Leseprobe OZEANE
Leseprobe zu OZEANE - Die Welt der Meere Ein Ausflug in die maritime Welt 352 Seiten, Hardcover, Euro (D) 59 | Euro (A) 61 | CHF 78 ISBN 978-3-03876-300-0 (Midas Collection) Der großformatige Band zeigt die enorme Vielfalt der Ozeane, sowohl über als auch unter den Wellen, und umfasst ein breites Spektrum: von wissenschaftlichen Illustrationen, bis hin zu Unterwasserfotografie, von unterschiedlichsten Kunstwerken, bis zu Filmplakaten und Textilien. Die Bilder, die von einem internationalen Expertengremium kuratiert wurden, sind perfekt arrangiert und substanziell kommentiert, und inspirieren zu eigenen Gedanken und zur weiteren Beschäftigung mit den aufgeworfenen Themen. Ein faszinierender Überblick über die die Weltmeere in Kunst, Geschichte, Wissenschaft und Kultur
Leseprobe zu
OZEANE - Die Welt der Meere
Ein Ausflug in die maritime Welt
352 Seiten, Hardcover, Euro (D) 59 | Euro (A) 61 | CHF 78
ISBN 978-3-03876-300-0 (Midas Collection)
Der großformatige Band zeigt die enorme Vielfalt der Ozeane, sowohl über als auch unter den Wellen, und umfasst ein breites Spektrum: von wissenschaftlichen Illustrationen, bis hin zu Unterwasserfotografie, von unterschiedlichsten Kunstwerken, bis zu Filmplakaten und Textilien. Die Bilder, die von einem internationalen Expertengremium kuratiert wurden, sind perfekt arrangiert und substanziell kommentiert, und inspirieren zu eigenen Gedanken und zur weiteren Beschäftigung mit den aufgeworfenen Themen. Ein faszinierender Überblick über die die Weltmeere in Kunst,
Geschichte, Wissenschaft und Kultur
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<strong>OZEANE</strong><br />
DIE WELT DER MEERE<br />
MIDAS
<strong>OZEANE</strong> – Die Welt der Meere<br />
© 2024<br />
Midas Collection<br />
ISBN 978-3-03876-300-0<br />
Auflage: 1 2 3 4 5 | 27 26 25 24<br />
Übersetzung: Kathrin Lichtenberg<br />
Lektorat: Dr. Friederike Römhild<br />
Layout: Ulrich Borstelmann<br />
Projektleitung: Gregory C. Zäch<br />
Midas Verlag AG<br />
Dunantstrasse 3, CH-8044 Zürich<br />
Büro Berlin: Mommsenstraße 43, D-10629 Berlin<br />
E-Mail: kontakt@midas.ch<br />
www.midas.ch<br />
Der Midas Verlag wird vom Bundesamt für Kultur<br />
für die Jahre 2021–2024 unterstützt.<br />
Englische Originalausgabe:<br />
»OCEAN – Exploring the Marine World«,<br />
© 2022 Phaidon Press Limited<br />
2 Cooperage Yard, E15 2QR London<br />
United Kingdom<br />
Printed in China<br />
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />
bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de<br />
abrufbar.<br />
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und<br />
Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung<br />
des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar.<br />
Anordnung<br />
Die Illustrationen in diesem Buch wurden paarweise<br />
angeordnet, um interessante Vergleiche und Kon traste<br />
hervorzuheben, die sich lose auf ihr Thema, ihr Alter, ihren<br />
Zweck, ihre Herkunft oder ihr Aussehen stützen.<br />
Abmessungen<br />
Die Abmessungen der Werke sind nach Höhe und Breite<br />
geordnet. Digitale Bilder haben variable Abmessungen. Bei<br />
Unterschieden in den Abmessungen zwischen den Quellen<br />
beziehen sich die angegebenen Maße auf die abgebildete<br />
Version.
Einführung 6<br />
<strong>OZEANE</strong> – Die Welt der Meere<br />
Die Werke 10<br />
Zeitstrahl 332<br />
Die Zonen des Ozeans 340<br />
Anhang<br />
Ausgewählte Biografien 3 41<br />
Glossar 344<br />
Index 346
Der Weltozean<br />
Der unentdeckte Ozean<br />
Der Ozean, riesig, tief und facettenreich, ist das Herz und die Lunge unseres<br />
Planeten. Wir alle kennen die Statistiken: Die Ozeane bedecken mehr Fläche<br />
auf unserem Planeten als das feste Land – 71 Prozent der Erde sind von<br />
Wasser bedeckt und 96,5 Prozent des Wassers befinden sich in den Ozeanen.<br />
Dennoch nennen wir unsere Heimat Erde und nicht Ozean. Stellen Sie sich<br />
vor, es wäre anders – würden wir uns dann viel stärker um seinen Schutz<br />
bemühen? Würden wir mehr über ihn wissen wollen? Der Ozean ist ein Ort<br />
der Nostalgie und der romantischen Utopie, gleichzeitig eine Terra incognita.<br />
Nicht einmal fünf Prozent der Weltmeere sind erforscht.<br />
Wir sollten uns bewusst machen, dass es nur einen Weltozean gibt, der<br />
aus mehreren miteinander verbundenen Seebecken und Meeren besteht. Der<br />
nördlichste und zugleich kleinste, flachste und kälteste Ozean ist die Arktis,<br />
die Verbindung zwischen Grönland, Dänemark, Island, Norwegen, Finnland,<br />
Russland, Kanada und den USA. Der Atlantik, unterteilt in Nord- und Südatlantik,<br />
verbindet Nord-, Mittel- und Südamerika mit Europa und Afrika. Der<br />
Pazifik, der größte und tiefste Ozean, verbindet Asien mit Ozeanien und der<br />
Westküste des amerikanischen Kontinents. Der Indische Ozean liegt zwischen<br />
Afrika, der Arabischen Halbinsel, Indien, Asien und Australien. Er ist das<br />
wärmste aller Seebecken und besitzt aufgrund des Mangels an Plankton,<br />
der winzigen Organismen, die eine wesentliche Nahrungsquelle bilden, die<br />
geringste Meeresfauna. Der Südliche oder Antarktische Ozean erstreckt sich<br />
zwischen Pazifik, Atlantik und Indischem Ozean und wird in östlicher Richtung<br />
vom Antarktischen Zirkumpolarstrom umkreist.<br />
Neben den fünf genannten Ozeanen gibt es Dutzende Meere, die näher am<br />
Land liegen und kleiner als Seebecken sind. Sie sind weltweit zu finden, vom<br />
Watten- bis zum Weddellmeer, vom Mittel- bis zum Karibischen Meer.<br />
Der Ozean ist viel mehr als nur seine Oberfläche, ob diese nun ruhig und<br />
friedlich ist oder vor Wellen tost. Ufer und Küsten sind paradiesische Orte für<br />
die Freizeitgestaltung oder Handelsplätze, zeugen von der kulturellen Prägung<br />
eines Landes oder bleiben unerreichbar. Küstenabschnitte mit einzigartigen<br />
Phänomenen und einer reichen biologischen Vielfalt sind die Gezeitenzone<br />
im Wattenmeer der Nordsee (siehe S. 312) oder Lagunen, die vom Wind<br />
erzeugt wurden, sowie Flussdeltas, in denen sich Süß- und Salzwasser im<br />
Arktischen Ozean mischen (siehe S. 249).<br />
Der obere Ozean, das Epipelagial, reicht bis in etwa 200 Meter Tiefe. Hier<br />
gibt es immer noch ausreichend Licht für Plankton und Algen und daher<br />
genügend Nahrung für Wale, Haie, Thunfische, Quallen und viele andere.<br />
Zwischen 200 und 1.000 Meter Tiefe liegt das Mesopelagial, die Dämmerzone.<br />
Das Licht reicht nicht mehr für die Fotosynthese und doch leben hier<br />
Tiere, wie Quallen und andere Fische, die sich von der absinkenden Biomasse<br />
aus der darüberliegenden Zone ernähren (siehe S. 145).<br />
Dann kommt die Tiefsee, der am wenigsten bekannte Teil des Ozeans, in dem<br />
trotz der Dunkelheit Fische und andere Tiere sowie Pflanzen überleben (siehe<br />
S. 100). Das Bathypelagial von 1.000 bis 4.000 Metern Tiefe ist düster und kalt,<br />
aber auch hier gibt es Leben: Tintenfische, Haie, Wale und andere.<br />
Im Abyssopelagial zwischen 4.000 und 6.000 Metern Tiefe herrschen<br />
Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt und hoher Wasserdruck. Das Leben<br />
im Meer geht aber auch hier weiter – genau wie in der nächsten Zone, dem<br />
Hadopelagial von 6.000 bis 11.000 Metern Tiefe. Zu diesem Bereich gehört<br />
der Tiefseeboden mit Seegurken, Krustentieren, Würmern, Anemonen und<br />
anderen Organismen. Der tiefste Ort der Erde, der Marianengraben, befindet<br />
sich im Hadopelagial und erreicht eine Tiefe von 11.034 Metern unter dem<br />
Meeresspiegel – ein für Menschen vollkommen ungastlicher Ort, der nur mit<br />
speziellen Forschungsfahrzeugen (siehe S. 81) erreicht werden kann.<br />
Seit Jahrhunderten ist der Ozean in Literatur, Musik, Kunst und Philosophie<br />
ein Symbol für Unendlichkeit, Schönheit, Einsamkeit, Isolation, Gefahr,<br />
Glück, Schwerelosigkeit und Sehnsucht. Auf den folgenden Seiten erhalten<br />
Sie ein ganzes Panorama über diese Gebiete und einen Einblick in den Ozean,<br />
der sich vom Eozän vor etwa 55 Millionen Jahren bis in das 21. Jahrhundert<br />
erstreckt. Viele Werke zeigen einen wunderschönen, atemberaubenden<br />
Ozean, doch wir wissen auch, dass er aufgrund der menschlichen Aktivitäten<br />
seit der Industriellen Revolution in Gefahr ist – ein Drama, das viele<br />
Kunstschaffende auf unterschiedliche Weise festgehalten haben.<br />
Esther Horvath (siehe S. 39), die in den letzten Jahren Arktis- und Antarktis-Expeditionen<br />
des Alfred-Wegener-Instituts begleitet hat, fängt in ihren<br />
Fotografien sowohl nostalgische Momente als auch neue wissenschaftliche<br />
Entdeckungen ein. Sie gehörte 2022 zur Endurance22-Expedition, die Ernest<br />
Shackletons Schiff mehr als 100 Jahre, nachdem es unter dem Eis des Weddellmeeres<br />
verloren gegangen war (siehe S. 38), wiederentdeckt hat.<br />
Ozeanforscher und -aktivistinnen wie Sylvia Earle (siehe S. 77) setzen<br />
sich für den Ozean ein und betonen seine Fragilität. Die Zwischenstaatliche<br />
Ozeanografische Kommission der UNESCO rief 2021 die UN-Dekade der Meeresforschung<br />
für Nachhaltige Entwicklung (2021–2030) mit dem Ziel aus, den<br />
bereits aufgetretenen Schaden rückgängig zu machen und Lösungen zum<br />
Schutz der Ozeane zu finden, und zwar nicht nur durch Wissenschaft und<br />
Politik, sondern auch durch gesellschaftliche, kulturelle Aktivitäten und Bildungsmaßnahmen.<br />
Die Meereskunde erforscht, was in den Ozeanen existiert<br />
und was in Gefahr ist, und sie hilft, Schäden zu identifizieren. Technische<br />
Forschungen und Unternehmen tragen entscheidend dazu bei, Lösungen für<br />
diese Schäden zu finden, während Politik und juristische Stellen hoffentlich<br />
Gesetze und Schutzmaßnahmen erlassen. Allerdings ist auch die Zivilgesellschaft<br />
gefragt, um notwendige Verbesserungen auf den Weg zu bringen, die<br />
weiteren Schaden abwenden können.<br />
6
Seien Sie sich bewusst, dass die Menschheit und ihr Überleben zum Großteil<br />
vom Ozean abhängen:<br />
Wir essen: Der Ozean ist das größte Ökosystem auf dem Planeten Erde. Er<br />
liefert Nahrung für 3,5 Milliarden Menschen.<br />
Wir existieren: Der Ozean ist ein Klimaregulator und die größte Kohlenstoffsenke.<br />
Wir atmen: Der Ozean erzeugt mehr als die Hälfte des irdischen Sauerstoffs.<br />
Wir bewegen uns: Etwa 90 Prozent des globalen Handels werden über<br />
den Schiffsverkehr auf den Meeren abgewickelt.<br />
Wir sind verbunden: Geografisch gesehen ist die Menschheit global durch<br />
die Ozeane miteinander verbunden.<br />
Wir heilen: Mehr als 20.000 neue biochemische Substanzen wurden im<br />
Laufe der letzten drei Jahrzehnte zur pharmazeutischen Nutzung der<br />
Meeresfauna und -flora entnommen.<br />
Der französische Dichter Charles Baudelaire schrieb in seinem Werk »Der<br />
Mensch und das Meer« (1857; dt. von Therese Robinson, 1925):<br />
Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft!<br />
Dein Spiegel ist‘s. In seiner Wellen Mauer,<br />
Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,<br />
In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft.<br />
Dieses Buch lädt Sie ein, über die Schätze und die Macht des Ozeans nachzudenken,<br />
wie sehr wir von ihm abhängen und wie viel wir dazu beitragen<br />
können, ihn künftig besser zu schützen – nicht nur für unsere unmittelbare<br />
Zukunft, sondern auch für die kommender Generationen.<br />
Sie lernen die Geschichte des Ozeans kennen, erfahren wichtige kulturelle<br />
Fakten über die Regionen, die die gezeigten Werke präsentieren, tauchen<br />
ein in aktuelle wissenschaftliche Entdeckungen und gehen auf eine Reise<br />
in die nostalgische und symbolische Welt des Ozeans. Das Buch verbindet<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nicht nur, weil der Klimanotstand<br />
den Ozean zu einem relevanten Thema gemacht hat, sondern auch, weil<br />
es gleichermaßen wichtig ist, auf frühere und aktuelle wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse zu blicken, mit denen die Gesellschaft den Ozean schützen und<br />
ihm eine bessere Zukunft ermöglichen kann.<br />
Das kuratierte Buch<br />
Sie können an jeder beliebigen Stelle in das Buch einsteigen. Es bietet Ihnen<br />
nicht nur eine Abfolge von Bildern, sondern bringt die Bilder aus teilweise<br />
unterschiedlichen Jahrhunderten auf den gegenüberliegenden Seiten in<br />
einen Dialog – über ein gemeinsames Thema oder verschiedene Herangehensweisen<br />
an das Thema.<br />
Das gibt Ihnen die Möglichkeit, die ungeheure Größe des Ozeans und seine<br />
Beziehung zur Erde als Ganzes zu verstehen, etwa wenn ein Manuskript von<br />
Bartholomaeus Anglicus aus dem 15. Jahrhundert neben einem Satellitenbild<br />
der NASA von 1994 steht (siehe S. 42–43). Das Paar aus der Karte der Verteilung<br />
des marinen Lebens von Edward Forbes und Alexander Keith Johnston<br />
sowie der Tiefenkarte des Nordatlantiks von Matthew Maury, beide von<br />
1854, gewinnt zusätzliche Bedeutung, weil wir erfahren, dass sich Forbes’<br />
und Johnstons Versuch, das Leben im Meer darzustellen, letztlich als falsch<br />
erwies (siehe S. 108–9). Derweil zeigen Tan Zi Xis Installation Plastikozean<br />
und Daniel Beltràs Foto der Ölpest der Deepwater Horizon von 2010 im Golf<br />
von Mexiko das Ausmaß der Verschmutzung der Ozeane durch Produkte aus<br />
fossilen Brennstoffen (siehe S. 154–55).<br />
Anders als oft berichtet wird, wurden die frühen Fortschritte im<br />
Tauchen nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen erzielt, wie die<br />
Gegenüberstellung des französischen Biologen und Pioniers der Unterwasserfotografie<br />
Louis Boutan mit Sylvia Earle, der bahnbrechenden Taucherin,<br />
Meeresbiologin und Ozeanografin beweist (siehe S. 76–77). Das Bild des<br />
berühmten französischen Entdeckers und Filmemachers Jacques Cousteau<br />
mit dem Wrack der Titanic zeigt, dass die Spuren, die Menschen im Ozean<br />
hinterlassen, manchmal von neuem Leben besiedelt werden und sogar an<br />
»echte« Korallenriffe erinnern (siehe S. 78–79).<br />
Und selbst Werke mit grundverschiedenen Motiven zeigen tiefere Gemeinsamkeiten.<br />
Audun Rikardsens Bild eines Orca in einem norwegischen Fjord<br />
scheint fehl am Platz neben David Doubilets Bild eines Korallenriffs in Kimbe<br />
Bay, Papua-Neuguinea, dabei engagieren sich beide Fotografen mit ihrer<br />
Arbeit für den Schutz der Meere (siehe S. 16–17).<br />
Betrachtet man nicht nur das einzelne Werk, sondern die Bildpaare,<br />
erleichtert ihr Dialog den Zugang zu dem, was der Ozean zu bieten hat.<br />
Ozeangeschichten: Vergangenheit und Gegenwart<br />
Seit mehr als 1.000 Jahren erlaubt der Ozean wirtschaftliche und kulturelle<br />
Verbindungen zwischen den Kontinenten, die sowohl nützlich als auch<br />
schädlich sind. Das Meer war immer eine wichtige Ressource: als Quelle von<br />
Nahrung, Öl und Mineralien, für Tourismus, Transport und Migration.<br />
Heute liefert uns die Wissenschaft noch mehr Beweise für die Bedeutung<br />
des Ozeans. Wir wissen nun, dass 50 bis 80 Prozent des Sauerstoffs der Erde<br />
durch den Ozean erzeugt werden – wir könnten also ohne einen intakten<br />
Ozean nicht atmen. Außerdem ist der Ozean, speziell die Tiefsee, die wichtigste<br />
Kohlenstoffsenke unseres Planeten, die überschüssiges Kohlendioxid<br />
(CO 2 ) aufnimmt, das vor allem durch unser Handeln entsteht.<br />
Trotz dieses Wissens betrachten viele Menschen den Ozean nur als ein<br />
Mittel zum Zweck statt als Ressource, die respektiert und geschützt werden<br />
muss. Massentourismus bewegt nicht nur Millionen Touristen mit Jachten,<br />
Kreuzfahrtschiffen, Jet Skis und anderen Vehikeln über die Meere, sondern<br />
bringt sie bei Tauchexpeditionen zu Korallenriffen und anderen gefährdeten<br />
Lebensräumen. Das Bemühen, die Welt zu ernähren, sorgt für Überfischung,<br />
die Druck auf Fischpopulationen ausübt und andere Meerestiere gefährdet,<br />
die als Beifang enden oder an Plastikteilen sterben. Der Abbau von Rohstoffen<br />
ist ebenfalls eine riesige Herausforderung für den Ozean. Bergbauunternehmen,<br />
die seltene Mineralien wie Kupfer, Nickel, Gold, Phosphor, Silber,<br />
Europium und Zink (hauptsächlich für die Elektronik) vom Meeresboden<br />
holen wollen, stellen ihn im Rahmen ihres Marketings übermäßig vereinfacht<br />
dar, als sei er nur eine flache Wüste, auf der kein Leben existiert – obwohl<br />
wir heute wissen, dass er ein reiches, gebirgiges Habitat darstellt (siehe S. 83),<br />
das selbst in großer Tiefe bewohnt ist. Immer wieder machen wir neue Entdeckungen:<br />
Im Februar 2021 fand das Alfred-Wegener-Institut im Süden<br />
des antarktischen Weddellmeeres das größte bisher bekannte Brutgebiet für<br />
Fische mit etwa 60 Millionen Nestern der Fischart Jonahs Eisfisch (Neopagetopsis<br />
ionah).<br />
Wie können wir dem Ozean etwas zurückgeben, ohne ihn ständig auszunutzen?<br />
Zuerst müssen wir ihn verstehen.<br />
Das ozeanografische Wissen war bereits gut etabliert, bevor die Meereskunde<br />
entstand und moderne Entdecker das Leben im Meer fotografierten.<br />
Vor unserer Zeit zeigten europäische Darstellungen den Ozean in Form von<br />
mythologischen Erzählungen, bildeten aber auch das Meeresleben ab – etwa<br />
als lebendige Sammlung aus Fischen, Krustentieren und einem Oktopus<br />
in dem bemerkenswert gut erhaltenen Mosaik aus Pompeji (siehe S. 232).<br />
Wir kennen reiche, präkolumbianische Illustrationen von Meerestieren wie<br />
Pfeilschwanzkrebsen (siehe S. 202), einer inzwischen gefährdeten Art. Mittelalterliche<br />
Manuskripte (siehe S. 42) und Karten enthüllen, wie viel über die<br />
Geografie der Meere bekannt war. Sebastian Münster, einer der berühmten<br />
Kosmografen seiner Zeit, fügte in seine namhafte Cosmographia von 1544<br />
einen »Katalog von Geschöpfen« mit einer Aufzeichnung existierender sowie<br />
fantastischer Meerestiere ein (siehe S. 196).<br />
Das Streben danach, die Welt um uns herum zu verstehen, war ein entscheidender<br />
Impuls für die Erforschung unbekannter Gegenden. Frühe<br />
Entdecker überquerten die Ozeane auf der Suche nach neuem Wissen, wie die<br />
7
Naturforscherin und Illustratorin Maria Sibylla Merian, die 1699 als erste<br />
Frau unabhängig eine wissenschaftliche Expedition über den Atlantik nach<br />
Südamerika antrat. Ein Jahrhundert später war Alexander von Humboldt<br />
der erste Forscher, der die kalte, salzarme Strömung entlang der Westküste<br />
Südamerikas untersuchte. Die Fischer vor Ort kannten die Strömung zwar<br />
bereits seit Jahrhunderten, doch sie war noch nie offiziell erforscht worden.<br />
Heute trägt sie den Namen ihres Erforschers: Humboldtstrom. Freidenker<br />
und Naturforscher wie Ernst Haeckel versuchten, den Ozean für die Gesellschaft<br />
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sichtbar und verständlich zu<br />
machen. Der Biologe und Illustrator Haeckel schuf detailreiche Zeichnungen<br />
von Mikroorganismen des Meeres, die einen Boom von Expeditionen an Land<br />
und auf dem Meer auslösten (siehe S. 207). Seine Werke sind noch heute eine<br />
Inspiration für Künstler und Fotografinnen.<br />
Die Verbreitung dieser Werke in der wissenschaftlichen Gemeinschaft<br />
zog die rasend schnelle Entwicklung neuer Instrumente und Technologien<br />
nach sich, mit denen die Entdeckung selbst winzigster Atome und der<br />
Konsistenz von Wassertropfen möglich wurde; es wurden Dampfmaschinen<br />
erfunden und die Massenindustrialisierung des Ozeans begann.<br />
Die Erkundungen dienten aber auch der Kolonialisierung, dem Drang,<br />
neue Gebiete zu »entdecken« oder Religionen zu verbreiten, und der Gier der<br />
Wirtschaft nach Gold, exotischen Waren und natürlichen Ressourcen.<br />
Nehmen Sie etwa den industriellen Walfang. Schon in prähistorischer Zeit<br />
und im Mittelalter machte man Jagd auf Wale und ihr Öl (siehe S. 45, 132). Im<br />
8. Jahrhundert dann führten die Basken in Europa die Jagd auf Wale ein. Im<br />
frühen 17. Jahrhundert entstand daraus eine regelrechte Industrie, die sich<br />
von Europa auf Nordamerika, den Südatlantik und sogar Japan (siehe S. 128)<br />
und Australien ausweitete. Anfangs wurden die Wale vor allem wegen ihres<br />
Fleisches und Specks (Blubber) gejagt, die Nahrung, aber auch bestimmte<br />
Vitamine und Mineralien lieferten. Im 19. Jahrhundert begann man, den<br />
Blubber zu raffinieren, sodass er zu einer wichtigen Quelle für Lampen- und<br />
Schmieröl wurde, während aus Walknochen Haushaltsgegenstände, Korsette<br />
und sogar Spielsachen und Schlitten hergestellt wurden. Als Symbol<br />
für den Ozean und seine Geheimnisse waren Wale außerdem bei Museen in<br />
Europa und den USA gefragt, die diese riesigen, noblen Tiere ausstellen wollten.<br />
Jäger und Abenteurer wurden ausgesendet, Exemplare zu beschaffen und<br />
man erfand neue Taxidermie-Techniken, um sie zu konservieren (siehe S. 166).<br />
Die schonungslose Jagd führte weltweit zu einem drastischen Rückgang<br />
der Wale und erst ein Moratorium der Internationalen Walfangkommission<br />
zum kommerziellen Walfang 1986 bot einigen Populationen die Chance, sich<br />
zu erholen. Kommerzieller Walfang wird heutzutage noch – vor allem als Nahrungsquelle<br />
– von Norwegen, Japan und Island betrieben, während in einigen<br />
Teilen Alaskas die Jagd auf Wale zur indigenen Tradition gehört.<br />
Wir wissen heute, dass eine ausgewogene Walpopulation wichtig für die<br />
Gesundheit des Ozeans ist, da Wale eine wichtige Rolle in der Nahrungskette<br />
und bei der Produktion von Sauerstoff spielen. In der sogenannten Walpumpe<br />
fressen Wale im tiefen Meer hauptsächlich Krill und Fisch. Zum Atmen<br />
kommen sie an die Oberfläche, wo sie auch ihre Exkremente hinterlassen,<br />
die wiederum das Phytoplankton ernähren. Phytoplankton, eine Kieselalge,<br />
sind sehr kleine, pflanzenartige Organismen, die etwa 30 Prozent des<br />
menschengemachten oder anthropogenen Kohlendioxids absorbieren. Wenn<br />
wir also sagen, dass der Ozean CO 2 aufnimmt (sogar mehr als alle Wälder), ist<br />
es tatsächlich diese winzige Alge, die Kohlendioxid durch Fotosynthese in den<br />
Sauerstoff verwandelt, den wir zum Atmen brauchen.<br />
Über viele Jahrzehnte basierte das allgemeine Wissen über den Ozean vor<br />
allem auf dem, was wir in der Schule darüber gelernt haben – Navigation,<br />
Seekriege, Eroberung neuer Gebiete im Namen des Kolonialismus, kommerzieller<br />
Fischfang, Walfang. Vielleicht haben wir im Geografieunterricht auch<br />
von der Größe des Ozeans gehört, seinen Schichten, der Fauna und Flora. In<br />
den 1950er- und 60er-Jahren dann machte der französische Meeresforscher<br />
Jacques Cousteau bedeutsame Fortschritte in der Fotografie und dem Filmen<br />
unter Wasser, sodass atemberaubende Bilder der uns bisher unbekannten<br />
Welt unsere Wohnzimmer erreichten (siehe S. 78). Plötzlich konnten wir<br />
die Lebenswelt des Meeres selbst sehen und verstehen. Das änderte unser<br />
Bewusstsein und führte dazu, dass sich viele von uns in den Ozean verliebten.<br />
Zeitgenössische Künstlerinnen und Fotografen begannen, an der Schnittstelle<br />
von Kunst und Wissenschaft zu arbeiten, um mit ihren Projekten nicht<br />
nur die Schönheit des Ozeans zu vermitteln, sondern die Öffentlichkeit aufzuklären.<br />
Die Risiken des Bergbaus oder der kommerziellen Fischfarmen für<br />
die Gesundheit der Meere lassen sich durch die eindrucksvollen Fotografien<br />
des Kanadiers Edward Burtynsky (siehe S. 173) besser verstehen – genau wie<br />
die Bedeutung der Gezeitenbewegungen durch die Fotos von Martin Stock<br />
(siehe S. 312). Viele zeitgenössische Fotografinnen, denen der Ozean als<br />
Motiv dient, haben sich seinem Schutz verschrieben, etwa Cristina Mittermeier,<br />
Mitgründerin der nichtkommerziellen Umweltorganisation SeaLegacy<br />
in Vancouver, die mit ihren Bildern die Aktionen und Schutzmaßnahmen<br />
unterstützt (siehe S. 140). Und dann gibt es Organisationen, die eine<br />
Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst schlagen, wie das Schmidt Ocean<br />
Institute (siehe S. 292), das regelmäßig Künstler auf seine Forschungsschiffe<br />
einlädt und die Allgemeinheit mit interdisziplinären Projekten in seine<br />
Missionen einbezieht.<br />
Die Menschheit und der Ozean<br />
In Museen und Ausstellungsräumen konzentrieren sich Kunstwerke, die sich<br />
mit dem Ozean beschäftigen – ob aktuell oder historisch –, hauptsächlich auf<br />
das Verhältnis der Menschheit zum Ozean und selten auf den Ozean allein.<br />
Diese menschenzentrierte Weltsicht basiert auf dem aktuellen geologischen<br />
Zeitalter, das der Mensch dominiert und daher auch »Anthropozän« genannt<br />
wird, nach dem griechischen Wort anthropos für »Mensch«. Wir haben die<br />
Welt um uns herum seit Jahrtausenden beeinflusst – mit enormen Auswirkungen<br />
auf die Systeme der Erde seit Beginn des Industriellen Zeitalters im<br />
18. Jahrhundert – und dieser Einfluss spiegelt sich in der Kunst wider. Diese<br />
anthropozentrische Weltsicht umfasst alle Aspekte des mythologischen,<br />
religiösen und traditionellen Wissens seit dem Alten Ägypten, Griechenland<br />
und Rom bis zum Mittelalter sowohl der christlichen als auch der nichtchristlichen<br />
Kulturen. Sie beschränkt sich nicht auf die darstellenden Künste,<br />
sondern findet sich auch in Schmuckherstellung und Design bis hin zur<br />
afrikanischen spirituellen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.<br />
Erst vor Kurzem wurde begonnen, diese Sichtweise kritisch zu hinterfragen,<br />
und das nirgendwo mehr als in der Kunstwelt, die das sogenannte<br />
Anthro pozän in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert hat, unter anderem<br />
in dem Werk Vertigo Sea von John Akomfrah (siehe S. 174).<br />
Dieses Buch vertritt zwar unweigerlich eine anthropozentrische Herangehensweise,<br />
bietet aber dennoch einen Eindruck vom Ozean und seinen<br />
Bewohnern frei von menschlichen Spuren – und ohne den negativen Einfluss,<br />
den wir auf ihn ausüben. Heitere Meeresflächen und krachende Wellen,<br />
wunderbar wilde Unterwasserflora und -fauna, unerreichbare Felsen, die<br />
Tiefsee, ferne Strände mit Tieren, die immer noch unberührt sind. Heutige<br />
Unterwasserfotografen haben Bilder von Meeresbewohnern gemacht, von<br />
deren Existenz wir bisher noch gar nichts ahnten.<br />
Als Jacques Cousteau in den 1950er-Jahren sein Tauchboot Calypso und<br />
die 35mm-Unterwasserfilmkamera erfand, brachte er Bilder vom Leben<br />
in den Ozeanen in die Populärkultur und löste einen Boom der Unterwasserfotografie<br />
aus (siehe S. 78). Das Interesse wuchs, als die Meeresbiologin,<br />
Ozeanografin und Entdeckerin Sylvia Earle in den 1960er- und 70er-Jahren<br />
»abtauchte« und unseren Blick und unser Verständnis vom Ozean radikal<br />
änderte. (Die »Königin des Meeresschutzes« gründete 2009 Mission Blue, um<br />
sich verstärkt für den Schutz der Meere einzusetzen; siehe S. 77.)<br />
Heute ist Unterwasserfotografie aufgrund der technischen Fortschritte<br />
und des Wachstums der globalen Tourismusindustrie viel weiter verbreitet.<br />
Ferne Orte wurden plötzlich zugänglich, und die Kosten für Kameras und<br />
Equipment sanken deutlich. Wissenschaftliche Fotografien mit neuen Techniken<br />
wie der Konfokalmikroskopie (siehe S. 161, 163) und der Rasterelektro-<br />
8
nenmikroskopie (REM, siehe S. 284) enthüllen Details von Meerestieren, die<br />
nur bei extremer Vergrößerung sichtbar sind, sodass sich neue Gebiete der<br />
Meeresbiologie eröffnen. Ein leichterer Zugang bedeutet aber auch höheren<br />
Stress für den Ozean: Kommerzielles Tauchen und Expeditionen an ferne<br />
Orte können Ökosysteme im Meer (zer)stören, wenn die begleitenden Aktivitäten,<br />
wie etwa die Nutzung starker Lichter zur Unterwasserfotografie, nicht<br />
vorsichtig und respektvoll erfolgen.<br />
Menschen haben immer danach gestrebt, ihre Beziehung zur natürlichen<br />
Welt in verschiedenen Medien festzuhalten. Natürlich spielten Bücher und<br />
schriftliche Aufzeichnungen immer eine wichtige Rolle beim Verbreiten von<br />
Wissen und Geschichten und werden auch künftig großen Einfluss haben.<br />
Auf Smartphones, Computern und anderen elektronischen Geräten sind Apps<br />
unsere täglichen Begleiter. Kunst und Wissenschaft gleichermaßen nutzen die<br />
digitale Sphäre, vor allem zum Visualisieren wichtiger Daten über unseren<br />
Ozean. So macht der kanadische Aktivist Colton Hash ein unsichtbares Phänomen,<br />
nämlich die akustische Verschmutzung der Meere, in seinem interaktiven<br />
Werk Acoustic Turbulence greifbar (siehe S. 106).<br />
Den vielleicht größten Einfluss auf unsere Verbindung zum Ozean und<br />
zum Leben im Meer haben Filme. Wurde nicht unsere Vorstellung von Haien<br />
durch den Film Der weiße Hai von 1975 geprägt (siehe S. 118)? Haben wir<br />
nicht in Die Höllenfahrt der Poseidon (1972, siehe S. 279) oder James Camerons<br />
Titanic (1997, siehe S. 79) die Macht des Ozeans erlebt? Jenseits der<br />
schrecklicheren, fiktiven oder realen Aspekte des Ozeans erlaubten Filme<br />
es uns, den unbekannten Ozean kennenzulernen, etwa in Luc Bessons Im<br />
Rausch der Tiefe (1988) durch die mysteriöse Welt des Apnoe-Tauchens oder<br />
im Animationsfilm Findet Nemo (2003, siehe S. 311), der uns Empathie für<br />
den Ozean und die kleinsten seiner Bewohner gelehrt hat.<br />
Der vielfältige und gefährdete Ozean<br />
Dieses Buch enthält viele wunderschöne Bilder des Ozeans, wie wir ihn zu<br />
sehen wünschen oder hoffen. Zugleich bietet es uns einen Einblick in einzigartige<br />
wissenschaftliche und kulturelle Phänomene aus der ganzen Welt,<br />
die Umweltgefahren und die Zerstörung, die der Mensch verursacht, sowie<br />
die Gefahren, die der Ozean für uns darstellen kann.<br />
Subhankar Banerjee, ein in Indien geborener Luftfahrtingenieur, der<br />
zum Umweltfotografen und Aktivisten wurde, verliebte sich vor vielen<br />
Jahren in die Arktis und vermittelt seine Erfahrungen in Fotografien und<br />
Büchern. Durch sein Werk erklärt er nicht nur Umweltphänomene wie das<br />
Zusammenfließen des Wassers der Kasegaluk-Lagune mit der Tschuktschensee,<br />
sondern erschafft auch Narrative rund um das traditionelle Leben<br />
des Gwich’in-Volkes im nördlichen Alaska (siehe S. 249).<br />
Glenna Gordon fotografierte die Skelettküste in Namibia, einen Friedhof<br />
aus gekenterten und gestrandeten Schiffen. Ihre Bilder zeigen, wie gefährlich<br />
der Ozean uns Menschen trotz aller modernen technischen Errungenschaften<br />
werden kann – er besitzt immer noch Macht über Leben und Tod (siehe S. 84).<br />
Als Reflexion über die Gedankenlosigkeit der Menschen und die verheerenden<br />
Auswirkungen, die unser Verhalten auf das Leben im Meer hat, schuf<br />
der singapurische Künstler Tan Zi Xi die riesige Installation Plastikozean aus<br />
26.000 Teilen Plastikmüll (siehe S. 154).<br />
Der amerikanische Künstler Mark Dion, ein eifriger Sammler von Dingen,<br />
schuf die Instal lation The Field Station of the Melancholy Marine Biologist,<br />
das Labor eines fiktiven Meeresbiologen, in das man von außen hineinblicken<br />
kann (siehe S. 299). Dion will uns mit der wichtigen Arbeit bezaubern, die<br />
Meeresbiologen für die Menschheit verrichten, und warnt uns zugleich vor<br />
der gar nicht so rosigen Zukunft des Planeten Erde und seiner Bewohner.<br />
Das Werk der australischen Künstlerin Dhambit Munuŋgurr zeugt vom<br />
traditionellen Wissen des Yolngu-Volkes im Northern Territory. In ihrem<br />
Gemälde Gamata (Meer Gras Feuer) zeigt sie das Leben im Meer als etwas<br />
für ihr Volk Heiliges und weist geschickt darauf hin, dass die von ihnen<br />
bewunderten Seekühe inzwischen eine gefährdete Art sind (siehe S. 55).<br />
Die nun folgenden Seiten enthalten sehr viel mehr als nur schöne Bilder.<br />
Wenn man tiefer in ihre Bedeutung eintaucht, enthüllen sie ihre Botschaften,<br />
die von den vielen Herausforderungen des Ozeans künden und durchaus als<br />
Aufruf zum Handeln verstanden werden sollten.<br />
Der Ozean überall<br />
Wir alle haben bemerkt, dass der Ozean – seine Geschichte, sein Schutz und<br />
seine nachhaltige Entwicklung, die blaue Ökonomie, der Ozean in Kunst und<br />
Bildung – in vielen Kontexten zu einem brandaktuellen Thema geworden ist.<br />
Die erwähnte UN-Dekade rückt den Ozean und alles, was mit ihm zusammenhängt,<br />
bis 2030 ins Rampenlicht und bringt alle Akteure sowie die<br />
Öffentlichkeit zusammen, um Veränderungen zu bewirken.<br />
In Kunst und Kultur auf der ganzen Welt befassen sich Ausstellungen,<br />
interdisziplinäre Projekte, Bildungsinitiativen, Seminare an Universitäten und<br />
künstlerisch-wissenschaftliche Expeditionen gezielt mit ozeanbezogenen Themen.<br />
Künstlerinnen und Künstler waren immer schon vom Ozean inspiriert<br />
und fasziniert. Heute jedoch gibt es ein neues Bewusstsein dafür, dass der<br />
Ozean nicht nur Ort der Inspiration, sondern lebendiges Ökosystem ist, das<br />
gefährdet ist und geschützt werden muss.<br />
Das konnte kaum deutlicher werden als 2022 bei der Biennale von Venedig<br />
und den vielen Einrichtungen in der Lagunenstadt, die sich mit dem<br />
Meer befassen. In vorderster Reihe stehen Organisationen wie die TBA21–<br />
Academy und ihr Ocean Space, in der seit mehr als einem Jahrzehnt Gemeinschaftsprojekte<br />
an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst gezeigt<br />
werden (siehe S. 24). Während der angesehenen internationalen Kunstausstellung<br />
präsentierte Ocean Space zwei Ausstellungen: The Soul Expanding<br />
Ocean #3 des südafrikanischen Multimediakünstlers Dineo Seshee Bopape<br />
und #4 der portugiesischen Künstlerin Diana Policarpo. Auf der Biennale<br />
selbst war der Ozean Thema im Giardini, dem Arsenale und einigen nationalen<br />
Pavillons in der Stadt: Der Pavillon von Grenada präsentierte Werke des<br />
Cypher Art Collective of Grenada, die von der karibischen Kultur und ihrer<br />
Verbindung mit dem Meer sprachen, im neuseeländischen Pavillon rückte<br />
der Künstler Yuki Kihara ökologische Themen rund um die paradiesischen<br />
Samoainseln ins Zentrum, während der italienische Pavillon einem einzigen<br />
Künstler gewidmet war: Gian Maria Tosatti schuf eine riesige, ortsspezifische<br />
Umweltinstallation über die Beziehung der Menschen zur Natur. Und<br />
die Zwischenstaatliche Ozeanografische Kommission der UNESCO präsentierte<br />
gemeinsam mit dem italienischen Forschungsrat, der Ca’ Foscari-Universität<br />
und anderen das immersive Ocean & Climate Village, um Besucher<br />
mit dem Meer vertraut zu machen.<br />
Seit Tausenden von Jahren ist der Ozean eine Inspirationsquelle für<br />
Kunstschaffende: die Größe, die Schönheit, die Tiefe, das Unbekannte, das<br />
Mysteriöse, das vielschichtige Leben, die Nostalgie, die unendlich verknüpfte<br />
Einheit, das Fließende und das Unberechenbare. In diesem Buch finden<br />
Sie nur einige der Werke, die aus diesen Funken der Inspiration erwachsen<br />
sind. Epochen- und medienübergreifend – von Gemälden und Skulpturen<br />
bis zu Schmuck und Textilien – und vielen verschiedenen Zwecken dienend –<br />
religiö sen, politischen und schmückenden ebenso wie wissenschaftlichen und<br />
lehrenden –, unterstreichen sie alle die wichtigste Intention dieses Buches:<br />
eine visuelle Reise anzubieten, die ein tieferes Verständnis des Ozeans er -<br />
möglicht. Genau wie die UN-Ozean-Dekade vereint dieses Buch Disziplinen<br />
aus der ganzen Welt in der Hoffnung, einen gemeinsamen Raum zu erschaffen,<br />
der die Bedeutung des Ozeanschutzes sichtbar macht und echte Lösungen<br />
hervorbringt.<br />
Der Ozean ist schließlich überall.<br />
Anne-Marie Melster<br />
Interdisziplinäre Kuratorin, Mitgründerin und<br />
Executive Director, ARTPORT_making waves<br />
9
Marie Tharp, Bruce Heezen und Heinrich Berann<br />
Weltkarte des Meeresbodens, 1977<br />
Bedrucktes Papier, 1,10 × 1,90 m<br />
Library of Congress, Geography and Map Division, Washington DC<br />
Bei ihrer Veröffentlichung 1977 revolutionierte die<br />
Weltkarte des Meeresbodens von Marie Tharp (1920–<br />
2006) und Bruce Heezen (1924–1977), gezeichnet von<br />
Heinrich Berann (1915–1999), das Verständnis von<br />
der Erde und stützte die Theorie der Plattentektonik.<br />
Die Karte zeugt von der jahrzehntelangen Forschung<br />
der Geologin und Kartografin Marie Tharp und ihres<br />
Kollegen, des Meeresgeologen Bruce Heezen. Tharp<br />
stellte Heezen, damals ihr Chef am Lamont Geological<br />
Laboratory der Columbia University, 1952 ihre<br />
Theorie der Kontinentalplatten und des Rift-Valley<br />
tief im Atlantischen Ozean vor. Zunächst lehnte Heezen<br />
Tharps Hypothese ab, akzeptierte sie aber später.<br />
Die 1957 vorgestellte Theorie stieß auf Skepsis, bis ein<br />
Tauchgang des Entdeckers Jacques Cousteau (siehe<br />
S. 78) die genaue Lage des von Tharp kartierten Rift-<br />
Valley bestätigte. Tharp und Heezens erste Karte<br />
von 1957 beschrieb den Grund des Nordatlantik;<br />
1961 kamen der Südatlantik und 1964 der Indische<br />
Ozean hinzu. Die Karte enthüllte zum ersten Mal die<br />
vielfältigen Landschaften des Meeresgrundes, wie<br />
etwa das Netz aus unterseeischen Bergen, die den<br />
vulkanischen mittelozeanischen Rücken bilden, mit<br />
65.000 Kilometern die längste Bergkette der Erde.<br />
Die dunkelblau gezeichneten Bergketten liegen oft in<br />
den zentralen Bereichen der Meeresbecken. Ausströmende<br />
Lava erzeugt neue Erdkruste, schiebt die ältere<br />
ozeanische Erdkruste nach außen – und sorgt so für<br />
das »Driften« der Kontinente. Nach Heezens Tod 1977<br />
stellte Tharp die Weltkarte allein fertig. Sie wurde<br />
noch im selben Jahr vom Office of Naval Research<br />
veröffentlicht.<br />
10
Bruce Morser und Hiram Henriquez<br />
Home in the Ocean – Im Ozean zu Hause, aus der Zeitschrift National Geographic, 2015<br />
Digitale Infografik, verschiedene Größen<br />
Dieses faszinierende Panorama des Lebens im Meer<br />
vereint eine große Vielfalt an Tieren aus den Meeren<br />
dieser Welt, die mit großer Exaktheit dargestellt sind.<br />
Das sowohl ästhetische als auch lehrreiche Werk ist<br />
eine Zusammenarbeit zwischen dem kubanischen<br />
Grafikdesigner Hiram Henriquez und dem amerikanischen<br />
Künstler und Illustrator Bruce Morser<br />
und wurde speziell für eine Ausgabe der Zeitschrift<br />
National Geographic vorbereitet, die dem Ozean –<br />
dem größten Lebensraum der Erde – gewidmet war.<br />
Die Künstler haben eine bemerkenswerte Anzahl an<br />
Tieren in einen Bereich des Meeres aufgenommen, der<br />
üblicherweise nur unter der Oberfläche interessant<br />
ist. Zugleich liefern sie detaillierte Informationen<br />
über die verschiedenen Arten. Es gibt einen Temperaturverlauf<br />
von den Polarmeeren auf der linken<br />
Seite über die gemäßigten Ozeane in der Mitte bis zu<br />
den tropischen Gewässern ganz rechts. Links taucht<br />
ein Eisbär über einer Robbe und Orcas in den eisigen<br />
Ozean, während rechts ein Delfin und Seekühe vor<br />
einem Korallenriff im Hintergrund und unter einem<br />
Salzwasserkrokodil und einer Karettschildkröte<br />
schwimmen. Der Übergang in der Mitte wird vom<br />
atlantischen Lachs, einem Roten Thun (Blauflossen-<br />
Thunfisch) und einem Weißen Hai dominiert. Über<br />
den Wellen tauchen und schwimmen Pinguine, große<br />
Wale durchbrechen die Oberfläche, Albatrosse schweben<br />
über dem offenen Meer und Möwen und Pelikane<br />
fliegen über den Küstengewässern. Klug platzierte<br />
Blasen weisen auf besondere Wesen am Meeresboden<br />
und an den Felsen der Küste hin, darunter Seesterne,<br />
Seeigel, Muscheln, ein Hummer und ein Oktopus.<br />
11
Andreas Gursky<br />
Ozean I, 2010<br />
Tintenstrahldruck, 2,50 × 3,50 m<br />
Privatsammlung<br />
Die ungeheure Weite des Indischen Ozeans ist hier<br />
als riesige blaue Fläche abgebildet, die – von links<br />
im Uhrzeigersinn – von Madagaskar, der somalischen<br />
Küste, Sri Lanka, Sumatra und der Westküste<br />
Australiens eingerahmt wird. Ozean I stellt den<br />
Ozean auf eine Weise dar, die zugleich neu und banal,<br />
wundersam und dennoch flach ist – ästhetische<br />
Widersprüche, die eine deutliche Abkehr von den<br />
üblichen romantischen Darstellungen des Ozeans in<br />
Malerei und Literatur sind. Die majestätische Kraft<br />
der sich brechenden Wellen ist hier ersetzt durch<br />
eine jenseitige Stille. Der deutsche Künstler Andreas<br />
Gursky (geb. 1955) ist berühmt für seine großformatigen<br />
Fotografien, mit denen er zeitgenössische<br />
Vorstellungen des ästhetisch Erhabenen des 19. Jahrhunderts<br />
erkundet. Seine riesigen Bilder sind digital<br />
bearbeitet und bieten eine hyperrealistische und<br />
trotzdem unmögliche Sicht auf die Welt. Die Idee<br />
hinter der Ozean-Serie hatte Gursky 2010, als er auf<br />
einer Reise von Dubai nach Melbourne dem Flugweg<br />
auf der Karte folgte. Er nutzte Satellitenbilder, die<br />
er in seinem typischen fotografischen Stil umarbeitete,<br />
der das Verständnis des Betrachters von seinem<br />
Platz auf diesem Planeten herausfordert und unsere<br />
subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum hinterfragt.<br />
Darstellungen des stürmischen Meeres dienen<br />
oft als Symbol für den inneren Aufruhr des Menschen.<br />
Gurskys Visualisierung hingegen lässt uns<br />
angesichts der enormen Größe der Natur klein und<br />
unbedeutend wirken.<br />
12
Eugène Delacroix<br />
Das Meer, von den Höhen bei Dieppe aus gesehen, 1852<br />
Öl auf Karton, auf Holztafel montiert, 35 × 51 cm<br />
Museé du Louvre, Paris<br />
Am 14. September 1852 schrieb Eugène Delacroix<br />
(1798–1863) in Dieppe nach einem letzten Besuch<br />
am Strand in sein Tagebuch, dass »die Seele sich<br />
leidenschaftlich an Dinge hängt, die wir verlassen<br />
werden. In Erinnerung an dieses Meer schuf ich<br />
aus dem Gedächtnis eine Studie: goldener Himmel,<br />
Boote, die auf die Flut warten.« Vielleicht meinte<br />
er dieses kleine Seestück mit seinen gebrochenen<br />
Wolkenfarben, die sich im Wasser spiegeln, und den<br />
knapp angedeuteten, im Wind schaukelnden Booten.<br />
Delacroix malte dies mit 54 Jahren in dem kleineren<br />
Format, das er in späteren Jahren bevorzugte. Die<br />
ausdrucksstarken Pinselstriche zeugen nicht nur<br />
von seiner Liebe zum Meer, sondern auch von seiner<br />
Rolle als Vorreiter des Impressionismus. Tatsächlich<br />
gilt dieses Bild manchmal als erstes impressionistisches<br />
Gemälde, 20 Jahre vor Monets Werk, das der<br />
Bewegung ihren Namen gab. Delacroix war wie die<br />
Impressionisten hingerissen von den wechselnden<br />
Wirkungen des Lichts und malte Sonnenuntergänge,<br />
Himmels- und Nachtszenen mit schnellen<br />
Strichen, die auf die Freilichtmalerei hindeuten. Er<br />
war Frankreichs führender romantischer Maler und<br />
lebte ein privilegiertes und einflussreiches Leben.<br />
Er begann seine Ausbildung unter dem klassizistischen<br />
Maler Pierre-Narcisse Guérin, war aber schon<br />
bald von den reichen Farben Rubens‘ und dem Werk<br />
seines Freundes Théodore Géricault beeinflusst und<br />
bewunderte die Landschaften der englischen Maler<br />
John Constable und J. M. W. Turner (siehe S. 29). Seine<br />
technischen Fortschritte und sein Einsatz der Farbe<br />
hatten beträchtlichen Einfluss auf die impressionistische<br />
und post-impressionistische Malerei.<br />
13
Der spanische surrealistische Künstler Salvador<br />
Dalí (1904–1989) arbeitete mehrfach erfolgreich mit<br />
Juwelieren zusammen und schuf tragbare, skulpturale<br />
Stücke, die ebenso theatralisch, skurril und<br />
abstrus sind wie seine gemalten und grafischen<br />
Arbeiten. Seine Inspiration zog er meist aus der Natur.<br />
Gemeinsam mit dem renommierten Hersteller Piaget<br />
schuf er goldene Schmuckmünzen, die von nackten,<br />
verdrehten Zweigen umrahmt sind. Für dieses üppige<br />
Collier, das Dalí und der argentinische Juwelier<br />
Carlos Alemany für den wohlhabenden Kunstmäzen<br />
Salvador Dalí<br />
Swirling Sea Necklace – Halskette Wirbelnde See, 1954<br />
18k Gold mit Saphir- und Smaragd-Perlen,<br />
Perlen und Diamanten, Länge 39 cm<br />
Privatsammlung<br />
São Schlumberger herstellten, formten sie eine Vision<br />
des Ozeans aus wertvollen Metallen und Edelsteinen.<br />
Gold strömt in einem verschlungenen Rinnsal von<br />
einem kannelierten Verschluss und sammelt sich<br />
in einer verdrehten, wogenden Masse aus Metall,<br />
auf deren herausspritzenden Tropfen eingebettete<br />
Diamanten strahlen. Gekrönt ist diese goldene Flut<br />
in der Mitte des Colliers von einer riesigen Südseeperle.<br />
Wenn Gold und Diamanten die Oberfläche des<br />
Wassers repräsentieren, dann stellen die Kettchen aus<br />
Smaragd- und Saphir-Perlen die blaugrüne Unterwasserwelt<br />
dar. Das Leuchten der Perle oben setzt<br />
sich in winzigen Perlen nach unten fort. Dalí, der auf<br />
der International Surrealist Exhibition in London<br />
1936 in einem Tauchanzug aufgetreten war, hielt den<br />
Ozean für ein genuin surrealistisches Reich. Und die<br />
große Barockperle, die Dalís Originalentwurfsskizzen<br />
als Reichsapfel zeigen, der von einem Kruzifix<br />
gekrönt war, muss dem Künstler als perfekter, schimmernder<br />
Ausdruck der eher traumhaften Aspekte der<br />
Natur vorgekommen sein.<br />
14
Scott Harrison<br />
The Reward, 2018<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Eine spektakuläre, in der Morgendämmerung von<br />
hinten beleuchtete neun Meter große Welle entfaltet<br />
sich wie ein riesiger Seidenfächer. In der Surffotografie<br />
ist dies als »Backwash-Welle« bekannt,<br />
ein Phänomen, das auftritt, wenn zwei Wellen aus<br />
entgegengesetzten Richtungen aufeinanderprallen<br />
und eine gewaltige Explosion des Wassers erzeugen.<br />
Der in New South Wales lebende Surffotograf Scott<br />
Harrison (geb. 1979) hielt diesen Augenblick an einem<br />
Morgen im Juli 2018 fest. Das erste Foto der Surfkultur<br />
stammt von 1890; es zeigt einen hawaiianischen<br />
Surfer, der mit seinem Brett im Meer steht. 1929<br />
entwarf der legendäre Surfer, Board-Designer und<br />
Fotograf Tom Blake als Erster ein wasserfestes Kameragehäuse<br />
und 1935 brachte National Geographic eine<br />
Serie seiner Fotografien heraus, die sowohl den Sport<br />
als auch die Surffotografie beflügelten. Harrisons<br />
Fokus auf die Fotografie war ein Glücksfall: 2014<br />
erwachte er eines Morgens zu einem erstaunlichen<br />
Sonnenaufgang, griff seine Kamera und ging an den<br />
Strand. Hunderte von Morgen und Zehntausende von<br />
Fotos später schuf er dieses epische Bild. Er fotografiert<br />
bevorzugt am frühen Morgen vom Land aus und<br />
gegen das Licht, wobei er auf das 20-Minuten-Fenster<br />
wartet, in dem alles stimmt. Harrison stellt ein,<br />
was möglich ist – Winkel, Bildausschnitt, Belichtung,<br />
Brennpunkt – und wartet. Wenn die Sonne nicht zu<br />
hoch steht und die Natur mitspielt, erhascht er den<br />
flüchtigen Augenblick. »Wären diese beiden Wellen<br />
einen Sekundenbruchteil später aufeinandergeprallt,<br />
hätte das Ergebnis völlig anders ausgesehen«, sagt er.<br />
»Je öfter du da bist, umso mehr Glück hast du.«<br />
15
Audun Rikardsen<br />
Ressourcen teilen, 2015<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
In den norwegischen Fjorden nördlich von Tromsø,<br />
etwa 350 Kilo meter jenseits des Polarkreises, gibt es<br />
die weltweit höchste Konzentration an Orcas oder<br />
Schwertwalen. Diese in den Fjorden beheimateten<br />
Orcas verbringen einen Großteil ihrer Zeit (bis zu<br />
40 Prozent) mit der Suche nach Heringen, ihrer Lieblingsnahrung.<br />
Sie benutzen dazu ein System namens<br />
»Karussell«, bei dem die Wale gemeinsam einen<br />
Heringsschwarm einkreisen und die Fische immer<br />
enger zusammentreiben, bis diese in einer Art Ball<br />
nahe der Wasseroberfläche versammelt sind. Die<br />
Wale schlagen dann mit ihren riesigen Fluken auf<br />
den Ball ein und töten oder betäuben die Heringe auf<br />
diese Weise, sodass sie nun in Ruhe fressen können.<br />
Eine andere, vermutlich einfachere Methode für Wale,<br />
an ihre Heringe zu kommen, besteht darin, einem<br />
Heringstrawler zu folgen, seine Netze einzukreisen<br />
und manchmal sogar in seine Netze zu gelangen. Der<br />
norwegische Fotograf und Professor für Meeresbiologie<br />
Audun Rikardsen (geb. 1968) hält hier genau solch<br />
einen Vorfall im Bild fest. »Die Leute glauben, ich sei<br />
Unterwasserfotograf«, sagt Rikardsen, »dabei würde<br />
ich mich eher als Oberflächenfotograf bezeichnen.<br />
Ich finde es faszinierend, die wenigen Millimeter zu<br />
sehen, die diese beiden völlig verschiedenen Welten<br />
trennen.« Zu diesem Zweck hat Rikardsen ein<br />
eigenes kugelförmiges Gehäuse für seine Kameras<br />
gebaut, das es ihm erlaubt, Bilder aufzunehmen, die<br />
teils über, teils unter Wasser sind. Diese einzigartige<br />
Perspektive zeigt, wie die Wale sich an die Gegenwart<br />
der Trawler gewöhnt haben und beide die riesigen<br />
Heringsschwärme ausnutzen.<br />
16
David Doubilet<br />
Vater und Sohn, Kimbe Bay, Papua-Neuguinea, 2013<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Dieses außergewöhnliche Bild, das auf einer Insel in<br />
Papua-Neuguinea entstand, war das Ergebnis von<br />
Planung und Erfahrung – und einer guten Portion<br />
Glück. Der amerikanische Fotograf David Doubilet<br />
(geb. 1946) ist bekannt für Bilder, die durch die Wasserlinie<br />
geteilt sind. Seine lange und beeindruckende<br />
Karriere begann, als er mit 12 Jahren seine ersten<br />
Unterwasseraufnahmen machte. Doubilet war im<br />
Auftrag der Jubiläumsausgabe des National Geographic<br />
zum 125. Jahrestag unterwegs, als er an der<br />
Kimbe Bay nach dem perfekten Bild suchte, das deren<br />
einzigartige korallenbedeckte Riffhänge zusammenfasst.<br />
Das war geplant, doch als Doubilet es nicht<br />
schaffte, das gewünschte Bild zu machen, schlug<br />
ein Bekannter ihm eine entfernte Insel nahe der<br />
Willaumez-Halbinsel vor. Die dicht unter der Oberfläche<br />
liegenden Korallen boten ihm die gewünschte<br />
Szenerie – dass Vater und Sohn auf ihrem Ausleger<br />
vorbei paddelten, war schieres Glück. Für so ein Bild<br />
sind viele Elemente erforderlich. Das spezielle Frontteil<br />
der Unterwasserkamera ist eine große Halbkugel<br />
aus Glas, die optisch korrigiert ist, damit Motive über<br />
und unter Wasser gleichermaßen im Fokus liegen. Es<br />
ist ein Superweitwinkel-Objektiv nötig, um die Szene<br />
vollständig zu erfassen. Für eine klare Trennung<br />
zwischen Himmel und Wasser ist das Meer idealerweise<br />
ruhig. Hier ist die Wasserlinie etwas gewölbt,<br />
sodass der Eindruck entsteht, das Korallenriff wäre<br />
ein anderer Planet. Das Licht über Wasser passt zum<br />
Licht unter Wasser, aber dennoch besteht kein Zweifel,<br />
dass wir zwei Welten sehen. Es ist ein Paradies<br />
unserer Fantasie.<br />
17
Solvin Zankl<br />
Portugiesische Galeere, Sargassosee, 2014<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Die Portugiesische Galeere (Physalia physalis) gehört<br />
zu den am meisten gefürchteten Hohltieren (Stamm<br />
der Nesseltiere oder Cnidaria), zu denen auch Quallen<br />
und ihre Verwandten gehören. Sie sieht ein bisschen<br />
aus wie eine Qualle, ist aber eigentlich eine Kolonie<br />
aus vielen kleineren Einheiten, den Zooiden. Spezialisierte<br />
Strukturen, die Nesselzellen an einigen der<br />
Tentakel, injizieren bei Kontakt mit Beute, wie Larven<br />
oder Fischen, ein Gift, das Lähmung oder Tod verursacht.<br />
Dieses Foto des deutschen Wildtierfotografen<br />
Solvin Zankl (geb. 1971) aus der Sargassosee, Bermuda,<br />
enthüllt die komplexe Schönheit des Vorhangs<br />
aus zarten rosa und lila Tentakeln, die vom Körper<br />
des Tieres herabhängen, während es auf der Meeresoberfläche<br />
treibt, über Wasser gehalten von einer<br />
Gasblase (Pneumatophore). Die Tiere besitzen keinen<br />
Antrieb und werden daher vom Wind, der in das<br />
»Segel« auf ihrem Rücken fährt, oder von Strömung<br />
und Gezeiten bewegt. Die Tentakel dieses ungewöhnlichen<br />
Organismus sind etwa 10 Meter lang, können<br />
aber auch 30 Meter erreichen. Portugiesische Galeeren<br />
leben oberflächennah und sind in den tropischen<br />
und subtropischen Ozeanen weit verbreitet, auch<br />
der Sargassosee. Die Sargassosee ist ein Gebiet im<br />
Atlantik östlich von Bermuda, das sich durch relativ<br />
ruhiges, blaues Wasser sowie das Sargassum, eine<br />
Braunalgenart, auszeichnet. Sie liegt in einem Wirbel<br />
aus vier Meeresströmungen, die eine Fläche von etwa<br />
1.100 mal 3.200 Kilometern umkreisen, dabei Meerespflanzen<br />
absetzen und eine wichtige Kinderstube für<br />
Arten wie Aale und Meeresschildkröten erschaffen.<br />
18
Leopold und Rudolf Blaschka<br />
Portugiesische Galeere (Physalia arethusa), Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts<br />
Farbiges Glas mit Kupferdraht, 24 × 5,5 × 9 cm<br />
National Museum Wales, Cardiff<br />
Die im Atlantischen und Indischen Ozean beheimatete<br />
Portugiesische Galeere ist keine Qualle, sondern<br />
gehört zu den Staatsquallen (Siphonophorae): ein<br />
zusammengesetzter Organismus aus kolonienbildenden<br />
Zooiden. Der Name ist eine Hommage an die<br />
Karavelle, ein Segelschiff aus dem 14. bis 16. Jahrhundert,<br />
dem der gasgefüllte obere Teil des Tierkörpers<br />
ähnelt. Die hochgiftige Portugiesische Galeere treibt<br />
mit 10 bis 30 Meter langen Tentakeln, die ihre Opfer<br />
mit Nesselgift betäuben, durchs Wasser. Dieses akribisch<br />
genaue Modell einer Portugiesischen Galeere<br />
ist das Werk von Leopold Blaschka (1822–1895) und<br />
seinem Sohn Rudolf (1857–1939). Die Nachfahren<br />
einer langen Linie böhmischer Glasbläser schufen<br />
in ihrer Dresdner Werkstatt Tausende von Glasmodellen<br />
für Museen und Universitäten auf der ganzen<br />
Welt. Solche Modelle waren im 19. Jahrhundert als<br />
Unterrichtshilfe weit verbreitet. Dieses komplexe<br />
Modell befindet sich mit etwa 200 weiteren, darunter<br />
Wirbellosen aus dem Meer und vom Land, wie Seeanemonen,<br />
Quallen, Oktopoden, Seegurken, Meereswürmern<br />
und Schnecken, in der Sammlung des<br />
National Museum Wales. Die Blaschkas, die weltweit<br />
berühmt waren für den tadellosen Realismus ihrer<br />
Arbeiten, halfen Wissenschaftlern und Forschern,<br />
eines der dringendsten Probleme der Naturkunde zu<br />
überwinden: die Konservierung von weichfleischigen<br />
wirbellosen Tieren. Quallen und Staatsquallen<br />
bestehen fast ausschließlich aus weichem Collagen –<br />
einem zarten Protein, das leicht reißt und nur schwer<br />
zu konservieren ist.<br />
19
Mitchell Gilmore<br />
Unter den Wellen, Burleigh Heads, Queensland, 2019<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Unter der Oberfläche präsentiert die Welle, die den<br />
Strand hinaufkommt, einen Kontrast zwischen der<br />
Energie der eintreffenden Wasserwalze und der<br />
schäumenden Brandung der letzten Welle auf der<br />
einen und der Ruhe des sandigen Meeresbodens auf<br />
der anderen Seite. Um die Walze herum gewickelt<br />
sind rippenförmige Strudel, Bänder aus schmalem,<br />
sich drehendem Wasser, die sich an den Rändern der<br />
sich brechenden Wellen bilden. Es scheint, als wäre<br />
das Wasser der Wellen über den Ozean gereist, dabei<br />
bewegen die Wellen gar kein Wasser, sondern Energie,<br />
die in einer Kreisbewegung durch das Wasser läuft<br />
und für sein Steigen und Fallen sorgt. An der Küste<br />
ändert sich das, weil das Wasser nicht tief genug ist,<br />
um den Kreis zu vollenden. Der untere Teil der Welle<br />
wird langsamer und die Energie sammelt sich oben,<br />
so der Wellenkamm höher in die Luft geschoben wird,<br />
bis er überkippt und herunterkracht. Die Energie<br />
verliert sich in der Brandung. Meist werden Wellen<br />
weit draußen im Meer durch den Wind verursacht. Er<br />
erschafft eine Unruhe, die Energie sammelt, wenn<br />
sie sich fortsetzt. Andere Formen von Wellen sind die<br />
Folge von heftigen Stürme oder Seebeben. Diese Phänomene<br />
– Sturmflut bzw. Tsunami genannt – erreichen<br />
die Küste als plötzlicher dramatischer Anstieg<br />
des Meeresspiegels statt als sich brechende Welle. Der<br />
australische Fotograf Mitchell Gilmore (geb. 1986)<br />
begann eher zufällig, mit einer GoPro-Kamera unter<br />
Wasser zu fotografieren, als er nicht surfen konnte. Er<br />
hat sich den Ruf erarbeitet, bemerkenswerte Ansichten<br />
von Wellen unter Wasser festzuhalten.<br />
20
Leonardo da Vinci<br />
Seite aus dem Codex Leicester (Detail), 1510<br />
Manuskript, 30 × 22 cm<br />
Privatsammlung<br />
Zwei schlangenartige Skizzen von Wellen, bewegt<br />
und stürmisch, sind im Querschnitt auf einer Seite<br />
des Codex Leicester abgebildet, einer aus dem<br />
16. Jahrhundert stammenden Sammlung von Schriften,<br />
Annahmen und Zeichnungen des italienischen<br />
Universalgelehrten Leonardo da Vinci (1452–1519).<br />
Der Kodex befasst sich vor allem mit den Themen<br />
Naturwissenschaft und Geografie, darunter der<br />
Frage nach den Eigenschaften von Wasser, Luft und<br />
himmlischem Licht. Die Wellen werden hier begleitet<br />
von einer Zeichnung eines Topfes, der als Behälter<br />
zum Durchlaufen von Wasser fungiert, das oben eingegossen<br />
wird und aus einer Tülle am unteren Ende<br />
heraustropft: dasselbe Element, aber dieses Mal ruhig<br />
und kontrolliert. Umgeben werden die Illustrationen<br />
von Leonardos Anmerkungen in Spiegelschrift, in<br />
denen er sorgfältig die Bewegung und Struktur von<br />
Ozeanwellen beschreibt, einschließlich einer außergewöhnlich<br />
detaillierten Untersuchung, wie eine Welle<br />
an das Ufer krachen könnte: Sie bewegt sich in zwei<br />
Teilen, wobei der obere Teil vorwärts jagt, während<br />
der untere aufgrund der Reibung mit dem Meeresboden<br />
nachschleppt. Hier überlegt Leonardo, wie das<br />
Wasser sich in verschiedene energetische Zustände<br />
übertragen lassen könnte, einerseits wild und getrieben<br />
von unkontrollierbaren elementaren Kräften,<br />
andererseits gelassen, wenn es von der menschlichen<br />
Hand gezähmt wird. Die stilisierten Wellen verdeutlichen<br />
seine Theorien und Beobachtungen von<br />
Gewässern, die mit unerbittlicher Energie auf die<br />
Küsten einstürmen.<br />
21
22
Walter Crane<br />
Die Rosse des Neptun, 1892<br />
Öl auf Leinwand, 8,60 × 2,10 m<br />
Neue Pinakothek, München<br />
Eine Reihe galoppierender Schimmel stürmt über<br />
eine blaugrüne Wasserfläche in Form einer riesigen<br />
röhrenförmigen Welle. Die Köpfe von wenigstens<br />
zehn Pferden sind sichtbar, die hintere Reihe suggeriert<br />
jedoch, dass es noch viel mehr von ihnen gibt.<br />
Die hoch erhobenen Vorderbeine der Tiere und ihre<br />
mit Schwimmhäuten versehenen Hufe beschreiben<br />
den Bogen der Welle, ihre wehenden weißen Mähnen<br />
gleichen schäumenden Wellenkämmen, die von<br />
einem heftigen Sturm verursacht werden. Unter<br />
dem mythologischen Meeresgott Neptun, der die<br />
Zügel eines Streitwagens hält und seinen Dreizack<br />
schwingt, um seine Schützlinge anzutreiben, beginnen<br />
einige der Pferde, nach vorn zu fallen, als der<br />
hoch aufragende Wasserschwall unter seiner eigenen<br />
Unermesslichkeit zusammenbricht. Walter Crane<br />
(1845–1915) war ein englischer Maler und Illustrator,<br />
der wegen seiner Buchillustrationen im Stil der<br />
Arts-and-Crafts-Bewegung sehr gefragt war und<br />
das Genre der Kinderbücher mit seinem Schaffen in<br />
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltig<br />
beeinflusste. Als Anhänger der Lehren des Kritikers<br />
John Ruskin und der Präraffaeliten waren mythologische<br />
Szenen und Motive ein zentraler Teil seines<br />
Werks, genau wie die Faszination Natur. Crane sagte<br />
über das Werk, dass er »zweifellos von der engen<br />
Verbindung zum Ozean inspiriert« war, die er auf<br />
einer Reise an die Küste von Nantucket, Massachusetts,<br />
verspürte. Cisco Beach an der Südküste der<br />
Insel ist heute ein beliebtes Ziel für Surfer: Die Wellen<br />
des Atlantiks können an einem guten Tag bis zu<br />
300 Meter lang werden.<br />
23
Joan Jonas<br />
Moving Off the Land II Mermaid, basierend auf<br />
der Serie My New Theater, 1997–laufend<br />
Video-Standbild, verschiedene Größen<br />
Eine schlafende Frau, die einer Meerjungfrau ähnelt,<br />
liegt auf einer Chaiselongue, umschlungen von<br />
weißem Seetang. Ihr Kopf ruht auf der rechten Hand,<br />
die Augen sind geschlossen und auf ihrem Gesicht<br />
liegt ein wunderschönes, zärtliches Lächeln. Das<br />
zarte Gemälde läuft nach rechts in einen Hintergrund<br />
aus einem Korallenriff mit blauem Wasser und<br />
weißen Korallen aus. Das scheinbar widersprüchliche<br />
Nebeneinander stammt aus Moving Off the Land II<br />
der bahnbrechenden amerikanischen Künstlerin Joan<br />
Jonas (geb. 1936). Die fünf Videos der Installation<br />
mit insgesamt etwa 50 Minuten Dauer wurden erstmals<br />
2019 in Venedig bei der Eröffnung der Ausstellung<br />
im Ocean Space (das der Kultur-Organisation<br />
TBA21-Academy gehört) gezeigt: jedes Video in einem<br />
eigenen offenen Holzhaus, einer Art Mini-Theater in<br />
der alten Kirche San Lorenzo, der Heimat von Ocean<br />
Space. Das Werk entstand in Zusammenarbeit mit<br />
dem Meeresbiologen David Gruber (siehe S. 164) und<br />
enthält einige seiner Unterwasservideos sowie Videosequenzen<br />
aus Jonas’ eigenen Aufnahmen aus Aquarien<br />
und von Orten wie Jamaika oder Cape Breton<br />
Island in Nova Scotia, Kanada. Die Szenen wechseln<br />
sich ab mit Schauspielszenen und Zeichnungen der<br />
Künstlerin, die auch als Sprecherin fungierte. Unterlegt<br />
ist das Ganze mit Musik von Ikue Mori, María<br />
Huld Markan Sigfúsdóttir und Ánde Somby. Moving<br />
Off the Land II ist eine filmische Collage, die den<br />
Betrachter in die Wunder des Ozeans hineinzieht.<br />
Jonas‘ weltweit ausgestelltes Werk ist ein Aufruf zum<br />
Schutz der Meere und will das Bewusstsein für die<br />
Gefahren und Herausforderungen stärken, denen sich<br />
der Ozean gegenübersieht.<br />
24
Sandro Botticelli<br />
Die Geburt der Venus, 1483–84<br />
Tempera auf Leinwand, 1,70 × 2,80 m<br />
Galleria degli Uffizi, Florenz<br />
Die Geburt der Venus von Sandro Botticelli (1445–<br />
1510), eines der berühmtesten Gemälde der Welt, ist<br />
ein Renaissance-Meisterwerk, das eine fantastische<br />
Geschichte aus der römischen Mythologie verewigt,<br />
die aus einem früheren griechischen Original abgeleitet<br />
ist. Das vermutlich Mitte der 1480er-Jahre von<br />
der mächtigen Florentiner Medici-Familie in Auftrag<br />
gegebene Bild zeigt Venus, die Göttin der Liebe<br />
und der Schönheit, auf einer riesigen Muschelschale<br />
als wunderschöne und perfekte Perle. Die Tochter<br />
von Jupiter und Dione wurde aus den Wellen geboren<br />
– ein ätherisches Geschöpf des Meeres. Links im<br />
Gemälde trägt Zephyr, die Inkarnation des Westwindes,<br />
Aura, die Göttin der Morgenbrise, deren Macht<br />
Venus an das Ufer schiebt. Rechts steht die Hore<br />
des Frühlings, eine der drei griechischen Göttinnen<br />
der Jahreszeiten, mit einem Mantel und erwartet die<br />
Ankunft der Venus. Kunsthistoriker sind sich zwar<br />
uneins über seine Bedeutung, doch das Bild gilt als<br />
eine Feier der gütigen Schirmherrschaft der Liebe.<br />
Muschelschalen wurden in der christlichen Kunst<br />
schon lange als Symbole christlicher Werte gemalt. In<br />
Botticellis Fall wurde die Muschel als eine Art Taufbecken<br />
interpretiert, die in Italien oft muschelförmig<br />
waren. Oft wurde mit einer Muschelschale auch das<br />
Wasser über den Kopf des Täuflings geschöpft. Und<br />
noch bedeutungsvoller für das Motiv dieses Gemäldes:<br />
Muscheln wurden häufig mit Fruchtbarkeit<br />
assoziiert. Diese Eigenschaft wird auch heute noch<br />
aphrodisisch genannt – nach Aphrodite, dem Namen<br />
der Venus in der griechischen Mythologie.<br />
25
Yayoi Kusama<br />
Pazifischer Ozean, 1959<br />
Aquarell auf Papier, 57 × 69,5 cm<br />
Takahashi Collection, Tokio<br />
Abertausende winziger Segmente wirbeln in unklaren<br />
Formen zusammen, die hervortreten, um Stellen<br />
zu kennzeichnen, an denen das dunkle Wasser des<br />
Pazifischen Ozeans auf verstreute Inseln trifft. Das<br />
Gemälde der bekannten japanischen Künstlerin Yayoi<br />
Kusama (geb. 1929) ist durch die Aussicht auf den<br />
Ozean während eines Fluges von Japan in die USA<br />
inspiriert und wirkt hypnotisierend. Der Blick wird in<br />
das Gemälde gezogen und von der unendlichen Größe<br />
des Meeres gefangen genommen. Kusama ist bekannt<br />
für Gemälde und Installationen, die Wiederholungen<br />
und das Konzept der Unendlichkeit nutzen, um<br />
die Betrachter psychologisch zu verschlingen, sei es<br />
durch Tausende von kleinen Punkten auf den Bildern<br />
oder lichtgefüllte, verspiegelte Räume, die kaum<br />
Orientierungspunkte bieten. Hier findet eine ähnliche<br />
Desorientierung statt – Wasser und Land vermischen<br />
sich, die dunklen Farbtöne deuten die Tiefe des<br />
Ozeans an, während die dynamischen Formen seine<br />
ewig bewegte Oberfläche widerspiegeln. Als Kind<br />
war Kusama anfällig für Halluzinationen u. a. in<br />
Form kaleidoskopischer Muster und unendlicher, sich<br />
vervielfältigender Felder aus Punkten, die später ihr<br />
künstlerisches Schaffen beeinflussten. Mit 19 Jahren<br />
begann sie ein Studium an der Kyoto City University<br />
of Arts, wo sie den traditionell japanischen Stil der<br />
Nihonga-Malerei erlernte. Sie fühlte sich jedoch schon<br />
bald von den Avantgarde-Werken angezogen, die zu<br />
dieser Zeit in Europa und den USA auftauchten, und<br />
zog schließlich 1958 nach New York, wo sie an der<br />
Pop-Art-Bewegung der 1960er-Jahre beteiligt war.<br />
26
Claude Monet<br />
Die Steilküste, Étretat, Sonnenuntergang, 1882–83<br />
Öl auf Leinwand, 60,5 × 81,8 cm<br />
North Carolina Museum of Art, Raleigh<br />
Die Sonne geht zwischen zwei markanten, wegen<br />
ihrer Formen Elefant und Nadel genannten Felsformationen<br />
an der Küste der Normandie unter. Die<br />
Besessenheit des französischen Malers Claude Monet<br />
(1840–1926) von den Kreidefelsen von Étretat in seiner<br />
heimatlichen Normandie brachte mindestens 18<br />
Bilder hervor, die im Laufe von drei Wochen entstanden.<br />
Abgesehen von der Schönheit der Landschaft<br />
und der Eigentümlichkeit der Felsen faszinierten<br />
Monet die atmosphärischen Bedingungen und die<br />
Gezeiten – ein Phänomen, das durch das Aufeinandertreffen<br />
von Nordsee und Atlantik direkt vor der<br />
Küste der Normandie erklärt wird. In starkem Gegensatz<br />
zu den Arbeiten einiger seiner Kollegen wie<br />
Eugène Boudin und Gustave Courbet (siehe S. 122)<br />
schuf Monet mit vielen separaten Pinselstrichen<br />
ein weniger friedvolles und dafür dynamischeres<br />
Bild von der Gegend, in der sich das Licht ständig<br />
ändert und auch die See stetig in Bewegung ist. Der<br />
als Begründer des Impressionismus – benannt nach<br />
dem Gemälde Impression, Sonnenaufgang, das den<br />
Hafen von Le Havre zeigt – berühmte Monet stellte<br />
am Strand eine Staffelei auf, an der er seine Skizzen<br />
herstellte. Er legte neue Farben über die noch<br />
nassen Farbschichten, sodass sie sich nur teilweise<br />
mischten. Parallel zu den Gemälden und Skizzen, die<br />
in Étretat entstanden, schrieb Monet ausführlich<br />
über das Thema, meist in Form von Briefen an seine<br />
damalige Frau Alice. In ihnen berichtete er über das<br />
lange Warten auf günstige Wetterbedingungen sowie<br />
seinen Enthusiasmus und seinen Frust angesichts der<br />
Herausforderung, die Nuancen des Wassers festzuhalten.<br />
27
J. F. Schreiber<br />
Papiertheater, 1886<br />
Lithografie, 36,8 × 41,3 cm<br />
Poppenspe(e)lmuseum, Vorchten, Niederlande<br />
Eine unerwartete Folge der Expansion des deutschen<br />
Kinderbuchmarktes im 19. Jahrhundert war das<br />
Aufkommen des Papiertheaters. Im Zentrum dieses<br />
Booms stand der Verlag J. F. Schreiber, 1831 von<br />
Johann Ferdinand Schreiber in Esslingen gegründet,<br />
um Kunstblätter und Theaterstücke zu drucken.<br />
Als Johanns Sohn Ferdinand (1835–1914) die Firma<br />
übernahm, wandte er sich Kinderbüchern zu, was<br />
sich als Glücksfall erwies. Verbesserte Drucktechniken<br />
und hochwertige Produkte machten Schreiber<br />
zum Marktführer. Um das Programm auszuweiten,<br />
brachten Ferdinand und sein Bruder Max eine<br />
Anleitung zum Herstellen von Papiertheatern heraus,<br />
Das Kindertheater von Hugo Elm, das den Standard<br />
für Papiertheater in Deutschland setzte. Die Theater,<br />
die die Grandeur der großen europäischen Bühnen<br />
imitieren sollten, wurden aus bedrucktem Papier<br />
gefertigt, das man aus dem Buch ausschnitt, auf<br />
Karton klebte und dann auf einem hölzernen Rahmen<br />
befestigte, der Hintergrund, Flächen, Kulissen und<br />
Schauspieler festhielt. Die wunderschönen Entwürfe<br />
boten Kindern und Eltern einzigartige Unterhaltung.<br />
Die Bastelbögen waren so beliebt, dass Schreiber<br />
neben Theatern bald auch Puppen, Krippenspielszenen<br />
und Modelle von Flugzeugen und Schiffen herstellte.<br />
Das hier gezeigte Theater – Nummer 468 in<br />
der Serie – zeigt das Drama eines sinkenden Schiffes.<br />
Neben den schroffen Felsen, dem sinkenden Schiff<br />
und zwei Friesen mit Felsen gibt es auch den gebrochenen<br />
Pfosten, an dem das Schiff vertäut war. Nach<br />
dem Zusammenbau bot das Theater die perfekte<br />
Kulisse für stundenlanges Geschichtenerzählen.<br />
28
Joseph Mallord William Turner<br />
Das Sklavenschiff, 1840<br />
Öl auf Leinwand, 90,8 × 122,6 cm<br />
Museum of Fine Arts, Boston<br />
Joseph Mallord William Turner (1775–1851) ist nicht<br />
nur ein führender Künstler der Romantik, sondern<br />
auch Großbritanniens bekanntester Maler von Seestücken.<br />
Sein erstes ausgestelltes Ölgemälde war<br />
1796 Fischer auf See, eine dramatisch mondbeschienene<br />
Szene. Während viele seiner maritimen Werke<br />
das natürliche Phänomen der Atmosphäre darstellen<br />
– die wirbelnde Energie von Stürmen oder die<br />
lebhaften Farben einer am Horizont versinkenden<br />
Sonne –, greift dieses Gemälde jenseits der Natur ein<br />
politisches Motiv auf. Das ursprünglich Sklavenhalter<br />
werfen die Toten und Sterbenden über Bord – ein<br />
Taifun droht betitelte Werk, das zu Turners berühmtesten<br />
Arbeiten zählt, war von den Ereignissen<br />
des Massakers auf der Zong von 1781 inspiriert, als<br />
132 gefangene Afrikaner in den Atlantik geworfen<br />
wurden, nachdem Navigationsfehler das Trinkwasser<br />
und die Nahrungsvorräte hatten knapp werden<br />
lassen. Man versuchte, einen Versicherungsanspruch<br />
für die verloren gegangene menschliche »Fracht«<br />
geltend zu machen. Der Rechtsstreit sorgte für Aufmerksamkeit,<br />
und Vorkämpfer der Abschaffung der<br />
Sklaverei nutzten den schockierenden Bericht über<br />
diese Unmenschlichkeit für ihre Sache. Die Präsentation<br />
des Gemäldes in der Royal Academy of Arts in<br />
London 1840 fiel mit zwei internationalen Anti-Sklaverei-Konferenzen<br />
zusammen. Die Darstellung einer<br />
gefesselten Gliedmaße zwischen Fischen und Vögeln<br />
in den turbulenten Wellen im Vordergrund, während<br />
sich hinter dem fliehenden Schiff düstere Wolken<br />
sammeln, war eine machtvolle Visualisierung der<br />
brutalen Realitäten des transatlantischen Sklavenhandels.<br />
29
Ann Axtell Morris<br />
Bildtafel 159, Dorf an der Meeresküste, aus Der Kriegertempel in Chichen Itzá, Yucatan, 1931<br />
Lithografie, 32 × 45 cm<br />
University Library, University of Illinois Urbana-Champaign<br />
Diese restaurierte Bildtafel, die einst eine Wand des<br />
Kriegertempels der heiligen Maya-Stätte von Chichén<br />
Itzá auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan zierte,<br />
zeigt das Leben in einem Küstendorf. Das Bild war<br />
bei seiner Entdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
in 58 Teile zerfallen. Die Restaurierung von Chichén<br />
Itzá, das im 15. Jahrhundert verlassen worden<br />
war, begann im Februar 1925 unter dem amerikanischen<br />
Archäologen Earl H. Morris von der Carnegie<br />
Institution in Washington DC. Seine Kollegin (und<br />
Ehefrau) Ann Axtell Morris (1900–1945) führte die<br />
Restaurierung des Wandbildes durch. Die Steine<br />
wurden wieder zusammengesetzt und repariert,<br />
sodass Axtell Morris das Bild sorgfältig auf Transparentpapier<br />
nachzeichnen konnte, bevor sie es mit<br />
Kohlepapier auf Aquarellpapier übertrug. Mit den<br />
Steinen als Modell kopierte sie die gemalten Bilder in<br />
Farbe, bevor sie das Papier auf die Originalgröße der<br />
Steine zuschnitt. Ihre bahnbrechende Arbeit enthüllt<br />
eine Szene des Maya-Alltags, gemalt im charakteristisch<br />
flachen Stil: Himmel und Meer sind farblich<br />
voneinander getrennt, wobei die schwarzen Striche<br />
auf dem Wasser Wellen darstellen. Fische und das<br />
Meer dominieren das Bild: Es gibt unter anderem<br />
viele Fische und verschiedene Meerestiere im blauen<br />
Wasser, und die Häuser scheinen dazu zu dienen, den<br />
Fang des Tages aufzunehmen – Fische waren offenbar<br />
für das Leben der Menschen sehr wichtig. Drei<br />
Kanus schwimmen auf dem Meer, jeweils ausgestattet<br />
mit einem Ruderer und zwei bewaffneten Kriegern.<br />
In der oberen rechten Ecke wacht die allgegenwärtige<br />
Gefiederte Schlange über das geschäftige Dorf, die<br />
heiligste der Maya-Gottheiten.<br />
30
Der Sirenenmaler (zugeschr.)<br />
Sirenenvase, ca. 480–470 v. Chr.<br />
Glasiertes Terrakotta, 34 × 38 × 29 cm<br />
British Museum, London<br />
»Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese<br />
bezaubern alle sterblichen Menschen, wer ihre<br />
Wohnung berühret.« So warnt Kirke Odysseus im<br />
griechischen Mythos, als sie ihm hilft, das Schiff zu<br />
bauen, das ihn endlich heim nach Ithaka bringen<br />
würde. Sollte er darauf bestehen, ihnen zuzuhören,<br />
müsse seine Mannschaft ihn an den Mast binden<br />
und die eigenen Ohren mit Bienenwachs verstopfen.<br />
Bettelte er darum, seine Fesseln zu lösen, wenn er die<br />
bezaubernden Lieder der Sirenen hörte, sollten sie ihn<br />
noch fester binden. Odysseus lauschte also, und die<br />
Sirenen waren so erbost, dass ein Sterblicher ihrem<br />
Lied entkommen konnte, dass sie sich in die See<br />
warfen und ertranken. Dieses Vorratsgefäß für Flüssigkeiten,<br />
ein Stamnos, zeigt die Szene: Zwei Sirenen<br />
hocken auf Felsvorsprüngen, während sich eine mit<br />
geschlossenen Augen in das Meer stürzt. Ursprünglich<br />
waren die Sirenen Dienerinnen der Persephone,<br />
die von Hades entführt und zu seiner Frau und<br />
Königin gemacht wurde. Die Göttin Demeter gab<br />
den Frauen die Körper und Schwingen von Vögeln,<br />
damit sie ihr auf der Suche nach ihrer Tochter halfen.<br />
Als Iason sie bei seiner Fahrt zum Goldenen Vlies<br />
passierte, wurde er von Orpheus gerettet, der ihren<br />
Gesang mit seiner Musik übertönte. Die Vase zeigt<br />
interessante Details des Mast- und Tauwerks eines<br />
seetüchtigen Schiffes. Am Heck bedient der Steuermann<br />
zwei Steuerruder, die mit Tauen an den Seiten<br />
des Schiffes befestigt sind; der Bug trägt ein erhöhtes<br />
Vordeck. Durch Metallringe oben am Mast laufen die<br />
Hisstaue. Andere Seile sichern das aufgerollte Segel<br />
und sind in Reichweite des Steuermanns am Deck<br />
befestigt.<br />
31
Anonym<br />
Das Schwarze Meer, aus dem Walters Deniz Atlası, 16. Jahrhundert<br />
Deckende Pigmente auf Pergament, 30 × 45 cm<br />
Walters Art Museum, Baltimore<br />
Diese doppelseitige Seekarte ist die erste in einem<br />
einmaligen frühen osmanischen Atlas – und die einzige<br />
überlieferte Kopie. Sie zeigt rechts das Schwarze<br />
und das Marmarameer und links das Schwarze<br />
Meer und die Stadt Istanbul. Das Schwarze Meer ist<br />
größtenteils von Land umschlossen, hat aber durch<br />
den Bosporus eine Verbindung zum Marmarameer<br />
und von dort durch die Dardanellen in die Ägäis. Die<br />
Karte ist nach Süden ausgerichtet, die geografischen<br />
Namen sind in türkischer Sprache, aber in arabischer<br />
Nasta’līq-Schrift ausgeführt. Die anderen nautischen<br />
Seekarten in dem Atlas zeigen Ägäis und östliches<br />
Mittelmeer, mittleres Mittelmeer und Adria, westliches<br />
Mittelmeer und iberische Halbinsel, Nordwesteuropa,<br />
Europa, das gesamte Mittelmeer und<br />
Nordafrika sowie den Indischen Ozean, Ostafrika<br />
und Südasien. Es gibt außerdem eine ovale Weltkarte.<br />
Typisch für diesen Atlas sind die detailreichen Stadt-<br />
Vignetten. Ursprung der Seekarten sind die Portolane<br />
des 14. Jahrhunderts, die Kompasspunkte und vorherrschende<br />
Windrichtungen zeigten und Seeleuten<br />
bei der Navigation zwischen Häfen dienten. Ab Mitte<br />
des 16. Jahrhunderts wurde der osmanische Hof mit<br />
Landkarten überschwemmt, die der Sultan und seine<br />
Höflinge in Auftrag gaben. Vermutlich wurde dieser<br />
Atlas in Italien für einen türkischen Geldgeber, vielleicht<br />
ein Mitglied des Hofes, hergestellt. Inhalt und<br />
Stil ähneln damaligen europäischen Atlanten. Vermutlich<br />
war er nie als tatsächliche Seekarte gedacht,<br />
sondern ist ein wunderschönes Beispiel für kartografische<br />
Kunstfertigkeit, die eine wachsende Wertschätzung<br />
der osmanischen Elite für die plötzlich größer<br />
gewordene Welt ausdrücken soll.<br />
32
William De Morgan<br />
Kachelbild mit Galeonen, 1895<br />
Zinnglasierte Keramik, 60,9 × 152,4 cm<br />
De Morgan Foundation, London<br />
Monströse, übergroße Fische schwimmen durch<br />
stilisierte Wellen, über ihnen zwei gleichermaßen<br />
stilisierte Galeonen mit bunten Segeln und Wimpeln,<br />
markanten Krähennestern zur Beobachtung und<br />
riesigen Heckaufbauten mit den Quartieren des Kapitäns<br />
und anderer Offiziere. Auch wenn das Mast- und<br />
Tauwerk der beiden Schiffe einigermaßen realistisch<br />
wirkt, beweist die Tatsache, dass die Segel in unterschiedliche<br />
Richtungen gewölbt sind, dass Realität<br />
in dieser imaginären Szene nicht so wichtig ist wie<br />
Ästhetik. Betont wird dies durch die vielen kurvigen<br />
Linien, die fließende Bewegung andeuten. Elemente<br />
wie die Sonnenstrahlen, parallele Reihen gezackter<br />
Wellen und das Fehlen einer Linearperspektive lassen<br />
ein Werk aus dem Mittelalter vermuten, dabei sind<br />
diese Kacheln aus dem späten 19. Jahrhundert – eine<br />
wunderbar erhaltene frühe Arbeit von William De<br />
Morgan (1839–1917), einem der besten englischen<br />
Keramikkünstler seiner Generation. De Morgan, der<br />
der Arts-and-Crafts-Bewegung nahestand, schuf<br />
diese Kacheln in seiner Töpferei in Chelsea. Ihre Verzierungen<br />
ähneln denen, die William Morris zu dieser<br />
Zeit schuf. Das Meer war in der viktorianischen Zeit<br />
ein beliebtes Thema und wichtige Inspirationsquelle<br />
für De Morgan, der oft Fische, Delfine, Seelöwen und<br />
Seepferdchen gestaltete. Seine für ihre lebendigen<br />
Farben und faszinierenden Bilder berühmten Kacheln<br />
waren damals in vielen britischen Haushalten und<br />
öffentlichen Gebäuden zu finden. Sie fuhren sogar<br />
selbst zur See, nachdem der Architekt und Designer<br />
T. E. Collcutt sie für seine prächtigen Innenausstattungen<br />
der P&O-Ozeandampfer bestellte.<br />
33
Anonym<br />
Stabkarte, Marshallinseln, 1940er- bis 1950er-Jahre<br />
Geschnitzte Holzstöcke, Kaurimuscheln, Bindfäden, 128 × 100 × 4,5 cm<br />
National Museum of Natural History, Smithsonian Institution, Washington DC<br />
Die Gesellschaft der Marshallinseln ist hochgradig<br />
durch den sie umgebenden Ozean beeinflusst – von<br />
Transport und Handel, als Nahrungsquelle, aber<br />
manchmal auch als Quelle von Gefahren und Zerstörung.<br />
Stabkarten wie diese wurden bis etwa zur<br />
Zeit des Zweiten Weltkriegs von den Navigatoren<br />
der Marshallinseln im Südpazifik benutzt. Muscheln<br />
und Korallenstücke geben die Lage von Inseln an,<br />
während Palmrippen die Lage und Richtung von<br />
Strömungen im Ozean zeigen. Solche Karten wurden<br />
vermutlich zusammen mit Himmelsbeobachtungen<br />
genutzt, um mit Auslegerkanus zwischen den<br />
Hunderten von Inseln und Atollen der Inselgruppe<br />
zu navigieren, oft über lange Strecken. Missionare<br />
berichteten 1862 erstmals von diesen charakteristischen<br />
Karten, als die Inseln noch spanische Kolonie<br />
waren. Nachdem Spanien die Inseln 1885 an das<br />
Deutsche Reich verkauft hatte, wurden die Karten<br />
1898 detailliert von Kapitän Winkler von der Deutschen<br />
Marine beschrieben. Winkler identifizierte drei<br />
Typen: Mattang-Karten dienten der Ausbildung künftiger<br />
Navigatoren und hatten nicht unbedingt einen<br />
Bezug zur realen Geografie; meddo-Karten waren<br />
echte Karten, die Inseln und Strömungen angaben;<br />
rebbelith-Karten ähnelten meddo-Karten, waren aber<br />
ausführlicher. Die Karten wurden von Navigatoren<br />
hergestellt, waren jeweils typisch für ihren Schöpfer<br />
und variierten in Form, Größe und Maßstab. Stabkarten<br />
werden zwar nicht mehr benutzt, sind aber ein<br />
wichtiger Teil der Ikonografie der Marshallinseln, die<br />
1986 ihre Unabhängigkeit erlangten. Sie werden im<br />
Siegel des Landes abgebildet.<br />
34
NASA<br />
Der ewige Ozean, 2011<br />
Digital, verschiedene Größen<br />
Dieses Bild, das an ein Van-Gogh-Gemälde erinnert,<br />
ist das Standfoto einer Visualisierung aus Zehntausenden<br />
ozeanischen Oberflächenströmungen, die am<br />
mittelamerikanischen Isthmus zusammentreffen.<br />
Aufgenommen wurden sie zwischen Juni 2005 und<br />
Dezember 2007 von Satelliten für das NASA-Projekt<br />
Estimating the Circulation and Climate of the<br />
Ocean (ECCO; Abschätzung der Zirkulation und<br />
des Klimas des Ozeans). Durch das Kombinieren der<br />
Satellitenbilder will das Projekt modellieren, wie sich<br />
die ozeanische Zirkulation im Laufe der Zeit entwickelt.<br />
ECCO möchte die Rolle der Ozeane im globalen<br />
Kohlenstoff-Zyklus quantifizieren, indem es aufzeichnet,<br />
wie Änderungen in den polaren Ozeanen die<br />
Wassertemperaturen auf der ganzen Welt beeinflussen.<br />
Mit diesen Daten hofft die NASA, die komplexen<br />
Interaktionen zwischen Ozean, Atmosphäre und<br />
Land besser zu verstehen. Die Wirbel in dem Bild<br />
repräsentieren langsamere Strudel, die kontinuierlich<br />
um die Küsten der Welt zirkulieren. Auch wenn<br />
die Visualisierung nur größere Strudel darstellt und<br />
sie perfekter aussehen als in Wirklichkeit, ist die<br />
Mathematik dahinter eine der größten jemals unternommenen<br />
Berechnungsaufgaben – eine gemeinsame<br />
Initiative des Jet Propulsion Laboratory der NASA<br />
und des Massachusetts Institute of Technology. Sie<br />
liefert ein realistisches Bild des geordneten Chaos<br />
des zirkulierenden Ozeanwassers. Mit mehr als sechs<br />
Kilometern pro Stunde befördern einige der größeren<br />
Strömungen, wie der Golfstrom im Atlantik und der<br />
Kuroshio im Pazifik, warmes Wasser über Tausende<br />
von Kilometern durch die Ozeane.<br />
35
Tania Kovats<br />
Only Blue (Antarctica), 2013<br />
Gesso auf gedrucktem Papier, 25 × 45 cm<br />
Privatsammlung<br />
Die eisige Landschaft der Antarktis verschwindet auf<br />
dem alten Atlas unter der weißen Farbe, die Topografie<br />
und Orte auf dem Kontinent verdeckt. Namen<br />
sind nur noch an der Küste zu erkennen. Die britische<br />
Künstlerin Tania Kovats (geb. 1966) hat zahllose alte<br />
Atlanten auf diese Weise verändert. Sie löscht die<br />
Landmassen aus, sodass nur noch der umgebende<br />
blaue Ozean übrig bleibt. Indem sie das Augenmerk<br />
auf die Wasserflächen lenkt, die das Land umgeben,<br />
regt sie ein ozeanzentriertes Nachdenken über die<br />
Welt an, das die Langlebigkeit der Meere der Vergänglichkeit<br />
menschlicher Grenzen und Territorien<br />
gegenüberstellt. Dieser Atlas von Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
enthält geopolitische Details wie die<br />
Abhängigkeiten von Großbritannien und Neuseeland<br />
und betont damit die Absurdität staatlicher Ansprüche<br />
auf Teile unbewohnter Kontinente und ihre Wasserflächen.<br />
Solche Ansprüche wurden 1961 mit dem<br />
Antarktisvertrag aufgehoben. Seither ist die Region<br />
der Wissenschaft vorbehalten. Auch die auf der Karte<br />
sichtbaren Packeisgrenzen sind aufgrund des Klimawandels<br />
nicht mehr exakt. Vor der Westküste der<br />
Antarktis ist das Meereis in den letzten Jahrzehnten<br />
schnell und beträchtlich zurückgegangen, während<br />
es vor der Ostküste paradoxerweise seit Ende der<br />
1970er zugenommen hat, wenn auch nur langsam.<br />
Die Ozeane haben unsere Welt geprägt und werden<br />
dies auch weiter tun, vor allem wenn der durch den<br />
Klimawandel bedingte Anstieg des Meeresspiegels<br />
unsere Küsten und Karten neu definiert. Kovats’ Projekt<br />
erinnert uns rechtzeitig daran, dass jeder Atlas<br />
früher oder später überholt sein wird.<br />
36
Matthew Cusick<br />
Fiona’s Wave, 2005<br />
Landkartencollage auf Platte, 1,20 × 2 m<br />
Privatsammlung<br />
Auf den ersten Blick scheint Fiona’s Wave eine Welle<br />
im Ozean darzustellen, die auf das Ufer trifft. Bei<br />
genauerem Hinsehen enthüllt das Werk seine wahre<br />
Natur: Das Bild besteht aus einer Collage von Details,<br />
die Dutzenden von Landkarten entnommen wurden.<br />
Der in New York geborene Künstler Matthew<br />
Cusick (geb. 1970) sagt dazu: »Landkarten haben all<br />
die Eigenschaften eines Pinselstrichs: Abstufungen,<br />
Dichte, Linie, Bewegung und Farbe.« Cusick hat als<br />
Maler und Buchkünstler gearbeitet, am bekanntesten<br />
sind jedoch seine Kartencollagen, die nicht nur<br />
Seestücke sondern auch Landschaften und Porträts<br />
zeigen. Fiona’s Wave gehört zu einer Serie von Wellencollagen<br />
mit Frauennamen, die von japanischen<br />
Kunstwerken, speziell Katsushika Hokusais berühmtem<br />
Holzschnitt Die große Welle vor Kanagawa (siehe<br />
S. 127) inspiriert sind. Cusicks Beschäftigung mit<br />
Kartenmaterial begann eher zufällig, als er eine Kiste<br />
mit Landkarten in seinem Studio fand. Fasziniert<br />
von ihrem Potenzial, begann er zu experimentieren:<br />
Er zerschnitt die Karten und setzte aus den Schattierungen<br />
und Farbtönen seine eigenen Bilder zusammen.<br />
Indem er ihnen neue Formen gab, verlieh er<br />
auch ihren Farben eine Emotion und Kraft, die ihnen<br />
vorher fehlte. Seine Ozeanstücke nutzen die Lebendigkeit<br />
der Blau- und Cremetöne für ein Bild, das<br />
sich zu bewegen scheint, wenn man es mit Abstand<br />
betrachtet. Von Nahem sind Linien und Namen deutlich<br />
sichtbar und geben dem Bild eine Dreidimensionalität,<br />
die in einer zweidimensionalen Karte fehlt.<br />
»Karten boten so viel Potenzial, so viele Ebenen. Ich<br />
packte meine Pinsel weg und beschloss abzuwarten,<br />
wohin die Karten mich führen würden.«<br />
37
Frank Hurley<br />
Die im Eis eingeschlossene Endurance, Antarktis, 1914<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Royal Geographical Society, London<br />
Die Schönheit dieses Bildes täuscht über den Ernst<br />
der Lage hinweg, die es darstellt. Die Endurance, die<br />
die 28 Teilnehmer an Ernest Shackletons Expedition<br />
von 1914–16 (offizieller Name: British Imperial<br />
Trans-Antarctica Expedition) sicher von England aus<br />
nach Süden gebracht hatte, steckt hier im gefrorenen<br />
Weddellmeer fest. Als der Expeditionsfotograf<br />
Frank Hurley (1885–1962) das Bild aufnahm, hofften<br />
die Männer, dass die Frühjahrsschmelze das Schiff<br />
befreien würde. Es wurde jedoch vom Eis zerdrückt<br />
und sank am 21. November 1915. Dass dieses Bild<br />
überlebte, ist Hurleys Mut und Hingabe zu verdanken.<br />
Shackleton hatte darauf bestanden, die Glasnegative<br />
an Bord zurückzulassen, doch die Zimmerleute<br />
brachen ein Loch in die Seite des Schiffes, durch<br />
das Hurley sie herausholte. Er rettete etwa 150 der<br />
550 Negative; bis auf eine Pocket-Kamera und drei<br />
Rollen Film gab er seine Ausrüstung verloren. Mit<br />
den Rettungsbooten der Endurance erreichte die<br />
Mannschaft am 15. April 1916 Elephant Island. Von<br />
dort aus unternahmen Shackleton und fünf weitere<br />
Männer in einem Ruderboot die gefährliche,<br />
1.300 Kilometer lange Fahrt nach Südgeorgien, um<br />
Hilfe zu suchen. Hurley blieb bei der Gruppe auf Elephant<br />
Island, die am 30. August 1916 gerettet wurde.<br />
1917 wurde er zum Kriegsfotografen an der Westfront<br />
des Ersten Weltkriegs. Später kehrte er noch zweimal<br />
in die Antarktis zurück: 1929 und 1931 mit dem australischen<br />
Entdecker Douglas Mawson bei den »British<br />
Australia and New Zealand Antarctic Research Expeditions«.<br />
Die Endurance selbst wurde 2022 wieder<br />
fotografiert, als man das Wrack 3 Kilometer unter<br />
dem Meeresspiegel wiederentdeckte.<br />
38
Esther Horvath<br />
Eselspinguine auf Denco Island, Antarktis, 2018<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Seit 2015 konzentriert sich die ungarische Fotografin<br />
Esther Horvath (geb. 1979) fast ausschließlich auf die<br />
Polargegenden. Sie versucht, das Bewusstsein für die<br />
Auswirkungen des Klimawandels zu wecken. Dieses<br />
Bild der Eselspinguine (Pygoscelis papua) entstand<br />
2018 bei einer Expedition auf dem Greenpeace-Schiff<br />
Arctic Sunrise, die 4.500 Quadratkilometer des Weddellmeers<br />
– fünfmal größer als Deutschland – dokumentieren<br />
sollte, die zum Antarctic Ocean Sanctuary<br />
erklärt wurden. Ziel dieses Meeresreservats ist es,<br />
die rapide sinkenden Populationen von Esels- und<br />
Adeliepinguinen und deren Lebensräume zu schützen.<br />
Eselspinguine leben oft in riesigen Kolonien, die<br />
sich an eisfreien Küsten sammeln. Mit Erreichen der<br />
Geschlechtsreife finden sich Paare zusammen, die<br />
abwechselnd ihre Eier bebrüten, die sie in runde<br />
Nester aus Gras, Steinen, Federn und Moos legen.<br />
Esels pinguine sind lebenslang monogam, Untreue<br />
wird oft mit Verbannung aus der Kolonie bestraft. An<br />
Land wirken sie schwerfällig, sie sind aber geschickte<br />
Schwimmer, die mit bis zu 35 Kilometern pro Stunde<br />
durchs Wasser schießen – schneller als alle anderen<br />
Tauchvögel. Bei ihrer Jagd nach Krill, Tintenfischen<br />
und Fischen können sie bis zu sieben Minuten unter<br />
Wasser bleiben und bis zu 200 Meter tief tauchen.<br />
Horvath war an mehr als einem Dutzend Polarexpeditionen<br />
beteiligt und hat entlegene Siedlungen von Militärangehörigen<br />
und Wissenschaftlern besucht. 2022<br />
war sie die Fotografin der Endurance22-Expedition, die<br />
das Wrack von Ernest Shackletons Schiff Endurance<br />
(siehe S. 38) auf dem Grund des Weddellmeers wiederentdeckte.<br />
Das kalte Wasser hatte es so perfekt konserviert,<br />
dass der Name am Heck deutlich lesbar war.<br />
39
Tupaia<br />
Maori, der mit Joseph Banks einen Hummer eintauscht, 1769<br />
Aquarell auf Papier, 26,8 × 20,5 cm<br />
British Library, London<br />
Entdeckungsreisen im 18. Jahrhundert waren nichts<br />
für schwache Nerven und auch nichts für Menschen,<br />
die auf anständigem Essen bestanden: Von Käfern<br />
befallener Schiffszwieback und getrocknetes, gepökeltes<br />
Rindfleisch waren die Hauptnahrung. Kamen<br />
sie an Land, wünschten sich alle Seeleute frisches<br />
Obst, Gemüse und Wasser. Für einen großen Hummer<br />
oder Krebs feilschte man gern. Diese Zeichnung<br />
wurde von Tupaia (ca. 1725–1770) gefertigt, einem<br />
polynesischen Priester, der eine wichtige Rolle für<br />
den Erfolg von Kapitän James Cooks erster Expedition<br />
nach Neuseeland 1769 spielte. Er diente als Übersetzer,<br />
Navigator und Unterhändler. Das Bild zeigt<br />
Sir Joseph Banks, Präsident der Royal Society, die die<br />
Reise finanzierte, bei dem Versuch, ein Stück Stoff<br />
gegen den Hummer eines Maori einzutauschen. Sie<br />
scheinen einander nicht völlig zu vertrauen: Banks<br />
umklammert seinen Stoff, und der Maori hat den<br />
Hummer zur Sicherheit festgebunden. Tagebucheinträge<br />
von Cooks Mitreisenden verraten, dass Tupaia<br />
ein Tattoo-Künstler war, den die Naturforscher und<br />
Zeichner an Bord der HMS Endeavour zum Zeichnen<br />
ermutigten. Banks und andere hatten bei ihrer<br />
Rückkehr nach Großbritannien Tätowierungen, die<br />
vermutlich von ihm gemacht worden waren. Tupaia<br />
stieß im Juli 1769 auf Tahiti zu Cooks Reise hinzu.<br />
Seine Orts- und Sprachkenntnisse waren für die<br />
Europäer von unschätzbarem Wert, als sie nach Neuseeland<br />
kamen. Mündlich überlieferte Berichte weisen<br />
darauf hin, dass die Maori Tupaia für den Kapitän<br />
des Schiffes hielten und die Europäer ihm unterstanden<br />
– eine Überzeugung, die er wahrscheinlich noch<br />
bekräftigte.<br />
40
Joseph Gilbert<br />
Karte der Südlichen Hemisphäre und der Route von Cooks zweiter Reise, 1775<br />
Feder und Tinte, Tünche und Aquarellfarbe auf Papier, 51 × 65,3 cm<br />
British Library, London<br />
Die zweite Reise des britischen Seefahrers James<br />
Cook zwischen 1772 und 1775 durch den Südpazifik<br />
und den antarktischen Ozean war eine der größten<br />
Entdeckungsleistungen der Geschichte. Im Auftrag<br />
der britischen Regierung sollte Cook die Erde so weit<br />
südlich wie möglich umrunden, um die Existenz<br />
des postulierten Kontinents Terra Australis festzustellen.<br />
Er brach am 13. Juli 1772 von Plymouth aus<br />
an Bord der HMS Resolution auf; das Kommando<br />
der HMS Adventure hatte der englische Navigator<br />
Tobias Furneaux. Cooks Reise, oft bei Temperaturen<br />
unter dem Gefrierpunkt, führte ihn auf die Osterinsel,<br />
nach Tahiti, die Tonga-Inseln, die Neuen<br />
Hebriden, die Südlichen Sandwich-Inseln, Südgeorgien<br />
und andere Orte, denen er häufig ihre Namen<br />
verlieh. Die Karte des Vermessers der Reise, Joseph<br />
Gilbert (1732–1831), und eines nicht näher bekannten<br />
Zeichners, die in Rot die von der Expedition besuchten<br />
Orte zeigt, war die erste europäische Karte, die<br />
viele der pazifischen Inseln exakt verzeichnete. Die<br />
drei Vignetten zeigen einige der Sehenswürdigkeiten,<br />
darunter Mount Yasur, einen aktiven Vulkan<br />
auf der Insel Tanna, Vanuatu. Unten links ist zu<br />
sehen, wie die Resolution sich Freezland Rock nähert,<br />
einem markanten, von Eis umgebenen Felsen auf den<br />
Südlichen Sandwich-Inseln, während unten rechts,<br />
mit »Sandwich Island« bezeichnet, die Insel Efate in<br />
Vanuatu gemeint ist. Bei der Suche nach der Terra<br />
Australis und der Bestätigung ihrer Nichtexistenz<br />
überquerte Cook den Südpolarkreis und fuhr zwei<br />
große Kreise durch den Südpazifik. Seine Expedition<br />
inspirierte weitere Entdeckungen: Im 19. Jahrhundert<br />
reisten mehr als 1.000 Schiffe in die Antarktis.<br />
41
Bartholomaeus Anglicus und Évrard d’Espinques<br />
Die Eigenschaften von Wasser (Les propriétés de l’eau), 1479–80<br />
Pergament, 42 × 32,5 cm<br />
Bibliothèque nationale de France, Paris<br />
Diese Miniatur aus einem mittelalterlichen Manuskript<br />
auf Pergament, begleitet von floralen Ornamenten<br />
und Text, bildet das damalige Konzept der<br />
Erde in einer sogenannten T-O-Karte ab. Die Karte<br />
stellt die drei Teile der bewohnten Erde in einem<br />
Kreis dar, der den unpassierbaren Ozean repräsentiert.<br />
Die drei Kontinente sind voneinander durch ein<br />
T getrennt, das aus großen Wasserflächen besteht:<br />
dem vertikalen Mittelmeer zwischen Europa und<br />
Afrika, dem Tanaïs (der Don) zwischen Europa und<br />
Asien sowie dem Nil zwischen Asien und Afrika. Das<br />
goldene Haus an der Oberseite des O, zwischen Himmel<br />
und Erde, kennzeichnet den Garten Eden, von<br />
dem laut der Genesis vier Flüsse ausgehen: Pischon,<br />
Gihon, Tigris und Euphrat. Über der Seite schweben<br />
zwei Engel sowie eine zentrale Figur in Blau und<br />
Gold. Diese Miniatur stammt aus Buch XIII (Ȇber<br />
die Eigenschaften von Wasser«) aus De proprietatibus<br />
rerum (Über das Wesen der Dinge) von Bartholomaeus<br />
Anglicus (Bartholomäus der Engländer, ca. 1190–<br />
nach 1250), einem englischen Franziskaner-Mönch,<br />
der bis 1230 in Paris und dann in Magdeburg lebte.<br />
Illustriert wurde das Werk von dem französischen<br />
Künstler Évrard d’Espinques (aktiv von 1440–1494).<br />
De proprietatibus rerum wurde in mehrere Sprachen<br />
übersetzt und war eine berühmte Enzyklopädie des<br />
Mittelalters für, wie Bartholomaeus im Epilog schrieb,<br />
»die Simplen und die Jungen, die, weil sie wegen der<br />
unendlichen Anzahl der Bücher nicht in das Wesen<br />
jedes einzelnen Dings schauen können, von dem die<br />
Heilige Schrift handelt, ihre Bedeutung leicht hierin<br />
finden können – wenigstens oberflächlich«.<br />
42
NASA<br />
Earth Science, 1994<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Aus 35.800 Kilometern Höhe ist die Erde vor allem<br />
leuchtend blau, wie dieses Satellitenbild vom September<br />
1994 beweist. Es zeigt links den riesigen Pazifik<br />
und rechts den Atlantik sowie die Karibik. Strahlend<br />
weiße Wolken schweben in der Atmosphäre. Nordund<br />
Südamerika liegen in der Sonne und Grün- und<br />
Brauntöne identifizieren ihre verschiedenen Ökosysteme.<br />
Fast 71 Prozent der Erdoberfläche sind vom<br />
Ozean bedeckt, der aus 1,3 Milliarden Kubikkilometern<br />
Wasser besteht, etwa 97 Prozent allen Wassers<br />
der Erde. Eines der ersten Fotos, die den gesamten<br />
Planeten zeigen, aufgenommen 1972 von Astronauten<br />
der Apollo 17, erhielt den Spitznamen Blue Marble.<br />
Vom All aus betrachtet, verschwinden geopolitische<br />
Grenzen und man wird überwältigt von der ungeheuren<br />
Größe der Ozeane. Kein Wunder, dass der originalen<br />
Blue Marble oft bescheinigt wird, das Bild würde<br />
das Verständnis und die Wertschätzung für den<br />
Planeten und füreinander ändern und sei Inspiration<br />
für die Umweltschutzbewegung. Seit dem Original<br />
von 1972 hat es noch mehr Aufnahmen des blauen<br />
Planeten gegeben, doch viele sind, wie auch diese hier,<br />
ein wenig irreführend. Anders als das Original – das<br />
einfach durch das Fenster des Raumschiffs geknipst<br />
wurde – kombiniert dieses Bild Elemente aus zwei<br />
verschiedenen Bildern, die von zwei Satelliten aufgenommen<br />
wurden. Beide waren Teil der Geostationary<br />
Operational Environment Satellites (GOES), die über<br />
bestimmten Orten der Erde im Orbit stationiert wurden,<br />
um atmosphärische Auslöser für große Ereignisse<br />
wie Tornados, Hurrikane und Überschwemmungen<br />
frühzeitig zu erkennen.<br />
43
Anonym<br />
Die Reise Alexanders des Großen unter das Meer, aus dem Alexanderroman, 1300–25<br />
Miniaturmalerei, Aquarell- und Deckfarbe auf Pergament, 25,9 × 18,8 cm<br />
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin<br />
In einem Meer, das von Fischen wimmelt – einer ist<br />
so groß, dass es auch ein Wal sein könnte –, wird<br />
ein König mit Krone und Zepter und beleuchtet von<br />
brennenden Fackeln in einer Glasglocke auf den<br />
Meeresgrund herabgelassen. Dort sieht er Bäume,<br />
Schafe und Hunde sowie ein nacktes Paar, das auf<br />
fischförmigen Musikinstrumenten spielt. Trotz<br />
seiner mittelalterlichen Kleidung handelt es sich um<br />
Alexander den Großen, Herrscher des antiken griechischen<br />
Königreichs Makedonien, der im 4. Jahrhundert<br />
v. Chr. eines der größten Reiche der Geschichte<br />
erschuf. Von der Reise des Königs zum Meeresgrund<br />
wird im Alexanderroman erzählt, einer mittelalterlichen<br />
Sammlung fabelhafter Geschichten über<br />
Alexanders Leben. Alexander, der den größten Teil<br />
der Welt erobert hat, ist hier entschlossen, auch das<br />
tiefe Meer zu bezwingen. In einer deutschen Version<br />
der Geschichte wird die Taucherglocke nicht von Seeleuten,<br />
sondern von einer seiner Geliebten festgehalten<br />
– sie hält das Ende einer langen Kette, die an dem<br />
Gefährt befestigt ist. Als der König unter den Wellen<br />
verschwunden war, brannte sie mit einem Liebhaber<br />
durch. Die Kette ließ sie fallen und Alexander musste<br />
allein einen Ausweg finden. Er schaffte es zurückzukehren,<br />
war aber erschüttert davon, wie leicht<br />
große Fische kleine verschlangen – und kam zu dem<br />
Schluss, dass es närrisch sei, die Meere zu erobern.<br />
Die Idee, dass man mit einer Glasglocke im Ozean<br />
reisen könne, wurde erstmals im alten Griechenland<br />
geäußert – wenn auch einige Jahrhunderte nach Alexanders<br />
Zeit. Die erste konkrete Taucherglocke wurde<br />
allerdings erst Mitte des 16. Jahrhunderts gebaut.<br />
44
Anonym<br />
Wal-Darstellung, ca. 1000–1700<br />
Speckstein und Perlen aus Muschelschalen, 9,2 × 11,4 cm<br />
Portland Art Museum, Oregon<br />
Dieser geschnitzte Specksteinwal mit seiner übertrieben<br />
großen Rückenflosse ist nur knapp 11 Zentimeter<br />
lang, wirkt aber sehr gewichtig. Hergestellt wurde<br />
er von Handwerkern der indigenen Chumash-Kultur<br />
in Kalifornien, vermutlich zu einer Zeit, als die<br />
spanischen Eroberer erst begannen, die südlichen<br />
und zentralen Küstenregionen zu kartieren. Diese<br />
waren von den Chumash bereits seit Jahrtausenden<br />
bewohnt, als die Europäer 1542 eintrafen. Chumash-<br />
Schnitzer nutzten den leicht zu bearbeitenden Speckstein<br />
(Steatit), den sie auf der Insel Santa Catalina<br />
gewannen, für solche Gegenstände ebenso wie für<br />
Pfeifen und Kochtöpfe (wie die charakteristische,<br />
Comal genannte Pfanne). Chumash sind ein dem<br />
Meer zugewandtes Volk. Traditionell fischten sie an<br />
der kalifornischen Küste von Morro Bay im Norden<br />
bis Malibu im Süden. Sie nutzten Tomols genannte<br />
Kanus, die aus Redwood- oder Kiefernplanken<br />
gefertigt wurden und auf der Jagd nach größerer<br />
Beute wie Schwertfischen und sogar Walen bis weit<br />
aufs Meer hinausfahren konnten. Walknochen von<br />
gejagten oder gestrandeten Tieren – meist von den<br />
in der Gegend heimischen Grauwalen – dienten als<br />
Werkzeuge zum Aufspalten der Planken für den<br />
Bootsbau und als Stützen der kuppelförmigen, grasgedeckten<br />
»Ap«-Häuser. Als Zahlungsmittel nutzten<br />
die Chumash Perlen aus Muschelschalen (Chumash<br />
bedeutet »Perlenmacher«), die den Perlen in Augen<br />
und Maul des Wals ähneln. Zum Bearbeiten der<br />
Muscheln verwendete man Quarzwerkzeuge. Die<br />
Muschelperlen dienten dazu, bei anderen Völkern<br />
des südlichen Kalifornien Nahrung, Tierhäute und<br />
andere Ressourcen zu erwerben.<br />
45
Susan Middleton<br />
Pazifischer Riesenkrake, 2014<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Die vor dem weißen Hintergrund fast schon außerirdisch<br />
wirkende Form eines winzigen, durchscheinenden,<br />
jungen Pazifischen Riesenkraken (Enteroctopus<br />
dofleini) wurde von der amerikanischen Fotografin<br />
Susan Middleton (geb. 1948) aufgenommen: der<br />
blasenförmige Körper, das schillernde Auge und<br />
die zusammengerollten Tentakel dieses wunderschönen<br />
Weichtieres sowie die bunten Flecken auf<br />
seinem Körper. Dieses junge Exemplar war nur etwa<br />
2,5 Zentimeter lang; ein ausgewachsener Pazifischer<br />
Riesenkrake dagegen kann bis zu 50 Kilogramm<br />
wiegen. Mit bis zu sechs Meter langen Tentakeln ist er<br />
die größte aller Oktopus-Arten. Er lebt vor allem in<br />
den Küstengewässern des Nordpazifik, von Kalifornien<br />
bis Alaska und im Westen bis Japan und Korea<br />
und gehört zu den am längsten lebenden Oktopoden –<br />
er kann bis zu fünf Jahre alt werden. Die Weibchen<br />
legen bis zu etwa 100.000 Eier, die sie an Unterwasserfelsen<br />
kleben und vor Algenbefall schützen, indem<br />
sie Wasser über die Brut blasen. Das Weibchen bleibt<br />
bis zu sechs Monate an Ort und Stelle, wo es langsam<br />
verhungert; es stirbt kurz nach dem Schlüpfen<br />
der Brut. Wie andere Oktopoden ist der Pazifische<br />
Riesenkrake bekannt für seine Intelligenz und eine<br />
beliebte Attraktion in Aquarien auf der ganzen Welt.<br />
Angeblich erkennt er Personen wieder, mit denen er<br />
häufig in Berührung kommt. Middleton fotografiert<br />
oft Tiere vor einfachen Hintergründen statt in ihrem<br />
natürlichen Habitat, um das Augenmerk auf ihre<br />
Physiologie zu lenken; sie hat sieben Jahre lang wirbellose<br />
Meerestiere wie Oktopoden recherchiert; Tiere,<br />
die mehr als 98 Prozent der bekannten Arten im Meer<br />
ausmachen.<br />
46
Craig Foster<br />
Mein Lehrer, der Krake, Netflix, 2020<br />
Werbebild, verschiedene Größen<br />
Der Netflix-Film Mein Lehrer, der Krake, Gewinner<br />
des Oscars für den besten Dokumentarfilm 2021,<br />
erzählt die Geschichte einer unwahrscheinlichen<br />
Freundschaft zwischen einem Oktopus-Weibchen<br />
und dem südafrikanischen Naturforscher und Filmemacher<br />
Craig Foster (geb. 1968). Die beiden trafen<br />
sich bei Fosters Tauchgängen in der False Bay bei<br />
Kapstadt, die er unternahm, um sein Burnout und<br />
seine Depression zu überwinden. Foster wollte die<br />
Tangwälder nahe Kapstadt erkunden und dokumentieren.<br />
Er tauchte ohne Atemhilfen – er kann seinen<br />
Atem bis zu sechs Minuten anhalten – oder Neoprenanzug,<br />
wodurch er sich den Tieren näher fühlte. Über<br />
ein Jahr lang zeichnete Foster seine Interaktionen<br />
mit dem weiblichen Kraken auf, der in einem nahegelegenen<br />
Tangwald lebte. Umfassende Studien des<br />
Gewöhnlichen Kraken – eines Weichtieres, das in vielen<br />
Ozeanen anzutreffen ist – haben enthüllt, dass er<br />
seine Farbe ändern kann, um sich an die Umgebung<br />
anzupassen. Bei der Jagd in der Dämmerung springt<br />
er seine Beute an und bricht deren Schalen mit seinem<br />
Schnabel auf. Die ausgesprochen intelligenten<br />
Oktopoden können die Position von Objekten sowie<br />
ihre Form, Größe und Helligkeit unterscheiden. Foster<br />
filmte nicht nur das tägliche Leben des Kraken, sondern<br />
auch die Verbesserung seines eigenen mentalen<br />
Zustands, die er den Lehren des Oktopus-Weibchens<br />
über die Zerbrechlichkeit und den Wert des Lebens<br />
zuschrieb. Der Film zeigt, wie das Tier den Angriff<br />
eines Hais überlebte, indem es sich an den Rücken<br />
des Räubers klammerte, und seinen natürlichen Tod,<br />
als es die Eier bewachte, die es gelegt hatte.<br />
47
Juan Carlos Muñoz<br />
Mangrovensümpfe im Everglades-Nationalpark, 2012<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Der Everglades-Nationalpark ist das Juwel in der<br />
Krone des Staates Florida, ein riesiges Gebiet aus<br />
tropischen Sümpfen, das etwa 600.000 Hektar Land<br />
an der Südspitze der Halbinsel bedeckt, nicht weit<br />
von der Metropole Miami. Die aus Küstenmangroven,<br />
Binsenschneiden-Marschen und Kiefern-Flachwäldern<br />
bestehenden Everglades sind im Prinzip ein riesiges<br />
Netzwerk aus langsam fließenden Grasflüssen.<br />
Außerdem leben hier Hunderte Tierarten, von denen<br />
viele gefährdet sind, wie das Karibik-Manati und die<br />
Lederschildkröte. Das Ökosystem der Everglades<br />
ist einmalig: Unter dem Gras liegen Schichten aus<br />
porösem, wasserspeicherndem Kalkstein. Gespeist<br />
wird das System mit Wasser aus den Flüssen in<br />
der Mitte Floridas, das über die Everglades abfließt.<br />
Mangrovenwälder – verschiedene Baumarten, die in<br />
Salzwasser und ungünstigen Küstenbedingungen<br />
gedeihen – bieten nicht nur ein wichtiges Habitat für<br />
Meerestiere, sondern auch Schutz vor den Winden<br />
und Stürmen von Hurrikanen. Hier befindet sich das<br />
größte zusammenhängende Mangrovensystem der<br />
westlichen Hemisphäre. Diese Luftaufnahme von<br />
Juan Carlos Muñoz (geb. 1961) fängt nicht nur das<br />
einzigartige Wesen der Everglades ein, sondern auch<br />
ihre Größe. Doch das täuscht: Im 20. Jahrhundert<br />
sind die Everglades aufgrund menschlicher Aktivitäten<br />
kontinuierlich geschrumpft. Von ihren ursprünglich<br />
1,2 Millionen Hektar ist nur noch die Hälfte übrig.<br />
Sogar den Verlauf des Everglades-Flusssystems<br />
haben die Menschen verändert und bedrohen damit<br />
ein empfindliches Ökosystem, das Trinkwasser für<br />
mehr als acht Millionen Einwohner Floridas liefert.<br />
48
Yoshitomo Nara<br />
Seeschwein, 1993<br />
Acryl auf Leinwand, 39,5 × 39,5 cm<br />
Privatsammlung<br />
Das namensgebende Seeschwein, das scheinbar über<br />
dem Boden schwebt, ist das Werk des japanischen<br />
Malers und Bildhauers Yoshitomo Nara (geb. 1959).<br />
Vor einem neutralen, cremefarbenen Hintergrund<br />
aus Schichten leicht unterschiedlicher Farbpigmente<br />
ohne irgendeine Perspektive, abgesehen von einer<br />
gewellten grünen Linie, die eine Wasserpflanze sein<br />
könnte, steht das cartoonartige Seeschwein oder<br />
Dugong auf der Leinwand. Es scheint außerhalb der<br />
Grenzen von Raum und Zeit zu schweben. Das scheue<br />
Meerestier lebt in den flachen Seegraswiesen des<br />
Indischen Ozeans und Westpazifiks. Die Bucht von<br />
Henoko auf der japanischen Insel Okinawa ist eines<br />
der letzten verbliebenen Habitate. Der stark gefährdete<br />
und genetisch isolierte Dugong – seine nächsten<br />
lebenden Verwandten sind die Manatis oder Rundschwanzseekühe<br />
in Florida – ist ein zentrales Element<br />
der Schöpfungsmythologie, Folklore und Rituale der<br />
Bewohner Okinawas. Nara, ein Vorreiter der zeitgenössischen<br />
Kunst, ist beeinflusst von Japans Subkultur<br />
aus Comics, Animationsfilmen und Videospielen.<br />
Er ist zwar vor allem bekannt für seine cartoonartigen,<br />
melancholischen Gemälde von Kindern – die<br />
sich durch ihre grimmigen Blicke auszeichnen –,<br />
doch auch Tierbilder gehören zu seinem Œuvre. Nara<br />
kam 1988 für sein Studium an der Kunstakademie<br />
Düsseldorf nach Deutschland, wo er bis 1993 blieb,<br />
dem Jahr, in dem er Seeschwein malte. In Deutschland<br />
begann er, japanische und westliche Popkultur<br />
zu verbinden. Er feiert die introspektive Freiheit und<br />
Unabhängigkeit des Individuums, enthüllt aber auch<br />
ihre Einsamkeit und Isolation, so wie in dieser wehmütigen<br />
Kreatur.<br />
49
Flip Nicklin<br />
Riesentangwald, Channel-Islands-Nationalpark, Kalifornien, ca. 1977–82<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Das sphärische Bild des Fotografen und Meeresbiologen<br />
Flip Nicklin (geb. 1948), das in seinem Detailreichtum<br />
an ein Gemälde erinnert, enthüllt die durchscheinenden<br />
Blätter und Blasen eines Riesentangs (Macrocystis<br />
pyrifera) im Channel-Islands-Nationalpark vor der<br />
Küste Südkaliforniens. Tangwälder, die am besten<br />
im kalten, nährstoffreichen Wasser gedeihen, dienen<br />
als Kinderstube für eine Vielzahl von Arten und sind<br />
die Basis ausgedehnter Ökosysteme unter Wasser.<br />
Obwohl sie Pflanzen ähneln, handelt es sich bei Tang<br />
tatsächlich um Braunalgen, die am Meeresboden befestigt<br />
sind. Zum Wachsen brauchen sie Sonnenlicht,<br />
aber auch flaches, sauberes Wasser. Unter günstigen<br />
Bedingungen kann Riesentang bis zu 53 Meter lang<br />
werden und bis zu 61 Zentimeter pro Tag wachsen; das<br />
schnelle Wachstum bedeutet, dass Tangwälder leicht<br />
neue Bereiche im Ozean besiedeln können. Dies macht<br />
den Tang zu einer der effektivsten Kohlenstoffsenken<br />
der Erde. Durch Fotosynthese entzieht die Makroalge<br />
der Atmosphäre Kohlendioxid. Der Tang treibt auf das<br />
Meer hinaus, getragen von seinen gasgefüllten Blasen.<br />
Die Pflanzenreste sinken dort auf den Boden, wo der<br />
in ihnen enthaltene Kohlenstoff verbleibt, statt wieder<br />
in die Atmosphäre zu entweichen. Tangwälder können<br />
aber auch leicht wieder verschwinden, wenn die<br />
Umstände nicht optimal sind. Sie sind also wichtige<br />
Indikatoren für die Gesundheit des Ozeans. Die Erwärmung<br />
der Meere und veränderte Strömungen sind<br />
nur zwei Gefahren für das Wohlbefinden der Algen,<br />
die sich auch auf die Fische und wirbellosen Tiere auswirken,<br />
deren Lebensraum er ist. Tangwälder bieten<br />
nicht nur Schutz für Jungtiere, sondern sind auch<br />
Jagdgebiete für Haie und andere Raubtiere.<br />
50
Elizabeth Twining<br />
Algae – The Seaweed Tribe, ca. 1840er-Jahre<br />
Aquarell auf Papier, 48,9 × 32,8 cm<br />
Natural History Museum, London<br />
Dieses Aquarell zeigt vier Typen von Meeresalgen, die<br />
vor der Küste Großbritanniens zu finden sind. Am<br />
bekanntesten ist vermutlich der Blasentang (2, Fucus<br />
vesiculosus). Die nach ihren kugeligen Luftblasen<br />
benannte Alge, die ihr im Wasser Auftrieb verleihen,<br />
wächst in dichten Flecken an felsigen Küsten im<br />
Gezeitenbereich. Sie war die ursprüngliche Quelle des<br />
Jods, das in der Medizin u. a. zum Desinfizieren von<br />
Wunden benutzt wird. Hier ist sie von der britischen<br />
Künstlerin Elizabeth Twining (1805–1889) zusammen<br />
mit drei weiteren Meeresalgen dargestellt: 1 Himanthalia<br />
lorea (heute: Himanthalia elongata), 3 F. nodosus<br />
(heute: Ascophyllum nodosum) und 4 Delesseria<br />
sanguinea (Blutroter Meerampfer). Ein handgeschriebener<br />
Text beschreibt detailliert die Biologie<br />
der Meeresalgen. Die für ihre exakten botanischen<br />
Illustrationen bekannte Twining stammte aus der<br />
berühmten Teehändler-Familie in London. Inspiration<br />
boten ihr die Gärten der Royal Horticultural<br />
Society in Chiswick und vor allem Curtis’ Botanical<br />
Magazine mit seinen botanischen Illustrationen.<br />
Twining glaubte fest daran, dass ihre Arbeit nicht<br />
nur für die Botanik wichtig sei, sondern auch für<br />
das Überbrücken der Kluft zwischen Arm und Reich,<br />
indem sie wissenschaftliche Kenntnisse zugänglicher<br />
machte. Die großen und die meisten kleinen<br />
Meeresalgen sind Mehrzeller und für die Gesundheit<br />
der Ozeane – und der Erde – ausgesprochen wichtig.<br />
Algen-Ökosysteme bieten Schutz und Nahrung für<br />
viele Meerestiere, darunter kommerziell wichtige<br />
Fische. Außerdem entziehen Algen der Atmosphäre<br />
Kohlendioxid und erzeugen mehr als 50 Prozent des<br />
Sauerstoffs der Welt.<br />
51
Alice Shirley<br />
Unter den Wellen, erste Auflage, Frühling/Sommer 2016<br />
Gouache auf Papier, 90 × 90 cm<br />
Hermès-Kollektion, Paris<br />
Eine lebhafte Darstellung des Great Barrier Reef<br />
voller Meeresflora und -fauna schwebt in dieser<br />
atemberaubenden Komposition vor dem Tiefblau<br />
des Ozeans. Dieses Tuch der britischen Illustratorin<br />
Alice Shirley (geb. 1984), dessen Design mit Gouache<br />
auf Papier entworfen wurde, ist eines der zahllosen<br />
von der Natur inspirierten Muster, die sie seit 2012<br />
für das französische Modehaus Hermès geschaffen<br />
hat. Shirley studiert ihre Motive gern direkt, wie sie<br />
es auch für ihr lebensgroßes Neun-Meter-Porträt<br />
eines Riesenkalmars gemacht hat, das entstand, als<br />
sie am Londoner Natural History Museum arbeitete.<br />
Der kaleidoskopischen Anordnung von Farben und<br />
Formen hier liegt die gleiche sorgfältige wissenschaftliche<br />
Beobachtung zugrunde. Man erkennt eine<br />
Vielzahl von Lebewesen des Meeres: Meeresschildkröte,<br />
Mandarinfisch, Clownfisch, Imperator-Kaiserfisch<br />
und Großer Fetzenfisch. Das Tuch ist Shirleys<br />
und Hermès’ Verbeugung vor dem Great Barrier Reef,<br />
einem Naturwunder, dessen Existenz durch menschliche<br />
Aktivitäten und die Erderwärmung bedroht ist.<br />
»Menschen fallen durch ihre Abwesenheit in meinem<br />
Werk auf,« sagt Shirley, die glaubt, dass man der<br />
Natur Raum geben muss, um sich zu erholen. Auf der<br />
fast abstrakten Verkleinerung der Natur auf das klassische<br />
90-Zentimeter-Hermès-Quadrat ist kein Platz<br />
für das Eindringen des Menschen. Wird es jedoch<br />
wie gedacht um den Hals getragen, verwandeln seine<br />
Falten und Knoten seine zwei Dimensionen plötzlich<br />
in eine Simulation der Meerestiefen und erwecken<br />
dessen Kreaturen zum Leben.<br />
52
Felipe Poey<br />
Bildtafel 3, aus Memorias sobre la historia natural de la isla de Cuba, 1851<br />
Handkolorierter Stich, Höhe 25 cm<br />
Smithsonian Libraries, Washington DC<br />
Diese tropischen Fische in strahlenden Blau-, Gelbund<br />
Rosatönen sind nur eine von einem Dutzend<br />
Bildtafeln in dem achtbändigen Werk Memorias sobre<br />
la historia natural de la isla de Cuba (Erinnerungen<br />
an die Naturkunde der Insel Kuba) des kubanischen<br />
Zoologen Felipe Poey (1799–1891), veröffentlicht zwischen<br />
1851 und 1861. Poey stellt hier mit ihren spanischen<br />
und lateinischen Namen den Indigo-Hamletbarsch<br />
(Plectropoma Indigo, jetzt Hypoplectrus<br />
indigo), den Goldenen Hamletbarsch (Plectropoma<br />
Gummi-gutta, jetzt Hypoplectrus gummigutta) und<br />
den Schwarzflossenschnapper (Mesoprion caudanotatus,<br />
jetzt Lutjanus buccanella) vor. Alle drei Arten<br />
findet man vorrangig im westlichen Atlantik und<br />
der Karibik, darunter den Gewässern um Kuba. Die<br />
Hamletbarsche sind Einzelgänger und leben meist<br />
nahe Korallenriffen, während die sozialen Schnapper<br />
sich oft zu kleinen Schwärmen zusammenfinden.<br />
Poeys Interesse galt dem Meer, besonders den<br />
Fischen. Auf Fischmärkten diskutierte er oft mit den<br />
lokalen Fischern die Fänge. In Havanna geboren, zog<br />
er mit seiner Familie im Alter von fünf Jahren nach<br />
Frankreich. Nach einem Jurastudium kehrte er nach<br />
Kuba zurück, ging aber 1825 wieder nach Europa, um<br />
in Paris als Anwalt zu arbeiten – er brachte mehrere<br />
Fische mit, die er Georges Cuvier schickte, damit dieser<br />
sie in seine Naturgeschichte der Fische aufnahm.<br />
1833 ging er wieder nach Kuba, wo er begann, die heimischen<br />
Fische zu katalogisieren. In Ictilogía Cubana<br />
(Kubanische Ichthyologie) beschrieb er 700 Arten.<br />
1839 richtete er in Havanna das Naturkundemuseum<br />
ein und wurde 1842 zum ersten Zoologieprofessor an<br />
der Universität Havanna berufen.<br />
53
Masa Ushioda<br />
Eine Grüne Meeresschildkröte wird geputzt, Küste von Kona, Hawaii, 2006<br />
Digitalfotografie, verschiedene Größen<br />
Stellen Sie sich eine Reinigungsstation als ökologisch<br />
notwendigen Kurort für die Bewohner eines Korallenriffs<br />
vor. Hier versammeln sich die Meerestiere<br />
regelmäßig, um die schwieriger erreichbaren Teile<br />
ihres Körpers von kleineren Fischen oder Krabben<br />
untersuchen und sich von Parasiten befreien zu lassen.<br />
Größere Räuber wie Barsche reißen ihre Mäuler<br />
auf, damit kleinere Putzerfische wie Lippfische eine<br />
Zahnreinigung vornehmen können. Sie schwimmen<br />
zwischen die Kiefern des Todes und zupfen alles<br />
heraus, was sie zwischen den Zähnen des Barsches<br />
finden. Es ist eine Symbiose, die beiden nützt: Die<br />
Putzer erhalten Futter, der Empfänger bleibt gesund.<br />
Sie müssen sich nur dieses Foto des japanischen Fotografen<br />
Masa Ushioda anschauen, um etwas von der<br />
entspannten Haltung zu spüren, die diese Tiere etwa<br />
hier an der Küste von Kona auf Hawaii einnehmen.<br />
Der alltägliche Stress des Lebens im Riff – die Gefahr,<br />
gejagt zu werden, die Notwendigkeit, das Territorium<br />
zu verteidigen – fallen an diesem sicheren Ort<br />
ab. Diese Grüne Meeresschildkröte (Chelonia mydas)<br />
lässt sich treiben, während Gelbe Segeldoktorfische<br />
(Zebrasoma flavescens), Goldring-Borstenzahldoktorfische<br />
(Ctenochaetus strigosus) und Duperreys Junker<br />
(Thalassoma duperrey) mit ihren pinzettenartigen<br />
Kiefern die Algen von ihrem Panzer nagen. Das<br />
absolut bewegungslose Reptil ist überraschend entspannt<br />
für ein Tier, das 160 Kilogramm wiegt. Die<br />
Schildkröte schwebt neutral in nur acht Metern Tiefe,<br />
kann aber durch Regulierung der Luftmenge in ihren<br />
Lungen auch leicht bis auf 80 Meter abtauchen.<br />
54
Dhambit Munuŋgurr<br />
Gamata (Seegrasfeuer), 2019<br />
Synthetische Polymerfarbe auf Stringybark (Eucalyptus sp.),<br />
1 × 2,10 m<br />
National Gallery of Victoria, Melbourne<br />
Nur wenige verschiedene Töne Acrylfarbe – Blau,<br />
Weiß, Grün in unterschiedlichen Schattierungen –<br />
auf einem Stück Baumrinde stellen eine moderne<br />
Fassung des traditionellen Handwerks der Yolngu<br />
dar, eines Aboriginal-Volkes aus dem Arnhemland<br />
im australischen Northern Territory. Die Mitte des<br />
Gemäldes wird von der diagonalen, dunkelblauen<br />
Figur des gefährdeten Dugong dominiert, eines Meeressäugers,<br />
der mit den Rundschwanzseekühen oder<br />
Manatis verwandt ist. Umgeben ist dieses zentrale<br />
Element von hellblauen Linien, die eine als Gamata<br />
bezeichnete Seegrasart darstellen, von der sich die<br />
Dugong ernähren. Es gibt kleine Fische in Schwarz<br />
und Blau, kleine und große Schildkröten in Blau und<br />
Grün sowie Quallen, die brennen und das »Feuer« aus<br />
dem Titel des Bildes erzeugen – auch ein Verweis auf<br />
die Tatsache, dass die Szene in Sonnenlicht gebadet<br />
ist. Die weißen kreideartigen Flecken repräsentieren<br />
Luftblasen. Dugongs gelten in den Northern Territories<br />
als mythische Tiere. Sie verkörpern weibliche<br />
Energie und Sanftmütigkeit. Da sie gefährdet sind, ist<br />
dieses Bild auch ein dringender Aufruf zum Schutz<br />
der Ozeane. Dhambit Munuŋgurr (geb. 1968), Tochter<br />
zweier preisgekrönter Aboriginal-Künstler, hat extra<br />
um besondere Erlaubnis gebeten, Acrylfarben für<br />
die geheimen Muster der Yolngu zu benutzen. Nach<br />
einem Autounfall fällt es ihr schwer, die traditionellen<br />
Pigmente für die Gemälde zu zermahlen. Malereien<br />
auf Rinde sind ein traditionelles Handwerk<br />
der indigenen Australier. Sie benutzen die Rinde des<br />
Gadayka-Baums, einer Eukalyptus-Art, die nach der<br />
Regenzeit gewonnen wird, wenn sie noch flexibel ist.<br />
55
Yves Klein<br />
Relief Éponge Bleu (RE 51), 1959<br />
Trockenes Pigment in Kunstharz, Naturschwämme und Kieselsteine auf Brett,<br />
103,5 × 105 × 10 cm<br />
Privatsammlung<br />
Spielt dieses tiefblaue Gemälde auf die Geheimnisse<br />
des Ozeans an oder doch eher auf eine außerirdischkosmische<br />
Dimension? Beides scheint plausibel. Die<br />
Schwämme in diesem Relief sind vertraut von Bildern<br />
des Meeresbodens, und dennoch verkörpert die<br />
Farbe Blau in diesem konzeptuellen Werk des französischen<br />
Avantgarde-Künstlers Yves Klein (1928–1962)<br />
auch ein tiefes Gefühl von existenziellem Spiritualismus,<br />
das man mit dem Unendlichen assoziiert.<br />
Kleins Vorliebe für Ultramarin wurzelte in philosophischen<br />
und religiösen Ideen, die vielen Kulturen<br />
eigen sind. In der Renaissance war Ultramarinblau –<br />
der Name bezieht sich auf seinen Ursprung »jenseits<br />
des Meeres«, speziell aus Lapislazuli-Minen im<br />
heutigen Afghanistan – fünfmal so teuer wie Gold.<br />
Es wurde mit der unendlichen mütterlichen Liebe der<br />
Heiligen Jungfrau Maria in Verbindung gebracht, die<br />
in christlichen Gemälden einen blauen Mantel trägt.<br />
Aufträge für solche Bilder gaben oft den Preis für das<br />
Ultramarin-Pigment an. In China symbolisiert Blau<br />
die Unsterblichkeit, während es in Indien mit dem<br />
Gott Krishna verbunden wird. Blau besaß auch eine<br />
wichtige Symbolik in der ägyptischen Kunst und<br />
wird in vielen Kulturen Afrikas heute noch mit Harmonie<br />
und Liebe gleichgesetzt. Klein mochte diesen<br />
speziellen Blauton so sehr, dass er ihn 1957 als IKB<br />
(International Klein Blue) schützen ließ. Er nutzte<br />
oft Schwämme und Kiesel in Reliefs, die das traumartige<br />
Bild des Meeresbodens heraufbeschwören.<br />
Schwämme, mehrzellige Tiere ohne zentrales Nervensystem,<br />
ähneln Korallen insofern, als sie Wasser<br />
filtern, Kohlendioxid verarbeiten, Bakterien sammeln<br />
und bis zu 200 Jahre alt werden.<br />
56
Roy Lichtenstein<br />
Sea Shore, 1964<br />
Öl-, Acrylfarbe auf zwei zusammengesetzten Scheiben aus Plexiglas, Plexiglasrahmen<br />
mit gemalter Glasur, 62,9 × 77,9 × 7,8 cm<br />
Whitney Museum of American Art, New York<br />
Diese auf ihre wesentlichen Elemente aus Himmel,<br />
Meer und Land reduzierte Küstenszene sieht aus, als<br />
sei sie aus den Seiten eines alten Comicbuches herausgerissen<br />
worden. Ihre vorbeirauschenden Wolken,<br />
leuchtend gelben Felsen und bewegten blauen Wellen<br />
sind mit einer Mischung aus starken, unmodulierten<br />
Farben, schwarzen Umrissen und gleichförmigen<br />
Punkten dargestellt. Der bunte Popart-Stil des<br />
berühmten amerikanischen Künstlers Roy Lichtenstein<br />
(1923–1997) ist zwar unverkennbar, doch die<br />
Zeichnungen, Collagen, Drucke und Gemälde von<br />
Küsten, an denen er ab 1964 mehr als vier Jahrzehnte<br />
lang arbeitete, sind weniger bekannt. Wie viele<br />
Künstler der 1960er-Jahre experimentierte Lichtenstein<br />
mit unterschiedlichen Materialien und malte<br />
auf Stahl, Messing und Plastik. Der Entwurf hier ist<br />
auf zwei transparente Plexiglasscheiben gemalt, die<br />
aufeinandergelegt sind und so den Eindruck vermitteln,<br />
Licht würde auf Wasser schimmern. Das wird<br />
besonders in den typischen Benday-Dots offenbar,<br />
die aus der preiswerten mechanischen Drucktechnik<br />
abgeleitet sind, die Benjamin Henry Day jr. 1879 entwickelt<br />
hatte. In den 1970er-Jahren lebte Lichtenstein<br />
auf Long Island, New York, wo er in Southampton ein<br />
Haus am Meer besaß. Obwohl er von seiner Umgebung<br />
inspiriert war, lassen sich in seinen Seestücken<br />
unmöglich konkrete Orte erkennen – stattdessen<br />
beruhen sie auf Klischees aus der Popkultur. Manche<br />
Kompositionen sind direkt von den Hintergründen<br />
von Comicstrips abgeleitet, während andere auf<br />
Postkarten basieren oder einfach der Fantasie des<br />
Künstlers entsprungen sind.<br />
57
Iris van Herpen<br />
Sensory Seas, 2019<br />
Stoff, verschiedene Größen<br />
Diese durchscheinende, irisierende Skulptur in einem<br />
Meer aus Schwarz ist tatsächlich ein Kleid. Das Werk<br />
der niederländischen Modedesignerin Iris van Herpen<br />
(geb. 1984) aus ihrer Frühjahrs-/Sommer-Kollektion<br />
2020 mit dem Titel »Sensory Seas« ist inspiriert von<br />
der Ökologie der Meere. Van Herpen ist bekannt<br />
dafür, in ihren Arbeiten bis an die Grenzen zu gehen.<br />
Sie nutzt Stoffe und Techniken, die man eigentlich<br />
nicht mit der Modewelt assoziiert. Für diese Kollektion<br />
konstruierte sie muschelartige Kleider, für die<br />
sie mit Lasern perlmuttartige Exoskelette ausschnitt.<br />
Inspiriert war sie vom »Schmetterlingseffekt«: der<br />
Idee, dass eine kleine Änderung, wie das Ersetzen der<br />
Scheren durch Laser, viele und unerwartete Wirkungen<br />
hat. Das Ergebnis ist ein zartes, flatterndes<br />
Kleid in Türkis und Ultramarin, das den Kreaturen<br />
in den Tiefen des Ozeans ähnelt. Originalität und<br />
Unvorhersehbarkeit ihrer Vision drückte sich in den<br />
21 Kleidern von »Sensory Seas« aus, mit denen sie<br />
das Mysteriöse der größtenteils unerforschten Tiefsee<br />
feiern wollte. Zugleich sollten die bahnbrechenden<br />
Zeichnungen des menschlichen Hirns eine Form<br />
erhalten, die der spanische Neurowissenschaftler<br />
Santiago Ramón y Cajal Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
geschaffen hatte. Für eine Designerin, die zur Inspiration<br />
das Kernforschungszentrum CERN besucht<br />
und regelmäßig mit dem Architekten Philip Beesley<br />
zusammenarbeitet, um die sensorischen Prozesse des<br />
menschlichen Körpers auszudrücken, überrascht das<br />
nicht. Für ihre Herbst-/Winter-Kollektion »Earthrise«<br />
von 2021 tat sie sich mit der Umweltschutzorganisation<br />
Parley for the Oceans zusammen und nutzte<br />
Stoffe, die aus Meeresmüll hergestellt worden waren.<br />
58
Romare Bearden<br />
The Sea Nymph – Die Meeresnymphe, 1977<br />
Collage aus verschiedenen Papieren auf Faserplatte mit Farbe und Grafit,<br />
118,1 × 87,6 cm<br />
Privatsammlung<br />
In Buch V des antiken griechischen Epos Die Odyssee<br />
verlässt Odysseus endlich die Insel der Kalypso, um<br />
heim nach Ithaka zu reisen. Kalypso beugt sich dem<br />
Willen des Zeus und hilft dem Helden, ein Schiff zu<br />
bauen. Nachdem er 18 Tage lang gesegelt ist, kommt<br />
er nach Scheria, das Land der Phaiaken. Jedoch<br />
erblickt ihn Poseidon und merkt, was die anderen<br />
Götter vereinbart haben, während er weg war. Der<br />
Meeresgott, Odysseus’ Feind, entfacht einen Sturm,<br />
der das Schiff kentern und den Helden beinahe<br />
ertrinken lässt. Er wird von einer Nymphe gerettet,<br />
die ihn in einen Schleier hüllt, der ihn schützt, als<br />
er unter die Wellen gezogen und gegen die Felsen<br />
geschleudert wird. Mit Athenes Hilfe kann Odysseus<br />
sich ans Ufer retten. Er wirft den Schleier ins Meer<br />
zurück, wie ihn die Nymphe angewiesen hat. The Sea<br />
Nymph ist eine von 20 lebhaften Collagen des amerikanischen<br />
Künstlers Romare Bearden (1911–1988)<br />
aus seiner Serie A Black Odyssey, in der alle Figuren<br />
des Mythos als Schwarze dargestellt werden. Beardens<br />
Serie bewies nicht nur die Relevanz der uralten<br />
Erzählung für ein modernes Publikum, sondern<br />
zeigte auch die Universalität der Geschichte von<br />
Abenteuer und letztendlich Heimkehr. Inspiriert von<br />
Matisses Collagen, dem Kubismus und Jazz, zog Bearden<br />
Parallelen zwischen den Reisen des Odysseus und<br />
der Bewegung der Afroamerikaner vom Süden in den<br />
Norden nach dem Bürgerkrieg – Teil seiner eigenen<br />
Familiengeschichte. Die Suche nach einem Zuhause<br />
war immer ein unterschwelliges Thema seiner Arbeiten:<br />
Nach einem halben Jahrhundert kehrte er 1976 in<br />
sein Elternhaus zurück und begann kurz darauf mit<br />
A Black Odyssey.<br />
59
Ed Annunziata und SEGA<br />
Standbild aus Ecco the Dolphin, 1992<br />
Videospiel, verschiedene Größen<br />
Ein Großer Tümmler scheint ein unwahrscheinlicher<br />
Held für ein Videospiel zu sein, doch Segas Ecco<br />
the Dolphin erwies sich 1992 als Überraschungserfolg.<br />
Das Adventure von Ed Annunziata wurde<br />
ursprünglich für die Mega-Drive/Genesis-Konsole<br />
von SEGA veröffentlicht. Die Spieler leiten Ecco<br />
durch den Ozean, um seine Familie zu retten, die<br />
bei einem großen Sturm aus der friedlichen Home<br />
Bay weggespült worden ist. Annunziata entwarf<br />
für das Spiel 27 Level mit zunehmender Komplexität,<br />
von der relativ einfachen Bay of Medusa bis zum<br />
unglaublich schwierigen letzten Level, The Last Fight.<br />
Spieler müssen Gewässer durchqueren, die von Haien<br />
wimmeln, durch komplexe Höhlen navigieren und<br />
das versunkene Atlantis erkunden. In einem Level<br />
reist Ecco sogar mehrere Millionen Jahre in der Zeit<br />
zurück. Jedes der visuell beeindruckenden Level hat<br />
andere Spiel mechanismen und Feinde, darunter Seepferde,<br />
Quallen, Riesenkraken und Krabben, die man<br />
angreifen kann, indem man sie mit hoher Geschwindigkeit<br />
rammt. Mehrere Spielfunktionen beruhen<br />
auf dem echten Verhalten von Delfinen: Ein Button<br />
aktiviert Eccos Sonar, sodass er mit anderen Walen<br />
kommunizieren und mit Objekten interagieren kann.<br />
Eine Echoortung ruft eine Karte der Umgebung auf,<br />
allerdings sind die Spieler in den komplizierteren<br />
Leveln auf ihr Gedächtnis angewiesen. Genau wie<br />
echte Delfine muss Ecco zum Atmen auftauchen,<br />
und so müssen die Spieler den Vorrat an Sauerstoff<br />
im Auge behalten. Ecco the Dolphin verlangt Geduld.<br />
Sein Schwierigkeitsgrad war der Grund für seine<br />
Langlebigkeit, aber auch für seinen Status als Klassiker,<br />
der seiner Zeit weit voraus war.<br />
60
Walt Disney Pictures<br />
Standbild aus Arielle, die Meerjungfrau, 1989<br />
Zeichentrickfilm, verschiedene Größen<br />
Die Künstler der Walt-Disney-Studios nutzten 1989<br />
ein umwerfendes Aufgebot an Effekten und kombinierten<br />
traditionelle handgemalte Zeichnungen mit<br />
neuartigen Computeranimationen zu einer Unterwasserwelt<br />
in Technicolor für den Film Arielle, die<br />
Meerjungfrau, von Ron Clements und John Musker.<br />
Licht schimmert auf glänzenden Felsen, lebhafte<br />
Algen schwanken in unsichtbaren Strömungen und<br />
die Bewegungen der Figuren werden durch Millionen<br />
handgezeichneter Luftbläschen unterstrichen, die<br />
sie wie Schleppen hinter sich herziehen. Die Handlung<br />
des Disney-Films beruht auf dem 1837 entstandenen<br />
Märchen von der kleinen Meerjungfrau des<br />
dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen.<br />
Arielle, jüngste Tochter von Triton und Athena, den<br />
Herrschern des Unterwasserreiches Atlantica, schließt<br />
einen Handel mit der Hexe Ursula ab, bei dem sie ihre<br />
magische Singstimme opfert, um Mensch werden und<br />
den gut aussehenden Prinzen Erik heiraten zu können.<br />
Disneys Version der Geschichte weicht von Andersens<br />
Original ab: Arielle bekommt ihre Stimme zurück,<br />
Erik besiegt Ursula und die beiden leben glücklich<br />
als Menschen zusammen. Die Beliebtheit des Films<br />
ist auch seinen schillernden Nebenfiguren geschuldet,<br />
wie dem nervösen Doktorfisch Fabius und der roten<br />
Krabbe Sebastian, deren Paradestück »Under the Sea«<br />
(»Unter dem Meer«), geschrieben und getextet von<br />
den Disney-Komponisten Howard Ashman und Alan<br />
Menken, 1990 den Oscar für den besten Filmsong<br />
gewann. Die technischen und kreativen Ambitionen<br />
von Arielle, die Meerjungfrau sind vergleichbar mit<br />
früheren Meisterwerken wie Fantasia (1940) und läuteten<br />
eine neue Erfolgsphase für Disney ein.<br />
61
62
Sandro Bocci<br />
Meanwhile, 2015<br />
Standbilder aus einem 4K-Video, verschiedene Größen<br />
Diese 12 Bilder aus einem fünfminütigen Film fangen<br />
nur einen Bruchteil der Schönheit und Individualität<br />
des Lebens unter der Meeresoberfläche ein. Meanwhile<br />
ist das Werk des italienischen Dokumentarfilmers<br />
Sandro Bocci (geb. 1978). Bocci zeigt in seinem<br />
2015 gedrehten experimentellen Film Meerestiere wie<br />
Schwämme und Korallen. In starker Vergrößerung<br />
und im Zeitraffermodus wird das lange Leben dieser<br />
Wesen zur Schau gestellt. Bocci führt den Zuschauern<br />
die Schönheit eines winzigen Teils unserer Erde vor<br />
Augen und hofft damit, sie zum Nachdenken über<br />
ihr Verhalten angesichts des bewiesen gefährlichen<br />
Klimawandels anzuregen. Boccis Film zur Musik von<br />
Maurizio Morganti wurde in den flachen Riffen des<br />
indopazifischen Ozeans gedreht und konzentriert<br />
sich auf farbenfrohe Korallen, von der Froschlaich-<br />
Hammerkoralle (Euphyllia divisa wilde) und verschiedenen<br />
großen Steinkorallen, wie der Symphyllia mit<br />
ihren vielen Farben, bis zu Lincks Walzenseestern<br />
(Protoreaster Linckii) und der kleinen Grabenden Riesenmuschel<br />
(Tridacna maxima). Mittels verschiedener<br />
Techniken, wie dem Filmen bei ultraviolettem Licht,<br />
bringt Bocci die Schönheit und unendliche Vielfalt<br />
des Lebens im Riff zutage. Seine Zeitrafferaufnahmen<br />
erwecken die Korallen und Schwämme zum<br />
Leben, während er – in seinen eigenen Worten – versucht,<br />
ein Netz zwischen Wissenschaft und Magie zu<br />
knüpfen. Unzählige Farben stürmen auf das Auge ein,<br />
von lebhaftem Purpur bis zu irisierendem Grün und<br />
Gelb, und zeigen dem Publikum, wie außer ordentlich<br />
diese geheime Welt ist, die den meisten von uns verborgen<br />
bleibt.<br />
63
NASA<br />
Pearl-und-Hermes-Atoll, Hawaii, 2006<br />
Digitalfotografie, verschiedene Größen<br />
Dieses von Landsat 7 aus dem All aufgenommene Bild<br />
zeigt einen Abschnitt des Pearl-und-Hermes-Atolls,<br />
das zu den Nordwestlichen Hawaii-Inseln (Inseln<br />
unter dem Winde) gehört. Das Bild ist Teil einer<br />
Sammlung von mehr als 1.700 Bildern von Korallenriffen<br />
aus dem Millennium Coral Reef Project, einer<br />
Internet-basierten Bibliothek, finanziert u. a. von der<br />
NASA (National Aeronautics and Space Administration).<br />
Internationale Forscher von verschiedenen<br />
Organisationen und Universitäten schufen zusammen<br />
mit der NASA eine umfassende Datenbank<br />
basierend auf Bildern der Landsat-Überwachungssatelliten,<br />
um festzustellen, wie gut die Korallenriffe<br />
geschützt sind. Sie stellten ein Archiv aller Meeresschutzgebiete<br />
zusammen und verglichen es mit den<br />
kleinteiligsten vorhandenen Materialien von Korallenriffen.<br />
Die Details und Qualität der NASA-Satellitenbilder<br />
erlaubten es, genau zu ermitteln, wo sich die<br />
Riffe in den Ökosystemen der Küsten befinden. Die<br />
Forscher entdeckten, dass weniger als zwei Prozent<br />
aller Riffe in Gebieten liegen, die dazu bestimmt<br />
sind, potenziell schädliche menschliche Aktivitäten<br />
zu begrenzen. Das Pearl-und-Hermes-Atoll, benannt<br />
nach den Wracks zweier englischer Walfangschiffe<br />
von 1822, wurde 1909 unter Schutz gestellt, als Präsident<br />
Theodore Roosevelt die Hawaiian Islands Bird<br />
Reservation schuf. Präsident George W. Bush machte<br />
2006 die Nordwestlichen Hawaii-Inseln zum Marine<br />
National Monument, dem größten Meeresschutzgebiet<br />
der Welt. Die Atolle, die bei Winterstürmen regelmäßig<br />
überflutet werden, bieten wichtige Lebensräume<br />
für Tiere und sind Heimat für 20 Prozent der weltweiten<br />
Population des Schwarzfußalbatros.<br />
64
Doug Perrine<br />
Dornenkronenseestern, der eine Acropora-<br />
Tischkoralle frisst, Similan-Inseln, Thailand, 1997<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
»Die fremdländische Plage, die unsere Riffe zerstört!«<br />
lautete eine Schlagzeile 1969 in einem australischen<br />
Boulevardblatt, das über die Gefährdung des<br />
Great Barrier Reef durch den Seestern Acanthaster<br />
planci berichtete. Die wissenschaftliche Wahrheit<br />
ist nüchtern, aber dennoch faszinierend. Ende der<br />
1960er-Jahre waren tatsächlich große Bereiche mit<br />
Korallen vom Dornenkronenseestern befallen. Als<br />
Wissenschaftler jedoch Bohrungen im Riff vornahmen<br />
und die Bohrkerne analysierten, stellten sie<br />
fest, dass diese »Plage« der natürlich auftretende<br />
Höhepunkt im zyklischen Auf und Ab dieser Art<br />
war. Seesterne haben an der Unterseite ihrer Beine<br />
Hunderte von winzigen gallertartigen »Füßchen«.<br />
Erhöht sich der Wasserdruck im Körper des Seesterns,<br />
verlängern sie sich, sodass das Tier auf der Koralle<br />
herumkriechen kann. Die Mundöffnung liegt auf der<br />
Unterseite. Zur Nahrungsaufnahme stülpen die Tiere<br />
sie nach außen, sodass sie eine Art Gewebedecke<br />
bildet, deren Verdauungssäfte das essbare Fleisch der<br />
Koralle auf lösen. Dornenkronenseesterne fressen und<br />
ziehen dann weiter und lassen nur das weiße, tote<br />
Kalk skelett der Koralle zurück, wie man in diesem<br />
Bild des amerikanischen Fotografen Doug Perrine<br />
(geb. 1952) der Acropora-Tischkoralle in der Andamanensee<br />
vor der Küste Thailands sehen kann. Inzwischen<br />
ist die Bedrohung durch den Seestern tatsächlich<br />
akut, da viele Korallen-Ökosysteme bereits unter<br />
dem Stress des Klimawandels leiden. Eine Theorie<br />
besagt, dass der Dornenkronenseestern bei steigender<br />
Wassertemperatur erfolgreicher sein wird und ein<br />
stärkerer Befall der Kipppunkt für das Überleben von<br />
Korallenriffen sein könnte.<br />
65
Miquel Barceló<br />
Die Kraken-Zentrale, 2015<br />
Verschiedene Medien auf Leinwand, 1,90 × 2,70 m<br />
Privatsammlung<br />
Der auf der Mittelmeerinsel Mallorca aufgewachsene<br />
Miquel Barceló (geb. 1957) begeistert sich schon sein<br />
Leben lang für das Meer. Er gehört zu den berühmtesten<br />
zeitgenössischen Künstlern Europas und<br />
arbeitet in den verschiedensten Medien, von Keramik<br />
bis Performancekunst. Besonders bekannt ist er für<br />
seine Arbeiten im öffentlichen Raum, etwa für das<br />
UN-Hauptquartier in Genf, wo er 2008 eine riesige<br />
gewölbte Decke mit vielfarbigen Stalaktiten aus 35<br />
Tonnen Farbe bedeckt hat. Er sprühte die Decke dann<br />
mit einer blaugrauen Farbe ein, die ihr Aussehen je<br />
nach Perspektive des Betrachters von regenbogenfarbig<br />
bis düster-gedeckt ändert. Barceló ist zwar für<br />
seine Wüstengemälde – Ausdruck seiner Faszination<br />
von der kulturellen und geografischen Vielfalt<br />
Afrikas – und Stierkampfszenen bekannt, wendet<br />
sich aber immer wieder seiner großen Liebe, dem<br />
Meer, zu. Für seine intensiv farbigen Seestücke legt er<br />
sorgfältig Schichten aus verschiedenen Medien übereinander,<br />
bis ein für ihn typisch starker Impasto-<br />
Effekt entsteht. In diesem Gemälde von 2015 hat<br />
Barceló versucht, sich vorzustellen, wie der Krake, das<br />
legendäre Seeungeheuer, in den Tiefen des Ozeans<br />
aussehen könnte. Laut der Legende lebt der von<br />
Seeleuten gefürchtete, menschenfressende Oktopus<br />
vor der Küste Norwegens. Wie Jules Verne in seinem<br />
Klassiker von 1871 20.000 Meilen unter dem Meer<br />
(siehe S. 133) erzählt, sind die Tentakel des Monsters<br />
in der Lage, ein Schiff zum Sinken zu bringen.<br />
Barcelós Krake ist eine viel abstraktere Kreatur, deren<br />
leuchtende Tentakel scheinbar über dem Betrachter in<br />
der tiefblauen See schweben.<br />
66
Henley Spiers<br />
Der sicherste Ort, 2016<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Dieses erstaunliche Bild erzählt eine faszinierende<br />
Geschichte. Ein Goldstirn-Brunnenbauer-Männchen<br />
(Opistognathus aurifrons) trägt seine Brut im Maul,<br />
die schon bald aus den durchsichtigen Eiern schlüpfen<br />
wird. Die Augen der winzigen Fische sind in den<br />
Eiern deutlich erkennbar, die wie ein Haufen Juwelen<br />
im Maul des Vaters liegen, geschützt vor Räubern.<br />
Bei diesen Arten (sogenannten Maulbrütern) hält<br />
das Männchen das Gelege im Maul, bis nach etwa<br />
einer Woche die Nachkommen schlüpfen. Maulbrüten<br />
ist bei vielen Fischarten – und anderen Tieren, wie<br />
etwa Fröschen – verbreitet. Es ist eine evolutionäre<br />
Anpassung, die im Verhältnis zur Anzahl der Eier<br />
mehr Junge hervorbringt. Bei manchen Arten nimmt<br />
das Männchen die Eier auf, bei anderen das Weibchen;<br />
das jeweilige Elterntier kann in dieser Zeit nicht<br />
fressen, wird schwächer und muss sich nach dem<br />
Schlüpfen der Jungtiere erholen. Bei einigen Arten<br />
flüchten die frei herumschwimmenden Jungen in das<br />
Maul des Elterntieres, falls Gefahr eintritt. Goldstirn-<br />
Brunnenbauer sind in der Karibik und im tropischen<br />
Westatlantik heimisch. Sie bewohnen Spalten in<br />
Korallenriffen oder Löcher im Boden. Der britischfranzösische<br />
Fotograf Henley Spiers sah diesen Fisch<br />
in Saint Lucia. Fasziniert tauchte er mehrmals an<br />
denselben Standort, um das Fortpflanzungsverhalten<br />
genauer zu beobachten. Wenn die Eier kurz vor dem<br />
Ausschlüpfen sind, werden sie silbrig und die Augen<br />
kommen zum Vorschein. Bei Sonnenauf- oder -untergang<br />
und oft bei Vollmond entlässt das Männchen<br />
die frisch geschlüpften Jungen dann in das offene<br />
Wasser.<br />
67
Brandon Cole<br />
Golden Jellyfish, Quallensee, Palau, 2013<br />
Digitalfotografie, verschiedene Größen<br />
Diese atemberaubende Fotografie eines Schwarms<br />
»Golden Jellyfish« (Mastigias papua etpisoni) stammt<br />
von dem Tierfotografen und Autor Brandon Cole und<br />
wurde auf Palau aufgenommen, einem Archipel aus<br />
mehr als 500 Inseln im Westpazifik. Auf diesen felsigen<br />
und bewohnten Inseln gibt es etwa 60 marine<br />
Seen, die vor etwa 12.000 Jahren entstanden und<br />
mit riesigen Quallenkolonien gefüllt sind. Jeder der<br />
Salzwasserseen ist durch enge Unterwasserkanäle<br />
und Spalten im Kalkstein mit dem Ozean verbunden,<br />
die einen Wasseraustausch erlauben, aber Räuber<br />
fernhalten. Viele sind daher geschlossene Ökosysteme,<br />
in denen sich die Quallen deutlich anders<br />
entwickelt haben als ihre Verwandten im Meer. Vor<br />
Tausenden von Jahren gelangten Exemplare dieser<br />
Schirmqualle (Mastigias papua) in den See auf Eil<br />
Malk. Aus ihnen entwickelte sich die heute bekannte<br />
Unterart. Der Golden Jellyfish, der evolutionär durch<br />
sein geschlossenes Ökosystem definiert wird, verhält<br />
sich auch anders als sein Vorfahr im Meer. Golden<br />
Jellyfish ernähren sich von Plankton und gehen eine<br />
symbiotische Verbindung mit Zooxanthellae-Algen<br />
ein, die in ihrem Gewebe leben. Um ihre auf Fotosynthese<br />
angewiesenen Symbionten bei guter Gesundheit<br />
zu halten, wandern die Quallen jeden Tag von<br />
einem Ende des Sees zum anderen und folgen dabei<br />
der Sonne. Die Tatsache, dass sie sich von den schattigen<br />
Ufern fernhalten, schützt sie außerdem vor der<br />
Seeanemone Entacmaea medusivora, die sich von den<br />
Quallen ernährt.<br />
68
Mariko Kusumoto<br />
Sea Creatures, Halskette, 2015<br />
Polyester und Monofilament (Kunststoff), 9,5 × 31,1 × 30,5 cm<br />
Museum of Fine Arts, Boston<br />
Dieses aus Polyesterstoff und Nylondraht gefertigte<br />
Halsband der japanisch-amerikanischen Künstlerin<br />
Mariko Kusumoto (geb. 1962) ist so konzeptionell<br />
unbeschwert wie leichtgewichtig. Ihre verspielte,<br />
transparente Darstellung eines Korallenriffs basiert<br />
zum Teil auf tatsächlichen Lebewesen wie Seeigeln<br />
und Hirschgeweihkorallen. Die durchscheinenden<br />
Materialien jedoch machen aus dem visuellen Erleben<br />
eine Erkundung einer traumartigen Schichtung<br />
zarter Farben, die einander überlagern und zusammenspielen.<br />
Eines von Kusumotos Markenzeichen ist<br />
das Einkapseln einer Form in einer anderen, so als<br />
würde sie in einer Blase davonschweben. In diesem<br />
Werk findet sich diese Technik in dem wabenförmigen<br />
Seeigel, der in einer kannelierten Kugel eingeschlossen<br />
ist. Für die Herstellung der Formen nutzte<br />
Kusumoto eine Polyester-Härtungstechnik, die sie<br />
selbst entwickelt hat, sowie Techniken zum Pressen<br />
und Formen, die sie traditionellen Juwelierarbeiten<br />
mit Metall entlehnt hat. Die Kunstwerke sind mehr<br />
als nur statische Skulpturen und erwachen als durchaus<br />
tragbarer Schmuck zum Leben. Bei Jean Paul<br />
Gaultiers Frühjahrs-/Sommer-Kollektion 2019 auf der<br />
Paris Fashion Week wogten und federten die luftigleichten<br />
Materialien und waren Hingucker in den<br />
Kreationen des Modemachers. Kusumoto betrachtet<br />
ihr Werk als ein Ausloten des Potenzials der Stoffe,<br />
mit denen sie arbeitet – »Fast die Hälfte meiner<br />
kreativen Zeit verbringe ich mit Experimentieren«, so<br />
ihr Kommentar –, sodass jedes neu erschaffene Stück<br />
einer Entdeckungsreise gleicht, die so aufregend ist<br />
wie das Erkunden eines echten Korallenriffs.<br />
69
Jean-Baptiste Lamarck, Jean Guillaume Bruguière und Robert Bénard<br />
Medusa, aus Tableau encyclopédique et méthodique des trois regnes de la nature, 1791<br />
Handkolorierter Stich, 27,9 × 22,9 cm<br />
Privatsammlung<br />
Der Begriff Medusa wurde von dem einflussreichen<br />
Taxonomen Carl von Linné (siehe S. 316) erstmals<br />
1744 in der vierten Auflage seiner Systema naturae<br />
benutzt. Inspiriert von der Gorgone der griechischen<br />
Mythologie, benannte Linné die Hauptform der<br />
Qualle in ihrer Fortpflanzungsphase. Dieser Stich<br />
stammt aus einem Referenzwerk des berühmten französischen<br />
Universalgelehrten Jean-Baptiste Lamarck<br />
(1744–1829) und von Jean Guillaume Bruguière<br />
(1749–1798) und wurde von Robert Bénard (1734–1772)<br />
gefertigt. Er ist in einer unglaublich ambitionierten<br />
Enzyklopädie enthalten, die im 18. Jahrhundert in<br />
Frankreich herausgegeben wurde und deren Publikation<br />
sich über mehr als 50 Jahre und 150 Bände<br />
erstreckte. Inspiriert von Denis Diderots berühmter<br />
Encyclopedie, hatte Charles-Joseph Panckoucke, ein<br />
junger Verleger, der an dem Projekt mitgearbeitet<br />
hatte, die Idee des Tableau Encyclopedique et Methodique,<br />
einer umfassenden Erkundung des aktuellen<br />
Wissens der »drei Königreiche der Natur«, die erstmals<br />
viele Arten wissenschaftlich beschrieb. Lamarck<br />
war einer der ersten frühen Vertreter der biologischen<br />
Evolution (er prägte auch den Begriff Biologie). Er<br />
kam bei seinen Forschungen zu dem Schluss, dass<br />
Arten nicht unveränderlich waren, auch wenn seine<br />
Erklärung des zugrunde liegenden Mechanismus später<br />
von Charles Darwin korrigiert wurde. Im Mittelpunkt<br />
seiner Theorie stand seine Arbeit an Mollusken.<br />
Wirbellose Tiere wurden in der Wissenschaft damals<br />
eher gering geschätzt, doch Lamarck änderte das, wie<br />
die reichen Details dieser Bildtafel nahelegen. Dass<br />
er sie in die Enzyklopädie aufnahm, rückte sie zum<br />
ersten Mal in das Licht der Öffentlichkeit.<br />
70
René Lalique<br />
Seeigel-Vase, 1935<br />
Glas mit blauen Akzenten, Durchmesser 18,5 × 20 cm<br />
National Gallery of Victoria, Melbourne<br />
René Jules Lalique (1860–1945) war ein berühmter<br />
französischer Juwelier und Glasmacher mit einem<br />
immensen Einfluss auf die Stilrichtungen Art nouveau<br />
und Art déco. 1876 arbeitete er als Lehrling bei<br />
Louis Aucoc, einem führenden Juwelier und Goldschmied<br />
in Paris, und richtete schließlich 1885 sein<br />
eigenes Atelier in Paris ein. Der vom renommierten<br />
französischen Glasmacher Èmile Gallé als »Erfinder<br />
des modernen Schmucks« bezeichnete Lalique schuf<br />
wunderschöne und zarte Stücke wie Halsketten,<br />
Anhänger und Broschen aus Elfenbein, Horn, Halbedelsteinen,<br />
Emaille und Glas. Diese waren bei der<br />
wohlhabenden Oberschicht sehr gefragt, so auch bei<br />
der Schauspielerin Sarah Bernhardt. Im Jahre 1913<br />
erwarb er eine Glaswerkstatt in Combs-la-Ville südöstlich<br />
von Paris, 1921 baute er eine neue Fabrik, die<br />
Verrerie d’Alsace in Wingen-sur-Moder in den Vogesen.<br />
Heute befindet sich dort das Lalique-Museum.<br />
Lalique war von der weiblichen menschlichen Form<br />
inspiriert, aber auch von Flora und Fauna, in diesem<br />
Fall von der wunderbaren Symmetrie eines Seeigels.<br />
Unter dem Rand der Öffnung imitiert diese zarte<br />
Glasvase exakt den Körper eines Seeigels und kopiert<br />
das kugelförmige »Gehäuse« dieses faszinierenden<br />
Stachelhäuters. Echte Seeigel sind durch spitze Stacheln<br />
geschützt, zwischen denen röhrenförmige Füße<br />
hervorragen, mit denen sich die Tiere langsam über<br />
Felsen oder den Meeresboden bewegen. Wenn ein<br />
Seeigel stirbt, dann ist die harte, kugelige Hülle, die<br />
von dieser Vase so naturgetreu wiedergegeben wird,<br />
alles, was bleibt.<br />
71
Emmy Lou Packard<br />
(Tiefseekomposition), ca. 1950<br />
Farbiger Blockdruck auf Papier, 25,4 × 35 cm<br />
Privatsammlung<br />
In einem raffinierten grafischen Stil und gedämpften<br />
Farben reduzierte die amerikanische Künstlerin<br />
Emmy Lou Packard (1914–1998) eine Auswahl an<br />
Kreaturen des Ozeans, wie Seeigel, Anemonen, Korallen<br />
und eine Muschel, auf ihre elementaren Formen.<br />
Jedem der mit einem handgeschnitzten Holzblock<br />
gedruckten Tiere in dieser halbabstrakten Illustration<br />
ist seine eigene Farbe zugewiesen, mit der es sich<br />
von einem kontrastreichen Hintergrund aus schwarzweißen<br />
Formen abhebt. Das Bild schmückte einst<br />
die Luxuskabinen der SS Mariposa und Monterey,<br />
Kreuzfahrtschiffen der Matson Navigation Company,<br />
die einst in Ozeanien und Australasien unterwegs<br />
waren. Es ist einer von zehn Entwürfen, die Packard<br />
neben einer Serie aus acht Wandbildern für den<br />
Ballsaal der Mariposa, den Polynesian Club, für die<br />
Reederei hergestellt hat. Sie zog ihre Inspiration<br />
aus der Volkskunst der Südpazifik-Region, speziell<br />
indigenen Schnitzereien aus Papua-Neuguinea und<br />
Australien, die sie als »ungemein lebhaft« beschrieb.<br />
Packard war berühmt für ihre Wandbilder und Drucke.<br />
Sie lebte einige Jahre in Mexiko bei Frida Kahlo<br />
und Diego Rivera, für die sie als Assistentin arbeitete.<br />
Packards Arbeiten waren zusammen mit denen<br />
anderer Maler und Mosaikkünstler erstmals 1956 auf<br />
der Jungfernfahrt der Mariposa von San Francisco<br />
nach Sydney über Honolulu und Auckland zu sehen.<br />
Holzschnitte von pazifischen Korallen und anderen<br />
ozeanischen Motiven schuf sie auch für die SS Lurline<br />
bzw. das Princess-Kaiulani-Hotel des Unternehmens<br />
in Honolulu.<br />
72
Jean Painlevé<br />
Oursin (Seeigel), 1927<br />
Silbergelatine-Abzug, 23 × 16,8 cm<br />
Archives Jean Painlevé, Paris<br />
Der französische Künstler Jean Painlevé (1902–1989)<br />
– dessen Œuvre mehr als 200 kurze Dokumentarfilme,<br />
schriftliche Arbeiten, eine Schmuckserie, einen<br />
Tauchclub und zahlreiche Fotoarbeiten umfasst – war<br />
studierter Biologe, der sich lebenslang für die Wissenschaft,<br />
speziell das Leben im Meer interessierte. Der<br />
Zeitgenosse von Surrealisten wie André Breton und<br />
Man Ray hatte einen Stil, der zugleich informatorisch<br />
und mysteriös, direkt und verspielt, wissenschaftlich<br />
und poetisch war. Er setzte neue – teils selbst<br />
erfundene – Kameratechniken ein, die ihm Unterwasser-<br />
oder extreme Nahaufnahmen erlaubten, wie<br />
in diesem detailreichen Foto eines Seeigels. Trotz<br />
seiner innovativen Techniken war es für Painlevé<br />
jedoch oft einfacher, seine Motive in Aquarien in seinem<br />
Studio in der Bretagne aufzunehmen, statt unter<br />
Wasser zu fotografieren. Dieses und ähnliche Werke<br />
brachten dem Publikum das vielfältige, seltsame und<br />
schöne Leben unter Wasser näher. Im Jahr dieser<br />
Fotoaufnahme (1927) drehte Painlevé auch seine<br />
ersten drei Kurzfilme, von denen einer Seeigel zum<br />
Thema hatte (Les Oursins). Mit Vergrößerungen und<br />
Zeitraffer stellte er die herkömmliche Sicht auf diese<br />
kleinen Tiere infrage. Seinen vermutlich bekanntesten<br />
Film stellte Painlevé 1934 fertig: L’Hippocampe (Das<br />
Seepferd). Erstmals war der ungewöhnliche Fortpflanzungszyklus<br />
der Seepferdchen zu sehen, bei dem<br />
die Männchen die Jungen bekommen. Das Tauchen<br />
im Meer wurde durch neue Erfindungen wie Druckregulierung<br />
und künstliche Atemhilfen erst ermöglicht;<br />
Einzelheiten über die Vielfalt des unterseeischen<br />
Lebens waren daher entsprechend aufregend und<br />
vermittelten oft vollkommen neue Informationen.<br />
73
Else Bostelmann<br />
Ein säbelzähniger Viperfisch (Chauliodus sloanei) jagt eine Mondfisch- (Mola mola) Larve, 1934<br />
Aquarell auf Papier, 47 × 62,2 cm<br />
Wildlife Conservation Society, New York<br />
In diesem dramatischen Gemälde ragt der monströse<br />
Kopf eines Viperfisches auf der Jagd nach einem hilflosen<br />
jungen Mondfisch (Mola mola) von der Seite in<br />
das Bild hinein. Die winzige Larve droht, zwischen<br />
den klaffenden Kiefern des furchteinflößenden Räubers<br />
zu verschwinden, dessen metallisch glänzende<br />
Haut ihm eine außerweltliche Anmutung verleiht.<br />
Dieses fantastisch anmutende Werk der deutschen<br />
Künstlerin Else Bostelmann (1882–1961) entstand<br />
nach den Notizen und Beobachtungen des berühmten<br />
Entdeckers und Naturforschers William Beebe (siehe<br />
S. 75). Bostelmann kam 1909 in die USA und trat<br />
1929 als Künstlerin für das Department of Tropical<br />
Research unter Beebes Leitung der New York Zoological<br />
Society (heute Wildlife Conservation Society)<br />
bei. Bei einer Expedition nach Bermuda 1934 tauchte<br />
Beebe in der Bathysphäre mehr als 915 Meter tief. Aus<br />
diesem gusseisernen Tauchboot beschrieb er seiner<br />
Kollegin Gloria Hollister auf dem Schiff darüber per<br />
Telefon das Leben in der Tiefsee. Anhand der Notizen<br />
der beiden schuf Bostelmann mehr als 300 Illustrationen.<br />
Ihre Gemälde wurden, vor allem in den 1930er-<br />
und 40er-Jahren, in der Zeitschrift National Geographic<br />
veröffentlicht und enthielten hoch spezialisierte<br />
Arten wie diesen Viperfisch. Chauliodus sloanei ist<br />
eine von mehreren Viperfisch-Arten, die alle an das<br />
Leben im tiefen Ozean angepasst sind, wo es kaum<br />
Licht gibt. Sie haben große Augen für das wenige vorhandene<br />
Licht und ihre irisierenden Körper besitzen<br />
spezielle Leuchtorgane oder Photophore. Mit diesen<br />
locken Viperfische ihre Beute an. Diese Raubfische<br />
haben ein großes Maul mit einem weit aufklappbaren<br />
Unterkiefer und scharfen Zähnen.<br />
74
Ein kugelförmiges Tauchboot schwebt durch diese<br />
blassblaue Unterwasserlandschaft, an Bord der amerikanische<br />
Naturforscher, Entdecker und Ornithologe<br />
Charles William Beebe (1877–1962). Zwei Quallen und<br />
eine große fleischfressende Kreatur lauern nahebei,<br />
während in der Ferne andere Wesen schwimmen. Der<br />
italienische Journalist, Illustrator und Filmemacher<br />
Aldo Molinari (1885–1959) zeichnete diesen historischen<br />
Moment – Professor Beebe in seiner Bathysphäre<br />
1.000 Meter unter der Oberfläche des Atlantischen<br />
Ozeans – für eine illustrierte Beilage der Zeitung<br />
Aldo Molinari<br />
Professor Beebe in seiner Bathysphäre 1.000 Meter<br />
unter der Oberfläche des Atlantischen Ozeans, ca. 1934<br />
Gedruckter Artikel, 39 × 30 cm<br />
Privatsammlung<br />
Gazzetta del Popolo. 1928 wandte sich Beebe, der die<br />
Tiefsee erkunden wollte, in seinem Tauchanzug aber<br />
nur 90 Meter tief kam, an den Ingenieur Otis Barton,<br />
der eine druckbeständige Stahlkugel hergestellt hatte,<br />
mit der größere Tiefen möglich waren. Beebe nannte<br />
sie Bathysphäre, vom griechischen Präfix bathy- für<br />
»tief«. Die Kugel wurde mit einem Stahlseil von einem<br />
Schiff herabgelassen, während an einem weiteren<br />
Seil Licht- und Telefonkabel befestigt waren. 1930<br />
trafen sich Beebe und Barton auf Nonsuch Island in<br />
Bermuda, um Test-Tauchgänge zu unternehmen. In<br />
die Stahlkugel gequetscht, sanken sie 434 Meter in die<br />
Tiefe, tiefer, als jemals ein lebender Mensch gekommen<br />
war. Es erforderte Mut und Einfallsreichtum: Nur<br />
die Stahlhülle trennte sie von der Druckgewalt des<br />
Wassers. Im September 1932 stiegen sie auf 670 Meter<br />
ab, und per Telefon beschrieb Beebe biolumineszente<br />
Meereskreaturen, die noch nie jemand zuvor gesehen<br />
hatte. 1934 erreichten sie die spektakuläre Tiefe von<br />
923 Metern – ein Rekord, der erst 1949 gebrochen<br />
wurde. Die Bathysphäre wird heute vor dem New York<br />
Aquarium ausgestellt.<br />
75
Louis Boutan<br />
Der Taucher Emil Racoviţă am Observatoir océanologique von Banyuls-sur-Mer, 1899<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Luftblasen steigen im Wasser auf, wo der Taucher<br />
Emil Gheorghe Racoviță ein Schild hochhält, auf dem<br />
deutlich, aber kopfüber, steht: »Photographie sousmarine«<br />
(frz. »Unterwasserfotografie«). Der Hinweis<br />
war sinnvoll, da dies eines der ersten Bilder ist, bei<br />
dem Motiv und Fotograf sich unter Wasser befanden.<br />
Hinter der Kamera war der bedeutende französische<br />
Biologe Louis Marie-Auguste Boutan (1859–1934), ein<br />
Vorreiter auf dem Gebiet der Unterwasserfotografie.<br />
Racoviță, ein rumänischer Zoologe, war Wissenschaftler<br />
auf der RV Belgica, dem ersten Schiff, das<br />
südlich des Südpolarkreises überwinterte. Boutan<br />
wurde 1893 Professor am Laboratoire Arago im südfranzösischen<br />
Banyuls-sur-Mer. Der enthusiastische<br />
Taucher ließ sich von den Wundern des Mittelmeers<br />
inspirieren, zusammen mit seinem Bruder Auguste<br />
eine Kamera zu entwickeln, bei der sich unter Wasser<br />
Blende und Verschluss einstellen ließen. In der Düsternis<br />
unter Wasser konnte es bis zu 30 Minuten dauern,<br />
bis die lichtempfindlichen Platten in der Kamera<br />
ausreichend belichtet waren. Boutan schuf deshalb<br />
künstliches Licht, indem er ein Magnesiumband in<br />
einem mit reinem Sauerstoff gefüllten Kolben in<br />
Brand setzte. Diese Methode löste mehr Explosionen<br />
als erfolgreiche Belichtungen aus, sodass Boutan<br />
sie verbesserte, indem er mit einem Gummikolben<br />
Ma gnesiumpulver in eine brennende Alkohollampe<br />
blies. Die ganze Konstruktion musste an einem Holzbottich<br />
befestigt werden und war daher unhandlich<br />
und schwer zu transportieren. Aber sie war zuverlässig<br />
– und verkürzte die Belichtungszeiten. Deshalb<br />
ist das Seegras um Racoviță herum relativ scharf,<br />
obwohl es von der Strömung bewegt wird.<br />
76
Anonym<br />
Sylvia Earle in einem JIM-Anzug, etwa Ende der 1970er-Jahre<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Am 19. September 1979 stieg die Meeresforscherin<br />
Sylvia Earle (geb. 1935) vor der Küste von Oahu,<br />
Hawaii, in einem sogenannten JIM-Anzug auf den<br />
Meeresboden hinab. Sie war vor ein kleines Tauchboot<br />
geschnallt, von dem sie sich in einer Tiefe von 381<br />
Metern losmachte. Zwei Stunden lang erkundete sie<br />
die Umgebung, bevor sie – ohne Dekompression – an<br />
die Oberfläche zurückkehrte. Damit setzte sie einen<br />
Rekord für den tiefesten ungebundenen Tauchgang<br />
einer Frau. Er besteht noch heute und inspirierte<br />
ihren Spitznamen: Her Deepness. Der JIM-Anzug hielt<br />
trotz des steigenden Außendrucks den Innendruck<br />
von 1 Atmosphäre (fast genau 1 Bar) konstant, sodass<br />
keine Gefahr für die Dekompressionskrankheit<br />
(Stickstoffnarkose) bestand. Der Anzug wurde 1969<br />
erfunden und meist bei Arbeiten an unterseeischen<br />
Ölfeldern eingesetzt. Seit 1990 wird er jedoch nicht<br />
mehr kommerziell genutzt. Earle ist Meeresbiologin,<br />
Ozeanografin und Aktivistin mit einem Doktortitel<br />
in Algenkunde von der Duke University. 1970 führte<br />
sie ein rein weibliches Team aus Aquanauten in dem<br />
von der NASA finanzierten Experiment Tektite II.<br />
Das Team lebte zwei Wochen in 13 Metern Tiefe<br />
vor St. John Island der US-amerikanischen Virgin<br />
Islands. Earle wirkte bei der Entwicklung bemannter<br />
und robotischer Unterseeausrüstungen mit. 2008<br />
gründete sie Mission Blue, um auf die Gefahren von<br />
Überfischung und Verschmutzung für die Ozeane<br />
hinzuweisen. Die Stiftung sucht Unterstützung für<br />
Hope Spots – Orte, die für die Gesundheit der Meere<br />
wichtig sind – und arbeitet mit lokalen Communitys<br />
zusammen, um deren Nachhaltigkeit und Erhaltung<br />
zu sichern; heute gibt es mehr als 130 Hope Spots.<br />
77
Jacques-Yves Cousteau und Louis Malle<br />
Standbild aus Le monde du silence, 1956<br />
Film, verschiedene Größen<br />
Le monde du silence (Die schweigende Welt) war einer<br />
der ersten Filme, die mit neuer Unterwasserfilmtechnik<br />
den tiefen Ozean in Farbe zeigten. Er gewann<br />
dafür einen Oscar und die erste Goldene Palme, die<br />
auf dem Filmfestival in Cannes für Dokumentarfilme<br />
vergeben wurde. Unter der gemeinsamen Regie<br />
von Jacques-Yves Cousteau (1910–1997) und Louis<br />
Malle (1932–1995) filmte man von Cousteaus Schiff<br />
Calypso aus, dem aus einem Minensuchboot entstandenen<br />
Forschungsschiff. Der Film basierte auf Cousteaus<br />
und Frédéric Dumas’ Buch desselben Namens<br />
von 1953. Cousteau begann während seiner Zeit in der<br />
französischen Résistance mit Unterwasseraufnahmen<br />
zu experimentieren. 1943 erfand er gemeinsam<br />
mit dem Ingenieur Émile Gagnan mit Aqualung den<br />
ersten automatischen Atemregler. Außerdem entwarf<br />
er kleine, steuerbare Tauchscooter und verschiedene<br />
Unterwasserkameras und experimentierte mit neuen<br />
Formen der Beleuchtung für Tiefen unter 100 Meter.<br />
1973 gründete er die nichtkommerzielle Cousteau-<br />
Gesellschaft zum Schutz der Meere. 1956 war er<br />
allerdings weniger umweltbewusst und Le monde<br />
du silence wurde für Schäden kritisiert, die bei den<br />
Aufnahmen entstanden. Cousteau nutzte Dynamit in<br />
der Nähe eines Korallenriffs, und seine Crew tötete<br />
zahlreiche Haie, die vom Kadaver eines Walkalbes<br />
angelockt wurden, das von der Calypso versehentlich<br />
verletzt worden war. Beim Remastering des Films<br />
1990 entschied Cousteau, die Massentötung der Haie<br />
im Film zu behalten – er glaubte, dies zeige, wie<br />
weit die Menschen in ihrem Verständnis und in der<br />
Behandlung der Tiere gekommen seien.<br />
78
Emory Kristof<br />
Die Titanic, Atlantischer Ozean, 1985<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Privatsammlung<br />
In den Tiefen des Nordatlantik erhellt ein geisterhaftes<br />
Leuchten das Wrack der RMS Titanic und<br />
taucht ihren zerfallenden Bug in ein golden-blaues<br />
Licht. Das sogenannte »unsinkbare Schiff« stieß am<br />
14. April 1912 auf seiner Jungfernfahrt vom englischen<br />
Southampton nach New York City mit einem<br />
Eisberg zusammen und riss mehr als 1.500 Passagiere<br />
in ihr nasses Grab. Mit diesem Bild, aufgenommen<br />
bei 3.650 Metern Tiefe, war Emory Kristof (geb.<br />
1942) der erste Mensch, der den gesunkenen Dampfer<br />
fotografierte. Der amerikanische Fotograf ist bekannt<br />
für seine bemerkenswerten Tiefseebilder zuvor nicht<br />
fotografierter Motive. Dazu zählen ein acht Meter<br />
langer Pazifischer Schlafhai und die hydrothermalen<br />
Schlote des Galapagos-Rift. Seine innovative Verwendung<br />
von ferngesteuerten Kamerasystemen und<br />
Tauchbooten führte ihn zur Zusammenarbeit mit<br />
dem amerikanischen Ozeanografen und Unterwasserarchäologen<br />
Robert Ballard, der zuvor erfolglos<br />
versucht hatte, die Titanic zu finden. Gemeinsam<br />
entwickelten sie ein unbemanntes Tiefseefahrzeug<br />
namens Argo mit Sonar und Kameras, das Kristof<br />
von einem Schiff aus steuerte. Finanziert von der<br />
US-Marine unter der Bedingung, dass diese es auch<br />
für geheime Programme nutzen könne, lokalisierte<br />
das raffinierte System das Wrack etwa 610 Kilometer<br />
südöstlich von Neufundland. Aufgenommen<br />
am 1. September 1985, 73 Jahre nach dem Sinken der<br />
Titanic, waren Kristofs Bilder eine der Anregungen<br />
für James Camerons Film von 1997, der historische<br />
und fiktive Aspekte des tragischen Schiffes aufgriff.<br />
79
Bruno Van Saen<br />
Im Rampenlicht, 2018<br />
Digitalfotografie, verschiedene Größen<br />
Meeresschnecken, speziell Nacktkiemer, gehören zu<br />
den farbigsten und am spektakulärsten geformten<br />
Meerestieren. Oft winzig und viel schneller als ihre<br />
Verwandten an Land, die über den Boden kriechen<br />
müssen, können Meeresschnecken ihre Cerata –<br />
Hautfortsätze auf ihrem Rücken – schwenken, um<br />
sich in den Strömungen fortzubewegen. Anders<br />
als bei anderen gleichförmig gemusterten Arten<br />
von Meeresschnecken ist die Oberseite der Cerata<br />
bei Cyerce nigra quergestreift, während die dunkle<br />
Unterseite gelb gepunktet ist. Räuber werden durch<br />
das Flackern dieser kontrastierenden Muster verwirrt,<br />
wenn die Schnecke schwimmt. Die Punkte an<br />
der Unterseite haben nicht nur ästhetischen Wert,<br />
sondern erzeugen übelriechende Sekrete, die Fische<br />
abschrecken. Die erstmals 1871 entdeckte und klassifizierte<br />
Cyerce nigra lebt im Pazifik sowie im Indischen<br />
Ozean und ernährt sich von Algen. In jüngster<br />
Zeit hat die ausgesprochene Schönheit dieses winzigen,<br />
nur etwa 22 mm langen Geschöpfes des Meeres<br />
es zu einer »Ikone« für Touristenbroschüren und<br />
-plakate gemacht. Diese Makrofotografie wurde von<br />
dem preisgekrönten Fotografen und Taucher Bruno<br />
Van Saen (geb. 1967) aufgenommen, der extra auf die<br />
philippinische Insel Romblon gereist ist, um die Art<br />
aufzunehmen. Van Saen hat sich im Laufe der Jahre<br />
einen internationalen Ruf als einer der talentiertesten<br />
Unterwasserfotografen der Welt erworben. Dieses<br />
Bild brachte ihm eine Auszeichnung für Makrofotografie<br />
im Wettbewerb Underwater Photographer of<br />
the Year 2019 ein.<br />
80
NOAA<br />
Qualle im Marianas Trench Marine National Monument, 2016<br />
Video-Standbild, verschiedene Größen<br />
Diese unwirklich leuchtende Kugel aus strahlendem<br />
Gelb und Rot mit langen Tentakeln, die bewegungslos<br />
in fast völliger Dunkelheit zu hängen scheinen,<br />
ist tatsächlich eine neu entdeckte Quallenart, die<br />
während der Erkundung des Gebietes rund um den<br />
Marianengraben im westlichen Pazifik durch die<br />
US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric<br />
Administration (NOAA) 2016 gefilmt wurde. Der sich<br />
über 2.550 Kilometer erstreckende halbmondförmige<br />
Graben ist der tiefste ozeanische Graben der Welt<br />
mit einer maximalen Tiefe von fast 11 Kilometern. In<br />
dieser Tiefe gibt es kein Licht, die Temperatur steigt<br />
nicht über vier Grad Celsius und der Wasserdruck ist<br />
tausendmal höher als der normale atmosphärische<br />
Druck auf der Erdoberfläche. Dank der unwirtlichen<br />
Bedingungen der aphotischen Zone bleibt der Graben<br />
größtenteils ein Mysterium, allerdings wurde er von<br />
der Oberfläche aus kartografiert und von bemannten<br />
und unbemannten Tauchbooten untersucht. Der<br />
erste bemannte Abstieg erfolgte 1960, der jüngste<br />
2019. 2012 erreichte der kanadische Regisseur James<br />
Cameron mit einem Tauchboot den Grund des Challengertiefs,<br />
des tiefsten Teils des Grabens, wobei er<br />
68 neue Arten mit nach oben brachte, vor allem Bakterien,<br />
aber auch kleine wirbellose Tiere. Das einzige<br />
in solchen Tiefen verfügbare Licht wird von den dort<br />
lebenden Organismen generiert: Diese Qualle wurde<br />
von einem ferngesteuerten NOAA-Fahrzeug in einer<br />
Tiefe von etwa 3.700 Metern aufgenommen. Andere<br />
Bewohner der Tiefsee sind Riesenkraken, Anglerfische<br />
und Vampirtintenfische. Trotz Dunkelheit und Kälte<br />
haben mehr als 200 bekannte Mikroorganismen sich<br />
an diesen geheimnisvollen Teil des Ozeans angepasst.<br />
81
NASA<br />
Phytoplankton-Blüte in der Barentssee, 2011<br />
Digitalfotografie, verschiedene Größen<br />
Diese rauchwolkenartigen Wirbel aus unterschiedlichen<br />
Blautönen, die wie Pinselstriche auf der<br />
Leinwand eines abstrakt-expressionistischen Malers<br />
wirken, sind das Ergebnis einer Phytoplankton-Blüte:<br />
des Reproduktionszyklus der einzelligen Meerespflanze<br />
Coccolithophorida. Millionen winziger<br />
pflanzlicher Organismen beginnen, sich in einem<br />
spektakulären Tanz zu vermehren, den man eigentlich<br />
am besten aus riesiger Höhe, am besten von<br />
Satelliten aus bewundern sollte. Dieses von der NASA<br />
veröffentlichte Bild dokumentiert die Blüte, die jedes<br />
Jahr im August in der Barentssee zwischen den<br />
Küsten Nordrusslands und Skandinaviens auftritt.<br />
Zur Blüte kommt es, wenn Wassertemperatur und<br />
das Vorhandensein von Nährstoffen es dem Phytoplankton<br />
erlauben, sich in solcher Geschwindigkeit<br />
fortzupflanzen, dass der Anstieg der Menge die Farbe<br />
des Wassers verändert. Die Blüte, die schwer vorherzusagen<br />
ist und manchmal den Tourismus behindert,<br />
kann ein paar Tage, aber auch einige Wochen<br />
dauern. Phytoplankton sind mikroskopisch kleine<br />
Organismen, die Fotosynthese betreiben und oft in<br />
den obersten, sonnendurchfluteten Wasserschichten<br />
leben. Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass 50<br />
bis 80 Prozent des Sauerstoffs in der Atmosphäre<br />
durch Fotosynthese im Meer erzeugt werden und<br />
Phytoplankton für das meiste davon verantwortlich<br />
ist. Es ist nicht nur für die Gesundheit des Planeten<br />
ungemein wichtig, sondern bildet auch eine wichtige<br />
Nahrungsquelle für das Zooplankton, Gemeinschaften<br />
mikroskopisch kleiner Tiere, die wiederum<br />
größeren Arten als Nahrung dienen.<br />
82
Kim Picard<br />
Broken Ridge, 2019<br />
Digitalbild, verschiedene Größen<br />
Die Farben dieser felsigen Landschaft in den Tiefen<br />
des Ozeans sind lebhafter Widerhall einer Tragödie.<br />
Am 8. März 2014 verschwand Malaysia-Airlines-<br />
Flug MH370 mit 239 Menschen an Bord irgendwo<br />
zwischen Kuala Lumpur und Peking. Es folgte eine<br />
zwei Jahre andauernde Suche, da Tracker nach dem<br />
Verschwinden festgestellt hatten, dass das Flugzeug<br />
umgedreht und dann nach Süden über den Indischen<br />
Ozean geflogen war, wo ihm offenbar der Treibstoff<br />
ausging. Wissenschaftler von Geoscience Australia<br />
und dem Australian Transport Safety Bureau<br />
kartierten gemeinsam einen Bereich von der Größe<br />
Neuseelands im südöstlichen Indischen Ozean, um<br />
Spuren des Flugzeugs zu finden. Dabei entstanden<br />
detailreiche Ansichten des Meeresbodens. Die Suche,<br />
die sich auf eine Erscheinung namens Broken Ridge<br />
konzentrierte, nutzte hochauflösende akustische und<br />
optische bildgebende Geräte, um 3D-Bilder wie hier<br />
von einer Kette erloschener unterseeischer Vulkane –<br />
der größte von ihnen etwa 2.200 Meter hoch – zu<br />
erzeugen. Der Vulkan im Vordergrund hat drei Gipfel,<br />
durch die eine große Verwerfungslinie verläuft, die<br />
sich über den Meeresgrund fortsetzt – ein Zeichen für<br />
tektonische Aktivitäten. Ozeane bedecken 71 Prozent<br />
der Erde, doch Studien des Meeresbodens und<br />
seiner Topografie sind rar. In großen Tiefen gibt es<br />
kein Licht, und akustische Kartierungstechniken<br />
sind vergleichsweise ineffizient, auch wenn die Daten<br />
eines hochauflösenden mehrstrahligen Echolotes hier<br />
Aufschluss boten über die topografische Komplexität<br />
des Meeresbodens in 5,8 Kilometern Tiefe sowie<br />
die tektonischen, sedimentären und vulkanischen<br />
Prozesse, die ihn geformt haben.<br />
83
Glenna Gordon<br />
Schiffswrack, 2019<br />
Fotografie, verschiedene Größen<br />
Am 25. Februar 2013 wurde das 34 Jahre alte brasilianische<br />
Frachtschiff Frotamerica zur Verschrottung<br />
geschleppt, als es sich von seinem Schlepptau losriss.<br />
Das zu dieser Zeit unbemannte 31.751-Tonnen-<br />
Gefährt sank nahe Anichab Rocks vor der Küste<br />
des nördlichen Namibia und gesellte sich zu den<br />
Hunderten von Wracks an der Skelettküste. Diese<br />
Küste im Norden Namibias und im Süden Angolas<br />
erhielt ihren Spitznamen im 19. Jahrhundert nach den<br />
Wal- und Seehundskeletten, die einstmals als Resultat<br />
der gewerbsmäßigen Wal- und Seehundjagden im<br />
Südatlantik den Wüstensand übersäten. Der Name<br />
ist angesichts der hölzernen und eisernen Überreste<br />
von mehr als 1.000 Schiffen und Booten, die an der<br />
felsigen Küste gestrandet sind, heute noch gültig.<br />
Die Tücken ergeben sich hier aus dem gefährlichen<br />
Aufeinandertreffen von heißen Wüstenwinden und<br />
kaltem Benguelastrom, die diese Gegend zu einem der<br />
nebligsten Orte der Erde machen, obwohl so gut wie<br />
nie Regen fällt. Als die Schiffe noch vorwiegend mit<br />
Segeln angetrieben wurden, bedeutete die ständige,<br />
starke Brandung, dass es möglich war, an Land zu<br />
gelangen, aber nahezu unmöglich, mit einem Boot<br />
wieder wegzukommen – für gestrandete Seeleute<br />
führte der einzige Ausweg durch Meilen trockener<br />
Wüste. Die San in Namibia nannten die Küste »das<br />
Land, das Gott im Zorn erschuf«, während portugiesische<br />
Seeleute sie als Tore der Hölle bezeichneten.<br />
Wracks wie die Frotamerica werden heute von der<br />
Natur zurückerobert und stellen künstliche Riffe dar,<br />
auf denen Kormorane nisten, Seebären spielen und an<br />
denen Buckelwale zu ihren Nahrungsquellen vorbeiziehen.<br />
84
Kerry James Marshall<br />
Ohne Titel, 2008<br />
Acryl auf Fiberglas, 2 × 2,90 m<br />
Privatsammlung<br />
Der in Birmingham, Alabama, geborene Künstler<br />
Kerry James Marshall (geb. 1955) genießt einen<br />
internationalen Ruf für seine meisterlichen Gemälde,<br />
in denen er schon lange vor der Black-Lives-Matter-<br />
Bewegung das afroamerikanische Leben dargestellt<br />
und die westliche Kunstgeschichte hinterfragt hat.<br />
Dieses namenlose Bild von 2008, das in Marshalls<br />
Black Romantic-Ausstellung desselben Jahres zu<br />
sehen war, bricht mit dem westlichen Verständnis<br />
davon, wie man einen romantischen Spaziergang<br />
am Strand darstellt. Über Jahrhunderte war<br />
das Publikum daran gewöhnt, nur weiße Paare in<br />
romantischen Szenen zu sehen. Marshall spielt nicht<br />
nur mit der Idee eines Anachronismus, indem er ein<br />
zeitgenössisches Gemälde mit einem relativ altmodischen<br />
Motiv präsentiert – das uns in die Zeit von<br />
Caspar David Friedrich und Joaquín Sorolla zurückwirft<br />
–, sondern auch mit der inhärenten Voreingenommenheit<br />
dessen, was der Betrachter zu sehen<br />
erwartet. Laut Marshall versuchen seine Gemälde,<br />
das emotionale Bedürfnis der afroamerikanischen<br />
Community nach positiven Darstellungen ihrer selbst<br />
zu befriedigen. Die Farben sind reich, ja opulent,<br />
mit lebhaften Blautönen für Himmel und Meer. Die<br />
idyllische Atmosphäre lässt die Vergänglichkeit und<br />
Kurzlebigkeit des Augenblicks ahnen, die sich auch in<br />
den sogenannten Vanitas-Symbolen widerspiegeln:<br />
Wellen, Wolken, Muscheln, ein angeschwemmter<br />
Baumstamm. Marshalls Gemälde spricht davon, wie<br />
die Gesellschaft heute aufgebaut ist – und wie das<br />
Meer dafür einen Hintergrund liefern kann –, lädt<br />
uns aber auch ein, über unsere Erwartungen und<br />
Urteile nachzudenken.<br />
85
Erté (Romain de Tirtoff)<br />
L’Océan, Kostümentwurf für Les Mers, George White’s Scandals, 1923<br />
Gouache auf Papier, 33 × 47,2 cm<br />
Metropolitan Museum of Art, New York<br />
In diesem Kostümentwurf des russischstämmigen<br />
französischen Künstlers Erté (geboren als Romain de<br />
Tirtoff, 1892–1990) trägt die zentrale Figur, die alle<br />
Weltmeere repräsentiert, einen hautengen Anzug mit<br />
einem grellen, purpur-goldenen, biomorphen Muster,<br />
das an den pulsierenden Farbwechsel eines Oktopus<br />
erinnert. Mitten in einem Ballettsprung wirft sie den<br />
Kopf mit dem Nautilusschnecken-Kopfputz herum<br />
und streckt die Arme aus, die in feuer- und tentakelspeienden<br />
Schlangenköpfen enden. Ihre gewaltige<br />
Schleppe wird von drei Wassernymphen getragen,<br />
deren geflochtenes Silberhaar in die wirbelnden,<br />
blubbernden Strudel dunkelgrüner Wellen übergeht.<br />
Der aus einer russischen Adelsfamilie stammende<br />
Erté zog etwa 1910 nach Paris, wo er nach einer<br />
gewissen Zeit beim angesehenen Couturier Paul<br />
Poiret Erfolg als Kostümdesigner für das Theater und<br />
Kabarett des Jazz-Zeitalters fand. Ertés geschmeidiger<br />
Zeichenstil – Schnörkel und üppige Verzierungen vor<br />
einförmigen Farbflächen – erfasste perfekt die Stimmung<br />
des Jugendstils. Seine Illustrationen erschienen<br />
z. B. in Harper’s Bazaar, für das er mehr als 200<br />
Cover entwarf. George White, der amerikanische<br />
Theater-Impresario, sah 1922 Ertés Kostümentwürfe<br />
für Les Revue des Femmes im Les Ambassadeurs<br />
in Paris und übernahm dessen Les Mers-Abschnitt<br />
erfolgreich für seine beliebte Broadway-Revue George<br />
White’s Scandals mit Musik von George Gershwin.<br />
Erté schuf für Les Mers darüber hinaus Figuren für<br />
das Mittelmeer, die Ostsee sowie das Rote und das<br />
Weiße Meer. Alle zeigten dasselbe Gefühl von komplexer<br />
Schönheit und Mysterium wie die Meere, die<br />
sie repräsentierten.<br />
86
Alexander McQueen<br />
Oyster Dress, 2003<br />
Elfenbeinfarbene Seidengeorgette und Organza, beigefarbene Nylonund<br />
Seidenchiffon, weiße Seide, Länge 1,80 m<br />
Metropolitan Museum of Art, New York<br />
Tausende eng gewundener und einander überlagernder<br />
Schichten aus Chiffon ergeben zusammen dieses<br />
atemberaubende Abendkleid des gefeierten britischen<br />
Modedesigners Alexander McQueen (1969–2010),<br />
das bei seiner ikonischen Modenschau Irere als Teil<br />
seiner Frühjahrs-/Sommer-Kollektion 2003 gezeigt<br />
wurde. Der hypnotische Effekt zieht den Blick von<br />
dem hingeworfenen, wellengleichen Rock über den<br />
spiralförmig gewundenen Mittelteil nach oben zu<br />
einer Korsage aus Tüll und zerrissenem Chiffon. Die<br />
dicken, bogenförmigen Säume des Kleides werden zu<br />
einer Verkörperung der Form und Textur einer Auster<br />
mit ihrer typisch geriffelten Schale. Die Schichten<br />
des Kleides sind zugleich ein Verweis auf die Entstehung<br />
von Perlen – das Weichtier bedeckt eingedrungene<br />
Fremdkörper mit immer neuen Schichten<br />
aus Perlmutt, um sich selbst zu schützen. Bei<br />
McQueens Schau spielte das Kleid eine entscheidende<br />
Rolle. McQueen hatte einen Film drehen lassen, in<br />
dem das Model, das dieses Kleid trug, im Wasser war<br />
und von dort »gerettet« wurde. Der Film diente als<br />
Hintergrund für den ersten Teil der Kollektion, die<br />
schiffbrüchige Piraten als Motiv nutzte. Am Ende des<br />
Abschnitts tauchte das Kleid selbst auf dem Laufsteg<br />
auf, gefolgt von zwei weiteren Teilen mit mythologischen<br />
Geistern im »Gothic-Stil« bzw. Teilen, die<br />
an Paradiesvögel erinnerten. Das »Austernkleid« war<br />
letztlich der Dreh- und Angelpunkt sowohl für die<br />
Kollektion als auch für die verschiedenen Ideen, die<br />
McQueen erkundete, speziell die transformative Kraft<br />
des Ozeans.<br />
87
Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski<br />
Die Woge, 1889<br />
Öl auf Leinwand, 3 × 5 m<br />
Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg<br />
Gewaltige Wellen schlagen über einem sinkenden<br />
Schiff zusammen, an dem sich verzweifelte Seeleute<br />
festklammern. Eine Signalflagge flattert an einem<br />
Mast, an dem die Männer in einem zum Scheitern<br />
verurteilten Versuch hinaufklettern, den gnadenlosen<br />
Sturm zu überleben. Es ist nahezu unmöglich<br />
festzustellen, wo das Meer endet und der Himmel<br />
beginnt, wenn düstere Sturmwolken auf die aufgewühlte<br />
See treffen und das angeschlagene Schiff in<br />
den Tiefen verloren ist. Man muss dieses riesige Werk<br />
des romantischen Malers Iwan Konstantinowitsch<br />
Aiwasowski (1817–1900) ganz einfach in kunstvollen<br />
Worten beschreiben. Die mit 3 mal 5 Metern fast<br />
schon gigantisch zu nennende Leinwand gibt den<br />
Betrachtern das Gefühl, selbst im kalten, salzigen<br />
Wind zu stehen, betäubt vom Dröhnen der Wellen.<br />
Beim Durchqueren des Golfs von Biskaya vor der<br />
spanischen Atlantikküste war Aiwasowskis Schiff in<br />
einen so heftigen Sturm geraten, dass die Presse in<br />
Paris irrigerweise meldete, das Gefährt sei gesunken<br />
und der Künstler wäre gestorben. Aiwasowski war<br />
berühmt für sein visuelles Gedächtnis, das es ihm<br />
erlaubte, Szenen wiederzugeben, die er nur kurz<br />
beobachtet hatte. Dieses Gemälde ist möglicherweise<br />
eine Erinnerung an diese Reise. Aiwasowski war ein<br />
russischer Maler armenischer Abstammung von der<br />
Krim, der fast ausschließlich Seestücke malte, für die<br />
er berühmt war. Viele von ihnen zeigen Stürme und<br />
sinkende Schiffe. Er bewahrte sich seine Hingabe an<br />
die Romantik und schuf Bilder von einer wilden und<br />
zerstörerischen See, die gut zum romantischen Blick<br />
auf die Natur als einer riesigen, noblen und letztlich<br />
furchteinflößenden Kraft passten.<br />
88
Rachael Talibart<br />
Rivalen, 2016<br />
Giclée-Druck, 60 × 105 cm<br />
Privatsammlung<br />
Während andere alle Fenster verriegeln und sich im<br />
Haus vor Stürmen verstecken, läuft die britische<br />
Fotografin Rachael Talibart mit ihrer Kamera hinaus<br />
ans Meer, um zu versuchen, dramatische Szene wie<br />
diese hier einzufangen, in der sturmgepeitschte<br />
Wellen drohen, den Leuchtturm von Newhaven an<br />
der Südküste Englands zu verschlingen. Das mächtige<br />
Wasser scheint zwar die dominierende Kraft zu<br />
sein, doch das viktorianische Bauwerk am Ende der<br />
Mole von Newhaven in East Sussex trotzt schon seit<br />
1891 dem Ansturm des Meeres. Talibart, die sich auf<br />
die Fotografie an der Küste spezialisiert hat, registriert<br />
die wechselnden Stimmungen des Meeres, von<br />
stürmisch und aufgewühlt bis sanft und ruhig. Sie<br />
arbeitet gern in Farbe, doch die Schwarz-Weiß-Fotografie<br />
erlaubt es ihr, die Emotionen einer Szene zu<br />
verstärken. Schon als Kind wurde ihr die Liebe zum<br />
Meer vermittelt. Aufgewachsen an der englischen<br />
Südküste, erinnert sie sich, in stürmischen Nächten<br />
vom Klang der brausenden Wellen in den Schlaf<br />
begleitet worden zu sein. Ihr Vater war Segler und<br />
nahm sie oft mit hinaus, auch wenn die Seekrankheit<br />
verhinderte, dass sie selbst Seglerin wurde. Talibart<br />
ist von der Stärke und Majestät des Ozeans gefangen,<br />
die sie heute von der relativen Sicherheit des Landes<br />
aus mit ihrer Kamera erkundet. Dieses Bild vermittelt<br />
ein wenig, wie es sich anfühlt, im Wind zu stehen<br />
und die aufgewühlten Wellen zu beobachten, die die<br />
Luft mit salziger Gischt füllen. Es kündet vom Kampf<br />
der Menschen mit dem Meer, mit dem Leuchtturm<br />
als Zeichen des Widerstandes gegen die Kräfte der<br />
Natur, die ansonsten die Schiffe gegen die Felsen<br />
schlagen würden.<br />
89
Gottfried Ferdinand Carl Ehrenberg<br />
Ägir, ca. 1880<br />
Holzschnitt<br />
Privatsammlung<br />
Oben in der Mitte dieser chaotischen Szene steht<br />
eine ätherische Vision des nordischen Gottes Ägir,<br />
der Verkörperung des Meeres. Seine Frau ist Ran,<br />
und gemeinsam spiegeln sie die Kräfte des Meeres<br />
in ihren verschiedenen Aspekten wider. Geschichten<br />
zeigen Ägir oft als freundlichen Gastgeber, der Gäste<br />
in seinem Palast unter den Wellen willkommen heißt;<br />
Ran dagegen wird oft mit den gefährlicheren Eigenschaften<br />
des Meeres in Verbindung gebracht, wenn<br />
sie ertrunkene Seeleute in ihr Unterwasserheim zieht.<br />
In dieser Szene jedoch ist es Ägir, der mit ausgebreiteten<br />
Armen über einem tödlichen Mahlstrom thront,<br />
so als würde er Wind und Wellen aufwühlen. Die<br />
Seeleute in dem hölzernen Schiff, einige von ihnen<br />
mit Rüstung und Helmen, haben keine Chance angesichts<br />
der aufragenden Wellen oder – noch furchterregender<br />
– der Meermenschen, die gewillt sind, das<br />
Schiff zu versenken. Zwei der Kreaturen hängen am<br />
Heck an dem Fischschwanz, während drei weitere<br />
versuchen, über das Dollbord zu klettern; eine andere<br />
kämpft mit dem Steuermann um sein Ruder. In den<br />
Wellen rufen die geisterhaft nackten Figuren von<br />
Ertrunkenen – Männer, Frauen und Kinder – vergebens<br />
nach Rettung. Gottfried Ferdinand Carl<br />
Ehrenberg (1840–1914) verbrachte fast sein ganzes<br />
Arbeitsleben in Dresden, wo er auf Grundlage von<br />
zwölf Illustrationen der Götter und Göttinnen der<br />
nordischen Mythologie, die 1885 als Bilder-Cyclus<br />
aus der Nordisch-Germanischen Götter-Sage veröffentlicht<br />
worden waren, eine Reihe von Wandbildern<br />
ausführte. Dieses Bild war eine der ersten dieser<br />
Illustrationen und wurde für die Veröffentlichung als<br />
Holzschnitt nachgestellt.<br />
90
Pietro Bracci<br />
Oceanus, Detail vom Trevi-Brunnen, 1762<br />
Travertin, Höhe 5,80 m<br />
Piazza di Trevi, Rom<br />
Es scheint recht klug zu sein, dass der berühmteste<br />
Brunnen der Welt mit Skulpturen geschmückt ist,<br />
die das Wesen von Flüssen und Meeren feiern. Der<br />
Trevi-Brunnen in Rom, entworfen vom italienischen<br />
Architekten Nicola Salvi und 1762 fertiggestellt von<br />
Giuseppe Pannini, ist bekannt aus Filmen wie La<br />
Dolce Vita (1960) und Drei Münzen im Brunnen (1954),<br />
womit auf die Tradition angespielt wird, Münzen in<br />
den Brunnen zu werfen, um Glück zu haben. Das<br />
Wasser wird per Aquädukt aus der 13 Kilometer<br />
vor der Stadt liegenden Quelle in den im alten Rom<br />
erbauten Brunnen geleitet. Seine heutige Gestalt<br />
erhielt er bei Renovierungen im 17. und 18. Jahrhundert,<br />
als Päpste und Künstler gemeinsam ein<br />
Thema erarbeiteten, welches das Wasser als lebensspendendes<br />
und weltenformendes Element zelebriert.<br />
Im Zentrum der Komposition steht diese von Pietro<br />
Bracci (1700–1773) geschaffene Skulptur des Oceanus,<br />
Vater der Flussgötter und Wassernymphen. In der<br />
griechischen Mythologie stammten von Oceanus<br />
und seiner Frau Tethys alle anderen Götter ab. Auch<br />
heute geht die Wissenschaft davon aus, dass das<br />
Leben auf der Erde ursprünglich im Meer entstand.<br />
Die Griechen nannten Oceanus auch den »großen<br />
weltenumspannenden Fluss«, »perfekten Fluss« oder<br />
»tief wirbelnden Fluss«. Diese Konzepte scheinen<br />
mit der unsicheren Etymologie des Wortes oceanus<br />
zusammenzuhängen, das über das Lateinische vom<br />
griechischen »ōkeanos« abgeleitet ist. Die Assoziation<br />
zwischen Meer und Süßwasser weist auf ein frühes<br />
Verständnis des hydrologischen Flusses hin, der oftmals<br />
entfernte und ganz verschiedene Wassermassen<br />
miteinander verbindet.<br />
91
Anonym<br />
Triumph von Neptun und Amphitrite, ca. 300–25<br />
Mosaik, 3,20 × 2 m<br />
Museé du Louvre, Paris<br />
Dieses spätrömische Mosaik müsste eigentlich<br />
Poseidon und Amphitrite (siehe S. 286) heißen, da die<br />
Gefährtin des Gottes Neptun, der römischen Variante<br />
des griechischen Gottes Poseidon nicht Amphitrite,<br />
sondern Salacia war, die Göttin des Salzwassers.<br />
Römische Darstellungen des Neptun waren jedoch,<br />
speziell in nordafrikanischen Mosaiken, stark von<br />
der hellenistischen Ikonografie beeinflusst. Dieses<br />
hier ist Teil eines großen Mosaiks aus Cirta (das<br />
heutige Constantine) in Algerien. Neptun/ Poseidon<br />
und Amphitrite überqueren das Meer in einem<br />
Streitwagen, der von Hippokampen (Pferden mit<br />
Fischschwänzen) gezogen wird. Der Gott trägt einen<br />
Dreizack und er und seine Gefährtin werden von<br />
geflügelten Eroten begleitet. Unter den Gottheiten<br />
befinden sich zwei Fischerboote und um sie herum<br />
schwimmen Geschöpfe des Meeres: Fische, Delfine,<br />
Kopffüßer und Meeresschnecken. Neptun wurde<br />
wahrscheinlich im 5. Jahrhundert v. Chr. in das<br />
römische Pantheon eingeführt und war im römischen<br />
Kultus ein eher unbedeutender Gott. Er wurde zwar<br />
prinzipiell mit Poseidon gleichgestellt, galt aber auch<br />
als Gott des Süßwassers – aus Flüssen, Quellen und<br />
sogar Brunnen –, was sicher auch seine Verbindung<br />
zu Salacia, der Göttin des Salzwassers, erklärt. Poseidon<br />
war auch der Gott der Pferde und der Erdbeben<br />
und wurde ursprünglich vielleicht sogar in Pferdeform<br />
dargestellt; dies fehlt im Neptun-Kult, der sich<br />
ausschließlich auf seine Macht über das Wasser in<br />
jeglicher Form bezog. Auch Amphitrite assoziierten<br />
die griechischen und römischen Religionen nur mit<br />
dem Meer.<br />
92
Dieser Nautiluspokal des Goldschmieds Matthias<br />
Wallbaum (1554–1632) zeigt Aphrodite/Venus, die<br />
aus dem Schaum des Meeres geboren wurde, nachdem<br />
Kronos seinen Vater kastriert und die Genitalien<br />
ins Meer geworfen hatte. Sie steht auf einer geflügelten<br />
goldenen Kugel wie auf einem Schiff und hält<br />
ihren Umhang in den Wind. Begleitet wird sie von<br />
Amor auf einem Meeresmonster. Der bärtigen Figur<br />
zwischen den Zähnen der Kreatur nach zu urteilen,<br />
könnte dies der Wal sein, der den biblischen Jona<br />
(siehe S. 131) verschluckt hat; ein zweiter Amor trägt<br />
Matthias Wallbaum<br />
Nautiluspokal, 1610–25<br />
Nautilusschale, Silber, Muschel und Gold,<br />
51 × 11,4 × 22,2 cm<br />
Nationalmuseum, Oslo<br />
Köcher und Bogen auf dem Rücken, Kennzeichen des<br />
Sohnes der Venus. Ein fischfüßiger Triton, Sohn von<br />
Poseidon und Amphitrite (siehe S. 286), stützt den<br />
Pokal. Zwei weitere Tritonen schmücken die Schale.<br />
An den Ketten zwischen ihnen hängen Krabben und<br />
Meeresschildkröten. Eine gehörnte Personifizierung<br />
der Natur, vermutlich der Ziegengott Pan, ist an der<br />
Vorderseite zu sehen; die Rückseite zeigt ein bösartiges<br />
Gesicht mit schreiendem Mund. Perlboote<br />
( Nautiliae) sind im Indischen und südpazifischen<br />
Ozean heimisch. Sie sind die einzigen Kopffüßer,<br />
denen eine Schale wächst. Die in Europa als exotisch<br />
geltenden Schalen – außen mattweiß, innen irisierend<br />
weiß und ganz innen perlmuttartig blaugrau glänzend<br />
– beschäftigten die Fantasie von Renaissanceund<br />
Barock-Künstlern. Nach 1600, als die Niederländische<br />
Ostindien-Kompanie ihren Handel in Süd- und<br />
Ostasien ausweitete, wurden sie in großer Zahl an<br />
der Meeresoberfläche aufgesammelt. Ein wertvolles<br />
Objekt wie dieses wurde sicher für eine sogenannte<br />
Wunderkammer, ein Kuriositätenkabinett, angefertigt.<br />
93
Georg Wolfgang Knorr<br />
Bildtafel B, aus Deliciae Naturae Selectae, 1751–67<br />
Handkolorierter Stich, 44,5 × 34 cm<br />
Smithsonian Libraries, Washington DC<br />
Nautilusschalen gehörten zu den frühesten und<br />
begehrtesten Sammelobjekten der Renaissance. Die<br />
oft mit Silber und Gold verzierten Schalen galten als<br />
Symbol von Perfektion, Schönheit und Fruchtbarkeit.<br />
Der Besitz dieser Objekte erhöhte den Ruf und gesellschaftlichen<br />
Status der wohlhabenden Käufer. Diese<br />
wunderbar detailreiche Illustration des deutschen<br />
Naturforschers Georg Wolfgang Knorr (1705–1761)<br />
aus seinem 1751 erschienenen Buch Deliciae Naturae<br />
Selectae scheint auf den ersten Blick zwei verschiedene<br />
Arten von Nautilus oder Perlboot darzustellen.<br />
Dabei zeigt die Bildtafel die Schale vor und nach<br />
einem Verfeinerungsprozess. Oben ist das ursprünglich<br />
tigerartig gestreifte Muster zu sehen, das typisch<br />
für das Perlboot ist. Man vermutet, dass es dem Tier<br />
bei der Tarnung im Meer hilft. Die vollkommen weiße<br />
Schale unten, bei der Knorr gekonnt den Perlmuttglanz<br />
herausgearbeitet hat, ist ein poliertes Exemplar<br />
derselben Art. Das weiße Perlmutt zeigte sich, wenn<br />
die oberste Schicht mit der orangefarbenen Pigmentierung<br />
entfernt wurde. Zwischen dem 15. und dem<br />
18. Jahrhundert waren polierte Nautilusschalen beim<br />
europäischen Adel sehr gefragt. Knorrs Illustrationen<br />
der Meerestiere, Korallen und Muscheln in<br />
Deliciae Naturae Selectae basierten auf präparierten<br />
Exemplaren aus Privatsammlungen, darunter auch<br />
seine eigenen. Das wachsende Interesse an Muscheln<br />
machte Knorrs Buch zu seiner Zeit zu einem verlegerischen<br />
Erfolg. Es diente als Vorbild für viele weitere<br />
naturkundliche Veröffentlichungen.<br />
94
Adolphe Millot und Claude Augé<br />
Mollusques, aus Nouveau Larousse illustré:<br />
dictionnaire universel encyclopédique, Bd. 6, 1897<br />
Lithografie, 32 × 24 cm<br />
Natural History Museum, London<br />
Diese wunderbare Illustration von Muschelschalen<br />
und Mollusken bietet eine ungewöhnliche Lösung<br />
für das Problem der Darstellung des unterseeischen<br />
Lebens, wie es tatsächlich existiert – hier im mittleren<br />
Bild – und wie es viele Leser entdecken, wenn sie<br />
die schönen, leeren Schalen am Strand finden. Diese<br />
Bildtafel von Adolphe Millot (1857–1921) stammt aus<br />
der französischen Enzyklopädie Nouveau Larousse<br />
illustré, herausgegeben von Claude Augé (1854–1924)<br />
und veröffentlicht 1897 von Éditions Larousse<br />
für junge Erwachsene (siehe S. 212). Augés neues<br />
Enzyklopädiemodell, das auf dem Grand dictionnaire<br />
universel du XIXe siècle (Großes Universalwörterbuch<br />
des 19. Jahrhunderts) von Pierre Larousse basiert,<br />
enthält Hunderte von Illustrationen und Farbtafeln.<br />
Ermöglicht wurden sie durch technische Entwicklungen,<br />
die die Bildwiedergabe preiswerter und exakter<br />
machten. Die Aufnahme von Farbbildern in Enzyklopädien<br />
war ein wichtiger Schritt zur Verbreitung<br />
von Wissen an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die<br />
geniale Illustration dieser Seite vermittelt dem Leser<br />
ein Gefühl für die Vielfalt der Meeresmollusken,<br />
identifiziert aber auch die Muschelschalen. Sie sind<br />
sortiert und angeordnet wie in einem Naturkundemuseum:<br />
nummeriert und benannt, auch wenn ihre<br />
Präsentation der nur teilweise maßstabsgetreuen<br />
Schalen eher ästhetischen Gesichtspunkten folgt statt<br />
taxonomischen Parametern. Die Illustration einer<br />
imaginären Meeresszene in der Mitte zeigt einen<br />
Oktopus in seiner Höhle und verschiedene Arten von<br />
Tinten fischen. Zu einer Zeit, in der es Unterwasserfotografien<br />
noch nicht gab, erweckten solche Illustrationen<br />
den unzugänglichen Meeresgrund zum Leben.<br />
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