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<strong>Fraktal</strong><br />
Band 3<br />
Josef Focht<br />
Die barocke Welt<br />
des Geigenmachers<br />
Andreas Resle
Die barocke Welt des Geigenmachers Andreas Resle<br />
1
FRAKTAL<br />
Enhanced Publications zur Organologie<br />
Herausgegeben von<br />
Josef Focht<br />
Band 3<br />
Josef Focht<br />
Die barocke Welt des Geigenmachers Andreas Resle<br />
2
Josef Focht<br />
Die barocke Welt des Geigenmachers Andreas Resle<br />
3
FRAKTAL<br />
Enhanced Publications zur Organologie<br />
Herausgegeben von Josef Focht<br />
Die barocke Welt des Geigenmachers Andreas Resle<br />
Josef Focht<br />
Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />
Layout und Satz: Nikola Stevanović<br />
Hergestellt in der EU<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99094-258-1<br />
ISSN 2960-4745<br />
4
Thomas Riedmiller,<br />
dem exzellenten Kenner<br />
der Füssener Kulturgeschichte<br />
und Überlieferung, herzlich gewidmet<br />
5
6
Inhalt<br />
Wertschätzung 9<br />
Quasi Centrum Europae 10<br />
Digital Organology 13<br />
Ein Puzzle wird zum Bild 15<br />
Die Herkunftsfamilie 21<br />
Die Ausbildung 24<br />
Die Handwerksordnung von 1718 34<br />
Konfessionelles Ringen um den Instrumentenbau 37<br />
Familiae et famae 45<br />
Die katholische Welt 50<br />
Portfolio 51<br />
Die Füssener Wirtschaft 54<br />
Was ist eine Geige? 64<br />
Barocke Pracht 69<br />
Geigenbau zwischen Vielfalt und Norm 79<br />
Das höfische Orchester 86<br />
Wellengeigen in Ellwangen 94<br />
Vorbild Stradivari? 100<br />
Geige nach 1725 102<br />
Bassgeige 1728: Der Hintergrund 111<br />
Bassgeige 1728: Die Herstellung 115<br />
Mozart 1756 124<br />
Merck 1695 128<br />
Konkurrenz aus Mittenwald 135<br />
Eine Werkstatt, kein Laden, kein Nachfolger 141<br />
Instrumente als Medium der Repräsentation 147<br />
Anhang 156<br />
7
8
Wertschätzung<br />
„Probably the best maker who ever lived at Füssen“, lobt William<br />
Henley in seinem Lexikon der Geigenmacher (1959) den Füssener<br />
Andreas Resle überschwänglich, und ordnet ihn einer außergewöhnlichen<br />
Elite zu. Detailliert beschrieb der 1874 geborene<br />
englische Geigenvirtuose die Vorzüge von Resles Instrumenten.<br />
Natürlich nahm er in seiner Beurteilung auch Anleihen im Lütgendorff,<br />
wie die deutschsprachige Vorlage seines Nachschlagewerks<br />
heißt, in dem 1904 Resles Biographie erstmals über einen<br />
ganz kleinen Expertenkreis hinaus auch bei den Geigern, den<br />
Geigenhändlern und den Geigensammlern international bekannt<br />
gemacht wurde. Gleichwohl musste Henley eine oder sogar<br />
mehrere Geigen Resles gut gekannt haben, entweder in seiner<br />
Tätigkeit als Hochschullehrer an der Londoner Royal Academy of<br />
Music aus dem Unterricht mit seinen Studenten, oder als Primarius<br />
seines Streichquartetts, mit dem er in der ganzen westlichen<br />
Welt auf Tournee war. Oder als sammelnder Liebhaber, der sich<br />
sogar solche Perlen leisten konnten.<br />
Weil heute der globale Markt für Instrumente Resles wie<br />
leergefegt ist, bot das Bekanntwerden einer Geige dieses Meisters<br />
in Privatbesitz vor wenigen Jahren den willkommenen Anlass,<br />
das Instrument selbst, die Überlieferung aus der Werkstatt seiner<br />
Herstellung, deren Produktsortiment und die im Detail völlig<br />
unbekannte Biographie des barocken Geigenmachers zu beschreiben,<br />
und dies alles im Kontext des Füssener Instrumentenbaus der<br />
Zeit. Mehr noch: Die Rekonstruktion dessen, was etwa Henley<br />
oder Lütgendorff damals über Resle noch bzw. schon wussten<br />
oder wissen konnten, lässt die Geschichte der Organologie, der<br />
Wissenschaft von den Musikinstrumenten, zur Bühne werden für<br />
9
weit zurückliegende kulturelle Ereignisse, Entwicklungen und<br />
Lebenswelten. Denn Geigen schauen schließlich auf den ersten,<br />
flüchtigen Blick ja fast alle gleich aus. Erst wenn man genau hinschaut,<br />
um einer Geige ihr Alter, ihre Herkunft, ihre Karriere,<br />
ihre kulturellen Umstände anzusehen, sogar erst, wenn das gelungen<br />
ist, kann sie etwas erzählen.<br />
Resle starb 1756, im Geburtsjahr Mozarts. Knapp zwanzig<br />
Jahre früher schon war Stradivari gestorben, in Cremona, am<br />
Südrand der Alpen, das von Füssen am nördlichen Alpenrand gerade<br />
einmal 360 Kilometer entfernt liegt. Das bedeutet heute die<br />
Distanz von ein paar Stunden, damals waren es ein paar Tage. Ob<br />
Resle diesen Namen je gehört hat, wissen wir nicht, doch wäre es<br />
kein Zeugnis der Ignoranz, kein Versäumnis, ja noch nicht einmal<br />
eine Unaufmerksamkeit gewesen, wenn er ihn nie zur Kenntnis<br />
genommen hätte, denn die Instrumente Stradivaris galten noch<br />
lange nicht als Modell für den globalen Geigenbau. Und zu lesen<br />
gab es auch nichts über Stradivari.<br />
Was war also das Konzept Resles, wie sahen seine Geigen<br />
aus, wer waren seine Lehrer, seine Kollegen, seine Kunden? Wie<br />
arbeitete Resle in Füssen? Was prägte seinen Alltag, sein Denken,<br />
sein Leben, seine Arbeitsweise? Wie nahm er die Geige, den<br />
Geigenbau, die Musik wahr, just in der Geburtsstunde des Orchesters,<br />
das sich genau in seiner Zeit konstituierte? Und in dem<br />
die Erzeugnisse seiner Hand, seiner Kollegen, seiner Branche seit<br />
damals die erste Geige spielen, wie man später dann sagen sollte? Was<br />
verschaffte der Geige denn ihren ersten Rang? Und was machte<br />
die barocke Welt des Geigenmachers Andreas Resle aus, in der<br />
dies gelang? Möglichst gute Anworten auf diese vielen Fragen zu<br />
geben, ist das Anliegen dieses Buches.<br />
Quasi Centrum Europae<br />
Der schon zitierte Willibald Leo von Lütgendorff prägte mit seinem<br />
1904 in erster Auflage gedruckten Lexikon der europäischen<br />
Geigen- und Lautenmacher die globale Geigenwelt der Liebhaber,<br />
der Sammler und insbesondere der Händler, welche die Liebhaber<br />
10
und Sammler bedienten, nachhaltig und bis heute wirksam. Sein<br />
einzigartiger Erfolg wurde durch eine wirkungsvolle Mischung<br />
von identitätsstiftenden Gewissheiten (iii: „Den Thron [...] nimmt<br />
jetzt unbestritten die Geige ein“), von Lehrsätzen der bürgerlichen<br />
Kunstreligion (v: „Die Frage, ob es ein Geheimniss der alten<br />
Meister gegeben habe, erscheint mir nicht so wesentlich, wie sie<br />
oft hingestellt wird [...], denn Fragen der Kunst lassen sich nicht<br />
einfach wissenschaftlich lösen“), von gründerzeitlichen Denkmodellen<br />
des gesunkenen Kulturguts, die in gesellschaftlichen Eliten<br />
weit verbreitet waren und damit den Widerspruch des Marxismus<br />
unweigerlich provozierten (vi: „Erst mit dem Verfall der Kunst,<br />
mit der handwerksmässigen Herstellung und dem Fabrikbetrieb<br />
und dem gleichzeitigen Aufschwung der Fälschung und des Betrugs<br />
verloren die Zettel oder Brandmarken an Bedeutung, weil<br />
sie allein nicht mehr glaubwürdig waren“) sowie von nationalistischen<br />
Weltanschauungen durchsetzt:<br />
„Lauten und Geigen wurden, wie schon bemerkt, überall gemacht,<br />
zu einem besonderen Kunstzweig erhoben wurde der Bau<br />
von Saiteninstrumenten zuerst in deutschen Landen. Deutsche<br />
Lautenmacher trugen ihre Kunst nach Italien; lange vor Cremona<br />
spielte bereits Füssen eine bedeutsame Rolle. Aus Füssen sind<br />
zahlreiche tüchtige Künstler hervorgegangen, die in Frankreich,<br />
Italien u. s. w. zu Ehren gekommen sind.“ (vii)<br />
Gleichwohl wurde die Rolle und Bedeutung Füssens von<br />
Lütgendorff zutreffend erkannt, auf die 1874 erstmals der Prager<br />
Verwaltungsjurist und Historiker Edmund Schebek hingewiesen<br />
hatte. Anders als die späteren Hotspots der Industrialisierung im<br />
Instrumentenbau auf dem Land – Graslitz, Klingenthal, Markneukirchen,<br />
Mirecourt, Mittenwald oder Schönbach – prägte<br />
Füssen mit seinem städtischen Gewerbekonzept die organisatorische<br />
Institutionalisierung der europäischen Herstellerbranchen<br />
für Musikinstrumente, das Material- und Herstellungskonzept<br />
des Lautenbaus oder die Personalentwicklung des frühneuzeitlichen<br />
Geigenbaus an den Residenzen nicht nur im alten Reich,<br />
sondern in der gesamten katholischen Welt der europäischen<br />
Länder. Der Anspruch auf diese Schlüsselposition des Füssener<br />
Handwerks der Lautenmacher mit ihrem auf tausenden von Gei-<br />
11
Füeßen, Kupferstich von Matthäus Merian, Nürnberg 1643 (oben)<br />
Füessen, Kupferstich von Gabriel Bodenehr, Augsburg 1758, Tafel 60 (unten)<br />
Das Bilderbuch Europens Pracht und Macht in 200. Kupfer-Stücken erschien zwar<br />
erst kurz nach Resles Tod, doch gibt die Stadtansicht Füssens die ältere Darstellung<br />
von Matthäus Merian von 1643 wieder, also aus der Zeit des Dreißigjährigen<br />
Krieges. Unter dessen verheerenden Folgen sollte die Stadt zwei<br />
Jahrhunderte lang leiden. So lange dauerte es etwa, bis die Bevölkerungszahl<br />
wieder den Stand erreichte, auf dem sie sich vor dem Dreißigjährigen Krieg<br />
befunden hatte. Im Vordergrund jeweils der Lech mit dem Wasserfall und der<br />
Brücke, auf der linken Bildseite das Kloster St. Mang und dahinter das Hohe<br />
Schloss, im Hintergrund die Alpen.<br />
12
genzetteln gedruckten Markenlabel der Lauten= und Geigenmacher<br />
wurde 1718 reichsweit verkündet – just als Andreas Resle auf<br />
die Zulassung seines selbständigen Gewerbes sich vorbereitete.<br />
Füssen war also wahrlich nicht irgendeine Stadt, in welcher der<br />
Geigenbau betrieben wurde, nur eben früher als in den genannten<br />
Plätzen der Industrie in Bayern, Böhmen, Lothringen oder<br />
Sachsen. Füssen bot mit seinem Handwerk der Lautenmacher ein<br />
Modell für den europäischen Instrumentenbau hinsichtlich seiner<br />
handwerksmäßigen Organisation, Arbeitsweise, Personalstruktur<br />
und Qualitätskontrolle. Aber von all diesen Aspekten soll später<br />
noch die Rede sein.<br />
Digital Organology<br />
Wenn Henley – wie eingangs beschrieben – noch Resle-Geigen<br />
kannte, aber heute keine mehr zu finden sind, so hat das mehrere<br />
Gründe, von denen zwei wesentliche genannt sein sollen: Mit zunehmendem<br />
Alter verschwinden Objekte des täglichen Gebrauchs<br />
infolge von Gebrauch und Abnutzung. Das ist der Lauf der materiellen<br />
Dinge. Und das ist auch gut so, denn was würde sonst alles<br />
herumliegen! Und dann gibt es noch einen zweiten Aspekt: Im Geigenhandel<br />
wurden – am häufigsten in der bürgerlichen Moderne<br />
– viele Geigen, insbesondere qualitativ hochwertige, mit neuen, im<br />
Handel höher dotierten Labels versehen, meist indem man die alten,<br />
ursprünglichen Geigenzettel durch solche mit wohlklingenden<br />
Markennamen ersetzte, so wie Lütgendorff das schon angedeutet<br />
hat. Nur in ganz seltenen Ausnahmefällen wurden solche Aktionen<br />
als Betrug geahndet. Um diesen – auch bei den Geigen Resles<br />
vorstellbaren – Prozess in seiner Chronologie erkennen zu können,<br />
hilft der Überblick über das Wissen von den Instrumenten, ihren<br />
Charakteristika, ihrem Wert und ihrem Hersteller, das die Akteure<br />
des Geigenhandels im Lauf der Zeit jeweils haben konnten.<br />
Heute vermag die akademische Organologie solche Prozesse<br />
der Wissensmigration detailliert nachzuzeichnen und abzubilden.<br />
Und mit ihren digitalen Werkzeugen kann sie gleichzeitig Facette<br />
für Facette eines solch komplexen Gegenstands fokussieren,<br />
13
eschreiben, visualisieren und vergleichen. So entsteht auch von<br />
Andreas Resle, seinen Instrumenten, seinem Handwerk, seiner<br />
Stadt mosaikartig ein Bild, das uns seine weit zurückliegende<br />
Lebenswelt und deren existenzprägenden Umstände vermittelt,<br />
die sich von unseren ja gravierend unterscheiden. Natürlich ist<br />
auch die Forschung zum Geigenbau, zu Füssen, zur Musik- und<br />
Kulturgeschichte seit Lütgendorff und Henley nicht steckengeblieben,<br />
so dass heute einiges gut bekannt ist und manches<br />
schärfer erkennbar wird, worüber man damals noch spekulierte,<br />
so dass inzwischen auch alte Fehler korrigiert werden können.<br />
Trotzdem bleiben Fragen offen, einige vielleicht nur einstweilen,<br />
andere dagegen definitiv.<br />
Den Qualitätskriterien heutiger Forschung entsprechend, die<br />
mit dem Akronym FAIR für findable, accessible, interoperable, reuseable<br />
beschrieben werden, ist alles Wissen um Andreas Resle und<br />
seine Geigen heute im musiXplora, der virtuellen Forschungsumgebung<br />
am Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig<br />
(MIMUL), abgelegt, gesichert und erreichbar, und zwar im Format<br />
feingranularer Forschungsdaten. Die Seite https://musixplora.de/mxp/2003036<br />
bietet dafür einen komfortablen Überblick<br />
aller Personen, Instrumente, Schlagwörter und sonstigen Entitäten<br />
im Kontext dieses Bandes. Auf diese Weise sind im Sinne einer<br />
Enhanced Publication einzelne Facetten des Wissens (in Form von<br />
Forschungsdatensätzen) persistent mit diesem Buch verknüpft,<br />
so dass jedes Detail jederzeit und von überall nachvollzogen oder<br />
vertieft werden kann. Wenn etwa der Personen-Datensatz von<br />
Andreas Resle unter https://musixplora.de/mxp/r1280 erreichbar<br />
ist, dann erfolgt der Kurznachweis – in stets gleichbleibender<br />
Syntax des Links – mit mXp r1280. Dies gilt für alle Entitäten,<br />
also auch für Körperschaften, Sachen oder Instrumente.<br />
Ziel dieses methodologischen Ansatzes der Digital Organology<br />
ist es, nicht nur die standardisierten Entwicklungsstufen von Instrumententypen<br />
zu erkennen und zu beschreiben, so wie dies im 20.<br />
Jahrhundert die Regel war, sondern insbesondere die Prozesse zu<br />
verstehen, die vorausgehend zu diesen Endstadien geführt haben.<br />
Veränderung hat nach aller Erfahrung zwei Seiten: Dem Gewinn<br />
auf einer Seite steht ein Verlust auf der anderen entgegen. Ähnlich<br />
14
verhält es sich mit dem Entstehen und Verschwinden, dem Wachsen<br />
und Schrumpfen, dem Verbreitern und Verengen, dem Verbessern<br />
und Verschlechtern. Nicht nur das letzte Begriffspaar zeigt an, dass<br />
die Wahrnehmung von kulturellen Objektivationen oder auch nur<br />
von deren Veränderungen in vielen Fällen eine Bewertung zum<br />
Ausdruck bringt, die weltanschaulich fundiert ist. Dies wiederum<br />
ist der Grund, Wertekonzepte aus Religionen, Ethikkodizes oder<br />
gesellschaftlichen Verfassungen in die Analyse miteinzubeziehen.<br />
In der qualitativ orientierten Kulturforschung ist der methodologische<br />
Ansatz der Digital Organology heute unverzichtbar,<br />
nachdem die musikwissenschaftlich orientierte Instrumentenkunde<br />
des 20. Jahrhunderts die Sammlung und Qualitäts kontrolle<br />
von Vergleichs- und Referenzdaten zu allen Entitäten ihrer Forschungsperspektiven<br />
nur unzureichend zustandegebracht hat. So<br />
blieben instrumentenkundliche Dokumentation, detektivische<br />
Provenienzforschung oder bestelltes Gutachterwesen letztlich<br />
vielfach auf den Wissensstand von Sammlern des frühen 20. Jahrhunderts<br />
zurückgeworfen.<br />
Ein Puzzle wird zum Bild<br />
Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie es ehedem gelang,<br />
Expertenwissen zu sammeln, zu sichern und weiterzugeben,<br />
bevor es dafür Bücher oder Datenbanken gab. Die Rekonstruktion<br />
des biographischen Wissens über Andreas Resle bietet ein anschauliches<br />
Beispiel dafür. Den ersten Hinweis darauf verdanken<br />
wir Georg Piegendorfer, der 1895 eine kleine Monographie über<br />
ein paar Augsburger und schwäbische Geigenmacher vorlegte,<br />
die im Leipziger Verlag von Paul de Wit gedruckt, verbreitet und<br />
beworben wurde. Sein kurzer Artikel ist das bewundernswerte<br />
Protokoll sehr aufmerksamer Beobachtung:<br />
„XXI. Resle, Andreas, in Füssen / von 1720–1750. / Die Arbeiten<br />
dieses Meisters ähneln auffallend denen von Gg. Aman in<br />
Augsburg. Eine Viola d‘amour von ihm vom Jahre 1727 sieht einer<br />
gleichen von Aman vom Jahre 1713 zum Verwechseln ähnlich, in<br />
der Mache wie im Lack, und bei seinen übrigen Instrumenten be-<br />
15
steht eine kleine Abweichung darin, daß die Wölbung nur mittelhoch<br />
ist, die F-Löcher in der Zeichnung etwas verschieden sind.<br />
Die Ausführung ist meisterhaft. Der Lack hat ein schönes Rot und<br />
ist besserer Art. Der Ton ist nicht groß, aber recht sympathisch. /<br />
Inschrift: lateinischer Druck. / Andreas Resle in / Füssen me fecit<br />
1727.“ (mXp 5001367 Piegendorfer 1895)<br />
Woher bezog Piegendorfer wohl sein historisches Wissen für<br />
seine kleine Publikation? Zu seiner Zeit gab es keinerlei Lexika,<br />
gedruckte historische Monographien oder Zeitschriften, aus denen<br />
er seine Kenntnisse hätte schöpfen können. Er hatte die Profession<br />
der Geigenbauer als Seiteneinsteiger betreten, war als gelernter<br />
Tischler über die Militärmusik in der bayerischen Armee<br />
zum Instrumentenbau gelangt, hatte sich sicherlich wissbegierig,<br />
aufmerksam und bildungsbeflissen weiterqualifiziert, ehe er in<br />
Augsburg eine Werkstatt eröffnete. Doch wer kannte vor ihm<br />
schon Resle? Und wie überprüfte und sicherte Piegendorfer sein<br />
Wissen? In einem Journal seiner Werkstatt? Einem Zettelkasten?<br />
Im Gedächtnis? Im Austausch mit erfahrenen Kollegen?<br />
Piegendorfers kleines Büchlein hatte als Broschur eines<br />
Sonderdrucks sicher nur eine kleine Auflage und beschränkte<br />
Reichweite. Weil aber seine dreißig Geigenmacher-Portraits im<br />
selben Jahr auch in Paul de Wit’s Zeitschrift für Instrumentenbau (15,<br />
1894/1895) abgedruckt wurden, erreichten sie die Branche der<br />
Groß- und Einzelhändler für Musikinstrumente auf der ganzen<br />
Welt, nachdem das Periodikum seines Verlegers dort zwar nicht<br />
überall das Monopol, aber doch eine starke Dominanz besaß.<br />
Der Erfolg blieb nicht aus. Schon ein paar Jahre später gehörte<br />
Piegendorfer ebenso wie sein Leipziger Verleger Paul de Wit<br />
zu den einflussreichsten und auch kundigsten Informanten von<br />
Willibald Leo von Lütgendorff, dem bedeutendsten Lexikographen<br />
des europäischen Instrumentenbaus, der 1904 seine bis heute<br />
unentbehrliche Datensammlung der Geigen- und Lautenmacher<br />
in erster Auflage publizierte. Dem großen Erfolg seines Buches<br />
waren fünf Reprints der zwei folgenden Jahrzehnte in atemloser<br />
Folge beschieden. Auch Lütgendorff interessierte sich sehr für<br />
Resle und besaß ein Instrument von ihm. Er schreibt, nicht ohne<br />
ein paar Daten sorgfältig hinzugefügt zu haben:<br />
16
Geige von Andreas Resle, Füssen späte 1720er Jahre, Privatbesitz, mXp 4110157<br />
Weil die Instrumente Resles heute ganz rar sind, bot das Bekanntwerden dieses<br />
Exemplars die willkommene Gelegenheit, ein Lebensbild ihres Herstellers zu<br />
zeichnen – denn zu Resles Zeiten fand die Geige zu ihrer Funktion im Orchester,<br />
zu ihrem Image und ihren Standards – und seine Rolle im Füssener<br />
Geigenbau zu beleuchten.<br />
17
„Resle, Andreas. – Füssen. 1720. + 2. April 1756 / Einer der<br />
besten Füssener Meister seiner Zeit. Er scheint auch bei G. Aman<br />
in Augsburg gearbeitet zu haben; wenigstens sagt Piegendorfer,<br />
daß seine Arbeiten denen Amans zum Verwechseln ähnlich sehen.<br />
Seine Geigen sind in allen Teilen meisterhaft durchgeführt; der<br />
Ton ist einschmeichelnd und der Lack von schöner, rotbrauner<br />
Farbe, nur manchmal sehr nachgedunkelt. Das Deckenholz ist<br />
immer sehr schön. Eine prachtvolle Geige von ihm befindet sich<br />
in der staatl. Sammlung alter Musikinstrumente in Berlin (aus der<br />
Sammlung Snoeck), eine Viola d‘amore von 1743 im Landesgewerbemuseum<br />
in Stuttgart (Nr. 9, 30). Eine gute Viola von ihm<br />
besitze ich selbst. / Geigenzettel: Andreas Resle in / Fuessen me<br />
fecit 1727 (gedruckt). – Andreas Resle / fecit Fiessae / 1740 (gedruckt).<br />
– Andreas Reßle Lauten- und / Geigenmacher in Fiessen<br />
1745 (gedruckt).“ (mXp 5002059 Lütgendorff 1922)<br />
Natürlich wurde Resle 1907 in der ersten Auflage der<br />
Fuchs-Taxe genannt, die den Sammlern und Händlern damals eine<br />
Art Preisempfehlung vermittelte:<br />
„Resle, Andreas, Füssen XVIII. Jahrh. erste Hälfte. Sehr<br />
gute Arbeiten, rotbrauner Lack. Wert: etwa 100–200 M.“ (mXp<br />
5034111 Fuchs-Taxe 1/1907)<br />
So verbreitete sich das Wissen über Resle, wurde abgeschrieben,<br />
übersetzt, ergänzt. Weltweit. Gleich blieb indessen immer<br />
die hohe Wertschätzung. Auch bei dem schon kurz zitierten Henley<br />
(1959):<br />
„RESLE, Andreas. / Worked at Fuessen (Bavaria), 1720–1756.<br />
Apprenticed to Georg Aman at Augsburg. General style quite reminiscent<br />
of the productions of Aman. Outline especially noteworthy<br />
and backes up by nicely graduated medium arching. Curves and<br />
slopes of scroll and sound-holes splendidly carried out. Equally<br />
generous exertions given to the purfling, resulting in continuous<br />
accuracy. Always chose his wood with the keenest intelligence and<br />
acquired some wonderfully pretty backs. Varnish originally of a<br />
lovely red brown shade which, in many instances, has now unfortunately<br />
darkened and lost most of its lustre. Tonal quality immediately<br />
ingratiating, no less to professional players than to amateurs.<br />
Connoiseurs too, need not be sceptical on this point. Body length,<br />
18
35 cm.; upper bouts, 16; lower 21. Probably the best maker who<br />
ever lived at Fuessen. £90, 1960.“ (mXp 5020455 Henley 1959)<br />
Im selben Jahr 1959 besorgte René Vannes eine französische<br />
Übersetzung und stimulierte mit den alten Preisangaben des Geigenhandels<br />
aus der Zwischenkriegszeit auch die Sammleranreize<br />
der Nachkriegszeit:<br />
„RESLE ou RESSLE Andréas. Fils du fontainier Joseph R. Né<br />
à Füssen, le 27-11-1695. Vers 1720, il aurait été à Augsbourg l’aide de<br />
G. Aman, car son travial ressemble à celui de ce dernier. Le 20-11-<br />
1725, il épousa Rosalie Roithin et en 1737, il habitait le deuxième<br />
quartier de Füsen. Il mourut en cette ville, le 2-4-1756. Le Musée de<br />
Stuttgart possède de lui une jolie viole d’amour portant l’étiquette<br />
imprimée: Andréas Ressle. Lauten und / Geigenmacher in Fuessen<br />
1743. Un violon de bella facture, vernis rouge brun loncé, se trouve<br />
au Musée de Berlin (n° 2517). Il a les dimensions suivantes: longueur<br />
totale, 59 cm.; longueur du corps, 35 cm. 1/2; largeur inférieure, 21<br />
cm. Etiquette imprimée: Andréas Resle / fecit Fiessae / 1740. Les<br />
violons de ce luthier étaient cotés en Allemagne de 800 à 1.200 Mk<br />
avant 1933.“ (mXp 5001151 Vannes 1959)<br />
Nur wenige Jahre später folgte schließlich noch ein weiterer<br />
lexikalischer Artikel von Karel Jalovec (1965) in seiner in Prag erschienenen<br />
Enzyklopädie des Geigenbaues. Damit war also – für die<br />
verbleibenden Jahrzehnte des Kalten Krieges – auch der osteuropäische<br />
Markt des Warschauer Pakts mit Wissen über Resle versorgt:<br />
„Resle, Andreas, Füssen. Geb. 27.11.1695 in Füssen, gest.<br />
2.4.1756. Arbeitete bei G. Aman in Augsburg. Seine Geigen sind<br />
meisterhaft ausgeführt, tonlich gut und mit einem schönen rotbraunen,<br />
manchmal nachgedunkelten Lack versehen. Das Holz<br />
der Decke ist sorgfältig ausgewählt.“ (mXp 5001145 Jalovec 1965)<br />
In kleinen Schritten kamen nun immer mehr Daten insbesondere<br />
zur Genealogie und Überlieferung der Instrumente hinzu.<br />
So konnte Richard Bletschachter 1978 berichten:<br />
„Resle (Ressle, Rößle, Rösle), Andreas, geb. am 27.11.1695 in<br />
Füssen. Evt. Schüler von G. Aman in Augsburg, 1720 in Füssen.<br />
Verh. 1725 mit Rosalia, der Tochter des Lautenmachers Matthias<br />
Roidt in Füssen, 1727, 1743, 1745, 1748, gest. am 2.4.1756 in<br />
Füssen. Nach Henley probably the best maker who ever lived at<br />
19
Füssen. Er war der Großvater Franz Geißenhoffs (Geigen, Bratsche,<br />
Viola d’amore).“ (mXp 5033014 Bletschacher 1978)<br />
Adolf Layer fügte seiner Monographie der Allgäuer Lautenund<br />
Geigenmacher (1978) wertvolle archivische und bibliographische<br />
Informationen hinzu, die seinem Buch bis heute den Rang<br />
einer unentbehrlichen Datensammlung sichern:<br />
„Ressle (Resle, Rössle, Rösle), Andreas, Füssen / Geb.<br />
27.11.1695, gest. 2.4.1756 in Füssen. Seine Eltern waren der<br />
Brunnenmacher Josef R. und dessen Frau Maria. Er heiratete am<br />
20.11.1725 Rosalia Roithin. Neben Simpert Niggl war er einer<br />
der besten Füssener Lauten- und Geigenmacher des 18. Jahrhunderts.<br />
Nach Lütgendorff sind seine Geigen in allen Teilen meisterhaft<br />
durchgeführt; der Ton ist einschmeichelnd und der Lack von<br />
schöner, rotbrauner Farbe, nur manchmal sehr nachgedunkelt.<br />
Das Deckenholz ist immer sehr schön. Bekannt sind von ihm<br />
in Sammlungen: eine Viola d‘amore (1743) im Landesgewerbemuseum<br />
Stuttgart und eine zu einer Bratsche umgebaute Viola<br />
d‘amore (1742) im Annenmuseum Lübeck. Die Sammlung alter<br />
Musikinstrumente Berlin besaß bis zum 2. Weltkrieg eine hervorragend<br />
schöne Violine (1740) von R. Der Meister wohnte 1737<br />
im zweiten Viertel der Stadt Füssen.“ (mXp 5001129 Layer 1978)<br />
Alle Rezipienten Piegendorfers hatten – fast hundert Jahre lang –<br />
Resle bislang als individuelle Künstler-, Autoren- oder Schöpfer-Persönlichkeit<br />
wahrgenommen und portraitiert. Als hätte er keine Zeitgenossen<br />
gehabt, keine Konkurrenten, keine Gewerbeordnungen,<br />
keine Regelwerke, keine Steuerpflicht, keine Marktdynamiken, keine<br />
Sachzwänge, keine Existenzbedrohungen, keine Nöte. Als erstem<br />
gelang es dem Füssener Historiker Karl Schlagmann (1980), den Blick<br />
über das Individuum hinaus zu weiten und Resle als Füssener Bürger<br />
seiner Zeit zu sehen, zu verstehen, darzustellen. Kein Wort zwar zur<br />
Biographie, aber dafür üppige Informationen zu Haus, Werkstatt,<br />
Steuerleistung, Branche, Konkurrenten, Ordnungen, Ständen, also<br />
zur Stadtgesellschaft, zu den historischen, wirtschaftlichen, sozialen,<br />
kulturellen Rahmenbedingungen, die erst die Brücke schlugen zu<br />
vielen Facetten der Lebensumstände.<br />
Auf diesem Fundament konnte die Forschung zum Füssener<br />
Lauten- und Geigenbau in der vergangenen Generation nicht<br />
20
nur methodisch bedeutend verbreitert und ausdifferenziert werden,<br />
sondern sie konnte auch – begünstigt durch die inzwischen<br />
raumgreifende Digitalisierung – qualitativ konsolidiert und<br />
professionalisiert werden. Exemplarisch für diesen Ansatz seien<br />
die Publikationen, Ausstellungs-, Festival- und Museumsprojekte<br />
des langjährigen Füssener Kulturamtsleiters Thomas Riedmiller<br />
genannt, die in ihrer mikrogeschichtlichen Präzision der Biographieforschung<br />
die einbettenden Lebensumstände stets in den<br />
Blick nahmen und nehmen.<br />
Ein vielleicht unerwarteter Aspekt sei aus der Fülle der<br />
kontextualisierenden Forschungsinteressen besonders angesprochen:<br />
die Bedeutung der Konfessionen. Dies betrifft weniger<br />
die Rolle kirchlicher Einrichtungen als Akteure der historischen<br />
Kultur, sondern vor allem die im Kontext von religiös<br />
geprägten Gesellschaftsstrukturen, Standeshierarchien, Gewerbeordnungen,<br />
Gesetzen, Ethikkodizes oder Bildungssystemen<br />
erkennbaren Auswirkungen auf Instrumentenbau, Musiklehre,<br />
Repertoire oder Aufführungspraxis. All diese Folgen der<br />
frühneuzeitlichen Konfessionalisierung von höfischer Kultur,<br />
von städtischen Handwerken, von musikalischen Aufführungspraktiken,<br />
von sozialen oder ästhetischen Normen fanden in der<br />
Musikforschung des 20. Jahrhunderts noch wenig Beachtung,<br />
doch treten sie gerade in der Entwicklung des Instrumentenbaus<br />
markant hervor. Sie weisen einige Branchen des Instrumentenbaus<br />
sogar als konfessionelle Eliten der frühen Neuzeit aus, wie<br />
im Folgenden auch für die Lebenszeit Resles zu zeigen ist.<br />
Die Herkunftsfamilie<br />
Andreas Resle war das vierte Kind des Brunnenmachers Joseph<br />
Ressel (Resel) und seiner Frau Maria. Er wurde am 27. November<br />
1695 in Füssen geboren und katholisch getauft, worüber die Matrikel<br />
der Pfarr- und Klosterkirche St. Mang Auskunft gibt. Sein<br />
älterer Bruder Antonius war gerade ein gutes Jahr älter und sollte<br />
später den Beruf des Vaters übernehmen. Der Brunnenmacher,<br />
auf den auch noch zurückzukommen ist, zählte zu den holzverar-<br />
21
eitenden Gewerben; er sorgte hauptsächlich für die Herstellung<br />
und Installation von hölzernen Leitungen für kontinuierlich sprudelndes<br />
Trinkwasser, das in der Stadt horizontal verteilt werden<br />
musste. In die Tiefe konnte man damals nur graben, nicht bohren.<br />
Dass der Bruder Antonius auch den väterlichen Gewerbebetrieb,<br />
also dessen Werkstatt, Haus, Werkzeug etc. übernahm, nehmen<br />
wir an, ohne einen dokumentarischen Beleg dafür zu kennen.<br />
Diese pedantisch anmutende Einlassung ist deshalb gerechtfertigt,<br />
weil nicht sicher ist, ob Andreas Resle tatsächlich durchgängig in<br />
Füssen lebte und dort auch seine Schulzeit verbrachte. Denn seine<br />
Biographie zu schreiben ähnelt dem Zusammenfügen eines Puzzles<br />
aus tausenden von kleinsten Teilen. Jede einzelne Information, die<br />
wir einem Matrikeleintrag entnehmen können – ganz gleich, ob in<br />
der Familie Resle oder bei Dritten –, kann für die Rekonstruktion<br />
historischer Verhältnisse von großer Bedeutung sein. Denn die<br />
Matrikeln, die üblicherweise für die bedeutenden Ereignisse des<br />
Lebenskreises – Taufe, Trauung, Tod – die konfessionell geforderten<br />
Sakramente beurkunden, enthalten ein ungeheuer dichtes Netz<br />
an Einzelinformationen, doch sind sie nur schwer zu rezipieren:<br />
Ihre Wissensfacetten sind weit verstreut, ihr Vokabular gehorcht<br />
keinem Standard und enthält formelhafte Kürzel, die nicht immer<br />
zu entschlüsseln sind, ihre Sprache ist überwiegend lateinisch mit<br />
phantasievollen modernen Einsprengseln und ihre frühneuzeitlichen<br />
Handschriften sind schwer lesbar.<br />
Schon die Taufmatrikel gibt aufschlussreiche Hinweise auf das<br />
Leben des Andreas Resle, legt aber auch große Verwechslungsrisiken<br />
offen. Der Brunnenmacher Josef Ressel war aus Steingaden<br />
nach Füssen zugezogen, weil er dort Verwandte hatte, darunter<br />
eine Person derselben Generation und mit exakt demselben Namen<br />
– also offenbar kein Bruder. Dieser war Färber von Beruf,<br />
also Angehöriger eines Textilgewerbes. Seine Frau hieß Barbara.<br />
Ihnen wurde just zwei Tage vor Andreas eine Tochter Maria Catharina<br />
geboren, deren Verwandtschaftsverhältnis zu Andreas<br />
sich noch nicht erkennen lässt. Doch erhielt Andreas in Füssen<br />
noch vier jüngere Schwestern, zunächst im Abstand gut eines<br />
Jahres, Juliana Anfang 1697, Maria Regina Mitte 1698, Maria<br />
Johanna Ende 1699, zuletzt zwei Jahre später, Ende 1701, Barbara.<br />
22
Die Wies bei Steingaden, unbezeichnetes Votivbild, Steingaden Mitte 18. Jahrhundert,<br />
Katholische Wallfahrtskuratiestiftung St. Josef<br />
Die Inschrift des Gemäldes „Ware Abildung wie die / zwei Söhne von der Bäurin<br />
/ den Christus Abgeholt / von Tafernwirths von / Steingaden den 4. Mai / Ano<br />
1738“ beschreibt den Beginn der Wallfahrt zur Wieskirche, die bis heute ein<br />
prominentes und vielbesuchtes Touristenziel darstellt.<br />
Dass nach einer Geburtenserie von nur zehn Jahren in der Folgezeit<br />
weder weitere Geburten noch ein einziger Todesfall von<br />
Angehörigen dokumentiert sind, eröffnet die Überlegung, ob<br />
Resles Familie etwa 1702 fortzog und dann andernorts lebte, just<br />
also in der Schulzeit des Andreas, von dem wir nicht wissen, ob<br />
er je eine Schule besuchte und – wenn ja – welche, wo und wie<br />
lange. Der Besuch einer städtischen Schule war grundsätzlich<br />
den Söhnen und Töchtern der städtischen Bürger vorbehalten.<br />
Ob der Brunnenmacher Joseph Ressel das Füssener Bürgerrecht<br />
besaß, lässt sich nicht mehr feststellen, auch wenn wir es annehmen,<br />
nachdem er eine Bürgerstochter Maria Enzensperger<br />
geheiratet hatte.<br />
Wir kennen nur wenige Schriftstücke aus der Hand von<br />
Andreas Resle, die Auskunft über seinen Bildungsgrad geben<br />
könnten, und zwar seine Geigenzettel aus dem Zeitraum zwischen<br />
den späten 1720er Jahren und 1749. Ihre kurzen und formelhaften<br />
Floskeln in lateinischer oder deutscher Sprache geben allerdings<br />
keinen Aufschluss darüber, wer sie formuliert und – in Ergänzung<br />
23
zu den ohnehin gedruckten Passagen in der Art eines Formulars<br />
– niedergeschrieben hat.<br />
Falls die Familie temporär außerhalb Füssens gelebt haben<br />
sollte, so kehrte sie später in die Stadt zurück, wo Andreas Resles<br />
Mutter am 10. März 1732 verstarb, 72-jährig, und sein Vater am<br />
16. Februar 1735, im Alter von 74 Jahren.<br />
Die Ausbildung<br />
Wie können wir uns aber Bildung ohne Schule vorstellen? Nun<br />
wäre die Annahme unzulässig, dass Kinder vor der Einführung<br />
von Schulen ungebildet geblieben wären. Gleichwohl war ihre<br />
Bildung weniger standardisiert und stärker von den Möglichkeiten<br />
und Netzwerken ihrer Eltern abhängig, mithin von deren<br />
sozialem Status oder wirtschaftlichem Stand. Das Heranwachsen<br />
der Kinder, ihr Erwerb von Wissen und Fähigkeiten der Alltagsbewältigung,<br />
der sozialen Rollen und des Lebensunterhalts waren<br />
in der Gesellschaftsstruktur am Rand des Bürgertums mitunter<br />
anders organisiert als in dessen Mitte. Die zentrale Vermittlungsinstanz<br />
erst für die Elementar- und anschließend für die Berufsausbildung<br />
war die Familie, zunächst die Herkunfts-, dann die<br />
Lehrfamilie.<br />
In der Herkunftsfamilie war eine ganzheitliche Wissensvermittlung<br />
das Ziel: Den Kindern wurde der gesamte Kenntnisfundus,<br />
Erfahrungsschatz und Wertekosmos weitergereicht, über den<br />
ihre Eltern verfügten. Die Kinder nahmen an den Tätigkeiten der<br />
Erwachsenen teil, ohne dass die Lebenswelten der Generationen<br />
getrennt gewesen wären. Ebensowenig konnten Arbeitswelt und<br />
Privatheit oder Berufstätigkeit und Freizeit voneinander unterschieden<br />
werden. Kinder konnten also Erfahrungen in ihren<br />
sozialen Gruppen sammeln, die sich meist durch vertikale Zusammenschlüsse<br />
verschiedener Altersklassen auszeichneten, nicht<br />
aber durch horizontale Kohorten gleichen Alters, wie dies heute<br />
meist der Fall ist.<br />
Nun ist das Elternhaus von Andreas Resle in der Füssener Altstadt<br />
noch unentdeckt, weil noch keine dokumentierende Quelle<br />
24
Füssen / als Übersicht zum Behufe / der Brunnenleitungen/ Im Jahre 1830,<br />
Zeichnung von Johann Bührlen, Füssen 1830, Museum der Stadt Füssen 3781<br />
Der Brunnenleitungsplan des Geometers Bührlen wurde zwar erst ein Jahrhundert<br />
nach Resles Wirken gezeichnet, doch gibt er die seinerzeit maßgebliche<br />
städtebauliche Gliederung der Innenstadt unverändert wieder, die sogar bis<br />
heute gut erhalten ist.<br />
für diese Frage bekannt geworden ist. Andreas’ älterer Bruder,<br />
Antonius, übernahm im Erwachsenenalter – wie erwähnt – den<br />
väterlichen Beruf des Brunnenmachers, mutmaßlich also auch das<br />
Elternhaus. Die älteste und erstgeborene Schwester Anna Maria<br />
kam als Gewerbenachfolgerin des Vaters nicht in Betracht, der<br />
zweitgeborene Bruder Thomas war bereits als Säugling verstorben.<br />
Jedoch verhinderte Antonius’ früher Tod im Jahr 1738, dass<br />
er in einer detailreichen Steuer- und Gewerbestatistik für das Jahr<br />
1741 Erwähnung gefunden hätte, aus der auch der Sozialstatus,<br />
die Hausnummer oder die Lage des Betriebs in der Stadt zu erhoffen<br />
gewesen wären.<br />
25
Unter den beschriebenen Bedingungen konnte ein Kind wie<br />
Andreas unter Umständen schon früh aus der Obhut seiner elterlichen<br />
Familie entnommen und zur Ausbildung in eine andere gegeben<br />
werden, damit es dort seine Manieren verfeinern, sein Wissen<br />
und seine Fertigkeiten erweitern und so das Rüstzeug einer Tätigkeit<br />
zum Lebensunterhalt erwerben konnte. Dabei galt weniger das<br />
Lebensalter als gliederndes Kriterium von Kompetenzerwerb und<br />
Lehre als vielmehr der Aufnahmewunsch einer sozial höherstehenden<br />
Lehrfamilie. Dort war es die Hauptverpflichtung des Kindes,<br />
seinem Lehrherrn zu dienen, und zwar in allen Lebensbereichen des<br />
familiären und gewerblichen Lebens. Die Tätigkeit des Dienens und<br />
die Stellung des Dieners galten in keiner Weise als entwürdigend.<br />
Die Lehrzeit wurde als Übergang wahrgenommen: vom Kind<br />
zum Erwachsenen, vom Lehrbub zum Meister. Wer als Kind seine<br />
Lehrzeit etwa bei einem Pfarrer verbrachte, erlernte das Schreiben<br />
oder die lateinische Sprache, so dass er später selbst Pfarrer werden<br />
konnte. Wer als Kind zu einem Lautenmacher kam, erlernte das<br />
Hobeln von Eibenholz oder das Hören akustischer Eigenheiten,<br />
so dass er später selbst Lautenmacher werden konnte. Im Umkreis<br />
frühneuzeitlicher Organisten-, Trompeter- oder Musikerfamilien<br />
finden sich in großer Zahl Hinweise auf die immense Bedeutung<br />
der Familie als Ort der Ausbildung und des Kompetenzerwerbs.<br />
Wenn ein Familienmitglied etwa infolge von Abwesenheit, Krankheit<br />
oder Tod ausfiel, dann konnte oft ein anderes einspringen. Dies<br />
wäre in heutigen Familien undenkbar, in denen jedes Mitglied über<br />
andere, individuelle Fähigkeiten oder Ausbildungen verfügt.<br />
Es ist bislang völlig unzureichend untersucht, in welchem Umfang<br />
die Lehre von Seiten der Herkunftsfamilie angestrebt oder<br />
eingefädelt wurde, bzw. inwieweit die Initiative vom Lehrherrn<br />
ausging. Dieses Modell, das man als soziale Elternschaft bezeichnen<br />
könnte, tritt in ähnlichen Familienstrukturen verschiedener<br />
Kulturen weltweit auf. Es ist primär in der verwandtschaftlichen<br />
Bindung begründet, und nur nachrangig in Notlagen. Weil in den<br />
frühneuzeitlichen Städten stets nur ein Teil der Bevölkerung mit<br />
den Privilegien des Bürgerrechts ausgestattet war, das auch den<br />
Schulbesuch der Kinder (wenigstens der Söhne) gewährleistete,<br />
26
spielte die soziale Elternschaft an den Rändern der bürgerlichen<br />
Gesellschaft lange eine prägende Rolle.<br />
Die Bedingung für die Aufnahme eines Kindes in die Lehrfamilie<br />
war zumeist die Verwandtschaft, Patenschaft oder Beziehung<br />
zwischen einem Paten und einem Kind sowie das soziale<br />
Gefälle zwischen der ranghöheren Lehrfamilie und den niedriger<br />
gestellten leiblichen Eltern. Anfragen im Sinne der sozialen Elternschaft<br />
konnten aus Gründen des Respekts dann nicht abgelehnt<br />
werden. Fragte also ein Handwerker um einen Lehrbuben an, war<br />
dessen Berufslaufbahn schon vorgezeichnet. Der Übergang des<br />
Kindes von einer Familie in die andere konnte aber genauso ohne<br />
Traumatisierung ablaufen wie heute der erste Schultag.<br />
In diesem Erwartungsrahmen verläuft nun auch die Suche<br />
nach der Werkstatt, in der Resle seine Ausbildung erhalten haben<br />
könnte. Wie eingangs bereits gezeigt, entstand in den zitierten<br />
Kurzbiographien des 20. Jahrhunderts ein Phantombild mit<br />
zunehmend scharfen Konturen der Überzeugung. Hatte Piegendorfer<br />
(1895) noch davon berichtet, dass zwei Instrumente von<br />
Aman und Resle ihm auffallend ähnlich erschienen, so nährte<br />
dies in der mehrfach erfolgten phantasievollen Reformulierung<br />
die Beinahe-Gewissheit eines Lehrverhältnisses der beiden. Doch<br />
dafür gibt es auch 130 Jahre nach Piegendorfers Beobachtung<br />
keinen Beleg, ja noch nicht einmal eine Spur, die einen Aufenthalt<br />
des Lehrlings in Augsburg andeuten könnte. Matrikeleinträge,<br />
Gewerbezulassung, Familiengründung, Werkstatt, Zettel, Bürgerrecht:<br />
All diese Aspekte legen die Hypothese nahe, dass Resles<br />
Ausbildung in Füssen erfolgte. Nur bei wem?<br />
Die Patenschaften, mit denen die Eltern Resle anlässlich der<br />
Taufen ihrer Kinder ein soziales Netz in die Füssener Bürgerschaft<br />
knüpften, geben keinen einzigen Anhaltspunkt für den<br />
persönlichen Kontakt in einen Betrieb des Instrumentenbaus oder<br />
eines holzverarbeitenden Gewerbes. Dieselbe Branchendistanz<br />
prägte auch die bereits vorgestellte Verwandtschaft, soweit wir sie<br />
kennen. Freilich war das Gewerbe des Lauten- bzw. Geigenbaus<br />
in der Stadt mit ihren wenigen tausend Bürgern und Einwohnern<br />
so präsent, dass gewiss jedermann in Füssen einen Lauten- oder<br />
27
Geigenmacher persönlich kannte, eine Werkstatt wusste oder<br />
ihren Beruf als Option auf den Lebensunterhalt schätzte.<br />
Zu den großen Vorzügen der Digital Organology gehören<br />
heute ihre Werkzeuge des Distant Reading. Mit ihnen kann<br />
beispielsweise für den Zeitraum, in dem Resle vermutlich seine<br />
Lehre absolvierte, also für die Jahre um 1705 bis um 1715, ein<br />
Überblick der in Füssen aktiven Werkstätten ausgelesen werden.<br />
Er enthält ein gutes halbes Dutzend Betriebe (in alphabetischer<br />
Reihenfolge) von Christoph Enzensberger, Johann Heringer,<br />
Johann Georg Kleinhans, Thomas Kraft, Johannes Ott, Georg<br />
Rueff und Hermann Joseph Stoß. Einige davon – Heringer,<br />
Kleinhans, Kraft, Ruoff – waren in Faulenbach ansässig, das heute<br />
ein Stadtteil Füssens ist, aber damals ein Vorort war, dessen Betriebe<br />
zwar in die städtischen Strukturen integriert waren, dabei<br />
aber stets aufmerksame Erwähnung fanden. Zwei Argumente<br />
sprechen gegen den Ausbildungsort Faulenbach. Kein einziger<br />
Matrikeleintrag Resles enthält den zartesten Hinweis auf diesen<br />
Herkunfts- oder Wohnort. Und die archivische Überlieferung zu<br />
den genannten Faulenbacher Werkstätten ist – soweit vorhanden<br />
– überdurchschnittlich gut bekannt und erschlossen, ohne dass<br />
darin der Name Resles je aufgefallen wäre.<br />
So verbleiben die drei Füssener Werkstätten Enzensperger,<br />
Ott und Stoß in der engeren Wahl des wahrscheinlichen Lehrplatzes.<br />
In ihren Karrieren ist nun zu prüfen, ob ein Bedarf an einem<br />
Lehrbuben bestand, den Resle hätte decken können. Mehrere<br />
Indizien deuten auf einen langanhaltenden Personal- und Nachwuchsmangel<br />
im Füssener Instrumentenbau der frühen Neuzeit<br />
hin, für den verschiedene Ursachen ausgemacht werden können,<br />
deren Gewicht in der Binnenverteilung allerdings noch nicht hinreichend<br />
bekannt ist.<br />
Im Dreißigjährigen Krieg und den damit verknüpften Pestepidemien<br />
hatte Füssen einen erheblichen Teil seiner Stadtbevölkerung<br />
verloren, so dass die Einwohnerzahl auch um 1700 ihren<br />
Vorkriegswert noch nicht wieder erreicht hatte. Die geburtenreichen,<br />
aber kinderarmen Familienverbünde waren durch eine hohe<br />
Sterberate unverändert bedroht, die Betriebe noch geschwächt,<br />
manche Häuser noch leerstehend. Ein zweiter Aspekt: Die re-<br />
28
präsentative Musikkultur, insbesondere der Geigenbau, erlebten<br />
bereits in den Jahren nach 1700 – gesteigert nach 1715 – eine<br />
wachsende Nachfrage, folglich einen erhöhten Personalbedarf.<br />
Einen dritten Grund bot die landesherrliche Wirtschaftspolitik,<br />
insbesondere die 1718 abermals ergriffene Initiative des Augsburger<br />
Fürstbischofs Alexander Sigismund, den Füssener Lautenund<br />
Geigenbau zur Konfessionselite zu entwickeln und für die<br />
eigene kirchliche Partei – stadtübergreifend und reichsweit – zu<br />
privilegieren. Tatsächlich gelang dies in einigen katholischen Residenzstädten<br />
mit Erfolg, den man daran bemessen kann, dass ihre<br />
Hofinstrumentenmacher das politisch propagierte Label des Lauten=<br />
und Geigenmachers nun konsequent nutzten und zum Aushängeschild<br />
der katholischen Repräsentationskultur machten. Ihre<br />
Lehrbuben, Gesellen, Schwiegersöhne, Nachfolger, Altersversorger<br />
holten sie oft – oder meist – aus Füssen, wo gut ausgebildete<br />
Nachwuchskräfte in der Folge kontinuierlich abwanderten.<br />
Wie stellte sich also der Personalbedarf der Füssener Geigenbau-Werkstätten<br />
angesichts des Nachwuchsmangels dar? Eine<br />
Einschätzung ist mit den heutigen Forschungsdaten noch mit<br />
kleinen Vorbehalten verknüpft, doch weisen alle drei Werkstätten<br />
dieses Vergleichs die gesuchten Kerndaten auf. Sie zeigen<br />
dabei überwiegend Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten im<br />
Gesamtprofil, doch mit Unterschieden im Detail. Gerade für<br />
Betriebsneugründungen war die Startphase herausfordernd, denn<br />
neben der gewerblichen Tätigkeit musste ja auch für den Lebensunterhalt<br />
des Alltags gesorgt werden. Ein ganzer Hausstand war<br />
zu ernähren: Familienangehörige in zwei bis drei Generationen<br />
und Personal. Zwar reduzierten Dutzende von Feiertagen des<br />
katholischen Kirchenjahres mit ihren sozialen Verpflichtungen<br />
von Messen, Umgängen, Prozessionen und Stammtischen die gewerbliche<br />
Arbeitszeit, doch mussten in der etablierten Subsistenzwirtschaft<br />
tagtäglich ein Acker mit Kraut und Rüben bestellt,<br />
ein Beet mit Gemüse gegossen, ein Garten mit Kräutern für die<br />
medizinische Versorgung gejätet, das Vieh gefüttert, die Eier aus<br />
dem Hühnerstall geholt, eine Kuh gemolken, die Ziegen auf die<br />
Weide gebracht, ein Schaf geschoren, das Brennholz gesammelt,<br />
Haus und Hof gefegt, ein städtischer Routinedienst erledigt, eine<br />
29
Reparatur ausgeführt oder einem Nachbarn geholfen werden.<br />
Gerade in der Anfangsphase eines Handwerksbetriebs, der noch<br />
kinderlos war, ist der frühneuzeitliche Alltag ohne Lehrbuben<br />
schwer vorstellbar. Dabei durfte lediglich genau ein Lehrbub<br />
aufgenommen werden, und sobald dieser ausgelernt hatte, mussten<br />
die eigenen Kinder schon alt genug sein, um die verordnete<br />
Sperrfrist bis zur Aufnahme des nachfolgenden zu überbrücken,<br />
wie dies in der Handwerksordnung (1718, § 3) geregelt war:<br />
„Soll ein jeder maister, so diesem handtwerckh einverleibt ist,<br />
hinfüero nit mehr alß einen lehrjungen auf einmahl annehmmen<br />
und lehrnen, und wann also ein lehrjung die fünff jahr an einander<br />
erstandten und gelehrnet, mag alsdann ein ieder maister alß gleich<br />
nach verscheinung der fünff jahren einen anderen lehrjungen annehmmen,<br />
iedoch ein ieder frembder außländtischer, der daselbst<br />
maister wordten ist, soll mit annehmmung des lehrjungen zwey<br />
Jahr von anfang er maister wordten ist, stillstehen.“<br />
Der älteste der potentiellen Lehrmeister war Christoph Enzensperger,<br />
1670 geboren, 25 Jahre älter als Resle, selbständig<br />
wohl seit 1698, dem Jahr seiner Heirat. Der Zwang zur Verheiratung<br />
eines Meisters galt branchenübergreifend und ist auch in der<br />
Handwerksordnung der Lautenmacher (1718, § 16) formuliert:<br />
„Daß fürdershin keiner leedigen standts für sich selbst arbeithen<br />
noch holz aufkhauffen oder anderen schaden dem handtwerckh<br />
zufüegen, gänzlich undt durchauß nit verlaubt ist.“<br />
Von Enzensperger kennen wir lediglich ein einziges überliefertes<br />
Instrument, eine Viola d’amore aus dem Jahr 1714.<br />
Zweifellos hatte er Nachwuchssorgen, weil er keine Söhne hatte,<br />
die seinen Betrieb hätten fortführen können. Zwar sollten die<br />
Familien Enzensperger und Resle später, nach der Heirat Resles<br />
(auch dessen Mutter war eine gebürtige Enzensperger, aber in<br />
unbekanntem Verwandtschaftsverhältnis mit dem Lautenmacher)<br />
engste persönliche Beziehungen entwickeln und über Jahrzehnte<br />
pflegen, nachdem Christoph Enzenspergers Tochter Maria Francisca<br />
die Patenschaft für alle Resle-Kinder übernommen hatte.<br />
Doch hätte Enzensperger gewiss auf eine Heirat seines Gesellen<br />
mit dieser Tochter gedrängt, falls er selbst ihn als Lehrbuben<br />
ausgebildet hätte. Dieses Planspiel steht also der Hypothese einer<br />
30
Lehre bei Enzensperger entschieden entgegen. Jahre später sollte<br />
die Tochter Maria Francisca dann den Orgelmacher Andreas Jäger<br />
ehelichen. In der Konsequenz ging die Werkstatt Enzenspergers<br />
von der Branche der Lautenmacher auf den Orgelbau über.<br />
Eine ganz ähnliche Konstellation ist auch für die Werkstatt<br />
von Johannes Ott zu erkennen, der ein paar Jahre jünger war als<br />
Enzensperger. 1680 geboren, also fünfzehn Jahre älter als Resle,<br />
hatte er 1706, nach der Rückkehr von seiner Gesellenzeit in<br />
Wien, in Füssen Maria Regina Gedler, die Tochter des Holzarbeiters<br />
und -händlers Matthäus Gedler geheiratet. Auch Ott bedurfte<br />
in dieser Anfangsphase seines Gewerbes dringend der personellen<br />
Unterstützung. Resle wäre damals gerade zehn, elf Jahre alt gewesen<br />
– ein aus Perspektive und Erfahrung des Füssener Lautenbaus<br />
übliches Alter für den Lehreintritt, für den Wechsel aus der<br />
Herkunfts- in die Lehrfamilie.<br />
Die Familie Ott gibt mit ihrem von hoher Kindersterblichkeit<br />
geprägten Schicksal ein eindrucksvolles Beispiel für die<br />
existenzielle Bedeutung sozialer Netzwerke. Thomas Riedmiller<br />
hat nicht nur das ehedem irrtümliche Geburtsdatum korrigiert,<br />
sondern auch die gesamten Lebensumstände beschrieben. Johannes<br />
Ott und seine Frau Maria Regina bekamen im Zeitraum von<br />
1707 bis 1719 sieben Kinder, von denen nur das fünfte – eine 1714<br />
auf den Namen ihrer Mutter getaufte Tochter – das Erwachsenenalter<br />
erlebte. Sie heiratete 1740, wenige Jahre nach dem Tod ihres<br />
Vaters – den Gesellen Simpert Niggl, der übergangsweise schon<br />
auf Geheiß der Witwe Ott die Werkstatt betrieben hatte, so dass<br />
der Betrieb mit ihm dauerhaft fortgeführt werden konnte. Niggl,<br />
fünfzehn Jahre jünger als Resle, kann neben diesem als der bedeutendste<br />
Füssener Geigenmacher des 18. Jahrhunderts bezeichnet<br />
werden. Mit derselben hochwertigen Qualität der Herstellung,<br />
mit demselben detailliert ausdifferenzierten Portfolio, mit derselben<br />
großen Überlieferung, offenbar also mit demselben Betriebskonzept,<br />
Werkzeug und Know-how ihrer Werkstätten. Auch hier<br />
sei ein Planspiel gestattet: Möglicherweise konnte Resle nicht<br />
zum Schwiegersohn und Nachfolger von Johannes Ott werden,<br />
der keine Söhne hatte, weil keine einzige seiner älteren Töchter<br />
das heiratsfähige Alter erreichte.<br />
31
Auch für die dritte Werkstatt von Hermann Joseph Stoß galten<br />
zunächst ähnliche Startbedingungen, wenngleich sie sich später<br />
deutlich günstiger entwickeln sollten. Stoß, um 1682 in Bernbeuren<br />
geboren, war eine halbe Generation älter als Resle. Heirat,<br />
Bürgeraufnahme in Füssen und der Beginn seines selbständigen<br />
Gewerbes erfolgten 1705, als Resle gerade zehn Jahre alt wurde.<br />
Von ihm sind nur wenige Instrumente archivisch belegt, nur eine<br />
Gambe überliefert, obgleich Stoß in der Steuerliste für 1741 (auf<br />
die noch näher einzugehen ist) als einer der höchstbesteuerten,<br />
also umsatzstärksten und reichsten Bürger geführt wird. Infolge<br />
seines wirtschaftlichen Erfolgs wurden Stoß auch städtische Ämter<br />
angetragen, u. a. jenes als Pfleger des städtischen Leprosenamtes.<br />
Welchen Anteil an Stoß’ Umsatz seine verschiedenen Erwerbsarten<br />
des Amtes, des Handels und des Instrumentenbaus hatten, können<br />
wir noch nicht beurteilen, doch haben sich aus den Jahren 1739<br />
bis 1742 Belege für den Großhandel mit Holz u. a. für den Lautenbau<br />
erhalten, worauf Thomas Riedmiller dankenswerterweise<br />
hingewiesen hat. Im Unterschied zu den beiden vorher genannten<br />
älteren Kollegen konnte Stoß seinen Betrieb später den 1707 und<br />
1711 geborenen Söhnen Joseph Anton und Franz Urban übergeben.<br />
Diese drei Betriebe kommen in erster Linie als Ausbildungsplätze<br />
von Andreas Resle in Betracht, wenn auch mit unterschiedlicher<br />
Wahrscheinlichkeit. So bleibt seine Ausbildung bei<br />
Johannes Ott einstweilen die wahrscheinlichste Hypothese. Nach<br />
dem Reglement des Füssener Handwerks der Lautenmacher war<br />
zwischen der Freisprechung des Lehrbuben, also dem Abschluss<br />
der Lehre, und seiner Zulassung als Meister, also der Eröffnung<br />
eines Gewerbes, der Ansässigmachung und der Verehelichung<br />
eine Gesellenzeit auf Wanderschaft von mindestens zwei Jahren<br />
verlangt. Diese Festlegung gehörte zu den wenigen fachlich motivierten<br />
Forderungen, welche die Füssener Instrumentenbauer<br />
selbst in ihrer Handwerks-Ordnung durchsetzen konnten, die<br />
1718 von der fürstbischöflichen Landesregierung in Dillingen<br />
erneuert und diktiert wurde.<br />
Ein letzter Aspekt sei in dieser Reflexion über Ausbildungsplatz,<br />
Bildungsweg, Berufswahl, ja Lebensplanung noch angefügt.<br />
In der bürgerlichen Moderne sind all diese Aspekte von<br />
32
Generation zu Generation zunehmend Domänen individueller<br />
Entscheidungen geworden, die im Kindesalter noch von den Eltern<br />
oder dem Familienrat getroffen werden. Ohne Zweifel war<br />
der Grad des Individualismus zu Zeiten Resles jedoch bedeutend<br />
geringer ausgeprägt, auch wenn noch nicht untersucht ist, welche<br />
Kräfte in welcher Lebenslage stattdessen entscheidend waren.<br />
Ferner ist die Frage offen, wie wir heute diese Einflussnahmen<br />
auf Entscheidungen erkennen und dokumentieren können, die das<br />
Leben eines Einzelnen prägen konnten. Die schon angesprochenen<br />
Patenschaften, auf die bei der Familiengründung von Andreas<br />
Resle noch zurückzukommen ist, bieten als Feld der sozialen<br />
Einflussnahme auf die Familie anschauliche Beispiele für unsere<br />
Wissenslücken, die mit den heute verfügbaren Daten, Werkzeugen<br />
und Methoden noch nicht geschlossen werden können.<br />
Wer knüpfte das soziale Netz zischen der jungen Familie Resle<br />
und den beiden Paten ihrer Kinder? Während die Beziehung zur<br />
Lautenmacher-Tochter Francisca Enzensperger rasch mit der Hypothese<br />
der Verwandtschaft und Sandkasten-Freundschaft mit<br />
Resles Braut Maria Rosalia Raithin beantwortet werden kann,<br />
bleibt die zweite Patenschaft zum Uhrmacher Eustachius Haym<br />
unerklärlich. Doch auch hier gibt es Wissenssplitter, die auf Beziehungen<br />
zwischen den Handwerken der Lautenmacher und der<br />
Uhrmacher hindeuten, die wir noch kaum interpretieren können.<br />
Felix Haym (mXp 4001), der Vater des Eustachius, übte bereits<br />
den Beruf des Uhrmachers aus, den auch sein Sohn später ergreifen<br />
sollte. Seine Gesellenwanderung hatte ihn über Verona nach<br />
Venedig geführt, wo er 1688 – kurz vor seiner Rückkehr nach<br />
Füssen, kurz vor den Geburten seines Sohnes Eustachius und des<br />
Andreas Resle – die Patenschaft für ein Nachbarkind übernahm,<br />
nämlich eine Tochter des Tiroler Geigenmachers Mattio Goffriller,<br />
der in Venedig seine Werkstatt betrieb (mXp 5034177 Pio<br />
2004). Unsere Wissenslücke betrifft nicht nur die soziale Kraft<br />
von Nachbarschaft, sondern auch den Orientierungsrahmen der<br />
frühneuzeitlichen Stadt Füssen, der in der Forschung des 20. Jahrhunderts<br />
in staatlich oder nationalistisch geprägtem Denken vor<br />
allem nach Norden, nach Augsburg, nicht aber nach Süden, nach<br />
Tirol und Venedig, gedacht und untersucht wurde.<br />
33
Die Handwerksordnung von 1718<br />
Üblicherweise waren Gewerbeordnungen für einzelne Stände<br />
oder Berufe im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit<br />
kommunale Angelegenheiten, die von den selbstbewussten Städten<br />
im Rahmen ihrer individuellen Stadtrechte verantwortlich<br />
geregelt wurden. Das Handwerk der Füssener Lautenmacher stellt<br />
jedoch einen Sonderfall dar, dessen Wurzeln in der Reformation<br />
und einer davon hervorgerufenen Verfassungsänderung des alten<br />
Reichs liegen, die den Städten alte Rechte der Selbstverwaltung<br />
nahmen. Denn erbost über die Widerstände, welche die protestantischen<br />
Stände seiner Reichs- und Religionspolitik entgegensetzten,<br />
beendete Kaiser Karl V. 1548 mit der sog. Karolinischen<br />
Regimentsordnung die politischen Funktionen der Zünfte, konkret<br />
ihr Mitspracherecht in der städtischen Selbstverwaltung, und hob<br />
sie förmlich auf. Den Handwerken, wie sie danach heißen sollten,<br />
verblieben lediglich Zuständigkeiten der Standes- oder Gewerbeordnung,<br />
der sozialen Fürsorge oder der religiösen Bruderschaft.<br />
Neu entstand damit aber auch das Konzept, solche Verbände<br />
überörtlich im Sinne einer frühen Staatlichkeit zu organisieren,<br />
ihren Fokus also über die Stadtmauer hinaus zu weiten.<br />
Der erste Versuch einer Handwerksgründung für die Lautenmacher<br />
führt in Füssen in das Jahr 1562 zurück, in dem von Seiten<br />
der Landesverwaltung, sprich des regierenden Fürstbischofs,<br />
Kardinal Otto Truchseß von Waldburg, für die Lautenmacher<br />
eine Handwerksordnung entworfen wurde. Warum sie nie verabschiedet<br />
wurde, wissen wir nicht. Verschiedene Aspekte können<br />
zu ihrem Scheitern geführt haben, etwa der Widerstand der Stadt<br />
gegenüber dem Landesherren in der Sorge vor ihrem Bedeutungsverlust,<br />
oder das Konkurrenzverhältnis zwischen den Benediktinern,<br />
die in Füssen das bestimmende und besitzende Kloster St.<br />
Mang betrieben, und den vom Landesherren in die Stadt beorderten<br />
Jesuiten. Schließlich, sogar sehr wahrscheinlich, die Weigerung<br />
einzelner Lautenmacher, beim Beitritt zum Handwerk ein<br />
Bekenntnis zur alten, katholischen Kirche abzulegen. Denn mindestens<br />
ein Teil der Füssener Stadtbevölkerung sympathisierte<br />
offen mit den Ideen der Reformationen bzw. ihrer Reformatoren.<br />
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Dies gilt auch für einzelne Mitglieder der Lautenmacher-Familien<br />
Hellmer, Rehm, Stehele, Storck und Tiefenbrucker. Sie verzögerten<br />
oder verweigerten möglicherweise ihre Unterschrift so<br />
lange, bis Waldburg, der ambitionierte Politiker und Diplomat<br />
in Diensten von Kaiser und Papst, gut zehn Jahre später in Rom<br />
verstarb, noch ehe es ihm gelungen war, die Lautenmacher zur<br />
Konfessionselite der katholischen Partei zu entwickeln.<br />
Erst ein zweiter Versuch führte 1606 zum Ziel der Handwerksgründung,<br />
doch offenbar zäh und alles andere als einmütig.<br />
Angesichts der spärlichen oder verlorenen archivischen Überlieferung<br />
gehört die Rekonstruktion der Entwicklung dieser<br />
Berufsorganisation zwar zu den spannendsten Kapiteln in der<br />
Geschichte des Füssener Lauten- und Geigenbaus, aber auch zu<br />
ihren größten Herausforderungen. Es würde zu weit führen, diese<br />
Verbandskarriere hier auch nur im Überblick darzustellen, doch<br />
lässt sich immerhin feststellen, dass gegenüber 1562 die Konfliktfronten<br />
sich offenbar verlagert hatten.<br />
Weil die Handwerke, Zünfte und ähnlich genannten städtischen<br />
Gewerbeverbände seit der Karolinischen Regimentsordnung<br />
an Bedeutung und Attraktivität verloren hatten, sanken ihre<br />
Mitgliederzahlen, überörtlich und alle Branchen gleichermaßen<br />
betreffend. Die frühe Neuzeit gilt überregional als Phase des Verfalls<br />
solcher Organisationen. Junge Handwerker verspürten wenig<br />
Neigung zum Beitritt. Die alten Meister versuchten zunehmend,<br />
besitzstandswahrende Privilegien für ihre Söhne durchzusetzen,<br />
stets zulasten der konkurrierenden Bewerber. Innerhalb der einzelnen<br />
Gewerbe wurde also der Besitz eines Kandidaten immer<br />
wichtiger, während seine individuelle Kompetenz auf den zweiten<br />
Rang zurückfiel. So regelte § 17 der Lautenmacher-Ordnung<br />
von 1718 etwa eine verkürzte Gesellenzeit auf Wanderschaft für<br />
die Meistersöhne und eine Sperrfrist für Auswärtige vor der Gewerbezulassung:<br />
„Es sollen auch die bürgers und maisters söhn, so daselbst<br />
außgelehrnet und maister werdten wolten, nach außgang ihrer<br />
lehrjahren noch zwey jahr aneinander an frembden orthen nachwandern,<br />
sonsten solle keiner aufgenohmen werdten, dann er<br />
vergleiche sich mit dem handtwerckh.“<br />
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