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Noor Inayat Khan: Gesamtwerk in 4 Bänden - Band 2: Zwanzig Jataka-Erzählungen-Leseprobe

Die Jatakas, oder auch Geburtsgeschichten sind berühmte Legenden aus dem Leben Buddhas, basierend auf der Lehre von der Reinkarnation. Der Überlieferung nach gedachte der Buddha am Vorabend seiner Erleuchtung seiner unzähligen früheren Leben. Schlüsselepisoden aus diesen Leben illustrieren den Weg zu einer Ethik von Gewaltlosigkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit und liebender Güte. Die praktische Lebensweisheit und spirituelle Wahrheit geben gerade für die heutige Zeit wirkungsvolle Impulse für ein harmonisches Miteinander, soziale Gerechtigkeit und Frieden.

Die Jatakas, oder auch Geburtsgeschichten sind berühmte Legenden aus dem Leben Buddhas, basierend auf der Lehre von der Reinkarnation. Der Überlieferung nach gedachte der Buddha am Vorabend seiner Erleuchtung seiner unzähligen früheren Leben.

Schlüsselepisoden aus diesen Leben illustrieren den Weg zu einer Ethik von Gewaltlosigkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit und liebender Güte. Die praktische Lebensweisheit und spirituelle Wahrheit geben gerade für die heutige Zeit wirkungsvolle Impulse für ein harmonisches Miteinander, soziale Gerechtigkeit und Frieden.

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Dieser Band ist Teil des

Gesamtwerks in 4 Bänden:

Band 1: Leben und Werk

Band 2: Zwanzig Jataka-Erzählungen

Band 3: Aède von Ozean und Land

Band 4: König Akbar und seine Tochter


Noor Inayat Khan

Zwanzig

Jataka-

Erzählungen

Illustriert von

Henriëtte Willebeek Le Mair


Titel der englischen Originalausgabe: „Dream Flowers“

The Collected Works of Noor Inayat Khan

© Published by Sulūk Press, an imprint of Omega Publications, Inc., 2020

Gesamtwerk in 4 Bänden von Noor Inayat Khan

Band 2: Noor Inayat Khan – Zwanzig Jataka-Erzählungen

Übersetzung Karla Reimert Montasser

Lektorat: Kerstin Fatiha Streuff

Korrektorat: Hans-Peter Baum

Redaktion: Uta Maria Baur

Illustrationen: Henriëtte Willebeek Le Mair

© Soefi Stichting Inayat

Umschlag und Schuber: Martina Berge

Innenlayout: Hauke Jelaluddin Sturm

1. Ausgabe 2024

Diese Publikation wurde durch eine Verlagsprämie

des Freistaats Bayern 2021 ausgezeichnet

Der Verlag dankt auch den vielen Spenderinnen und Spendern, die

die Realisierung dieses aufwendigen Werkes ermöglicht haben.

Verlag Heilbronn

D-82398 Polling

Verkehrsnummer 14894

www.verlag-heilbronn.de

info@verlag-heilbronn.de

ISBN: 978-3-936246-54-4

Alle Rechte vorbehalten, © Verlag Heilbronn

Gedruckt in Tschechien


Inhalt

Einführung 6

Anmerkung der Autorin 8

Anmerkung zu Text und Illustrationen 8

Bildunterschriften zu den Illustrationen 10

Zwanzig Jatakas

Die Affenbrücke 13

Die schuldigen Hunde 18

Banyan 23

Die Schildkröte und die Gänse 28

Die Fee und der Hase 32

Die goldenen Federn 37

Der junge Papagei 40

Der leere See 44

Das Königreich der Schwäne 48

Die Prüfung des Lehrers 54

Die beiden Schweine 57

Der geduldige Büffel 62

Der Sarabha 67

Die Stadt der Kobolde 70

Der große Elefant 74

Die zänkischen Wachteln 78

Das Feuer im Wald 81

Das Ende der Welt 84

Der Gänsekönig 89

Das edle Pferd 96


Einführung

N

oor Inayat Khan verfasste ihre „Zwanzig Jataka-

Erzählungen“ 1938, mit vierundzwanzig Jahren. Bereits

acht Jahre zuvor hatte die zukünftige Kinderpsychologin

und Autorin damit begonnen, ihren drei kleinen Geschwistern

und ein paar Nachbarskindern täglich Märchen, Fabeln

oder Geschichten vorzulesen oder sie spielerisch, musikalisch

untermalt, mit sanfter, einprägsamer Stimme vorzutragen.

Dazu gehörten auch die „Jatakas“, die sie besonders schätzte

und von denen sie aus über fünfhundert Legenden zwanzig

auswählte, um sie in Kooperation mit der exzellenten Kinderbuch-Illustratorin

Willebeek Le Mair in einer modernen, für

westliche Leserinnen und Leser verständlichen Sprache neu

zu erzählen.

Es sind lehrreiche Erzählungen, die beispielhaft Situationen

aus dem Leben des Buddha und seiner früheren Inkarnationen

wiedergeben. Der Buddha wird durch ein Tier mit magischen

Fähigkeiten oder als sonstige übernatürliche Kreatur

repräsentiert. Aufgrund von Verzicht oder Selbstopfer bringt

er seine Entwicklung auf dem Weg zur Erleuchtung voran.

Obwohl die Autorin auf explizite Hinweise zur Lehre Buddhas

und auf den griffbereiten „pädagogischen Zeigefinger“

verzichtet, scheinen die wichtigsten Elemente hoher buddhistischer

Ethik auf unbeschwerte, manchmal gar heitere Weise

hindurch: Gewaltlosigkeit, nicht nur gegenüber Tier und

Mensch, sondern der gesamten Natur, auch dem Mineral- und

6


Pflanzenreich gegenüber, Großzügigkeit, Mitgefühl, mitfühlende

Freude, Geduld, Entschlossenheit, liebevolle Güte, Unerschütterlichkeit

des Geistes unter allen Bedingungen etc..

Dank der lebhaften und facettenreichen Erzählweise der

Autorin und ihrer unverkennbaren Fabulierfreude haben die

ursprünglich eher „trockenen“ Texte so eine neue Frische

und Lebendigkeit erhalten. Noor Inayat liebt es, Szenen auszuschmücken,

attraktive und faszinierende Details hinzuzufügen

und beunruhigende oder unschöne Dinge diskret zu

übergehen. Die selbstbewusste Autorin nimmt sich in ihrer

Lieblingsgeschichte „Die Fee und der Hase“ die Freiheit, den

ursprünglich männlichen Himmelsgeist „Sakka“ in eine weibliche

Fee umzuwandeln, „mit Schmetterlingsflügeln und langem

Haar aus Mondlichtstrahlen.“ Möglicherweise wollte sie

die Überzahl der männlichen Charaktere auf diese Weise reduzieren.

Jede der Jataka-Geschichten in diesem schönen und instruktiven

Buch ist mit einer passenden, stilvollen Illustration

versehen. Die Originalausgabe wurde noch zu Lebzeiten der

Autorin, 1939 in London, von George G. Harrap & Co und in

den Vereinigten Staaten von David McKay publiziert. Doch die

profunde Lebensweisheit und die spirituelle Wahrheit, die diese

Jatakas vermitteln, sind zeitlos. Gerade in der heutigen Zeit

können sie wesentliche Impulse geben für ein harmonisches

Miteinander, für soziale Gerechtigkeit und Frieden unter allen

Lebewesen auf diesem Planeten.

7


Anmerkung der Autorin

Die Autorin hat sich bei der Nacherzählung dieser Geschichten

auf die folgenden Standardwerke gestützt

und dankt den Verlagen für ihre Genehmigung: „The Gatakamala

or Garland of Birth-stories“ von Arya-Sura, übersetzt aus

dem Sanskrit von J. S. Speyer (Oxford University Press), und

„Jataka or Stories of Buddha's Former Births“, übersetzt aus

dem Pali (Cambridge University Press).

Anmerkung zu Text und Illustrationen

Ursprünglich 1939 von George Harrap in Großbritannien

und David McKay in den Vereinigten Staaten veröffentlicht,

wurden die „Zwanzig Jataka-Erzählungen“ 1975 von East-West

Publications und 1991 als Reprint von Inner Traditions International

herausgegeben. Das Buch ist auch in dänischen,

niederländischen, französischen, deutschen, italienischen,

portugiesischen, spanischen und Urdu-Ausgaben erschienen.

Willebeek Le Mair war das Pseudonym von Baronin Henriette

van Tuyll, einer bekannten Kinderbuch-Illustratorin und engagierten

Schülerin Inayat Khans und Freundin seiner Familie.

Ihre Zeichnungen werden hier mit freundlicher Genehmigung

der Soefi Stichting Inayat Fundatie Sirdar in Den Haag

wiedergegeben.

8


Und als der Buddha sich niedergelassen hatte, und um ihn

herum alle lauschten, waren dies die Geschichten, die er erzählte:

„Meine Kinder“, sprach er, „ich bin heute nicht zum ersten

Mal als euer Buddha zu euch gekommen, schon viele Male

zuvor bin ich erschienen, mal als Kind unter Kindern, mal als

Tier – als eines ihrer Art, und alle liebte ich so, wie ich euch

nun liebe, mal kam ich in die Natur, inmitten von Blumen

bahnte ich euch den Pfad, und ihr wusstet nichts davon.“

„So erschien euer Buddha einst als Affe unter Affen, als

Hirsch unter Hirschen, und er war es, der sie anführte und

ihnen den Weg wies.“

9


Bildunterschriften zu den Illustrationen

S. 12 Mit großer Anstrengung klammerte er sich an den Ast.

S. 19 „Sage du mir, wer sind die Schuldigen?"

S. 23 „Kehre zu deinem Jungen zurück“, sagte Banyan.

S. 29 So flogen sie dahin, hoch über die Gipfel der Berge, und die

ganze Welt lag unter ihnen.

S. 32 Voller Freude sprang der Hase in das glühende Feuer.

S. 39 Der Gänserich kehrte zurück und gab ihnen eine weitere Feder.

S. 40 Der junge Papagei bringt seinen Eltern Nahrung.

S. 45 Vor langer Zeit lebte an diesem See ein König, ein großer

König.

S. 49 Sumukha allein blieb bei seinem Herrn zurück.

S. 55 „Es gibt keinen Ort, an dem nicht irgendjemand zusieht …

auch wenn ich ganz allein bin, wacht mein Selbst.“

S. 58 „Was ist der Teich und was ist der Wohlgeruch, der niemals

vergeht?“

S. 64 Da nahm das freche Äffchen einen Stock und schlug dem

Büffel damit auf die Ohren.

S. 66 Mit einer Kraft, größer als die des mächtigsten Elefanten,

kletterte er die Steilwände hinauf.

S. 71 Die anderen flogen auf dem Rücken des silbernen Pferdes

nach Hause.

10


S. 73 Als die Männer die Stelle erreichten, starrten sie auf die riesige

Gestalt, und große Furcht ergriff sie.

S. 79 „Hört auf zu weinen, meine Kleinen. Beachtet nur die Worte

eures Königs und ihr werdet nicht gefangen.“

S. 82 Die kleine Wachtel aber fürchtete sich nicht, sie blickte die

Flammen mit zwei glänzenden Äuglein fest an.

S. 85 Er erreichte einen bestimmten Berg, der auf ihrem Weg lag.

S. 91 Als die große rote Sonne am Himmel erschien und die zwei

kleinen Gänse ihre Flügel ausbreiteten, folgte er ihnen.

S. 97 Als das edle Tier in den Palast zurückkehrte, sank es zu Boden.

11



Die Affenbrücke

E

in riesiger Affe regierte einst über achtzigtausend Affen

im Himalaja-Gebirge. Und durch die Felsen, zwischen

denen sie lebten, strömte der Fluss Ganges, bevor er

das Tal erreichte, in dem die großen Städte erbaut waren. Und

dort, wo das Wasser sprudelnd von Fels zu Fels sprang, stand

ein prächtiger Baum. Im Frühling brachte er zartweiße Blüten

hervor, später war er über und über mit solch wunderbaren

Früchten beladen, dass sie mit nichts zu vergleichen waren,

und die sanften Winde der Berge verliehen ihnen die Süße

von Honig.

Wie glücklich die Affen doch waren! Sie verspeisten die

Früchte und lebten im Schatten dieses wunderbaren Baumes.

An einer Seite des Baumes reichten die Äste bis ins Wasser

hinab. Deshalb wurden die Blüten, sobald sie sich an diesen

Ästen öffneten, von den Affen gegessen oder zerstört, damit

nur ja keine Früchte heranwachsen konnten. Wuchs doch eine

Frucht, dann wurde sie sogleich gepflückt, selbst wenn sie

nicht größer war als das Herz einer Blüte; denn der Anführer

der Affen hatte die Gefahr erkannt und mahnte: „Hütet euch,

auch nur eine Frucht ins Wasser fallen zu lassen, sonst trägt

der Fluss sie in die Stadt, wo die Menschen die schöne Frucht

entdecken und nach dem Baum suchen könnten; sie würden

dem Fluss hinauf in die Berge folgen, und würden sie den

Baum finden, so nähmen sie alle Früchte mit und wir müssten

von hier fliehen.“ Die Affen gehorchten, und für lange Zeit

13


fiel keine Frucht in den Fluss. Doch es kam der Tag, an dem

eine reife Frucht, die sich verdeckt von einem Ameisennest

zwischen den Blättern befand, ins Wasser fiel und mit der

Strömung des Flusses durch die Felsen hinunter bis ins Tal

getragen wurde, in dem sich die große Stadt Benares an den

Ufern des Ganges ausbreitet. Und an jenem Tag, als die Frucht

von den kleinen Wellen des Flusses getrieben an Benares vorbeischwamm,

nahm König Brahmadatta ein Bad im Wasser

zwischen zwei Netzen, die von ein paar Fischern gehalten wurden,

während der König tauchte und schwamm und mit den

winzigen Sonnenstrahlen spielte, die sich im Wasser verfingen.

Und die Frucht trieb in eines dieser Netze.

„Ein Wunder!“, rief der Fischer, der sie als Erster sah. „Wo

auf Erden wächst eine Frucht wie diese?“ Mit leuchtenden Augen

ergriff er sie und zeigte sie dem König. Brahmadatta betrachtete

die Frucht und bestaunte ihre Schönheit. „Wo ist wohl

der Baum zu finden, der eine solche Frucht hervorbringt?“

fragte er sich. Er rief einige Holzfäller vom nahen Flussufer

zu sich und fragte, ob sie diese Frucht kennen würden oder

wüssten, wo sie zu finden sei.

„Majestät“, sagten sie, „es ist eine Mango, eine wunderbare

Mango. Eine solche Frucht wächst nicht in unserem Tal,

sondern dort oben in den Bergen des Himalaja, wo die Luft

rein ist und die Sonne ihre Strahlen ungehindert aussendet.

Zweifellos steht der Baum am Flussufer, und eine Frucht ist

ins Wasser gefallen und bis hierhergetragen worden.“

Der König forderte die Männer auf, von der Frucht zu kosten,

und als dies geschehen war, kostete auch er und gab dann seinen

Ministern und Bediensteten davon. „In der Tat“, sagten sie, „diese

Frucht ist göttlich; sie ist mit keiner anderen zu vergleichen.“

Die Tage und Nächte flossen träge dahin, und Brahmadatta

wurde immer rastloser. Sein Verlangen, noch einmal von

14


jener Frucht zu kosten, wuchs mit jedem verstrichenen Tag.

Nachts sah er in seinen Träumen den magischen Baum,

wie er an jedem Zweig hundert goldene Becher mit Honig und

Nektar trug.

„Er muss gefunden werden“, sagte der König eines Tages

und befahl ein Boot bereitzustellen, das den Ganges hinauffahren

solle bis zu den Felsen des Himalaja, wo der Baum

wahrscheinlich zu finden sei. Und Brahmadatta selbst brach

gemeinsam mit den Männern auf.

Was für eine lange Reise war das nur, an Blumen- und

Reisfeldern vorüber, doch eines Abends schließlich erreichten

der König und sein Gefolge die Hügel des Himalaja. Und in

die Ferne blickend, was sahen sie da? Dort, vom Mondlicht

beschienen, stand der langersehnte Baum und seine goldenen

Früchte schimmerten zwischen den Blättern hervor.

Doch was bewegte sich da in allen Zweigen? Welch seltsame

kleine Schatten huschten da durch die Blätter?

„Schaut“, sagte einer der Männer, „es ist eine Horde Affen.“

„Affen!“, rief der König: „Und sie fressen die Früchte! Umzingelt

den Baum, damit sie nicht entkommen können. Im

Morgengrauen werden wir sie töten und von ihrem Fleisch essen,

wie auch von den Mangos.“

Diese Worte kamen den Affen zu Ohren, und zitternd sagten

sie zu ihrem Anführer: „Ach! Du hast uns gewarnt, geliebter

Häuptling, und doch sind wohl einige Früchte in den

Fluss gefallen, denn nun sind Menschen hierhergekommen;

sie umzingeln unseren Baum, und wir können nicht entkommen,

denn die Entfernung zwischen diesem und dem

nächsten Baum ist viel zu weit, als dass wir hinüberspringen

könnten. Wir hörten die Worte aus dem Mund eines der Männer:

‚Im Morgengrauen werden wir sie töten und von ihrem

Fleisch essen, wie auch von den Mangos.‘“

15


„Ich werde euch retten, meine Kleinen“, sagte der Anführer,

„fürchtet euch nicht, sondern tut, was ich euch sage.“

Nachdem der mächtige Häuptling sie auf diese Weise getröstet

hatte, schwang er sich auf den höchsten Ast des Baumes.

Und schnell wie der Wind, der durch die Felsen weht, sprang

er hundert Bogenlängen durch die Luft und landete auf einem

Baum am gegenüberliegenden Flussufer. Dort, wo das Wasser

auf das Land traf, riss er ein langes Schilfrohr aus der Wurzel

und dachte bei sich: „Ich werde das eine Ende des Schilfrohrs

an diesen Baum binden und das andere an meinen Fuß. Dann

springe ich wieder zurück zum Mangobaum; so wird eine

Brücke entstehen, über die meine Untertanen fliehen können.

Hundert Bogenlängen bin ich gesprungen. Das Schilfrohr

aber ist viel länger als hundert Bogenlängen, sodass ich

ein Ende an diesen Baum binden kann.“ Und das Herz voller

Freude sprang er zurück zu dem Mangobaum.

Aber, ach! Das Schilfrohr war doch zu kurz und er konnte

gerade noch das Ende eines Zweiges erreichen. Er hatte nicht

bedacht, dass das Schilfrohr lang genug hätte sein müssen,

um es auch noch an seinem Fuß zu befestigen. Mit großer

Anstrengung klammerte er sich an den Zweig und rief seinen

achtzigtausend Untertanen zu: „Lauft über meinen Rücken

auf das Schilfrohr, und ihr werdet gerettet sein.“

Einer nach dem anderen rannten die Affen über ihn hinweg

auf das Schilfrohr. Doch einer von ihnen, mit Namen

Devadatta, sprang mit aller Kraft auf seinen Rücken. Ach! Ein

stechender Schmerz durchdrang ihn; denn sein Rücken war

gebrochen. Doch der herzlose Devadatta setzte seinen Weg

fort und ließ seinen Häuptling in seinem Leid allein zurück.

Brahmadatta hatte das gesamte Geschehen beobachtet

und Tränen strömten aus seinen Augen, als er den verletzten

Affenhäuptling betrachtete. Er befahl, ihn von dem Baum her-

16


unterzuholen, an den er sich noch immer klammerte, ihm ein

Bad mit den schönsten Wohlgerüchen zu bereiten, ihn in ein

gelbes Gewand zu kleiden und ihm süßes Wasser zu trinken

zu geben. Und als der Häuptling gewaschen und angekleidet

war, bereiteten sie ihm ein Lager unter dem Baum, und der

König saß an seiner Seite und sprach mit ihm. Er sagte: „Du

hast deinen Körper zu einer Brücke werden lassen, damit andere

hinübergehen können. Wusstest du nicht, dass dein Leben

damit ein Ende finden würde? Du hast dein Leben gegeben,

um deine Gefährten zu retten. Wer bist du, Gesegneter,

und wer sind diese?“

„Oh König“, antwortete der Affe, „ich bin ihr Häuptling

und ich führe sie an. Sie lebten mit mir auf diesem Baum, und

ich war ihr Vater und ich liebte sie. Diese Welt zu verlassen, bedauere

ich nicht, denn ich habe meinen Untertanen zur Freiheit

verholfen. Und wenn mein Tod eine Lehre für Euch sein

kann, bin ich umso glücklicher. Es ist nicht Euer Schwert, das

Euch zum König macht; es ist die Liebe allein. Vergesst nicht:

Euer Leben hinzugeben, ist nur wenig, wenn Ihr dadurch das

Glück Eures Volkes sichert. Regiert sie nicht mit Macht, auch

wenn sie Eure Untertanen sind; nein, regiert sie mit Liebe,

denn sie sind Eure Kinder. Nur so werdet Ihr wirklich König

sein. Wenn ich nicht mehr bin, vergesst meine Worte nicht, oh

Brahmadatta!“

Dann schloss der Gesegnete seine Augen und starb.

Doch der König und sein Volk betrauerten seinen Tod und

der König ließ ihm einen Tempel errichten, rein und weiß, damit

seine Worte niemals vergessen würden. Und Brahmadatta

regierte sein Volk mit Liebe, und alle waren glücklich bis ans

Ende ihrer Tage.

17


Die schuldigen Hunde

E

ines Tages fuhr ein König in seiner prächtigen Kutsche,

gezogen von sechs weißen Pferden, durch die Stadt.

Als die Nacht hereinbrach und er wieder nach Hause zurückkehrte,

wurden die Pferde in den Stall gebracht, die Kutsche

aber blieb mitsamt den ledernen Geschirren der Pferde im

Hof stehen.

Und als alle im Palast eingeschlafen waren, begann es zu

regnen.

„Jetzt ist der Moment gekommen, lasst uns ein bisschen

Spaß haben“, sagten die Palasthunde beim Anblick der ledernen

Geschirre, die nach den Regenschauern nass und aufgeweicht

waren. Auf leisen Pfoten schlichen sie hinunter in den

Hof und zerbissen und zerkauten die schönen Lederriemen.

Und nachdem sie so die ganze Nacht gespielt hatten, schlüpften

sie von dannen, bevor die Morgendämmerung heraufstieg.

„Die ledernen Riemen des königlichen Wagens, zerfressen!

... zerstört! …“, riefen die Stallburschen entsetzt aus, als

sie am nächsten Morgen in den Hof traten. Und mit bangem

Herzen gingen sie, es dem König zu sagen.

„Gnädiger König,“ sagten sie, „das Paradegeschirr des königlichen

Wagens wurde in der Nacht zerstört. Sicherlich ist

es das Werk von Hunden, die die schönen Riemen zerkauten.“

Zornig sprang der König auf.

„Tötet sie alle“, befahl er. „Bringt jeden Hund um, den ihr

in der Stadt zu Gesicht bekommt.“

18


19


Rasch verbreitete sich die Weisung des Königs unter den

siebenhundert Hunden der Stadt, und alle begannen bitterlich

zu weinen. Doch es gab einen Hund, der sie alle anführte, da

er sie liebte und beschützte, und in einer langen Prozession

zogen sie nun los, um ihn aufzusuchen.

„Warum habt ihr euch heute alle zusammengefunden?“,

fragte der Anführer, als er sie kommen sah, „und was macht

euch so traurig?“

„Wir sind in Gefahr“, antworteten die Hunde, „die ledernen

Prachtgeschirre der königlichen Kutsche, die über Nacht

im Hof des Palastes stand, wurden zerstört, und wir werden

für den Schaden verantwortlich gemacht. Der König ist zornig

und hat befohlen, uns alle zu töten.“

„Es ist doch unmöglich für die Hunde aus der Stadt, die

Tore des Palastes zu passieren“, dachte der Anführer. „Wer

also könnte die Prachtgeschirre zerstört haben, wenn nicht

die Hunde des Palastes? So werden die Schuldigen verschont

und die Unschuldigen vernichtet. Nein, ich will dem König die

Schuldigen vorführen, und die Hunde der Stadt sollen gerettet

werden.“

Dies waren die Überlegungen des tapferen Leithundes,

und nachdem er seine siebenhundert Gefährten und Gefährtinnen

getröstet hatte, machte er sich allein auf den Weg durch

die Stadt. Auf Schritt und Tritt standen Männer parat, um ihn

zu töten, aber seine Augen waren so voller Liebe, dass sie nicht

wagten, ihm etwas anzutun. Und als er den Palast betrat, ließen

ihn die königlichen Wachen, gebannt von seiner Erscheinung,

alle Tore passieren.

So betrat der Anführer der Hunde die Halle der Gerechtigkeit,

wo der König auf seinem Thron saß, umringt von seinen

Höflingen; und alle verstummten beim Anblick seiner feurigen

Augen.

20


Nach einiger Zeit ergriff der Anführer der Hunde das Wort.

„Großer König“, sagte er, „ist es Euer Befehl, dass alle

Hunde der Stadt getötet werden?“

„Ja“, antwortete der König, „dies ist mein Befehl.“

„Welchen Schaden haben sie angerichtet, oh König?“, fragte

er.

„Sie haben die ledernen Prachtgeschirre der königlichen

Kutsche zerstört“, antwortete der König.

„Welche Hunde haben diesen Schaden angerichtet?“, fragte

der Leithund.

„Das weiß ich nicht“, antwortete der König, „darum habe

ich befohlen, dass sie alle getötet werden.“

„Wird wirklich jeder Hund in Eurer Stadt getötet?“, fragte

der Anführer, „oder ist es einigen Hunden vergönnt, weiter zu

leben?“

„Nur die edlen Hunde des Palastes sollen am Leben bleiben“,

antwortete der König.

„Oh König“, sprach der Anführer der Stadthunde mit

sanfter Stimme, „ist Euer Befehl gerecht? Weshalb sollten die

Hunde des Palastes unschuldig sein und die Hunde der Stadt

schuldig? Diejenigen, die in Eurer Gunst stehen, werden gerettet

und jene, die Ihr nicht kennt, werden getötet. Oh ehrwürdiger

König, wo ist da Eure Gerechtigkeit?“

Der König dachte eine Weile lang nach und sprach dann:

„Weiser Leithund, dann sage du mir, wer sind die Schuldigen?“

„Die edlen Hunde des Palastes“, antwortete der Anführer

der Hunde der Stadt.

„Beweise mir, dass du die Wahrheit sprichst“, erwiderte

der König.

„Ich werde es Euch zeigen“, antwortete der Anführer der

Stadthunde. „Befehlt, dass die Palasthunde hierher in die

21


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