koordinaten von Zukunft<br />

und Vergangenheit aus dem<br />

Auge verliert.<br />

Portugal the Man aus Alaska<br />

waren anfangs für ihre Glam-<br />

Orgien bekannt. Oregon City<br />

Sessions ist ein unveröffentlichtes<br />

Studio-Live-Album von<br />

2008, auf dem sie die Songs<br />

ihrer Frühzeit in ausschweifen<br />

Live-Versionen ohne Publikum<br />

einspielen. Die Produktion erfolgte<br />

ohne Overdubs und zeigt<br />

eine Band, die an die zuweilen<br />

wilden Live-Auftritte von T. Rex<br />

erinnert. Ein berauschendes<br />

Glam-Prog-Spektakel, von dem<br />

PtM heute weit entfernt ist.<br />

Wolf Kampmann<br />

70 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


sich beim Spielen davontragen<br />

lassen und überwinde mühelos<br />

Genregrenzen und technische<br />

Schwierigkeiten.<br />

Hans-Jürgen Linke<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Markus Schieferdecker<br />

Asteroid 7881, Standards<br />

Rosenau / Galileo<br />

W W W W<br />

Der Bassist aus dem Nürnberger<br />

Raum ist keine unbeschriebene<br />

Größe. Er arbeitete sowohl mit<br />

der Ensemble-Chefin Maria<br />

Schneider als auch mit Albert<br />

Mangelsdorff, Clark Terry und<br />

Lee Konitz zusammen. Bereits<br />

als Kind und als Jugendlicher<br />

lernte er Klarinette, Saxofon und<br />

Gitarre. Eine Erfahrung, die ihm<br />

heute zugutekommt in seiner<br />

Eigenschaft als Bandleader. Dem<br />

namensgleichen Kirchenmusiker<br />

Johann Christian Schieferdecker<br />

ist die aktuelle CD gewidmet.<br />

Bei dem Titel mag der Jazz-<br />

Freund an konventionellen<br />

Durchschnitts-Jazz denken, wie<br />

man ihn eben aus der Club-Atmosphäre<br />

kennt. Beim Blick auf<br />

die Komponisten fällt eigentlich<br />

nur Henry Mancini als typisch<br />

„alter“ Stoff aus dem Rahmen.<br />

Allein der Auftakt mit Freddy<br />

Hubbards „Sky Dive“ ist schon<br />

eine angenehme Überraschung.<br />

Moderner Jazz, gefühlvoll und<br />

ideenreich präsentiert im musikalischen<br />

Spannungsfeld irgendwo<br />

zwischen Chick Corea, Scott<br />

LaFaro und John Coltrane. Nur<br />

zwei Kompositionen stammen<br />

aus Schieferdeckers eigener<br />

Feder: „Planet Mingus“ ist eine<br />

stilvoll gekonnte Verneigung vor<br />

dem Bassisten und Bandleader,<br />

während das rasante „Blue Sky“<br />

einen energiegeladenen Saxofonisten<br />

Wayne Escoffery ebenso<br />

in Bestform zeigt wie Drummer<br />

Joris Dudli. Stimmungsvolle<br />

Klangbilder wie in „Old Devil<br />

Man“ mit einem brillierenden<br />

Pianisten Xavier Davis runden<br />

eine gelungene Jazz-Aufnahme<br />

ab, die gekonnt das Beste aus<br />

Tradition und Gegenwart vereint.<br />

Andreas Schneider<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Théo Ceccaldi Trio<br />

Django<br />

Full Rhizome / Broken Silence<br />

W W W W W<br />

Nahezu alles, was die Ceccaldis<br />

(Gitarrist Guillaume Aknine wird<br />

hier brüderlich in die Familie<br />

aufgenommen) anfassen, gerät<br />

ungemein kreativ, und so steckt<br />

auch Django wieder voller<br />

Überraschungen. „Balancelle<br />

et Chèvrefeuille“ zerlegt<br />

die Manouche-Ästhetik und<br />

konfrontiert „Minor Swing“ mit<br />

Minimal Music. „Le cou du Dragon“<br />

verarbeitet Josef Myrows<br />

Klassiker „Blue Drag“ zu einem<br />

spacigen Trip in all die Welten,<br />

die sich auftun, wenn Saiten-<br />

Instrumentalisten alle Register<br />

ziehen. Da kommt alles zum Tragen,<br />

was diese Idealbesetzung<br />

unter den Händen von Musikern<br />

solchen Formates hergibt. „Manoir<br />

de mes réves“ mäandert<br />

romantisch und wabert dennoch<br />

ungeduldig. An Valentin Ceccaldi<br />

fasziniert einmal mehr die<br />

Fähigkeit, dem Cello Ostinato-,<br />

Twobeat-, Walking Bass-,<br />

Groove-, und Powerchord-<br />

Funktion zuzuweisen und dazu<br />

überraschend klangliche Feuer<br />

auf vier Saiten zu entfachen.<br />

„Nin-Nin je t’aime“ lädt zu einem<br />

wunderbar ruhigen 7-minütigen<br />

Spaziergang durch Raum und<br />

Zeit. Darauf folgt mit „Acétone<br />

Charleston“ eine herrlich<br />

collagierte Suite voll genialem<br />

Humor und Tempo-Spielereien<br />

auf schrägen Nebenschauplätzen.<br />

Im Vorbeigehen erleichtern<br />

die drei Musiker den „französischen<br />

Jazz“ unterwegs mal<br />

kurz von der Last der eigenen<br />

Tradition. Mit Chapeau vor der<br />

Vergangenheit, ihren Klischees<br />

und möglichen Auslegungen in<br />

die Zukunft. Großartig, wie sich<br />

Aknine inmitten des akustischen<br />

Kontextes von „Six pouces sous<br />

mer“ an den Verzerrer traut<br />

und dann in „Brûle Roulotte“<br />

gemeinsam mit Théos Violine<br />

Erinnerungen an Django<br />

Reinhardts tragischen Unfall im<br />

Wohnwagen heraufbeschwört.<br />

Jan Kobrzinowski<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Snowpoet<br />

Wait for Me<br />

Edition / PIAS<br />

W W W W<br />

Die Klänge, Techniken und<br />

Praktiken improvisierter und<br />

zeitgenössischer klassischer<br />

Musik, südindischer karnatischer<br />

Gesang, Jazz, Folk,<br />

Art-Pop und Electronica sind die<br />

Anschubmittel für die Mühlen<br />

von Snowpoet. Es vereinen<br />

sich also eine Menge Zutaten<br />

in der Musik des freundlichen<br />

Londoner Kammermusik-Paares<br />

Lauren Kinsellas und Chris<br />

Hysons und ihrer siebenköpfigen<br />

Band Snowpoet. Sie haben<br />

es geschafft, in der Tat Jazz<br />

mit zeitgenössischem Folk zu<br />

verschmelzen, ohne jemals<br />

prätentiös zu klingen. Sie kombinieren<br />

komplexe musikalische<br />

Ideen und eindringliche Texte<br />

mit einer offenen, ausladenden<br />

Palette und einer rhythmischen<br />

Aufregung, die jeden anspricht,<br />

dessen Ohren von z.B. Kate<br />

Bush oder Goldfrapp geöffnet<br />

wurden. Wait for Me ist mit<br />

seinen vielschichtig bearbeiteten<br />

Sounds völlig anders als der<br />

spärliche Vorgänger Trough You<br />

PDF in 4c<br />

Knew. Nun wird in wechselnden<br />

Innenansichten geschwelgt<br />

<strong>–</strong> vielleicht ein Resultat der<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 71


Tonspuren<br />

Pandemie, die ja auch Zeit<br />

zu gedanklichen Reflexionen<br />

ermöglicht <strong>–</strong>, Andeutungen von<br />

Intimitäten innerhalb von Wattewolken<br />

aus Keyboards und<br />

nachhallenden Vocals flirren<br />

umher. Ganz automatisch wird<br />

man dabei in die Träumereien<br />

von Tracks wie „FaceTime“ und<br />

„Here’s the Thing“ hineingezogen.<br />

„The Wheel“ <strong>–</strong> mit der<br />

einfühlsamen Gitarre von Alex<br />

Haines <strong>–</strong> weitet sich dann, die<br />

komplette Band bringt reiche<br />

Klangschichten ein, bevor die<br />

Beats von Dave Hamblett den<br />

Song wirbeln und grooven<br />

lassen. Snowpoet schaffen das<br />

Kunststück, einer Avantgarde-<br />

Methode zu folgen und dennoch<br />

in einem zugänglichen, fast verdächtig<br />

melodischen Raum zu<br />

landen, der mit einem gewissen<br />

antisentimentalen Stoff geimpft<br />

ist. Doch es braucht ein wenig<br />

Zeit und Geduld beim Hörer, um<br />

sich auf die Schönheit von Wait<br />

for Me voll einzulassen.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Wollny <strong>–</strong> Parisien <strong>–</strong> Lefebvre <strong>–</strong><br />

Lillinger<br />

XXXX<br />

ACT / Edel:Kultur<br />

W W W W o<br />

Die vielen X im Albumtitel stehen<br />

für: explore, expand, exploit,<br />

exterminate. Das klingt viel<br />

konstruierter als die Musik auf<br />

dem Album. Denn XXXX ist vor<br />

allem wild in den Sounds: Wer<br />

denkt, dass Michael Wollny nur<br />

für gepflegten Pianosound steht,<br />

wird hier sicher überrascht. Der<br />

deutsche Pianist hat einen kompletten<br />

Fuhrpark mit viel alter<br />

und auch neuer Elektronik im<br />

Berliner A-Trane aufgefahren,<br />

es röhrt, knirscht, gniedelt und<br />

wummert <strong>–</strong> aber nicht nur aus<br />

der Tastenecke. Auch Saxofonist<br />

Emile Parisien lässt sein<br />

Instrument mit Elektronik verfremden,<br />

E-Bassist Tim Lefebvre<br />

ist seit Jahren bekannt dafür,<br />

unerwartete Sounds mit fetten<br />

Grooves kombinieren zu können.<br />

Er agiert als Mastermind im<br />

Untergrund, durch erfrischend<br />

überraschende Sounds samt<br />

Tempo- und Grooveveränderungen<br />

das Quartett aus der<br />

Tiefe dirigierend. Und Drummer<br />

Christian Lillinger macht das,<br />

wofür er bekannt ist: Unvorhersehbares,<br />

mal durchgehend<br />

als Groove, mal nur als<br />

Soundpainting. Vier Tage hatte<br />

sich das Quartett ohne fertige<br />

Stücke oder Skizzen im Berliner<br />

Club auf die Bühne gestellt und<br />

einfach drauflosgespielt. Dabei<br />

herausgekommen ist ein interessantes<br />

Gebräu aus Sounds,<br />

Grooves und Motiven, die sich<br />

langsam zu verschiedenen<br />

Songformen entwickelten. Die<br />

große Arbeit war im Anschluss,<br />

das Material in CD-kompatible<br />

Abschnitte zu schneiden. Doch<br />

das ist der Band gelungen, die<br />

komplett improvisierten Stücke<br />

klingen wie abgerundete Songs.<br />

Schade ist nicht nur für die<br />

Musiker, sondern auch für das<br />

Publikum, dass das Projekt<br />

momentan nicht weiterlaufen<br />

kann. Die CD zeigt, wohin der<br />

Weg führen könnte…<br />

Angela Ballhorn<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Archie Shepp & Jason Moran<br />

Let My People Go<br />

Archieball / Broken Silence<br />

W W W W W<br />

Für Archie Shepp, den unerreichten<br />

Meister der brüchigen,<br />

verschliffenen, aggressivzärtlichen<br />

Saxofonkunst, ist<br />

die Duo-Konstellation mit<br />

einem Pianisten ein nahezu<br />

ideales Format. Einige seiner<br />

besten Platten machte Shepp<br />

im Dialog mit Horace Parlan<br />

oder Mal Waldron. Diesmal<br />

ist sein Klavierpartner der um<br />

fast 40 Jahre jüngere Jason<br />

Moran, einer der wichtigsten<br />

Jazzmusiker seiner Generation.<br />

Erst 2015 haben sich die beiden<br />

kennengelernt, auf einem<br />

europäischen Festival. Auf zwei<br />

anderen europäischen Festivals<br />

(in Paris und Mannheim) wurden<br />

die Duo-Aufnahmen dieses<br />

Albums mitgeschnitten. In<br />

sieben Stücken zeichnen Shepp<br />

und Moran die Black Music<br />

History nach <strong>–</strong> von den frühen<br />

Spirituals über die Jazz Saints<br />

(Strayhorn, Monk, Coltrane) bis<br />

zur Gegenwart (Morans „He<br />

Cares“). Über tremolierten, häufig<br />

modalen Klavierteppichen, meist<br />

„out of tempo“, zieht Shepp am<br />

Tenor- bzw. Sopransax seine<br />

grandiosen, unnachahmlich<br />

zerrissenen Bahnen. Moran ist<br />

als Solist kaum weniger faszinierend<br />

<strong>–</strong> ein ganzes Bündel von<br />

Klavierspielern scheint in ihm zu<br />

stecken. Das ist große Trauerund<br />

Feiermusik, ein Höhepunkt<br />

in der Geschichte der Jazzkunst,<br />

hypnotisierend und hymnisch<br />

und dennoch von äußerster<br />

Expressivität. Von einem Album<br />

wie diesem wagt man kaum zu<br />

träumen.<br />

Hans-Jürgen Schaal<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Pascal Schumacher<br />

Re: SOL<br />

Neue Meister / Edel:Kultur<br />

W W W W<br />

Ein Jahr nach seinem Solodebüt<br />

SOL hat der luxemburgische<br />

Jazzvibraphonist Pascal<br />

Schumacher vier Musiker<br />

eingeladen, jeweils ein Stück<br />

daraus neu zu interpretieren.<br />

Um anderen solch persönliches<br />

Material nebst „Freifahrtschein,<br />

der es ihnen erlaubt, damit zu<br />

tun, was immer sie denken“, zu<br />

geben, bedarf es viel Vertrauens.<br />

Dass es erwidert wird, ist<br />

in den hochintimen Dialogen<br />

aus Werk und Bearbeitung zu<br />

hören. Etwa wenn der Pianist<br />

Malakoff Kowalski Schumachers<br />

Debüt-Titeltrack seine<br />

tiefen, auf einem 1912er-Krauss<br />

angeschlagenen Töne leiht, die<br />

das Original melodisch wie harmonisch<br />

unangetastet lassen,<br />

ihm jedoch eine neue Nächtlichkeit<br />

beigeben. Regelrecht<br />

mystisch gibt sich das Rework<br />

Viktor Orri Árnasons, in dem<br />

elektronische Zeitlupenklangflächen<br />

und zögernde Streicher<br />

zu opulent-organischem Ambientchillout<br />

aufeinandertreffen.<br />

„Die größte Freude war mir<br />

dabei“, so der Isländer, „die<br />

Vibration des Vibraphons selbst<br />

zu manipulieren.“ Elektronische<br />

Downtempo-Loops, die<br />

zwar das Schlaginstrument<br />

überlagern, die verwunschene<br />

Atmosphäre dessen ungeachtet<br />

aufrechterhalten, bietet<br />

die Interpretation des jungen<br />

Stuttgarter Produzenten Brian<br />

Zajak aka Fejká, derweil es auf<br />

der geräuschkulissendurchsetzten<br />

Neufassung der Komponistin<br />

Midori Hirano mindestens<br />

ebenso minimalistisch zugeht<br />

wie auf dem Original <strong>–</strong> bis die<br />

stetige Steigerung einem schier<br />

den Verstand zu rauben droht.<br />

Soundscapes, die begehren, in<br />

komfortabler Liegeposition, an<br />

eine Decke voller rätselhafter<br />

Projektionen starrend, das eine<br />

oder andere Getränk konsumierend,<br />

genossen zu werden.<br />

Victoriah Szirmai<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Stefano Tamborrino<br />

Seacup<br />

tuk / Edel:Kultur<br />

W W W<br />

Es ist leicht, Wasser in einer<br />

Tasse aus dem Meer zu nehmen<br />

und es einfach Salzwasser zu<br />

72 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Kolumne<br />

MANDEL IN AFRICA<br />

Ballaké Sissoko<br />

Djourou<br />

No Format / Indigo<br />

W W W W<br />

Toumani Diabaté & The London<br />

Symphony Orchestra<br />

Kôrôlén<br />

World Circuit / BMG<br />

W W W<br />

Christine Salem<br />

Mersi<br />

Blue Fanal / Broken Silence<br />

W W W W o<br />

Les Mamans du Congo & Rrobin<br />

Les Mamans du Congo & Rrobin<br />

Jarring Effects / Broken Silence<br />

W W W W<br />

Kasai Allstars<br />

Black Ants Always Fly<br />

Together<br />

Crammed / Indigo<br />

W W W W<br />

BLK JKS<br />

Abantu / Before Humans<br />

Glitterbeat / Indigo<br />

W W W<br />

Various Artists<br />

Edo Funk Explosion<br />

Analog Africa / Groove Attack<br />

W W W W W<br />

Ayuune Sule<br />

Putoo Karate Yire<br />

Makkum / RebelUp! / News<br />

W W W W<br />

Nahawa Doumbia<br />

Kanawa<br />

Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />

W W W W<br />

Hailu Mergia & The Walias<br />

Band<br />

Tezeta<br />

Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />

W W W o<br />

DJ Black Low<br />

Uwami<br />

Awesome Tapes from Africa / Cargo<br />

W W W o<br />

Kora-Koryphäen<br />

Balaké Sissoko und Toumani<br />

Diabaté stammen aus westafrikanischen<br />

Musikdynastien,<br />

ihr Instrument ist die vielsaitige<br />

Kora. Bereits 1999 kam es zu<br />

einem Gipfeltreffen der Meister<br />

auf dem Album New Ancient<br />

Strings, heute zählen sie zu den<br />

bekanntesten Musikern Malis.<br />

Auf seinem neuen Album ist<br />

Sissoko zunächst solo zu hören,<br />

im weiteren Verlauf kommt es<br />

zu einem Kora-Duett mit Sona<br />

Jobarteh aus Gambia. Zarte<br />

Pop-Songs entstanden mit u.a.<br />

Salif Keita und der französischen<br />

Sängerin Camille, mit dem Cellisten<br />

Vincent Segal, mit dem er bereits<br />

das Duett-Album Chamber<br />

Music aufgenommen hat, und<br />

Klarinettist Patrick Messina wird<br />

sogar über Berlioz’ Symphonie<br />

fantastique fantasiert. Noch inniger<br />

wird die Umarmung der Kora<br />

durch die europäische Kunstmusik<br />

bei Toumani Diabaté, der, so<br />

wie Pharoah Sanders, mit dem<br />

London Symphony Orchestra<br />

kooperierte. Dieses hat den von<br />

früheren World- Circuit-Produktionen<br />

bekannten Stücken wenig<br />

hinzuzufügen: Es verdoppelt,<br />

verplüscht oder paraphrasiert<br />

im Wechselspiel, was Diabaté<br />

spielt. Eigene Akzente, Kontrapunkte<br />

gar, wie beim Trio Sa Kali<br />

und dem Kronos Quartet fallen<br />

aus oder nicht auf.<br />

Starke Frauen<br />

Sängerin Christine Salem wurde<br />

auf der Insel Réunion geboren,<br />

und ihr Repertoire schöpft aus<br />

dem afrikanisch, asiatisch und<br />

europäisch geprägten Musikerbe<br />

der Insel. Berühmt ist<br />

mittlerweile der bis 1981 verbotene<br />

Maloya-Tanz mit seinen vertrackten<br />

6/8-Patterns, aber ihre<br />

(europäische) Band ist auch offen<br />

für geradlinigere Pop-Nummern.<br />

Mit Texten auf Kreol steht<br />

der tiefe, manchmal androgyne<br />

Gesang der Künstlerin mit einem<br />

Fuß im Blues. Rein elektronisch,<br />

aber ähnlich anschmiegsam und<br />

vielseitig ist das musikalische<br />

Flussbett, das der französische<br />

Producer Rrobin dem fünfköpfigen<br />

Vokalensemble Les Mamas<br />

du Congo ausgehoben hat. Das<br />

ist hoffentlich richtungsweisend<br />

für derartige von Fördermitteln<br />

befeuerte Projekte, bei denen<br />

EU-Producer sich gern nicht<br />

ganz uneitel selbst inszenieren.<br />

Bei den Mamas verrichten die<br />

Beats elegant ihre Arbeit und<br />

rücken die Stimmen von Gladys,<br />

Odette, Argéa, Jeanny und<br />

Nadège in den Fokus.<br />

Beliebte Bands<br />

Ihre Landsleute Kasai Allstars<br />

haben eigentlich keine Postproduktion<br />

nötig. Ihr Krawallfaktor,<br />

mit Percussions, Likembes,<br />

Gitarren und Daumen-Pianos,<br />

ist Legende. Das Großensemble<br />

entstand in der Hauptstadt Kinshasa,<br />

aber wie der Name sagt,<br />

kommen die Musiker ursprünglich<br />

aus der Provinz Kasai, entstammen<br />

fünf unterschiedlichen<br />

lokalen Bands und gleichzeitig<br />

fünf verschiedenen Ethnien.<br />

Lehrstück über die Kraft der Musik,<br />

aber vor allem: innovative,<br />

hypermotorische Straßentanzmusik<br />

mit Trance-Faktor. Ihren<br />

früheren Alben steht die aktuelle<br />

Veröffentlichung in nichts nach.<br />

Die südafrikanische Band BLK<br />

JKS hatte ihren Durchbruch<br />

vor zehn Jahren mit dem Album<br />

After Robots. Nachdem 2018 das<br />

Bandstudio ausgeräumt wurde,<br />

musste das neue Album aus der<br />

Erinnerung rekonstruiert werden,<br />

dabei schöpft das Quintett<br />

aus allen möglichen Töpfen<br />

und wechselt gern alle paar<br />

Takte den Gang, so dass, Jazz,<br />

Jive, Metal, Folk und Rap nur so<br />

durcheinanderpurzeln, um dann<br />

doch in einer großen Pop-Geste<br />

zusammenzufinden.<br />

Tolle Typen<br />

Einen Querschnitt über den<br />

Spätsiebziger-Sound in Benin<br />

City (das nicht in Benin liegt,<br />

sondern in der Edo-Region von<br />

Nigeria) gibt die Compilation Edo<br />

Funk Explosion <strong>–</strong> mit durchweg<br />

funky, zum Teil blubberndverspieltem,<br />

zum Teil politisch<br />

motiviertem Material von tollen<br />

Typen wie Victor Uwaifo, Osayomore<br />

Joseph und dem „Philosophen-König<br />

des Edo Funk“ (Liner<br />

Notes) Akaba Man. Ayuune Sule<br />

verbittersüßte das Jahr 2020 mit<br />

einer Corona-Single, nun legt<br />

der Kologo-Meister aus Ghanas<br />

Upper Region mit einem Album<br />

nach: Im Top Link Studio im<br />

Städtchen Bongo wurden dafür<br />

eine Percussion- und eine Gesangsgruppe<br />

und die Stargäste<br />

Prince Buju und Bonjo I von African<br />

Headcharge engagiert. Im<br />

Verein mit den unvermeidlichen<br />

MIDI-Beats schaffen sie eine effektive,<br />

durchlässige Begleitung<br />

für Ayuunes in Frafra gesungene<br />

positive Message.<br />

Tolle Tapes<br />

Nach dem Re-Release der<br />

frühen Werke von Nahawa<br />

Doumbia hat die Sängerin in<br />

Bamako neues Material eingespielt:<br />

eindringliche Songs über<br />

die Situation im heutigen Mali,<br />

begleitet von ihrer kamele ngoni,<br />

einem Ensemble mit traditionellen<br />

und modernen Instrumenten<br />

und in einem Fall: ihrer Tochter.<br />

Das Album spannt in acht Titeln<br />

den Bogen vom Storytelling bis<br />

zur groovenden Pop-Nummer.<br />

Fans des äthiopischen Tastenmannes<br />

Hailu Mergia dürfen<br />

sich über ein Re-Issue des<br />

ersten Albums seiner Walias<br />

Band freuen, das nun erstmals<br />

auf Vinyl erscheint. Die Live-<br />

Aufnahme aus ihrem Stamm-<br />

Club im Hilton Hotel von Addis,<br />

mit prominenter Gitarre und<br />

Hailu an der Orgel, ist zwar wie<br />

stets eine Freude, aber die hat<br />

ihren Preis: Das Grundrauschen<br />

des Cassettensounds überzieht<br />

die Grooves mit einer schwer zu<br />

ignorierenden Patina. Glasklar,<br />

weil volldigital ist dagegen der<br />

neue Housemusik-Sound aus<br />

Südafrika, heißt Amapiano, ist<br />

vom Tempo her relaxt und hat<br />

Fans nicht nur in Südafrika, sondern<br />

auch in Japan. Das Album<br />

von DJ Black Low ist eine Art<br />

Rough Guide in diesen Sound:<br />

Konsumentenfreundlicher next<br />

level shit mit massig Vocal-Features<br />

im Sprachmix aus SePedi,<br />

Setswana and isiZulu <strong>–</strong> ein für<br />

Nichteingeweihte nervtötendes<br />

Meisterwerk.<br />

Eric Mandel<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

73


Kolumne<br />

Lee Daniels<br />

Billie Holiday vs.<br />

The United States<br />

Hulu<br />

W W W<br />

Oliver Murray<br />

Ronnie’s <strong>–</strong> The Life of Ronnie<br />

Scott<br />

BBC<br />

W W W W W<br />

Andrew Slater<br />

Echo in the Canyon<br />

NBC Universal Europe / You-<br />

Tube<br />

W W W W<br />

Vincent Moon / Ólafur Arnalds<br />

When We are Born<br />

Universal<br />

W W W o<br />

Pete Docter<br />

Soul<br />

Pixar, Disney / Amazon Prime<br />

W W W W<br />

LAUFBILDKONTROLLE<br />

In zeitgemäßer Optik wirft<br />

wieder mal ein Filmemacher ein<br />

geschichtsklitterndes Machwerk<br />

auf die Leinwand, das sich<br />

um eine Musiklegende dreht.<br />

Nach Miles, Django, Bolden, Ma<br />

Rainey ist es diesmal Billie Holiday,<br />

deren Leben an sich schon<br />

genug Filmstoff-Potenzial bietet:<br />

Rassismus, Behördenwillkür, sexuelle<br />

Gewalt, Drogen. Daraus<br />

machte das Team um Suzan-<br />

Lori Parks (Drehbuch), Johann<br />

Hari (Quellenbuch-Autor) und<br />

Lee Daniels (Regie) mit The<br />

United States vs. Billie Holiday<br />

einen Fiction-Film, der Wahrheit<br />

und Erfindung vermischt. Das<br />

darf er, dennoch ist ein Zuviel<br />

an Fiktion in einem Bio-Pic evtl.<br />

problematisch. Rote Fäden<br />

sind Billies Unerschütterlichkeit,<br />

„Strange Fruit“ weiter zu<br />

singen, sowie ihre (verbriefte?)<br />

Beziehung zu Jimmy Fletcher<br />

(Trevante Rhodes), einem<br />

hübschen Undercover-Ermittler,<br />

der den Dunstkreis der Sängerin<br />

infiltrieren und Beweise für<br />

ihren Drogenkonsum sammeln<br />

soll. Die Leistung von Andra Day<br />

als Holiday ist schauspielerisch<br />

beachtlich, gesanglich (eher<br />

nachahmend als neuerfindend)<br />

überschaubar bis gut.<br />

Die klassische Jazz-Doku ist<br />

noch nicht tot. Ronnie’s von<br />

Oliver Murray lebt vom legendären<br />

Londoner Ronnie Scott’s<br />

und dessen Gründer: Liebevoll<br />

wird die Geschichte eines<br />

Jazzenthusiasten und Musikers<br />

nachgezeichnet, dessen<br />

Leben (1927-1996) im Grunde<br />

der berühmte Club war. Größen<br />

des Jazz dankten ihm seit 1959<br />

für eine einzigartige Absteige<br />

im Herzen der britischen<br />

Szene, die, unter neuer Leitung,<br />

bis heute existiert. Dass man<br />

nebenbei nicht nur Stars wie<br />

Dizzy, Ella, Nina Simone, Sonny<br />

Rollins, Roland Kirk, Buddy<br />

Rich, Oscar Peterson in intimer<br />

Performance, sondern z.B.<br />

auch einen raren Auftritt von<br />

Van Morrisson mit Chet Baker<br />

erlebt, macht die Sache noch<br />

lohnender. Interviews mit Scott,<br />

Business-Partner Pete King und<br />

deren Familie sowie Georgie<br />

Fame, Quincy Jones, Rollins,<br />

Kyle Eastwood u.a. geben<br />

Einblick in das Leben des mit<br />

trockenem Humor ausgestatteten,<br />

aber auch zur Depression<br />

neigenden Scott. Demnächst<br />

hoffentlich im Kino.<br />

„Laurel Canyon war der Ort,<br />

wo man leben konnte, das<br />

Gegenstück zu der Plastikwelt<br />

aus dem Fernsehen,“ erzählt<br />

Jackson Browne über die<br />

Wiege des Westcoast-Sounds<br />

im Gespräch mit Bob Dylans<br />

Sohn Jakob. „Die Leute riefen<br />

dich nicht an, sie klopften und<br />

sagten ‚Hör dir das mal an!‘“,<br />

erzählt Graham Nash. Roger<br />

McGuinn hatte herausgefunden,<br />

dass die Beatles Folk-Akkorde<br />

verwendeten, um damit große<br />

Hits zu landen. „Das gab mir die<br />

Idee, einen alten Folksong zu<br />

nehmen und ihn mit Beatles-<br />

Beats aufzumotzen. Ich ging ins<br />

Dorf runter und spielte das im<br />

Café Playhouse, aber sie mochten<br />

die Mischung von Rock ‘n‘<br />

Roll und Folk erst nicht.“ Dann<br />

gründete er mit Gene Clark<br />

und David Crosby die Byrds.<br />

„Dylan kam und hörte uns ‚Mr.<br />

Tambourine Man‘ mit E-Gitarren<br />

spielen“, erzählt Crosby. „Du<br />

konntest sehen, wie es rattert in<br />

seinem Kopf. Er wusste sofort:<br />

Das will er auch machen.“<br />

Andrew Slaters Film Echo in<br />

the Canyon mit Jakob Dylan als<br />

Interviewer und Live-Interpret<br />

alter Westcoast-Perlen belebt<br />

alte Zeiten wieder und bringt<br />

neue Einsichten. Manko: Einige<br />

der Versionen von Byrds-,<br />

Peter, Paul & Mary- bis Beach<br />

Boys-Klassikern durch die neue<br />

Generation Fiona Apple, J.<br />

Dylan, Jade, Norah Jones u.a.<br />

bleiben blass gegenüber den<br />

Originalen.<br />

Hauptjob des französischen<br />

Filmemachers Mathieu „Vincent<br />

Moon“ Saura ist, die Welt mit<br />

Rucksack, Laptop und Kamera<br />

zu bereisen und zu zeigen, wie<br />

Film und Musik Menschen helfen,<br />

eigene und andere Kulturen<br />

mit neuen Augen zu sehen. Er<br />

hat Arcade Fire, Bon Iver, Sufi-<br />

Rituale sowie brasilianische Ureinwohner<br />

in Formaten wie The<br />

Take-Away Show und Collection<br />

Petites Planètes gefilmt. 2020<br />

traf er sich mit Ólafur Arnalds<br />

zur ästhetisierten musikalischen<br />

Sinnsuche When We are<br />

Born auf Island. Sowohl die zu<br />

sehenden Rituale als auch die<br />

Tanzchoreografie sind bewusst<br />

deutungsoffen gehalten. Für<br />

Arnalds-Fans und Liebhaber der<br />

Verbindung von Musik und Tanzperformance<br />

eine gelungene<br />

halbe Stunde und eine schöne<br />

visuelle Ergänzung einiger<br />

Songs des aktuellen Albums<br />

Some Kind of Peace.<br />

Selbstverwirklichung, Widerstreit<br />

von Körper, Geist und<br />

Seele, Konzepte von Vorbestimmung,<br />

Wiedergeburt, Diesseits/<br />

Jenseits <strong>–</strong> das sind Stoffe, aus<br />

dem Soul, das neue Animations-<br />

Comedy-Drama von Disney/<br />

Pixar, zusammengewebt ist.<br />

Animations-Nerd Pete Docter<br />

(Inside Out, Up) legte den Plot<br />

kurzerhand in den Lebensraum<br />

eines New Yorker Jazzmusikers,<br />

geprägt von Lebens-, Ego- und<br />

Existenzproblemen (in diesen<br />

Zeiten eine pikante Entscheidung?).<br />

In weicher Niedlichkeit<br />

der Figuren verschwimmen die<br />

Grenzen zwischen Jenseits,<br />

Vorher und Nachher manchmal<br />

bis zur Unkenntlichkeit und<br />

stehen dem irdischen Jazz-Ambiente,<br />

liebevoll nachgezeichnet<br />

in New York-Downtown-<br />

Ästhetik, gegenüber. Man sollte<br />

sich nicht allzu viele Gedanken<br />

machen, sich einfach von den<br />

Pixar-Experten gut unterhalten<br />

lassen <strong>–</strong> und unterdessen am<br />

Soundtrack erfreuen. Dieser<br />

wurde von Trent Reznor, Atticus<br />

Roos und Jon Batiste erstellt<br />

(Disney Records), ihnen standen<br />

Berater wie Herbie Hancock,<br />

Terri Lyne Carrington und Questlove<br />

zur Seite. Gastauftritte wie<br />

der von Cody Chesnutt sorgen<br />

für Highlights.<br />

Jan Kobrzinowski<br />

74 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


nennen. Für Stefano Tamborrino<br />

bleibt es jedoch ein Teil des<br />

Meeres. Aufgrund einer, wie<br />

er es nennt, in der Sprache<br />

innewohnenden Gewalt, geht<br />

Tamborrino den Weg, sich<br />

weniger über die Musik auszudrücken.<br />

Der Klangköper,<br />

den er dafür wählt, setzt sich<br />

aus vier Streichern, Saxofon,<br />

Schlagzeug, Stimme, Eletronics<br />

und Lap-Steel-Girarre<br />

zusammen. Dominiert wird<br />

der Klang des Albums vom<br />

dichten und meist spannungsvollen<br />

Streichersound, dessen<br />

fließender Strom sich durch<br />

das Album zieht. Vor diesem<br />

Hintergrund bilden sich Melodien<br />

heraus, die verschiedene<br />

Assoziationen hervorrufen.<br />

Bei „Escher“ kann das die<br />

geordnete Welt des Barocks<br />

sein. Bei „Purple Wales“<br />

eine langsam wogende See,<br />

die durch das gesungene<br />

Govinda eine hinduistische<br />

Färbung bekommt und an den<br />

Fluss des Lebens erinnert.<br />

Die Assoziation mit östlichem<br />

Gedankengut wird auch bei<br />

„Gamelan“ hörbar. Schwer<br />

und geerdet beginnt „Almost<br />

Jesus“ und lässt den Hörer<br />

nach einsetzenden dissonanten<br />

Streichern und im Verlauf<br />

des immer spannungsreicher<br />

werdenden Stücks die Frage<br />

stellen, wie erstrebenswert<br />

es ist, fast Jesus zu sein. Die<br />

Antwort findet sich vielleicht<br />

in den Liner Notes, in denen<br />

Stefano Tamborrino schreibt:<br />

„Jeder von uns trägt ein<br />

Gewicht auf seinen Schultern.<br />

Dies ist mein Versuch, meins<br />

mit fünf Freunden zu teilen.“<br />

Thomas Bugert<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Trio Elf<br />

Fram<br />

Enja / Edel:Kultur<br />

W W W o<br />

Mit Fram legt das Trio Elf aus<br />

Regensburg, lässt man das<br />

Remix-Album RMXD außen<br />

vor, seinen siebten Longplayer<br />

vor. Zwar hat sich einiges<br />

getan seit ihrem selbstbetitelten<br />

Debüt von 2006 <strong>–</strong> insbesondere<br />

auf der Bass-Position<br />

ist Fluktuation angesagt: Nach<br />

Sven Faller und Peter Cudek<br />

komplettiert nun Sebastian<br />

Gieck das Terzett um die<br />

Gründungsmitglieder Gerwin<br />

Eisenhauer (dr) und Walter<br />

Lang (p). Dessen ungeachtet<br />

ist es seinem Projekt, Topoi<br />

elektronischer Tanzmusik in<br />

analoges, „handgemachtes“<br />

Musizieren zu überführen,<br />

weitgehend treu geblieben.<br />

Nun ist diese Idee nicht ganz<br />

neu: Bereits Mitte der 90er<br />

spielte das Trio Red Snapper<br />

Drum’n’Bass-Nummern<br />

auf Jazz-Instrumentarium,<br />

insbesondere in der neueren<br />

britischen Jazz-Szene herrscht<br />

mit Bands wie GoGo Penguin<br />

oder Portico Quartet kein<br />

Mangel an Combos, die sich<br />

am Groove des Dancefloors<br />

orientieren. Mit dem Titelstück<br />

und „Addicted“ hat Fram zwei<br />

Tunes anzubieten, deren energetisch<br />

aufgeladene Rhythmik<br />

dezidiert die Bezeichnung<br />

Clubtrack einfordert. Metrisch<br />

getrieben, harmonisch aber<br />

oft nur dahintreibend, wird<br />

solcherart handgemachte<br />

Club-Gefälligkeit leider nur<br />

allzu selten aufgebrochen und<br />

hintertrieben (was angesichts<br />

der dem Ansatz innewohnenden<br />

regressiven Tendenzen<br />

geboten wäre). Interessanter<br />

sind die Mischformen und<br />

Balladen wie „What It Seems“,<br />

in denen insbesondere Eisenhauer<br />

als Spannungs erzeuger<br />

auffällt, der nie einfach<br />

begleitet, sondern proaktiv Zeit<br />

gestaltet.<br />

Harry Schmidt<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Michel Schroeder Ensemble<br />

Bunt<br />

Laika / Rough Trade<br />

W W W W<br />

Gerade erst gegründet und<br />

schon in die Krise hineingeschlittert:<br />

2018 bildete sich<br />

das Crossover-Ensemble des<br />

jungen deutschen Trompeters<br />

Michel Schroeder. Dass<br />

auch in der Krise etwas Gutes<br />

entstehen kann, zeigt das<br />

17-köpfige Ensemble nun auf<br />

dem Debüt-Album. Bunt ist<br />

nicht nur der Titel, sondern<br />

auch die Besetzung mit acht<br />

Bläsern, vier Streichern, einer<br />

Harfe, Klavier, Gitarre, Bass<br />

und Schlagzeug. Bunt wie die<br />

Besetzung ist auch die Stilistik<br />

des Ensembles, die von<br />

Swing über Free Jazz zu Latin<br />

und Klassik reicht, und auch<br />

Schroeders Kompositionen<br />

sind ausgesprochen vielfarbig<br />

und kontrastreich. Es gehört<br />

zu seinem Motto, dass die<br />

Musik ruhig innerhalb eines<br />

Stückes sehr unterschiedlich<br />

sein darf, was er auch auf<br />

der Platte umgesetzt hat.<br />

Sieben der acht Kompositionen<br />

stammen aus seiner<br />

Feder und reichen inhaltlich<br />

von der Auseinandersetzung<br />

mit dem Klimawandel in der<br />

Dystopie „Sommer 2068“ bis<br />

hin zur Hommage an Pippi<br />

Langstrumpf mit „Villa Kunterbunt“.<br />

Mit Duke Ellingtons<br />

„In a Sentimental Mood“, das<br />

sehr streicherlastig umgesetzt<br />

wird, will das Michel Schroeder<br />

Ensemble zeigen, wo es<br />

seine Wurzeln sieht. Schroeders<br />

Kompositionen sind<br />

melodielastig und im besten<br />

Sinne „bunt“ und versehen<br />

mit abwechslungsreichen Soli<br />

für seine Mitmusiker*innen,<br />

die diese fantasievoll und virtuos<br />

ausgestalten. Einen Wermutstropfen<br />

hat das Debüt-<br />

Album des Michel Schroeder<br />

allerdings leider doch: Allzu<br />

oft ist die Intonation nicht gut<br />

getroffen, was feinen Ohren<br />

einen Strich durch das Hörvergnügen<br />

machen könnte.<br />

Verena Düren<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong><br />

75


Literatur<br />

Von Jan Kobrzinowski<br />

Christoph Wagner leistet sich seit jeher den Luxus, sich seine<br />

Interviewpartner selbst auszusuchen. Sein Kriterium: Wer hat<br />

die besten historisch wahren oder fiktiven oder kreativen Geschichten<br />

zu erzählen? Dazwischen schreibt er kluge Essays,<br />

in denen er Odd-Phänomene wie Pop in Zeitlupe, Rockminimalismus<br />

oder Afro-Futurismus untersucht. Etliches werde „hier<br />

nicht zum ersten Mal publiziert“, schreibt er in der Einleitung,<br />

sondern sei „zuvor in Fachzeitschriften zu lesen oder in Ausschnitten<br />

im Rundfunk zu hören“ gewesen. Gelegentlich fasst<br />

er mehrere Interviews zu einem einzigen Text zusammen.<br />

Christoph Wagner ist unterwegs als Suchender nach<br />

einem „musikalischen Areal der Stilkreuzungen und Vermischungen“,<br />

also nach Orten, an denen es interessant wird, wo<br />

Dinge sich reiben. Als lakonischer Interviewer stellt er stets<br />

die richtigen Fragen, die für die Befragten Räume erweitern. Er<br />

sucht nach neuen Ufern, Exilanten, Wagnissen, er fragt nach<br />

ungewöhnlichen Fusionen (George Crumb), Biografien, die<br />

nicht gradlinig sind (Christian Wolff), sucht den Zusammenhang<br />

von Musik und politischem und sozialem Bewusstsein (George<br />

Lewis und die AACM ), von Musikmachen und dem Körper<br />

(Meredith Monk), sucht nach der Freiheit im Rhythmus (Jaki<br />

Liebezeit), forscht über Pioniere des Synthesizers und elektronischer<br />

Heimstudiokunst (Patrick Gleeson, Morton Subotnick).<br />

Er berichtet über einen eindringlichen Pianisten (Borah<br />

Bergman) und eine eigenwillige Pianistin (Marilyn Crispell),<br />

fühlt verschiedenen Vertretern des Afrofuturismus (John Tchicai,<br />

Marshall Allen) auf den Zahn und spricht mit David Harrington,<br />

dem Leiter des Kronos Quartet, über die Horizonterweiterung<br />

des Streichquartetts. Er hat sich beim Ethnojazz-Veteranen<br />

und Embryo-Gründer Christian Burchard über den deutschen<br />

Rock-Underground und alternative Label-Gründungen erkundigt<br />

und Robert Wyatt dazu interviewt, wie dieser Jazzrock, Popmusik<br />

und Songschreiben unter einen Hut bringt.<br />

Die Ansätze und das Zuhause der Befragten sind grundverschieden,<br />

und dennoch umspannen Wagners Geistertöne<br />

wie rote Fäden seine Leitfragen: Welche Verbindungen und<br />

Spannungen gehen zeitgenössische Neue Musik, Minimalismus,<br />

traditionelle Folkmusik und Popmusik ein? Welche Rolle<br />

spielen Improvisation, die Stimme, wo und wie begegnen sich<br />

Tradition und Kreation? Die Lektüre ist spannend, ungewöhnlich<br />

und bringt haufenweise neue Einsichten.<br />

Christoph Wagner:<br />

Autorïnnen<br />

Geistertöne <strong>–</strong> Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen.<br />

Schott Musik, <strong>Mai</strong>nz 2020, 172 Seiten, 29,95 Euro<br />

Christoph<br />

Wagner<br />

Auf der Suche<br />

nach roten<br />

Fäden<br />

Für unseren Autor Christoph Wagner wurde der Traum eines<br />

jeden Musikjournalisten wahr: Interviews und Geschichten, die<br />

er in etlichen Jahren angesammelt hatte, in einem bebilderten<br />

Buch zu veröffentlichen. Da blieb nur die Qual der Wahl.<br />

Kilian Kemmer Trio<br />

… und Zarathustra tanzte<br />

GLM / Edel:Kultur<br />

W W W o<br />

Die ewige Wiederkehr des<br />

Immergleichen ist eine Vorstellung<br />

des Philosophen Friedrich<br />

Nietzsche, die man erschreckend<br />

finden kann. Oder<br />

faszinierend, wie der Pianist<br />

Kilian Kemmer, der übrigens<br />

in Philosophie promoviert.<br />

Sein Trio hat jedenfalls die<br />

Leichtigkeit, die es braucht,<br />

um die Gedanken zum Tanzen<br />

zu bringen. Bassist Masaki<br />

Kai hat einen schlanken Ton,<br />

der dieses Trio elegant und<br />

wendig immer wieder auf<br />

Touren bringt, und Schlagzeuger<br />

Matthias Gmelin ist ein<br />

Meister des Subtilen, der vor<br />

allem mit dem Besen immer<br />

wieder Nuancen zum Leuchten<br />

anregt. Eingestreut unter seine<br />

eigenen Songs hat Kemmer ein<br />

Stück von Federico Mompou<br />

<strong>–</strong> das in der Interpretation des<br />

Trios erfrischend bluesig klingt<br />

<strong>–</strong> und den unverwüstlichen<br />

Ellington-Klassiker „It Don’t<br />

Mean a Thing If It Ain’t Got<br />

That Swing“. …und Zarathustra<br />

tanzte ist eine schwelgerische<br />

Übung in Schönklang,<br />

bei dem man all den philosophischen<br />

Ballast, der Kemmers<br />

Stücken zugrunde liegt, auch<br />

einfach mal vergessen kann<br />

und einige Zeit „Auf den glückseligen<br />

Inseln“ verbringen<br />

kann, wo die Becken zischeln<br />

und das Klavier lyrisch, aber<br />

auch zupackend auf die Reise<br />

geht. Kurz vor Schluss wird<br />

man dann spätestens wieder<br />

an Nietzsche erinnert, denn<br />

dann spielt Kemmer allein<br />

am Klavier „Das Fragment an<br />

sich“, das Nietzsche selbst<br />

komponiert hat.<br />

Rolf Thomas<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Manfred Junker &<br />

Dani Solimine<br />

Guitarists Only<br />

mochermusic / MVH<br />

W W W W<br />

Die Archtop-Gitarristen Manfred<br />

Junker und Dani Solimine<br />

sind seit mehr als zehn Jahren<br />

ein eingespieltes Team. Zu<br />

hören sind zwei moderne Traditionalisten<br />

mit einem warmen<br />

Ton, die die Herausforderung<br />

der zweitkleinsten Besetzung<br />

auf sehr eigene Art bewältigen.<br />

Das liegt vor allem an den<br />

tiefen tragenden Basslines, die<br />

der Schweizer Dani Solimine<br />

mit dezenten Akkorden verbindet<br />

<strong>–</strong> seine 7-saitige Gitarre<br />

liefert mit ihrem erweiterten<br />

Tonumfang eine groovende Basis,<br />

über die Junker ausgiebig<br />

soliert. Abgesehen von zwei<br />

Originals der beiden Gitarristen<br />

werden hier nur Fremdkompositionen<br />

interpretiert, u.a. von<br />

Django Reinhardt, Jim Hall,<br />

Kenny Burrell, Wes Montgomery,<br />

Pat Metheny, Helmut<br />

Nieberle und Peter Bernstein.<br />

Und so geriet dieses Album zu<br />

einem ruhigen gitarristischen<br />

Trip durch die Jazz-Stile. Sehr<br />

gelungen ist die Umsetzung von<br />

Sacha Distels „La Belle Vie“,<br />

wo beide Gitarristen etwas<br />

cooler zur Sache gehen und ihr<br />

Spiel fast schon ein wenig an<br />

das Duo Attila Zoller & Jimmy<br />

Raney erinnert. Die Version<br />

des Django-Reinhardt-Titels<br />

„Manoir de mes rèves“ besitzt<br />

eine sehr eigene Atmosphäre,<br />

impressionistisch gefärbt<br />

erinnert sie an Billy Bauer.<br />

Ebenfalls gelungen sind die beiden<br />

Solo-Tracks der Gitarristen,<br />

wobei Manfred Junkers rein<br />

akustische Version von Bill Frisells<br />

„Ghost Town“ das Album<br />

countryesk ausklingen lässt.<br />

Lothar Trampert<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

76<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Sarah Neufeld<br />

Detritus<br />

One Little Independent / Indigo<br />

W W W W<br />

Kann Musik der Soundtrack zum<br />

Hoffnungsschimmer sein? Es<br />

steht uns frei, Emotionen und<br />

Bilder in Musik zu finden. Die<br />

kanadische Violinistin Sarah<br />

Neufeld ist eine Musikerin mit<br />

außerordentlichen Fähigkeiten,<br />

musikalische Magie freizusetzen.<br />

Oberflächlich betrachtet<br />

könnte Musik wie auf ihrem<br />

Solo-Album Detritus geradewegs<br />

in Klischees von keltischen<br />

Lichtwesen führen oder<br />

am anderen Ende für kopflastige<br />

Begründungen repetitiver Musik<br />

herhalten, sie tut aber weder<br />

das eine noch das andere. Sie<br />

bleibt bei aller Wirksamkeit und<br />

Kraftentfaltung auf magische<br />

Weise neutral, und wenn sich<br />

Klischees aufdrängen sollten <strong>–</strong><br />

so what! Erlebtes, Wieder-Erlebtes<br />

letztlich <strong>–</strong> Musik entsteht<br />

auch beim Hören. Neufelds<br />

sieben Stücke wirken ganzheitlich,<br />

es passiert einiges in Kopf,<br />

Bauch, Hirn, in den Zellen, du<br />

kannst auf einen zweckfreien<br />

Trip gehen; oder du wirfst vor<br />

dem Hören etwas ein und tanzt.<br />

Neufeld hatte mit der Tänzerin<br />

und Choreografin Peggy Baker<br />

zusammengearbeitet und entwickelte<br />

nun mit Unterstützung der<br />

Arcade-Fire- und Bell-Orchestre-<br />

Kollegen Pietro Amato, Stuart<br />

Bogie und Jeremy Gara ein<br />

Solo-Projekt, das mehr an ihre<br />

Duo-Zusammenarbeit mit dem<br />

Saxofon-Krafttier Colin Stetson<br />

erinnert. Beide wissen, wie man<br />

ins Innere von Klangerzeugern<br />

vordringt und sich mit ihnen<br />

vereint. Zum Nutzen der Musik.<br />

Sehr empfehlenswert, um in<br />

kopflastigen Zeiten ebendiesen<br />

freizukriegen.<br />

Jan Kobrzinowski<br />

PDF in 4c<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Stefano di Battista<br />

Morricone Stories<br />

Warner<br />

W W W W o<br />

Wenn es jemanden gab, der<br />

mit Tönen zu malen verstand,<br />

dann war es Ennio Morricone.<br />

Keiner hat so radikal<br />

filmisch gedacht wie der im<br />

vergangenen Jahr verstorbene<br />

Großmeister der Kinomusik.<br />

Insofern zeugt es schon von<br />

einem gewissen Wagemut,<br />

sich Morricones Œuvre zu nähern,<br />

insbesondere als Jazzer:<br />

Immerhin sind die Werke bis<br />

auf den letzten Akzent durchdacht,<br />

jeder Ton besitzt seine<br />

feste Funktion und Position.<br />

Hier zu improvisieren, hieße,<br />

das Genie zu dekonstruieren.<br />

Doch genau das versuchen<br />

Saxofonist Stefano di Battista<br />

sowie seine Bandkollegen Fred<br />

Nardin (p), Daniele Sorrentino<br />

(b) und Andre Ceccarelli (dr)<br />

auf dem neuen Album Morricone<br />

Stories <strong>–</strong> und treffen damit<br />

erstaunlicherweise fast immer<br />

ins Schwarze. Mit überaus<br />

sensiblem Spiel legt di Battista<br />

die zentralen Motive in Morricones<br />

Kompositionen frei und<br />

umgarnt sie mit geschickten<br />

Soli, die neue Wege beschreiten,<br />

ohne sich zu weit von<br />

ihrem Ursprung zu entfernen.<br />

Dabei mag es helfen, dass der<br />

52-Jährige weitgehend auf<br />

die berühmtesten Melodien<br />

verzichtet hat und stattdessen<br />

tief im Repertoire des Maestros<br />

gegraben hat, um Raritäten wie<br />

„Verushka“ oder das Titelthema<br />

aus Cosa Avete Fatto a Solange<br />

ans Licht zu bringen. Eine<br />

gute Entscheidung, entsteht so<br />

doch wenigstens kein Konflikt<br />

mit dem kollektiven Gedächtnis<br />

unzähliger Cineasten. Dagegen


Kolumne<br />

Jon Batiste<br />

We Are<br />

Verve / Universal<br />

W W W W o<br />

Adrian Younge<br />

The American Negro<br />

Jazz Is Dead / Indigo<br />

W W W W o<br />

Mario Biondi<br />

Dare<br />

o-tone / Edel:Kultur<br />

W W W W<br />

Harry Connick Jr.<br />

Alone with My Faith<br />

Verve / Universal<br />

W W W W<br />

Imelda May<br />

11 Past the Hour<br />

Decca / Universal<br />

W W W o<br />

Lilly<br />

The Song Is You<br />

Double Moon / Bertus<br />

W W W W<br />

Britta Rex<br />

On Air on Water<br />

Attitude<br />

W W W W<br />

Piers Faccini<br />

Shapes of the Fall<br />

No Format / Indigo<br />

W W W W<br />

Ida Sand<br />

Do You Hear Me?<br />

ACT / Edel:Kultur<br />

W W W o<br />

Chantal Acda<br />

Saturday Moon<br />

Glitterhouse / Indigo<br />

W W W W<br />

Esther Rose<br />

How Many Times<br />

Full Time Hobby /<br />

Rough Trade<br />

W W W o<br />

SOUL VOICES<br />

Als multitalentierter Instrumentalist,<br />

Sänger und sozialer<br />

Aktivist hat Jon Batiste im<br />

Alter von 34 Jahren schon sehr<br />

viel erreicht. We Are ist eine<br />

Hymne auf sein bisheriges<br />

Leben und vordergründig eine<br />

Platte, auf der er die schwarze<br />

amerikanische Kultur und Musik<br />

zelebriert. Hier aber nicht nur<br />

die vergangenen Sounds und<br />

Künstler des Jazz und Soul feiert,<br />

sondern ebenso seine Verwurzelung<br />

im Pop und HipHop<br />

der letzten beiden Jahrzehnte<br />

belegt. Darüber hinaus zeigt die<br />

Platte eine Ebene der Einfachheit<br />

mit erhabener technischer<br />

Genialität, was sie zu einem<br />

Album macht, das gleichermaßen<br />

für seine Musikalität wie<br />

sein komplexes Songwriting<br />

bewundert werden kann.<br />

Adrian Younges The American<br />

Negro ist zutiefst persönlich<br />

und nimmt einen Blick auf den<br />

systemischen Rassismus in den<br />

Vereinigten Staaten. Younge<br />

komponierte, mischte dabei<br />

schwarze Musik wie Jazz, Soul,<br />

Funk und mehr, spielt jedes<br />

Instrument der Rhythmusgruppe<br />

selbst und schrieb die Texte.<br />

Der Gesang wird von Loren<br />

Oden, Chester Gregory und Sam<br />

Harmonix beigesteuert. Insgesamt<br />

gibt es 26 Stücke, 11 davon<br />

sind reine Spoken-Word-Nummern.<br />

Die Musik, eine Hommage<br />

an die Soul-Konzeptalben von<br />

Younges bevorzugter musikalischer<br />

Ära, einschließlich ihrer<br />

üppigen Orchestrierungen,<br />

erinnert stark an Marvin Gayes<br />

What’s Going On.<br />

In den dreizehn Songs von<br />

Dare gibt sich Mario Biondi als<br />

mondial agierender Künstler. So<br />

finden sich Nummern von Oscar<br />

Brown Jr., Herbie Hancock,<br />

Donny Hathaway, aber auch<br />

ein Stück wie „Strangers in<br />

the Night“ von Bert Kaempfert.<br />

Allerdings nicht in Art der Version<br />

von Sinatra, sondern eher,<br />

wie es James Brown einst interpretierte.<br />

Zwar tummelt sich der<br />

Sizilianer ebenfalls in Soul und<br />

Funk-Gefilden, doch ihm geht<br />

es dabei mehr um eine perfekt<br />

arrangierte edle Variante, die<br />

Biondis rau-sinnlich charismatisches<br />

Gesangsorgan bestens<br />

begleitet.<br />

Harry Connick Jr. beschreibt<br />

den Aufnahmeprozess von<br />

Alone With My Faith pathetisch<br />

als etwas, das ihm Frieden und<br />

Trost durch den lyrischen Inhalt<br />

der Songs gebracht hat. Seine<br />

Hörer wissen schon lange,<br />

dass Connick ein exzellenter<br />

Sänger und Pianist ist, aber nun<br />

zeigt sich die ganze Bandbreite<br />

seines musikalischen Talents,<br />

und das ist nicht weniger als<br />

beeindruckend. Zwar mag es<br />

sein erster Versuch in der Gospelmusik<br />

sein, aber vielleicht<br />

gerade darum ist es gewagt,<br />

frisch und abwechslungsreich.<br />

Mit 11 Past The Hour ist der irische<br />

Superstar des Neo-Blues<br />

und Rockabilly, die 46-jährige<br />

Imelda May, nach drei Jahren<br />

Pause zurück auf der Szene<br />

und kehrt zu dem zurück, was<br />

sie am besten kann: originelles,<br />

starkes Songwriting, auch mal<br />

mit Pop-Flair <strong>–</strong> immer mitreißend<br />

gesungen. Die dunkel<br />

dramatischen Untertöne der<br />

elf Lieder, die auch gern von<br />

schwingenden Orchestermelodien<br />

untermalt werden, passen<br />

perfekt zu Imeldas unverwechselbarer,<br />

aufpeitschend<br />

sinnlicher Stimme.<br />

Im Unterschied zu manch<br />

anderen Kolleg*innen zeigt die<br />

japanisch-dänische Sängerin<br />

Lilly mit dem Jazzstandards-<br />

Album The Song Is You, dass bei<br />

dieser sogenannten Königsdisziplin<br />

des Jazz Einfühlsamkeit<br />

und Überraschung die entscheidende<br />

Interpretationsebene<br />

sein müsste. Denn wenn sich<br />

ein Künstler an solche Songs<br />

wie „My Foolish Heart“ oder<br />

„That Old Feeling“ wagt, dann<br />

sollte er sie nicht altbekannt<br />

klingen lassen. Das gelingt Lilly,<br />

ihre Fassungen präsentieren<br />

sich immer mit einem persönlichen<br />

Ausdruck.<br />

Mit jedem Stück von On Air on<br />

Water gibt die Braunschweigerin<br />

Britta Rex einen Blick in<br />

ihre Seele frei, singt mal auf<br />

Deutsch, mal auf Englisch sehr<br />

persönliche, fast philosophisch<br />

angehauchte poetische Texte.<br />

Dazu spielt ihr Jazztrio grandios<br />

antreibend, aber mitunter auch<br />

zurückhaltend zart, was Rex<br />

Freiräume ermöglicht, um mit<br />

ihren Scat-Fähigkeiten zu glänzen.<br />

Eigenwillig schön!<br />

Maghrebinisch eingefärbt von<br />

den Nordafrikanern Karim Ziad<br />

und Malik, baut der angloitalienische<br />

Multiinstrumentalist<br />

und Sänger Piers Faccini<br />

auf Shapes of the Fall einen<br />

Spannungsbogen aus Berberrhythmen<br />

und europäischem<br />

Songwriting. Wenn Ben Harper<br />

sich beim Stück „All Aboard“,<br />

ein Lied über die Sintflut,<br />

dazugesellt, dann ist auch der<br />

Desert-Blues ganz nah.<br />

Zehn Eigenkompositionen singt<br />

Ida Sand, die schwedische<br />

Queen des nordischen Soul, auf<br />

Do You Hear Me?. Wie dieser<br />

Titel es vermuten lässt, gibt sie<br />

hier Melodien zum Besten, die<br />

ihr aus dem Herzen kommen,<br />

sehr persönlich gemeint sind.<br />

Es ist ein beinah klassisches<br />

Singer/Songwriteralbum, dockt<br />

beim Soul an, klingt aber auch<br />

mal widerborstig, als würde<br />

Tom Waits ihr über die Schulter<br />

blicken. Prickelnd!<br />

Eigentlich war es Chantal<br />

Acda’s Plan, Saturday Moon<br />

ganz alleine aufzunehmen. Aber<br />

dann fand sie heraus, dass sie<br />

andere Menschen braucht, um<br />

ihre Musik zu machen. Und so<br />

wurde dieses Album, mit Hilfe<br />

von u.a. Bill Frisell und Mimi<br />

Parker, zu einem kleinen Juwel.<br />

Denn all ihre Kollaborationen<br />

ergaben erhabene balladeske<br />

Kompositionen voller Magie<br />

und Wärme. Für Freunde von<br />

Americana und Folk-Pop.<br />

Esther Roses How Many Times<br />

wurde von ihrer Band komplett<br />

live und in einem Take im Studio<br />

eingespielt. Mit ihren sanften<br />

Gesangsmelodien, in denen<br />

sie herzzerreißende Texte wie<br />

„how many times will you break<br />

my heart“ singt, und einer<br />

reichhaltigen organischen Instrumentierung,<br />

inklusive Fiddle<br />

und Lap Steel, verströmen die<br />

verspielt arrangierten Songs,<br />

die irgendwo zwischen Hank<br />

Williams und Rilo Kiley angesiedelt<br />

sind, ganz viel positive<br />

Stimmung.<br />

Olaf <strong>Mai</strong>kopf<br />

78 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


wirken der Swing bei „Gabriel’s<br />

Oboe“ und <strong>–</strong> noch schlimmer<br />

<strong>–</strong> bei „The Good, the Bad and<br />

the Ugly“ wie Fremdkörper.<br />

Den Segen Morricones scheint<br />

di Battista dennoch zu haben,<br />

hat dieser ihm doch immerhin<br />

das bislang unveröffentlichte<br />

„Flora“ geschenkt und die<br />

Morricone Stories somit um<br />

eine Weltpremiere bereichert.<br />

Thomas Kölsch<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Ack van Rooyen<br />

90<br />

Jazzline / Broken Silence<br />

W W W W<br />

Wie vor zehn Jahren, als<br />

anlässlich Ack van Rooyens<br />

80. Geburtstag Celebration<br />

erschien, hat der niederländische<br />

Flügelhornist und<br />

Trompeter wieder ein Album<br />

mit Paul Heller aufgenommen,<br />

um auch den nächsten<br />

runden Jahrestag im Kreis des<br />

Saxofonisten und weiterer<br />

Freunde und Weggefährten<br />

zu begehen. Herbert Nuss (p)<br />

und Hans Dekker (dr) waren<br />

bereits auf Celebration mit von<br />

der Partie, Peter Tiehuis (g)<br />

gehörte, wie der Jubilar selbst,<br />

sowohl Peter Herbolzheimers<br />

Rhythm Combination & Brass<br />

als auch den Skymasters an,<br />

Ingmar Heller (b) wiederum<br />

hat an zwei Alben mitgewirkt,<br />

die van Rooyen mit seinem<br />

Bruder aufgenommen hat.<br />

Freilich handelt es sich bei<br />

den Stücken des schlicht und<br />

einfach 90 betitelten Albums<br />

um Straight-Ahead-Jazz. Nur:<br />

Wann hört man Nummern wie<br />

„All of a Sudden My Heart<br />

Sings“ so gelöst und konzise<br />

auf den Punkt gebracht?<br />

Nahezu jede ist eng mit van<br />

Rooyens musikalischer Biografie<br />

verknüpft: „Canter No.<br />

2“ stammt aus der Feder von<br />

Kenny Wheeler, mit dem er im<br />

United Jazz + Rock Ensemble<br />

spielte. Edu Lobos „Pra Dizer<br />

Adeus“ war in Herbolzheimers<br />

Bigband ein Standard<br />

mit eingebautem Ack-van-<br />

Rooyen-Feature, „The Things<br />

We Did Last Summer“ seine<br />

erste Schallplattenaufnahme.<br />

„Ich habe von all den Leuten,<br />

mit denen ich gespielt habe<br />

und spiele, so viel gelernt.<br />

Nicht nur über Musik, sondern<br />

auch über das Leben“, sagt<br />

van Rooyen: „Ein schöner<br />

Lehrgang. Ich habe Glück<br />

gehabt.“ In seinem warmen<br />

positiven Ton hat diese Stimme<br />

der Dankbarkeit <strong>–</strong> für die<br />

Menschen, für das Leben <strong>–</strong><br />

seit nunmehr sieben Dekaden<br />

Gestalt angenommen. Möge<br />

sie noch lang zu hören sein.<br />

Harry Schmidt<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Nicole Johänntgen<br />

Henry III<br />

Selmabird Records<br />

W W W W<br />

Die Saxofonistin Nicole Johänntgen<br />

hat es wieder getan,<br />

schon der Titel des neuen<br />

Albums weist darauf hin, dass<br />

ihre wilde Quartettbesetzung<br />

mittlerweile zum dritten Mal<br />

am Start ist. Zusammen mit<br />

ihren drei Musikern aus New<br />

Orleans, Jon Ramm an der Posaune,<br />

Steven Glenn am Sousaphon<br />

und Paul Thibodeaux<br />

am Schlagzeug brennt die in<br />

der Schweiz lebende deutsche<br />

Saxofonistin ein wahres<br />

Feuerwerk an eingängigen<br />

Melodien, vorwärtstreibenden<br />

Grooves und brillanten Solospots<br />

ab. Mal ist man („Life“)<br />

an Maceo Parkers Soul-Power<br />

erinnert, mal an Secondline<br />

New Orleans Beats, mal an<br />

Discogrooves. Johänntgen<br />

hat sich eine ziemlich gute<br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 79


Kolumne<br />

Kurt Edelhagen & His Orchestra<br />

The Unreleased WDR Jazz<br />

Recordings 1957 <strong>–</strong> 1974<br />

Jazzline Classics / Broken Silence<br />

W W W W<br />

Ahmad Jamal<br />

Naked City Theme<br />

American Jazz Classics / In-Akustik<br />

W W W W o<br />

The Dave Pike Quartet<br />

feat. Bill Evans<br />

Pike´s Peak<br />

WaxTime Records / In-Akustik<br />

W W W W o<br />

Dizzy Gillespie<br />

At Newport<br />

WaxTime Records / In-Akustik<br />

W W W W<br />

„Während die prompte Rückkehr<br />

eines Symphonieorchesters<br />

als herausragender Versuch<br />

gewertet wird, die Kultur in<br />

Nachkriegsdeutschland wiederzubeleben,<br />

ist die Gründung einer<br />

Radio Bigband eigentlich viel<br />

bemerkenswerter“, schreibt die<br />

britische Virgin Encyclopedia of<br />

Jazz. Die Berliner Symphoniker<br />

hätten nämlich ununterbrochen<br />

existiert, während jazzorientierte<br />

Musik im untergegangenen<br />

Nazi-Reich unterdrückt wurde.<br />

Das über tausend Seiten starke<br />

Lexikon beginnt mit diesem<br />

Gedanken die Eintragung über<br />

Kurt Edelhagen <strong>–</strong> „one of the first<br />

post-war European bandleaders to<br />

bring in foreign jazz musicians“.<br />

Schon 1946 hatte der im<br />

westfälischen Herne geborene<br />

Pianist und Arrangeur mit<br />

großen Besetzungen in Clubs der<br />

Alliierten gespielt; dann leitete er<br />

bis in die 1970er Jahre herausragende<br />

Bigbands. „Das Orchester<br />

Edelhagen war in Amerika<br />

schon früh ein Begriff“, wird der<br />

langjährige Star-Posaunist Jiggs<br />

Whigham in den Liner Notes zu<br />

der Drei-CD-Box zitiert, „eine<br />

Jazzband in Deutschland, die<br />

gegroovt und geswingt hat“.<br />

Der langjährige WDR-Jazzchef<br />

Bernd Hoffmann holte aus<br />

den „Katakomben des Kölner<br />

Funkhauses“ Aufnahmen von<br />

1957 bis 1974 und dokumentiert<br />

die „Klanggeschichte“ der Band<br />

beim WDR mit ihren „Reaktionen<br />

auf stilistische Veränderungen<br />

in den Zeiten von Cool Jazz,<br />

Hardbop und Free Jazz“. Dabei<br />

versuchte Edelhagen stets einen<br />

eigenen Klang zu finden. Um sich<br />

vom klassischen amerikanischen<br />

Bigband-Sound abzusetzen, ließ<br />

er Europäer wie den niederländischen<br />

Trompeter Rob Pronk und<br />

den belgischen Pianisten Francis<br />

Boland Arrangements schreiben<br />

und vermied ein Repertoire aus<br />

gängigen US-Titeln. So sind<br />

denn abgesehen von einigen<br />

Klassikern wie „Sweet Georgia<br />

Brown“ und Nat Adderleys<br />

„Work Song“ die 40 Titel auf<br />

den drei Platten überwiegend<br />

Kompositionen von Mitgliedern<br />

der Band. Darunter befinden sich<br />

anspruchsvoll avantgardistische<br />

Stücke wie „Beach“ des Bassisten<br />

Peter Trunk. Kein Wunder,<br />

dass Edelhagens Orchester nicht<br />

überall gut ankam. „Die Band ist<br />

zu laut“, beschwerten sich Leute<br />

beim Kanzlerball in Bonn. Daran<br />

erinnerte sich Saxofonist Wilton<br />

Gaynair. Doch bei der Eröffnung<br />

der Olympischen Spiele 1972 in<br />

München bejubelten Massen<br />

die von der Bigband intonierte<br />

Einmarschmusik der Nationen.<br />

In der Tradition der deutschen<br />

Rundfunktanzorchester spielte<br />

die Band auch Tanzmusik für<br />

Schallplatten und Filmmusiken<br />

ein und war gelegentlich in TV-<br />

Shows zu sehen. Aber Edelhagen<br />

REISSUE<br />

WONDERLAND<br />

Truppe zusammengesucht,<br />

bei der man merkt, dass alle<br />

unheimlich gerne miteinander<br />

musizieren und musikalisch<br />

zusammengewachsen sind.<br />

Mein Favorit ist der stampfende<br />

„Discoland“-Sound mit<br />

Schwerstarbeit für das Sousaphon,<br />

das die discotypischen<br />

Oktavbassfiguren durchmetern<br />

darf. Darunter treibt der<br />

Drummer Paul Thibodeaux die<br />

Band an, während sich Altsaxofon<br />

und Posaune <strong>–</strong> und das<br />

beide großartig <strong>–</strong> solistisch<br />

austoben. Keine Sekunde hat<br />

der Zuhörer das Gefühl, dass<br />

ein Akkordinstrument fehlen<br />

könnte. „Sweet and Honest“<br />

mit einem Solo-Saxofon-Einstieg,<br />

das sich zu einer extrem<br />

bluesigen Nummer entwickelt,<br />

ist ein weiteres Highlight. Die<br />

Live-Aufnahme aus dem Pforzheimer<br />

Domicile Club von 2018<br />

fängt sowohl das musikalische<br />

Spektrum des Quartetts als<br />

auch die begeisterte Reaktion<br />

des Publikums bestens ein.<br />

Füßewippen garantiert!<br />

Angela Ballhorn<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

David Helbock<br />

The New Cool<br />

ACT / Edel:Kultur<br />

W W W W<br />

Mystisch mit offenen Sounds<br />

beginnt The New Cool und<br />

schafft damit eine Klangkulisse,<br />

die an Filmmusik erinnert.<br />

Helbock widmet sich jedoch<br />

dieses Mal nicht, wie bei<br />

seinem letzten Album, einem<br />

Filmkomponisten. Der Pianist<br />

erschafft vielmehr mit Arne<br />

Jansen an der Gitarre und<br />

Sebastian Studnitzky Klanglandschaften,<br />

denen eigene<br />

Kompositionen und Standards<br />

zugrunde liegen. So<br />

entwickelt sich auch aus der<br />

Klanglandschaft des Openers<br />

der Standard „I Remember<br />

Clifford“. The New Cool<br />

knüpft an eine Klangästhetik<br />

der 50er Jahre an und setzt<br />

diese mit den gestalterischen<br />

Mitteln des Jahres <strong>2021</strong> um.<br />

Es ist eine Gestaltung, in<br />

der die Musiker des Trios<br />

die Soundmöglichkeiten der<br />

Instrumente ausloten und<br />

musikalisch zu einem in sich<br />

geschlossenen Bandsound<br />

bringen. Sie haben es nicht<br />

nötig, technische Virtuosität<br />

zur Schau zu stellen, die technische<br />

Versiertheit verschafft<br />

ihnen vielmehr die Sicherheit,<br />

ihre musikalischen Gedanken<br />

langsam zu entwickeln. Oft ist<br />

die Musik auf das Wesentliche<br />

reduziert und entwickelt<br />

dadurch ihre eigene Ästhetik.<br />

Coolness trifft auf Minimalismus.<br />

Dieser Minimalismus<br />

wird besonders bei „Time<br />

After Time“ deutlich. Die<br />

Komposition, die zunächst von<br />

Cindy Lauper bekannt wurde,<br />

bevor Miles Daves sie zu<br />

einem Jazzstandard machte,<br />

ist in dieser Version mehr<br />

als eine Coverversion. Sie ist<br />

eine eigene zeitgenössische<br />

Klangwelt und steht damit<br />

vielleicht auch stellvertretend<br />

für das ganze Album.<br />

Thomas Bugert<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Josefine Cronholm / Kirk Knuffke<br />

/ Thommy Andersson<br />

Near the Pond<br />

Stunt / In-Akustik<br />

W W W W<br />

Wenn sich improvisierende<br />

Musiker mit traditionellen<br />

80 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


verstand sich primär als Jazz-<br />

Kapellmeister und engagierte<br />

aus dieser Sicht seine Bandmitglieder.<br />

„Die meisten Musiker werden<br />

beipflichten, dass die Jazz-Erfahrung<br />

ihren Höhepunkt erlebt,<br />

wenn vor Menschen aus Fleisch<br />

und Blut gespielt wird.“ Die auf<br />

einen Live-Auftritt bezogene Binsenweisheit<br />

aus Liner Notes von<br />

vor über fünfzig Jahren formuliert<br />

die millionenfache Wahrnehmung<br />

in heutigen Corona-Zeiten.<br />

Offenbar fühlten sich Ahmad<br />

Jamal und sein Trio im Club Jazz<br />

Workshop in San Francisco<br />

inspirierter als in irgendwelchen<br />

Studios. Mit dem Bassisten Jamil<br />

Nasser und dem Drummer Chuck<br />

Lampkin spielte der Pianist 1964<br />

Naked City Theme ein. Ergänzt<br />

werden sechs Titel aus dem Club<br />

durch vier Stücke von der Platte<br />

Extensions, die ein Jahr später<br />

in New York aufgenommen<br />

wurde. Das Album demonstriert<br />

perfekt, was Jamals Spielweise<br />

ausmacht: Ausschweifender<br />

Ornamentik folgen sparsame Sequenzen<br />

mit pointierten Pausen.<br />

Den beim Publikum erfolgreichen<br />

Jamal haben etliche Kritiker<br />

als technisch brillanten, Effekte<br />

haschenden Cocktail-Pianisten<br />

abgewertet. Aber wie Miles<br />

Davis verehrten viele Musiker<br />

den Pianisten, der vor seinem<br />

Übertritt zum Islam Fritz Jones<br />

hieß, als Genie. Ein Höhepunkt<br />

des Albums ist Jamals Komposition<br />

„One for Miles“. Das<br />

neuneinhalb Minuten lange<br />

Stück enthält packende Bassund<br />

Schlagzeugsoli.<br />

In der deutschsprachigen Jazz-<br />

Literatur findet sich kein Hinweis<br />

auf eine Zusammenarbeit des<br />

Vibrafonisten Dave Pike mit Bill<br />

Evans. Dabei hat der Amerikaner<br />

vor seiner erfolgreichen Zeit<br />

mit seinem Dave Pike Set in<br />

Deutschland eine LP mit dem<br />

genialen Pianisten als Sideman<br />

eingespielt. Das geschah im Februar<br />

1962, nachdem Evans seinen<br />

Bassisten Scott LaFaro durch<br />

einen Unfall verloren hatte und<br />

damit sein Trio zerbrochen war.<br />

Auf Pike´s Peak sind der Pianist<br />

und der Vibrafonist mit Herbie<br />

Lewis (b) und dem Schlagzeuger<br />

Walter Perkins zu hören. Das<br />

Quartett spielt unter anderem<br />

den Ohrwurm „Besame Mucho“<br />

und „Why Not“, eine Komposition<br />

von Pike im modalen Modus<br />

als Antwort auf Miles Davis‘ „So<br />

What“. „The music is fairly spontaneous.<br />

An excellent straightahead<br />

set“, urteilte ALLMUSIC<br />

und gab der Platte vier Sterne.<br />

Mit fünf Sternen bewertete<br />

ALLMUSIC das Album Dizzy<br />

Gillespie at Newport, produziert<br />

von Norman Granz beim Newport<br />

Jazz Festival am 6. Juli 1957. „He<br />

is playing better these days than<br />

he has at any other point in his<br />

career“, schrieb der Kritiker Bill<br />

Simon. Gillespies Bigband mit<br />

Stars wie Lee Morgan, Benny<br />

Golson, Al Gray und Winton Kelly<br />

spielte phantastisch. Sie war<br />

schon seit anderthalb Jahren<br />

zusammen und hatte im Auftrag<br />

der US-Regierung etliche Länder<br />

in aller Welt besucht. Einen<br />

berührenden Kontrast zu den<br />

überwiegend schnellen Stücken<br />

bildet die von Golson komponierte<br />

und für die Bigband arrangierte<br />

Ballade „I Remember Clifford“.<br />

Hans Hielscher<br />

Roots beschäftigen, wird es<br />

immer interessant. Besonders<br />

unbefangenen Zugang dazu<br />

hat man jenseits des Atlantik,<br />

aber auch in Skandinavien.<br />

Interkontinental entstand mit<br />

dem amerikanischen Kornettisten<br />

Kirk Knuffke und zwei<br />

schwedischen Musiker*innen<br />

Near the Pond. Vehikel dafür<br />

sind Lyrics in Gedichtform,<br />

drei davon aus der Feder von<br />

Carl Sandburg, Sohn schwedischer<br />

US-Einwanderer, Dichter,<br />

Folk-Music-Sammler und<br />

Gitarrist. Sängerin Josefine<br />

Cronholm, von Haus aus eher<br />

Wordless Improviser, scheint<br />

fasziniert von Themen, die<br />

Folkmusiker schon immer am<br />

meisten interessiert haben:<br />

Geschichten von Aus- und<br />

Einwanderern, Landbewohnern,<br />

der Arbeiterklasse. Dazu<br />

passt, dass der Avantgarde-<br />

Jazzer Knuffke sich selbst<br />

eigentlich als Roots-Musiker<br />

sieht: „Wir verstehen uns als<br />

Folkmusiker. Ich liebe Jazz,<br />

aber als ich aufwuchs, interessierte<br />

ich mich mehr für<br />

den Blues.“ Der schwedische<br />

Bassist Thommy Andersson<br />

findet ohnehin „Blues-<br />

Elemente auch in schwedischer<br />

Folkmusik“ und steuert<br />

entsprechend erdige Basslinien<br />

bei. Mit diesen Zutaten<br />

entstanden in frei improvisierter<br />

Atmosphäre bluesige<br />

Songs mit Worksong-Charakter<br />

sowie Folk-Balladen, zu<br />

deren Authentizität zeitweise<br />

noch der American-Roots-<br />

Spezialist Kenny Wollesen am<br />

Schlagzeug beiträgt. Knuffke<br />

harmonisiert hin und wieder<br />

Cronholms Leadvocals mit<br />

unprätentiöser Instrumentalisten-Stimme,<br />

und sein Kornett<br />

durchzieht wie ein roter Faden<br />

das gesamte Album, dem<br />

Thema angemessen in bluesigen<br />

Skalen improvisierend.<br />

Manchmal werden Erinnerungen<br />

an Don Cherry wach.<br />

Jan Kobrzinowski<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

<strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong> 81


Tonspuren<br />

Abe Rábade Trio<br />

Sorte<br />

Karonte / Galileo<br />

W W W W<br />

Ganz allein startet das Klavier<br />

im lyrischen Monolog.<br />

Man hört sofort die musikalische<br />

und menschliche<br />

Reife in Abe Rábades Spiel.<br />

Sowohl als Leader, aber auch<br />

als Sideman gehört der aus<br />

Galizien stammende Pianist<br />

schon seit zwei Jahrzehnten<br />

zur europäischen Szene. Mit<br />

Drummer Bruno Pedroso und<br />

Bassist Pablo Martín Caminero<br />

unterhält der 43-jährige<br />

ein souverän eingespieltes<br />

Trio. Stimmungsvolle atmosphärische<br />

Klangbilder, die<br />

Rábades reichhaltige Verwurzelung<br />

in der europäischen<br />

Klavier-Tradition erkennen<br />

lassen, wechseln sich ab mit<br />

fast rockigen Rhythmen. Das<br />

führt zu abwechslungsreichen<br />

Kompositionen. Stilvoll<br />

lässt er Raum zwischen<br />

den Noten in der Ballade<br />

„Desencanto“. „Travesia“<br />

hingegen ist ein kraftvoll<br />

angetriebener Jazz-Walzer,<br />

der so richtig rund wird durch<br />

Pablo Martín Camineros<br />

gestrichenes Kontrabass-<br />

Solo, der sich insgesamt als<br />

kommunikativer Gegenpart<br />

zu Rábade profiliert. Besonders<br />

in „Amencida“ bekommt<br />

Camineros viel solistischen<br />

Raum. Wem das Album<br />

vielleicht streckenweise zu<br />

melancholisch klingt, der<br />

dürfte von den funkigen<br />

Stücken zum Ende hin angenehm<br />

überrascht werden. Ob<br />

schwermütig oder fröhlichunbekümmert<br />

<strong>–</strong> Rábade ist<br />

ein vielseitiger Komponist<br />

und Instrumentalist.<br />

Andreas Schneider<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Thumbscrew<br />

Never is Enough<br />

Cuneiform / Broken Silence<br />

W W W W<br />

Thumbscrew (=Daumenschraube)<br />

nennt sich das Trio von<br />

Tomas Fujiwara (dr), Mary Halvorson<br />

(e-g) und Michael Formanek<br />

(d-b, e-b), das sich als<br />

demokratisches Kollektiv ohne<br />

Bandleader versteht. Jedes<br />

Mitglied hat denselben Anteil<br />

an der Musik, steuert dieselbe<br />

Anzahl von Kompositionen zum<br />

Repertoire bei und agiert als<br />

Solist und Begleiter zu gleichen<br />

Teilen. Das Eröffnungsstück<br />

gibt gleich die Richtung vor,<br />

wobei eine transparente Musik<br />

entworfen wird, die atmet und<br />

pulsiert, von Umsicht, Gelassenheit<br />

und Einfühlungsvermögen<br />

getragen wird und selbst<br />

versonnene Balladenklänge<br />

nicht scheut. Gelegentlich werden<br />

als Kontrast energischere<br />

Töne angeschlagen, die jedoch<br />

immer diszipliniert und proportioniert<br />

wirken und sich überzeugend<br />

in die Gesamtatmosphäre<br />

einpassen. Thumbscrew<br />

rufen die Gruppe Gateway in<br />

Erinnerung, das legendäre Trio<br />

von John Abercrombie, Dave<br />

Holland und Jack DeJohnette,<br />

das ab der zweiten Hälfte der<br />

siebziger Jahre mit ähnlich<br />

luftigen Klängen bewies,<br />

dass ein Gitarrentrio nicht<br />

immer nur die Muskeln spielen<br />

lassen muss. Thumbscrew<br />

entwickeln diesen Ansatz<br />

weiter, tragen ihn manchmal<br />

in psychedelische Sphären<br />

oder in Progrock-Terrain, ohne<br />

dabei die Feinfühligkeit über<br />

Bord zu werfen. Immer wieder<br />

kommen auch experimentelle<br />

Klänge ins Spiel, die allerdings<br />

nie zerfasern oder zerspielt<br />

werden, sondern den kompositorischen<br />

Impuls aufnehmen<br />

und weitertragen.<br />

Christoph Wagner<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

Frank Wingold<br />

To Be Frank<br />

Berthold / Cargo<br />

W W W W o<br />

Die 7-saitige Gitarre, die,<br />

obwohl vergleichsweise unüblich,<br />

auf eine ca. 150-jährige<br />

Geschichte zurückblicken<br />

kann, findet im Kölner Gitarristen<br />

Frank Wingold und seinem<br />

aktuellen Solo-Werk einen<br />

würdigen zeitgenössischen<br />

Repräsentanten. Durch die<br />

zusätzliche (siebte) Basssaite<br />

ergeben sich weitere Klangräume,<br />

die z.B. dem Bassspiel<br />

neue Möglichkeiten eröffnen.<br />

Auf To Be Frank <strong>–</strong> augenzwinkerndes<br />

Wortspiel mit dem<br />

eigenen Namen <strong>–</strong> nimmt sich<br />

Wingold die Freiheit, nur auf<br />

sich gestellt die Möglichkeiten<br />

des akustischen/elektrischen<br />

7-Saiters instrumentell wie<br />

musikalisch ohne Overdubs in<br />

zwei Themen-Blöcken auszuloten:<br />

Im ersten Block gibt’s<br />

9 Standards und eine Eigenkomposition,<br />

im zweiten sechs<br />

Improvisationen. Wingold<br />

verbleibt im Rahmen bekannter<br />

Stile, ohne klangexperimentell<br />

abzudriften. Die Songs werden<br />

am Thema orientiert mit<br />

unterschiedlichen spieltechnischen<br />

wie musikalischen<br />

Mitteln beleuchtet, gedreht<br />

und gewendet, den thematischen<br />

Fokus immer im Blick.<br />

Der Reiz liegt darin, wie er den<br />

unterschiedlichen Songs mit<br />

der nötigen Technik im Sinne<br />

eines orchestralen Ansatzes<br />

harmonisch, rhythmisch und<br />

improvisatorisch gerecht<br />

wird. Diese kommen trotz ihrer<br />

arrangierten Winkeligkeit mit<br />

Flow und Groove zur Entfaltung.<br />

„Joshua“ etwa, berühmt<br />

durch das zweite Miles-Davis-<br />

Quintett, zeigt, wie die Band<br />

zur Ein-Mann-Combo mit Drive<br />

wird. Gitarrenkunst jenseits<br />

irgendwelcher Frickelei.<br />

Andreas Ebert<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

This Is Pan<br />

Animal Heart<br />

Anuk<br />

W W W W<br />

Der Schweizer Saxofonist<br />

Matthias Kohler komponiert<br />

gerne kontrapunktisch. Konsequenterweise<br />

verzichtet er in<br />

seinem Quintett auf ein Klavier<br />

und setzt stattdessen auf die<br />

Multilinearität der Einzelstimmen.<br />

Seine kompetenten<br />

Mitstreiter heißen Lukas Thoeni<br />

(tp), Dave Gisler (e-g), André<br />

Pousaz (e-b) und Gregor Hilbe<br />

(dr). Kohlers Themen klingen<br />

häufig abstrakt und zerklüftet,<br />

die Rhythmen raffiniert, aber<br />

kraftvoll. Alle Solisten starten<br />

durch zu fantasievollen, tonal<br />

flexiblen Exkursionen. Überhaupt<br />

ist dieses dritte Album<br />

der Formation This Is Pan eine<br />

starke Gruppenleistung. Bassist<br />

Pousaz war auch für den Mix<br />

zuständig, Drummer Hilbe<br />

steuert zudem Elektronik bei.<br />

Im letzten Stück wurden bei der<br />

Postproduktion sogar noch ein<br />

paar (wortlose) Gesangsspuren<br />

ergänzt (Sissel Vera Pettersen).<br />

Einige seiner Stücke hat Bandleader<br />

Kohler diesmal übrigens<br />

Tieren gewidmet <strong>–</strong> Luchs,<br />

Wildschwein, Hirsch, Rotmilan<br />

und dem Pferd <strong>–</strong>, daher der Albumtitel.<br />

„Ein Animal Heart erlaubt<br />

es uns, unsere Gefühle zu<br />

zeigen und wirklich füreinander<br />

da zu sein“, sagt der Saxofonist.<br />

Die Musik seines Quintetts<br />

zeigt, was er meint. Trotz aller<br />

Architektur hat dieses Album<br />

viel Wärme, manchmal sogar<br />

Hitze. Tierisch gut.<br />

Hans-Jürgen Schaal<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

82 <strong>JAZZTHETIK</strong> 05/06-<strong>2021</strong>


Kolumne<br />

Schramm Experience<br />

URAN<br />

VinDig<br />

W W W W W<br />

First Aid Kit<br />

Who by Fire <strong>–</strong> Live Tribute to<br />

Leonard Cohen<br />

Columbia / Sony<br />

W W W W<br />

Nick Cave & Warren Ellis<br />

Carnage<br />

Goliath / AWAL<br />

W W W<br />

„Wie zur Hölle“, schreibt die<br />

verschwisterte Seele, „soll man<br />

da noch arbeiten? Der Tag hat<br />

sich erledigt!“ Und auch ich<br />

musste feststellen, dass es sich<br />

an jenem Tag ausgearbeitet hatte.<br />

Dem Tag, der mir URAN der<br />

Leipziger Schramm Experience<br />

in die Timeline spülte, und zwar<br />

in Form des verstörungsstarren<br />

Videos zu „Pубин“ („Rubin“).<br />

Im sozialen Netz geteilt, Freundeskreis<br />

lahmgelegt. „Geht<br />

das Hypnotische irgendwann<br />

auch wieder weg?“, fragt einer.<br />

„Nope“, antworte ich. „Das<br />

haben Zeitlupenbassklarinettenschleifen<br />

so an sich. Die<br />

fräsen sich ins Hirn.“ Die Folge:<br />

Zermürbung, ja: Zersetzung bis<br />

hin zur Willenlosigkeit. Allein<br />

das in einen schrägen Balkanbegräbniskapellenbläsersatz<br />

eingebettete, ebenso enervierende<br />

wie sinnliche Pizzicato<br />

auf „Phoolan Devi“, das sich<br />

nicht nur ins Hirn, sondern<br />

überallhin bohrt! Und überhaupt<br />

all dieses Abgründig-Repetitive,<br />

Untermalung zu einem nicht<br />

eben jugendfreien Ritual, gegen<br />

das sich der ganze Eyes Wide<br />

Shut-Kram ausnimmt wie der<br />

leicht langweilende Aufguss für<br />

die armen Verwandten. Oder die<br />

dank tiefergelegter Streicher<br />

perfekt inszenierte Nachtmahr<br />

auf „Yung Bonaparte“! Selbst<br />

die Anklänge an eine unschuldig-osteuropäische<br />

Folkmelodie<br />

im Closer lassen das Dark-<br />

Ambient-Herz derart hoch<br />

schlagen, dass es wünschte,<br />

einem Bildhauer zu gehören,<br />

scheint URAN doch der perfekte<br />

Soundtrack für Situationen,<br />

in denen sich ästhetisches<br />

Schaffen mit körperlicher Arbeit<br />

paart: hochinspirierend und<br />

komplett überfordernd zugleich.<br />

Diejenigen, die schon ob der<br />

zunehmenden Eskalation des<br />

„Bolero“ der Ohnmacht nahe<br />