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Manuel Stetter: Die Konstitution der Toten (Leseprobe)

Die protestantische Tradition akzentuiert die Bestattung als Handeln an den Lebenden. Die Untersuchungen dieses Bandes stellen demgegenüber die Verstorbenen in den Fokus und fragen, wie mit ihnen im Rahmen der Bestattung umgegangen wird, was in diesem Umgang aus ihnen gemacht wird und welche Rolle der Religion zukommt. Die Bestattung wird dabei als Prozesszusammenhang vielfältiger praktischer entanglements aufgefasst, der die Rituale feierlicher Abschiednahme übersteigt. Neben kirchlichen und konfessionell ungebundenen Trauerfeiern werden die Praktiken der Abholung, der Leichenbesorgung in den Bestattungsunternehmen und der Aufbahrung untersucht und mit präfuneralen Umgangsformen im Hospiz wie postfuneralen Trauervollzügen kontextualisiert. Durch den ethnografischen Forschungszugang gelingt es der Studie, die komplexen und mehrdeutigen sozialen Konstitutionsprozesse der Verstorbenen herauszuarbeiten und insbesondere auch die Materialität des Sepulkralen in die Beobachtungen und Analysen eingehen zu lassen.

Die protestantische Tradition akzentuiert die Bestattung als Handeln an den Lebenden. Die Untersuchungen dieses Bandes stellen demgegenüber die Verstorbenen in den Fokus und fragen, wie mit ihnen im Rahmen der Bestattung umgegangen wird, was in diesem Umgang aus ihnen gemacht wird und welche Rolle der Religion zukommt. Die Bestattung wird dabei als Prozesszusammenhang vielfältiger praktischer entanglements aufgefasst, der die Rituale feierlicher Abschiednahme übersteigt. Neben kirchlichen und konfessionell ungebundenen Trauerfeiern werden die Praktiken der Abholung, der Leichenbesorgung in den Bestattungsunternehmen und der Aufbahrung untersucht und mit präfuneralen Umgangsformen im Hospiz wie postfuneralen Trauervollzügen kontextualisiert. Durch den ethnografischen Forschungszugang gelingt es der Studie, die komplexen und mehrdeutigen sozialen Konstitutionsprozesse der Verstorbenen herauszuarbeiten und insbesondere auch die Materialität des Sepulkralen in die Beobachtungen und Analysen eingehen zu lassen.

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<strong>Manuel</strong> <strong>Stetter</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Konstitution</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Toten</strong><br />

Eine Religionsethnografie<br />

<strong>der</strong> Bestattungspraxis<br />

Arbeiten zur Praktischen Theologie


<strong>Die</strong>se Gesten, die uns<br />

manchmal leer erscheinen,<br />

sind vielleicht die<br />

inhaltsreichsten überhaupt.<br />

Erving Goffman


Vorwort<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Studie wurde unter dem Titel »Reanimationen/Deanimationen.<br />

Praktiken des funeralen Umgangs mit den <strong>Toten</strong>« im Sommersemester 2022 von<br />

<strong>der</strong> Evangelisch-Theologischen Fakultät <strong>der</strong> Eberhard Karls Universität Tübingen<br />

als Habilitationsschrift angenommen.<br />

Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Birgit Weyel für die umsichtige Begleitung<br />

<strong>der</strong> Arbeit, die vielen instruktiven Gespräche und insbeson<strong>der</strong>e das Glück,<br />

Forschung als Vollzug von Freiheit erleben zu dürfen. Ich danke Prof. Dr. Gerald<br />

Kretzschmar für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Alexan<strong>der</strong><br />

Deeg, Prof. Dr. Wilfried Engemann, Prof. Dr. Jan Hermelink, Prof. Dr. Kristin<br />

Merle und Prof. Dr. Marcell Saß für die Aufnahme <strong>der</strong> Studie in die Reihe »Arbeiten<br />

zur Praktischen Theologie«. Vonseiten des Verlags haben Tilman Meckel und<br />

Christina Wollesky den Weg vom Manuskript zum Buch begleitet. Finanziell<br />

unterstützt wird die Veröffentlichung durch die Evangelische Kirche in Deutschland<br />

(EKD). Herzlichen Dank dafür!<br />

Eine Ethnografie <strong>der</strong> Bestattungspraxis ist nicht möglich ohne die Bereitschaft<br />

von Menschen, an Forschung zu partizipieren. Ich danke allen von Herzen,<br />

die ich im Verlauf meiner Untersuchung begleiten durfte, die mir Zugang<br />

gewährten zu ihren Arbeitswelten und Lebenskontexten, die sich Zeit nahmen<br />

für Austausch und Gespräch: den Bestatter:innen und Mitarbeiter:innen in <strong>der</strong><br />

Palliativversorgung, den Pfarrer:innen und freien Redner:innen und nicht zuletzt<br />

den Angehörigen und Trauernden. Ohne sie wäre eine Analyse funeraler Praktiken,<br />

wie sie im Rahmen dieser Studie versucht worden ist, schlechterdings außer<br />

Reichweite. Ich hoffe sehr, nicht, dass sie <strong>der</strong> Beschreibung in allem unumwunden<br />

folgen, aber dass sie sich in ihr doch immer wie<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>finden mögen,<br />

vielleicht sogar mitunter in einer neuen, anregenden Weise, vor allem jedoch<br />

in Form einer Darstellung, die durchgängig von einem tief empfundenen<br />

Respekt vor ihren Erfahrungen, Tätigkeiten und Reflexionen zeugt.<br />

Von Rat und Kritik meiner Kolleg:innen habe ich vielfältig profitiert. Beson<strong>der</strong>s<br />

danke ich den Teilnehmenden <strong>der</strong> Treffen des Arbeitskreises Empirische<br />

Religionsforschung e.V., <strong>der</strong> Summer School Qualitative Religionsforschung<br />

sowie <strong>der</strong> Kolloquien am Lehrstuhl von Prof. Dr. Birgit Weyel für die Diskussion


8<br />

Vorwort<br />

des Forschungsdesigns und die gemeinsame interpretative Arbeit an ausgewählten<br />

Daten.<br />

Zuletzt gilt mein Dank meiner Familie: Zuallererst meiner Frau, Rebekka<br />

<strong>Stetter</strong>, für ihre Unterstützung, ohne die sich ein zeitintensives Arbeiten im Feld<br />

gar nicht realisieren ließe, ohne <strong>der</strong>en empathischen Verstand sich aber vor<br />

allem auch manch Beschreibung doch nochmals an<strong>der</strong>s ausgenommen hätte.<br />

Sodann meinen Eltern, Edeltraud und Rudolf <strong>Stetter</strong>, auf <strong>der</strong>en Unterstützung<br />

ich immer und überall zählen darf. Dass mein Vater den Abschluss <strong>der</strong> Arbeit<br />

nicht mehr erleben durfte, gehört zu den Facetten <strong>der</strong> hier verhandelten Frage,<br />

die bei aller Absicht auf analytische Schärfe, sensible Darstellung und wissenschaftliche<br />

Erkenntnis den unverrechenbaren Rest einer mit dem Tod aufgerufenen<br />

Erfahrung allzu deutlich anzeigen. Ihm sei dieses Buch gewidmet.<br />

Tübingen, an Ostern 2024<br />

<strong>Manuel</strong> <strong>Stetter</strong>


Inhalt<br />

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................ 13<br />

A Einführung<br />

Funeralethnografie<br />

1 Problemaufriss<br />

Adressierung <strong>der</strong> Lebenden und Enaktierung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> ........................... 17<br />

2 Forschungsstand<br />

Praxis des <strong>Toten</strong>umgangs und Religion <strong>der</strong> Bestattung ............................ 21<br />

2.1 <strong>Die</strong> soziale Konstruktion <strong>der</strong> Verstorbenen.<br />

Kulturwissenschaftliche Zugänge ........................................................ 21<br />

2.2 Praktische Theologie <strong>der</strong> Bestattung. Kasualtheoretische<br />

Sepulkralforschung ................................................................................. 22<br />

2.3 <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Bestattungsinstitute.<br />

Professionssoziologische Annäherungen ............................................ 24<br />

2.4 Religion als Praxis. Praxistheoretische Perspektiven ....................... 26<br />

3 Studiendesign<br />

Ethnografische Anlage und qualitative Theoriebildung ............................. 29<br />

3.1 Fragestellung ............................................................................................ 29<br />

3.2 Leitperspektiven ...................................................................................... 33<br />

3.2.1 Praxis ............................................................................................. 33<br />

3.2.2 Prozess ........................................................................................... 34<br />

3.2.3 Pluralität ........................................................................................ 35<br />

3.2.4 Perspektivität ................................................................................ 36<br />

3.2.5 Resümee ......................................................................................... 37<br />

3.3 Forschungskonzeption ............................................................................ 38<br />

3.3.1 Qualitative Forschung als iterativ-zyklischer Prozess.<br />

Fallauswahl ................................................................................... 41<br />

3.3.2 Qualitative Forschung als soziale Kunst. Feldzugänge ......... 43<br />

3.3.3 Qualitative Forschung als flexible<br />

Untersuchungsstrategie. Methodendesign .............................. 45<br />

3.3.4 Qualitative Forschung als reflexiver Vollzug.<br />

Involvement .................................................................................. 51<br />

3.4 Struktur ..................................................................................................... 53


10<br />

Inhalt<br />

B Analysen<br />

Der funerale Umgang mit den <strong>Toten</strong><br />

1 Einführung<br />

Den <strong>Toten</strong> folgen. <strong>Die</strong> pluralen Prozesslogiken <strong>der</strong><br />

Bestattungspraxis ............................................................................................. 57<br />

2 Unscharfe Grenzen<br />

Präfunerale Praktiken des Umgangs mit den <strong>Toten</strong> --- Fallbeispiel:<br />

Hospiz .................................................................................................................. 63<br />

2.1 Skilled Vision. <strong>Die</strong> Feststellung des Todes ......................................... 64<br />

2.2 Alltagstranszendenz. <strong>Die</strong> Veröffentlichung des Gestorbenseins .... 67<br />

2.3 ›Schön hinlegen‹. <strong>Die</strong> Präparation des Leichnams ............................ 70<br />

2.4 Agency of Light. <strong>Die</strong> Verabschiedung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> ................................ 77<br />

2.5 Resümee: Formative Objekte ................................................................. 82<br />

3 <strong>Die</strong> soziale Ausglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong><br />

Praktiken <strong>der</strong> Abholung ................................................................................... 89<br />

3.1 Einführung: »Des isch an<strong>der</strong>s«. Der beson<strong>der</strong>e Status <strong>der</strong><br />

Hausabholung........................................................................................... 89<br />

3.2 Fallschil<strong>der</strong>ung. Geruch, Enge, Publikum ........................................... 92<br />

3.3 Fallanalyse. Multiple Ambiguitäten ..................................................... 95<br />

3.4 Vertiefungen ............................................................................................. 98<br />

3.4.1 Perspektivwechsel. Erzählungen von Angehörigen .............. 98<br />

3.4.2 Kontrastierung. Abholungen aus Kliniken ........................... 103<br />

3.5 Resümee: Der doppelte Handschuh .................................................... 107<br />

4 <strong>Die</strong> Zivilisierung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong><br />

Praktiken <strong>der</strong> Leichenbesorgung ................................................................. 113<br />

4.1 Einführung: <strong>Die</strong> Diskrepanz <strong>der</strong> Leichenbesorgung ....................... 113<br />

4.2 Sargausschlagen .................................................................................... 114<br />

4.3 Praktiken <strong>der</strong> Death Care ..................................................................... 118<br />

4.3.1 Entledigen ................................................................................... 119<br />

4.3.2 Verschließen ............................................................................... 120<br />

4.3.3 Bekleiden ..................................................................................... 122<br />

4.3.4 Modellieren ................................................................................. 123<br />

4.3.5 Einsargen ..................................................................................... 124<br />

4.4 ›Brutalität‹ <strong>der</strong> Sorge. Dirtiness des Schönmachens ....................... 125<br />

4.5 Körperproduktion als Personkonstitution ......................................... 132<br />

4.5.1 Der zivilisierte Körper ............................................................... 132<br />

4.5.2 Das verkörperte Selbst .............................................................. 133<br />

4.5.3 Der expressive Leib ................................................................... 138<br />

4.6 Resümee: Zwischen Obduktion und Aufbahrung ............................ 138<br />

5 Der letzte Auftritt<br />

Praktiken <strong>der</strong> Aufbahrung............................................................................. 145<br />

5.1 Einführung: Setting the Stage. Räumliche Arrangements <strong>der</strong><br />

Aufbahrung ............................................................................................. 145


Inhalt 11<br />

5.2 Worte am offenen Sarg ......................................................................... 150<br />

5.2.1 Adressierung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> ............................................................ 151<br />

5.2.2 Einsegnung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> ............................................................... 153<br />

5.3 Haptik <strong>der</strong> Aufbahrung ......................................................................... 159<br />

5.4 Rituale <strong>der</strong> Dinge ................................................................................... 162<br />

5.5 Resümee: Das gemeinsame Ankleiden .............................................. 165<br />

6 Rituelle Interaktionen<br />

Praktiken <strong>der</strong> Trauerfeier .............................................................................. 177<br />

6.1 Einführung: <strong>Die</strong> Bühne <strong>der</strong> <strong>Toten</strong>. Räumliche Arrangements<br />

<strong>der</strong> Trauerfeier ....................................................................................... 177<br />

6.2 Interobjektivität. Interaktionen mit Sarg und Urne ........................ 184<br />

6.3 Sprechen machen. Diskursive Praktiken <strong>der</strong> Trauerfeier .............. 196<br />

6.3.1 Kommunikative Transzendierungen ...................................... 198<br />

6.3.2 Eschatologische Verortungen .................................................. 205<br />

6.4 Der zweite Körper. Rituelle Bildpraktiken ........................................ 211<br />

6.5 Body in Motion. <strong>Die</strong> evangelische Prozession .................................. 226<br />

6.5.1 Ordnung in Bewegung .............................................................. 228<br />

6.5.2 Laufsteg <strong>der</strong> Gefühle .................................................................. 230<br />

6.5.3 Stumme Liturgen ....................................................................... 234<br />

6.6 Resümee: Ein heiliger Text .................................................................. 240<br />

7 Unscharfe Grenzen<br />

Postfunerale Praktiken des Umgangs mit den <strong>Toten</strong> --- Fallbeispiel:<br />

Continuing Bonds ............................................................................................ 245<br />

7.1 Einführung: Continuing Bonds. <strong>Die</strong> soziale Präsenz <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> ..... 246<br />

7.2 Beyond the Body. Das Bezugsproblem des postfuneralen<br />

<strong>Toten</strong>umgangs ........................................................................................ 247<br />

7.3 Doing Continuing Bonds ....................................................................... 249<br />

7.3.1 Narrative Praktiken ................................................................... 249<br />

7.3.2 Ritualisiertes Handeln ............................................................... 250<br />

7.3.3 Subjektive Alltagsrituale .......................................................... 252<br />

7.3.4 Visionäre Vergegenwärtigung ................................................. 253<br />

7.4 Resümee: Enaktierte Eschatologie ...................................................... 255<br />

C Bündelungen<br />

Reanimationen / Deanimationen<br />

1 Einführung<br />

Wi<strong>der</strong> den Abschluss ...................................................................................... 261<br />

2 Multiple Ambiguitäten<br />

<strong>Die</strong> pluralen Performanzen <strong>der</strong> Verstorbenen ........................................... 265<br />

2.1 Produzierte Paradoxien ........................................................................ 266<br />

2.2 Praktische Paradoxien .......................................................................... 267<br />

2.3 Plurale Paradoxien................................................................................. 268<br />

2.4 Unspektakuläre Paradoxien ................................................................. 269


12<br />

Inhalt<br />

3 Heterogene Entanglements<br />

<strong>Die</strong> verteilte Fertigung <strong>der</strong> Verstorbenen ................................................... 271<br />

4 Pluriforme Praktiken<br />

<strong>Die</strong> postmortalen Präsenzen <strong>der</strong> Verstorbenen ......................................... 275<br />

4.1 Logiken <strong>der</strong> <strong>Konstitution</strong> ...................................................................... 276<br />

4.1.1 Praktiken <strong>der</strong> Verdinglichung ................................................. 276<br />

4.1.2 Praktiken <strong>der</strong> Verkörperlichung ............................................. 277<br />

4.1.3 Praktiken <strong>der</strong> Verpersönlichung ............................................. 278<br />

4.1.3.1 Register <strong>der</strong> Individualität ........................................ 279<br />

4.1.3.2 Register <strong>der</strong> Intimität ................................................. 280<br />

4.1.3.3 Register <strong>der</strong> Pietät ...................................................... 281<br />

4.1.4 Praktiken <strong>der</strong> Verjenseitigung ................................................ 281<br />

4.2 Varianten <strong>der</strong> Reanimation .................................................................. 283<br />

4.2.1 Der dreifache Körper. Personkonstitution durch<br />

Körperproduktion ...................................................................... 283<br />

4.2.2 Bestattungstextilien. Vestimentäre<br />

Vergegenwärtigungen ............................................................... 284<br />

4.2.3 Der bestückte Leichnam. Das rituelle Spiel <strong>der</strong> Dinge ....... 284<br />

4.2.4 Prominenzfiguren. Spacing the Dead ..................................... 286<br />

4.2.5 Sehen, Riechen und Berühren. Sinnliche Reanimationen .. 287<br />

4.2.6 Blickwechsel. Bil<strong>der</strong> als Präsenzvehikel ............................... 288<br />

4.2.7 Letzte Ehre. Kulte <strong>der</strong> Anerkennung ...................................... 288<br />

4.2.8 Ist da wer? Praktiken <strong>der</strong> Namensnennung ......................... 290<br />

4.2.9 Kommunikative Transzendierungen. Performanzen des<br />

Gesprächs .................................................................................... 291<br />

4.2.10 Emotion Work. <strong>Die</strong> disziplinierten Körper des<br />

Funeralen .................................................................................... 291<br />

4.2.11 Das Bloß des Spiels. Kleine Rekurse auf große<br />

Transzendenzen ......................................................................... 293<br />

4.3 Darstellungen des Undarstellbaren .................................................... 294<br />

4.3.1 Einnistungen des Religiösen .................................................... 294<br />

4.3.2 Enactments <strong>der</strong> letzten Dinge .................................................. 295<br />

4.3.3 Religion als Praxis ..................................................................... 296<br />

Literaturverzeichnis............................................................................................... 297<br />

Anhang ..................................................................................................................... 315<br />

Anlage 1: Übersicht Bestattungsbetriebe ................................................... 315<br />

Anlage 2: Hospiz .............................................................................................. 315<br />

Anlage 3: Übersicht Interviews .................................................................... 316<br />

Anlage 4: Übersicht Trauerfeiern ................................................................. 317<br />

Register .................................................................................................................... 319


A Einführung<br />

Funeralethnografie


1 Problemaufriss<br />

Adressierung <strong>der</strong> Lebenden und Enaktierung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong><br />

<strong>Die</strong> Kultur des Sepulkralen entzündet sich weniger am Tod als an den <strong>Toten</strong>. Es<br />

ist die Beharrlichkeit des toten Körpers verbunden mit seiner Instabilität, die<br />

einer Gesellschaft Praktiken des Bestattens abverlangt o<strong>der</strong> jedenfalls irgendeine<br />

Art des Umgangs mit den Verstorbenen auferlegt. 1 Insofern ist die Frage des<br />

Funeralen immer auch eine Frage des Umgangs mit den <strong>Toten</strong>. <strong>Die</strong> Gestalt und<br />

<strong>der</strong> Rang dieses Umgangs nehmen sich disparat aus. <strong>Die</strong> viel beschriebene Varianz<br />

<strong>der</strong> Bestattungspraxis zeigt sich nicht zuletzt in den unterschiedlichen<br />

Formen, in denen die <strong>Toten</strong> funeral integriert werden. <strong>Die</strong> evangelische Bestattung<br />

hat dabei eine liturgische Kultur ausgebildet, in <strong>der</strong> dem rituellen involvement<br />

<strong>der</strong> Verstorbenen traditionell ein eher marginaler Status zukommt. Ausgehend<br />

von <strong>der</strong> »reformatorische[n] Vermeidung meritorischer Missverständnisse«<br />

2<br />

verbindet sich mit ihrer historischen Entwicklung eine programmatische<br />

Akzentsetzung, wonach die Bestattungspraxis zunächst und zumeist auf die<br />

diskursive Adressierung <strong>der</strong> Lebenden tendiert.<br />

»Das Begräbnis fällt ihr in zwei Hälften auseinan<strong>der</strong>: auf <strong>der</strong> einen Seite bringt sie<br />

den Leichnam zum Grabe, und darin liegt ein kirchliches, d.h. geistliches Handeln<br />

zum Heil und zur Heiligung ohne Frage nicht, und wird auch ein solches durch das<br />

einzige beigegebene geistliche Element, den Prozessionsgang, um so weniger hineingebracht,<br />

als <strong>der</strong> Inhalt dieser Gesänge sich ebenfalls lediglich auf die Belehrung,<br />

Tröstung und Vermahnung <strong>der</strong> lebenden Begleiter richtet und eine Tendenz, an dem<br />

<strong>Toten</strong> etwas handeln zu wollen, durchaus nicht hat. An die Prozession knüpft sich<br />

nun zwar weiter ein gottesdienstlicher Akt, aber dieser Akt ist ein reiner Predigtakt,<br />

ein Akt <strong>der</strong> Verkündigung des göttlichen Wortes, und will schlechterdings nur predigen<br />

und nicht handeln, am allerwenigsten an dem <strong>Toten</strong>. […] Kurz, <strong>der</strong> Leichnam<br />

1<br />

Zu dieser doppelten »materielle[n] Voraussetzung« <strong>der</strong> Bestattungspraxis vgl. Macho,<br />

Tod, 98: »Worin besteht die Gemeinsamkeit aller sogenannten ›Todesfälle‹? Sie ergibt sich<br />

schlicht daraus, daß ein Lebewesen nicht einfach verschwindet, wenn es stirbt, son<strong>der</strong>n<br />

›bleibt‹ (als Leichnam); sie ergibt sich ferner daraus, daß dieses Bleibende nicht dauert,<br />

son<strong>der</strong>n eine Reihe von Verän<strong>der</strong>ungsprozessen durchläuft (›Verwesung‹), die passiv<br />

registriert, aber auch aktiv gestaltet werden können« (im Original teils hervorgehoben).<br />

2<br />

Klie u.a., Einleitung, 8.


18<br />

1 Problemaufriss<br />

wird begraben, und den Lebenden wird gepredigt --- das ist das Begräbnis nach altlutherischem<br />

Ritus« 3 .<br />

Man wird die radikale religiöse Vergleichgültigung <strong>der</strong> Beisetzungshandlungen<br />

abseits <strong>der</strong> Verkündigung, wie sie hier im Rahmen <strong>der</strong> lutherischen Pastoraltheologie<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts pointiert formuliert wurde, nicht zum ultimativen<br />

Signum protestantischer Funeralpraxis erheben müssen, um die dominante<br />

Ausrichtung <strong>der</strong> evangelischen Bestattung auf die predigende Ansprache und<br />

seelsorgliche Begleitung <strong>der</strong> »Lebenden« dennoch zu konstatieren. 4<br />

Dem entspricht, dass auch die neuere kasualtheoretische Forschung dem<br />

funeralen Umgang mit den Verstorbenen keine eingehen<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit<br />

geschenkt hat. Zwar ist er als implizites Thema durchaus präsent. Ebenfalls ist<br />

verschiedentlich ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Bestattung<br />

stets auch als ein Handeln an den Verstorbenen und ihren Körpern zu betrachten<br />

sei. 5<br />

Eine umfassen<strong>der</strong>e, empirisch fundierte Untersuchung, die die pluriformen<br />

Praxisvarianten, in denen im Kontext <strong>der</strong> Bestattung mit den <strong>Toten</strong> umgegangen<br />

wird, in ihrem Zusammenhang erforscht, stellt jedoch ein Desi<strong>der</strong>at<br />

dar.<br />

Umgekehrt wirft <strong>der</strong> in seiner Schlichtheit schlagende Hinweis auf den toten<br />

Körper als anthropologische Universalie und »materielle Voraussetzung« 6 funeraler<br />

Praktiken bei genauerer Betrachtung doch mehr Fragen auf, als seine vermeintliche<br />

Selbstverständlichkeit zunächst suggeriert. So beschreibt <strong>der</strong> Leich-<br />

3<br />

Klieforth, Abhandlungen, 223. Mo<strong>der</strong>ater formuliert Karl Immanuel Nitzsch: »<strong>Die</strong> Idee<br />

<strong>der</strong> kirchlichen Beerdigung ist demnach nicht die bloße Fürsorge für die anständige<br />

Nie<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Leiche im Schooße <strong>der</strong> Erde, auch nicht bloße Erweisung <strong>der</strong> Theilnahme<br />

für die Hinterlassenen o<strong>der</strong> das Andenken für den Abgeschiedenen, son<strong>der</strong>n fürs<br />

erste Bethätigung des gemeinsamen Glaubens dem Todes-Geschicke <strong>der</strong> Christen gegenüber,<br />

Predigt von <strong>der</strong> Eitelkeit und Vergänglichkeit und Zeugniß von <strong>der</strong> Hoffnung, durch<br />

welche wir die Trauer überbieten« (Ders., Theologie, 456).<br />

4<br />

Vgl. Klie, Liturgien, 112: »Predigt und Poimenik --- die evangelisch-kirchliche Religionspraxis<br />

ist im Todesfall stringent verbal imprägniert. […] <strong>Die</strong> inszenatorische Spannung<br />

liegt auf <strong>der</strong> Hand: Keine kirchliche Amtshandlung steht so stark im Zeichen <strong>der</strong> Leiblichkeit<br />

und keine wird in <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Kirche so stark entleiblicht.« Ähnlich Fechtner,<br />

Kirche, 63: »Zu konstatieren ist […] so etwas wie eine ›Verdrängung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong>‹. Der Umgang<br />

mit den <strong>Toten</strong> wird in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne mehr und mehr in professionelle Hände gelegt.<br />

Und d.h.: <strong>Die</strong> <strong>Toten</strong> geraten buchstäblich aus dem Blick, sie werden gleichsam unberührbar.<br />

Tod heißt: Verzicht auf jeden Kontakt. An dieser Entwicklung hat <strong>der</strong> Protestantismus<br />

erhebliche Anteile. […] Gottesdienstliche Elemente, die sich gestisch und symbolisch<br />

auf den <strong>Toten</strong> beziehen, sind im Protestantismus zurückgebaut worden (Segen, Erdwurf).<br />

Zugespitzt kann man sagen: <strong>Die</strong> kirchliche Bestattung kann als ein Geschehen verstanden<br />

und auch erlebt werden, das buchstäblich von den <strong>Toten</strong> absehen und im Grunde<br />

ohne sie stattfinden kann.«<br />

5<br />

Vgl. etwa Fechtner, Kirche, 56ff; Hermelink, Ganzkörperpräparat; Klie, Bestattungskultur,<br />

218f.<br />

6<br />

Macho, Tod, 98.


1 Problemaufriss 19<br />

nam gerade kein »unequivokal given« 7 . Was ein toter Körper ist, was man sieht,<br />

wenn man einen toten Körper sieht, und wie man einen toten Körper sieht, ist<br />

(1) kontextuell bedingt 8 und liegt damit dem praktischen Umgang mit ihm (2)<br />

nicht voraus. Auch <strong>der</strong> Leichnam ist kein rein natürlicher Gegenstand; er ist ab<br />

ovo Teil kultureller Praktiken, ein Produkt diskursiver Zuschreibungen wie materieller<br />

Bearbeitungen und kann insofern immer nur als ein »non-self-evident<br />

starting point« 9 in die Bestattungspraxis eingehen, die ihn seinerseits formt und<br />

remodelliert, symbolisiert und umcodiert, mithin performativ hervorbringt.<br />

<strong>Die</strong> Frage nach dem funeralen Umgang mit den <strong>Toten</strong> ist vor diesem Hintergrund<br />

eine doppelte: Wie wird mit den <strong>Toten</strong> umgegangen? Und: Was wird in<br />

diesem Umgang mit ihnen aus ihnen gemacht? <strong>Die</strong> ethnografisch angelegten<br />

Analysen dieser Arbeit versuchen, auf diese Frage Antwortperspektiven zu entwickeln.<br />

Verankert im Kontext <strong>der</strong> empirischen Kasualforschung liegt ein<br />

Schwerpunkt auf den religiösen Implikationen des Umgangs mit den Verstorbenen.<br />

Angesiedelt an <strong>der</strong> »letzten Grenze« 10 <strong>der</strong> Alltagswirklichkeit wird <strong>der</strong> Umgang<br />

mit den Verstorbenen heuristisch als eine Form <strong>der</strong> kulturellen Bearbeitung<br />

»<strong>der</strong> ›großen Transzendenz‹ des Todes« 11<br />

unterstellt, die Aufschluss zu<br />

geben vermag über die Rolle <strong>der</strong> Religion in <strong>der</strong> sich wandelnden Sepulkralkultur<br />

<strong>der</strong> Gegenwart.<br />

An<strong>der</strong>s als im Rahmen <strong>der</strong> praktisch-theologischen Kasualforschung üblich<br />

wird eine prozessuale Perspektive propagiert, die die Bestattung nicht auf die<br />

kirchlich verantworteten Rituale konzentriert, son<strong>der</strong>n darüber hinausreichende<br />

Praxisformen einbezieht, um sie auf ihren Beitrag zur Religion am Lebensende<br />

zu befragen. Religion kommt insofern als ein unreines 12 , hybrides Phänomen in<br />

Betracht, <strong>der</strong>en Praktiken im Modus des »entanglement« 13<br />

über institutionelle<br />

Grenzen hinweg mit an<strong>der</strong>en Bestattungspraktiken verwickelt sind, durch sie<br />

getragen und präfiguriert werden. Und an<strong>der</strong>s als im Rahmen <strong>der</strong> praktisch-<br />

7<br />

Hallam u.a., Body, 55; Kahl, Körper, 207: Der »tote Körper [sollte] nicht als eine vermeintlich<br />

ontologisch gegebene Natürlichkeit aufgefasst werden.«<br />

8<br />

Vgl. etwa Groß/Kühl, Aneignung, 17: Der »Leichnam [wird] in verschiedenen Kulturen,<br />

religiösen o<strong>der</strong> sozialen Kontexten durchaus unterschiedlich wahrgenommen und gedacht<br />

--- sei es als konkreter Gegenstand, als (fortwirkende) Person, als Inbegriff des<br />

Transzendenten o<strong>der</strong> als Hülle, welche auch nach dem Tod zu konservieren war, weil sie<br />

im Jenseits genau so wie<strong>der</strong> gebraucht wurde.«<br />

9<br />

Hallam u.a., Body, 55.<br />

10<br />

Schütz/Luckmann, Strukturen, 626.<br />

11<br />

Benkel, Exkursion, 18.<br />

12<br />

Vgl. Afdal, Theology.<br />

13<br />

Vgl. Ammerman, Religion, 34f: »People in many places engage in religious practices<br />

that are so highly intertwined with everyday practical affairs that it is impossible to think<br />

of them as distinct forms of social life. They are not organized as institutionally distinct<br />

practices that belong in a specific domain. Life cycle events, business transactions, political<br />

organizing, and interaction with the natural world are simultaneously mundane and<br />

sacred. Practices that presume the nonordinary are diffuse, plural, and relatively unconstrained.«


20<br />

1 Problemaufriss<br />

theologischen Kasualforschung üblich soll Religion nicht allein auf den explizit<br />

sprachlichen und symbolischen Ebenen <strong>der</strong> Bestattung aufgesucht werden. Religion<br />

wird als ein eminent »materiell konstituiertes Vollzugsgeschehen« 14 erkundet,<br />

an dem Körper und ihre Sinne ebenso partizipieren wie Räume und ihre<br />

Dinge.<br />

Im Folgenden ist diese Fragestellung zu entfalten und im Rahmen <strong>der</strong> Forschungskonzeption<br />

zu konturieren. Dazu werden einige Schlaglichter auf aktuelle<br />

Forschungszusammenhänge des Funeralen geworfen (A.2). Von ihnen her<br />

wird die Forschungsfrage entwickelt (A.3.1) und auf die sie leitenden Grundperspektiven<br />

hin beschrieben (A.3.2). Nach Skizzierung des konkreten Studiendesigns<br />

(A.3.3) wird <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Analyse, wie sie im Rahmen des Forschungsberichts<br />

zur Darstellung gebracht wird, vorgezeichnet (A.3.4).<br />

14<br />

Cress, Sakrotope, 11.


2 Forschungsstand<br />

Praxis des <strong>Toten</strong>umgangs und Religion <strong>der</strong> Bestattung<br />

2.1 <strong>Die</strong> soziale Konstruktion <strong>der</strong> Verstorbenen.<br />

Kulturwissenschaftliche Zugänge<br />

Dass <strong>der</strong> Leichnam keine fraglose Voraussetzung <strong>der</strong> Bestattungspraxis darstellt,<br />

haben insbeson<strong>der</strong>e diejenigen soziologischen und qualitativ orientierten<br />

Untersuchungen herausgestellt, die den Tod in eine konstruktivistische Optik<br />

rücken. Fokussiert auf die Prozesse des Sterbens war es namentlich David<br />

Sudnow, <strong>der</strong> mit seiner Pionierstudie zur klinischen <strong>Konstitution</strong> <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> mit<br />

Nachdruck darauf verwiesen hat, dass »›Tod‹ und ›Sterben‹« nicht einfach »›Naturgegebenheiten‹«<br />

beschreiben, son<strong>der</strong>n »von Grund auf soziale Begriffsgebilde«<br />

darstellen. 15 Dabei geht es nicht nur um diskursive Konstruktionen <strong>der</strong> Verstorbenen.<br />

Sudnow arbeitet die verschiedenen »Betätigungen« im Krankenhausalltag<br />

als Praktiken <strong>der</strong> »Produktion des Sterbens und des Todes« heraus:<br />

»›Tod‹ und ›Sterben‹ sind (wenn man sich an diese Perspektive hält) nichts weiter als<br />

die Art von Betätigungen, die vollzogen werden, wenn das Krankenhauspersonal im<br />

Laufe seiner täglichen Arbeitsroutine von diesen Ausdrücken Gebrauch macht.« 16<br />

Eine direkte Aufnahme hat <strong>der</strong> Ansatz von Sudnow im Schweizer Forschungsprojekt<br />

Technik und Ritus bei Sterben und Tod gefunden. Wenngleich soziologisch<br />

nur bedingt rezipiert und praktisch-theologisch m.W. gänzlich unbeachtet,<br />

dürfte es sich bei den Studien von Ursula Streckeisen, Corina Salis Gross und<br />

Lilo Roost Vischer um die detailreichsten Erhebungen zur praktischen »Konstruktion<br />

des Lebensendes« handeln. 17<br />

Erneut im Spital, aber auch im Zusammenhang<br />

eines Altersheims sowie im Rahmen <strong>der</strong> Bestatter:innentätigkeit wird<br />

hier ebenfalls die Grenze zwischen Leben und Tod als ein Raum des »doing<br />

15<br />

Vgl. Sudnow, Sterben, 14f. Zur thanatosoziologischen Relevanz von Sudnow vgl. auch<br />

Meitzler/Thönnes, Sterben.<br />

16<br />

Vgl. Sudnow, Sterben, 14 (Hervorhebung im Original).<br />

17<br />

Vgl. Streckeisen u.a., Konstruktion, hier 12; Streckeisen, Tod; Salis Gross, Tod; Roost<br />

Vischer, Tote. Vgl. dazu auch Matschurek, Weg, 9.


22<br />

2 Forschungsstand<br />

death« 18 ausgeleuchtet, in dem nicht nur mit toten Personen umgegangen wird,<br />

son<strong>der</strong>n sie auch als »tote Personen […] ›hergestellt‹« werden. 19<br />

Indem das Projekt das beforschte Feld über die Institutionen <strong>der</strong> Medizin<br />

und Care-Arbeit hinaus in die Praxissphäre des Funeralen hinein ausdehnt,<br />

verleiht es dem konstruktivistischen Zugang einen dezidiert dynamischen Akzent.<br />

Wo <strong>der</strong> Tod nicht nur als Produkt gesellschaftlicher Diskurse, son<strong>der</strong>n<br />

kultureller Praktiken aufgefasst wird, deutet sich eine prozessuale Perspektive<br />

an, die nicht erst auf Ebene historischer Verän<strong>der</strong>ungen greift, son<strong>der</strong>n schon in<br />

<strong>der</strong> lokalen Erkundung konkreter Praxisketten die verschiedenen <strong>Konstitution</strong>en<br />

und Rekonstitutionen im Umgang mit den Verstorbenen nachzeichnen<br />

kann. <strong>Die</strong> ›<strong>Toten</strong>‹ sind nicht nur soziale Konstrukte, son<strong>der</strong>n auch prozessuale<br />

Entitäten, die im Verlauf <strong>der</strong> Praktiken, an denen sie partizipieren, »ständigen<br />

Verwandlungen unterliegen« 20 .<br />

2.2 Praktische Theologie <strong>der</strong> Bestattung.<br />

Kasualtheoretische Sepulkralforschung<br />

<strong>Die</strong> Praktische Theologie fokussiert in diesem Prozesszusammenhang traditionell<br />

diejenigen Praxisformen, an denen die Kirche in Gestalt ihrer Amtsträger:innen<br />

beteiligt ist: zuvor<strong>der</strong>st das gottesdienstliche Begängnis <strong>der</strong> Bestattung,<br />

zunehmend das Kasualgespräch im Vorfeld <strong>der</strong> Abschiedsfeier 21 sowie in<br />

jüngster Zeit verstärkt wie<strong>der</strong> darüber hinausreichende Anlässe liturgischer<br />

Gestaltung, wie sie im Horizont einer Auffassung <strong>der</strong> Bestattung als »gestreckter<br />

Kasualie« 22 in den Blick kommen.<br />

Folgt die praktisch-theologische Funeralforschung damit nach wie vor einem<br />

pastoral orientierten Fokus, hat sie durch ihre kasualtheoretische<br />

Reformulierung die Bestattung deutlich aus einem durch den Begriff <strong>der</strong> Amtshandlungen<br />

angeleiteten Verständnis herausgeführt. <strong>Die</strong> konzeptionelle Rahmung<br />

<strong>der</strong> Bestattung als Kasualie eröffnete einen Reflexionshorizont, in <strong>der</strong> die<br />

Bestattung als ein lebensgeschichtlich veranlasstes Übergangsritual bedacht<br />

werden konnte. Es ist nicht zuletzt dieser Zugriff, <strong>der</strong> im Zusammenhang <strong>der</strong><br />

Praktischen Theologie <strong>der</strong> Frage nach dem liturgischen Umgang mit den Verstorbenen<br />

ein neues Gewicht verlieh. So lenkt ein durch die ritual studies informierter<br />

Zugang den Blick auf die nicht primär verbal organisierten, symbolischen<br />

Komponenten <strong>der</strong> gottesdienstlichen Feier, in denen viele <strong>der</strong> auf die<br />

<strong>Toten</strong> bezogenen Praktiken bestehen; vor allem aber gaben die von Arnold Van<br />

18<br />

Salis Gross, Tod, 15.<br />

19<br />

Vgl. Streckeisen u.a., Konstruktion, 12.<br />

20<br />

Salis Gross, Tod, 17.<br />

21<br />

Vgl. Friedrichs, Engel; Albrecht, Kasualtheorie, 217---222 sowie die Beiträge in Bühler<br />

u.a. (Hg.), Kasualgespräche.<br />

22<br />

Vgl. Naumann, <strong>Toten</strong>sonntagsgottesdienste, 190ff; Klie, Bestattungskultur, 218.235.


2.2 Praktische Theologie <strong>der</strong> Bestattung 23<br />

Gennep und Victor Turner vorgelegten Beschreibungen des Rituellen 23<br />

einen<br />

Impuls, die symbolisierenden Leistungen des Rituals auch auf die Verstorbenen<br />

zu beziehen: »Nicht nur <strong>der</strong> soziale Rollenwechsel <strong>der</strong> Hinterbliebenen wird<br />

öffentlich gemacht, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Verstorbene vollzieht eine Statuswechsel<br />

vom lebenden Menschen […] zum abwesenden <strong>Toten</strong>.« 24<br />

Sind damit Spuren gelegt, die nonverbalen Praktiken <strong>der</strong> Bestattungsliturgie<br />

in ihren performativen Potenzialen kasualtheoretisch neu zu erschließen, hat ein<br />

innerhalb <strong>der</strong> gegenwärtigen Praktischen Theologie stark auf sprachliche Deutungsprozesse<br />

abgestellter Religionsbegriff bis dato verhin<strong>der</strong>t, die Materialität<br />

des Funeralen nachdrücklicher in den kasualtheoretischen Diskurs eingehen zu<br />

lassen. Tatsächlich wird man konstatieren müssen, dass dort, wo versucht wird,<br />

die Bestattung auf ihre religiösen Dimensionen hin verständlich zu machen, <strong>der</strong><br />

Blick primär entwe<strong>der</strong> direkt auf die Predigt fällt o<strong>der</strong>, sofern die liturgischen<br />

Gesten bedacht werden, es die symbolischen Aussagen, die Semantiken <strong>der</strong> rituell<br />

aufgeführten Formeln und Texte, die Bestattung als Kommunikationsereignis<br />

sind, auf <strong>der</strong>en Folie die Religion des Funeralen herausgearbeitet wird.<br />

Dabei können zwei Konzeptionen des Religiösen als bestattungstheoretisch<br />

erprobt gelten: Religiöse Bezüge werden zum einen in <strong>der</strong> biographischen Deutung<br />

eines abgeschlossenen Lebens erkannt sowie zum an<strong>der</strong>en in eschatologischen<br />

Vorstellungen, die sich auf ein nachtodliches Jenseits beziehen. Dass <strong>der</strong><br />

Tod nach wie vor von vielen Menschen als ein »explizit religiöses Thema verstanden<br />

wird« 25 , dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass <strong>der</strong> Verlust<br />

einer nahestehenden Person dazu Anlass gibt, Lebensdeutungen zu formulieren,<br />

die das Ganze des Selbst betreffen und die einzelnen Episoden eines gelebten<br />

Lebens auf seinen ultimativen Sinn hin überschreiten, sowie sich zu <strong>der</strong> Frage<br />

zu verhalten, ob und wie es mit diesem Leben nach seinem Tod weitergeht. Religion<br />

zeigt sich hier als ein Akt <strong>der</strong> Transzendierung, <strong>der</strong> sich dezidiert auf die<br />

Verstorbenen bezieht und sie im Hinblick auf ihr vergangenes wie zukünftiges<br />

Leben in einen Rahmen einzeichnet, <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Immanenz des Vorfindlichen<br />

nicht ableiten lässt. 26<br />

Eine Arbeit, die im Kontext <strong>der</strong> praktisch-theologischen Funeralforschung<br />

angesiedelt ist, wird zuletzt zu berücksichtigen haben, dass die Kasualtheorie<br />

die Bestattung über die letzten Jahre geradezu programmatisch im Paradigma<br />

23<br />

Vgl. Van Gennep, Übergangsriten; Turner, Period; Ders., Process, 94---130.<br />

24<br />

Weyel, Lebensdeutung, 123. Ähnlich Fechtner, Kirche, 59---62; Ders., Lebensraum 48---<br />

52; Gutmann, Mit den <strong>Toten</strong> leben, 209---214: »<strong>Die</strong> kirchliche Bestattung ist ein Transformationsritual<br />

nicht nur für die Hinterbliebenen, son<strong>der</strong>n auch für die Verstorbenen« (214<br />

[Hervorhebung im Original]).<br />

25<br />

Klie u.a., Einleitung, 5: »Auch wenn sonst vielfach unscharf bleibt, was Religion ist und<br />

wo Religion als Thema aufbricht --- für den Tod gilt das nicht.« Vgl. dazu auch die Befunde<br />

<strong>der</strong> 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in Bedford-Strohm/Jung (Hg.), Vielfalt, 491f.<br />

26<br />

Vgl. etwa Weyel, Lebensdeutung, 124. Zu religionstheoretischen Hintergründen Krech,<br />

Religion, 40---43; Nassehi, Religion, 103---126.


24<br />

2 Forschungsstand<br />

des »Wandels« beschrieben hat. 27<br />

Wird man gegenüber zeitdiagnostischen Emphasen<br />

<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung stets insofern zurückhaltend bleiben, als sie regelmäßig<br />

dazu tendieren, (im Blick auf die Gegenwart) Phänomene <strong>der</strong> Konstanz zu<br />

marginalisieren wie umgekehrt (im Blick auf die Vergangenheit) Phänomene des<br />

Wandels zu unterschlagen, bleibt doch festzuhalten, dass sich etwa mit <strong>der</strong> Verbreitung<br />

<strong>der</strong> Kremation die Beisetzungsformen merklich vervielfältigt haben,<br />

dass im Narrativ <strong>der</strong> Individualisierung beschreibbare Phänomene auch die<br />

Bestattungskulturen prägen 28 und dass nicht zuletzt auf Ebene <strong>der</strong> institutionellen<br />

Infrastrukturen des Bestattens Verschiebungen greifbar werden. 29 Letzteres<br />

dokumentiert sich aktuell in einem gesteigerten Interesse an konfessionell ungebundenen<br />

Bestattungsfeiern. Steht ihre empirische Erkundung noch am Beginn,<br />

30 bildet sich die feldimmanent verbreitete Differenzlogik von ›weltlichen‹<br />

und ›kirchlichen‹ resp. ›freien‹ und ›religiösen‹ Bestattungen verstärkt auch im<br />

kasualtheoretischen Diskurs ab, um sie nicht zuletzt in Vokabularen des Marktes<br />

und <strong>der</strong> Konkurrenz zu beschreiben und kirchentheoretisch auf Fragen einer<br />

stärker »unternehmerisch« strukturierten Kasualpraxis zu reflektieren. 31<br />

2.3 <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Bestattungsinstitute.<br />

Professionssoziologische Annäherungen<br />

Zu den institutionellen Voraussetzungen des funeralen Umgangs mit den Verstorbenen<br />

gehören auch Transformationen im Bestattungsgewerbe. Als Profession,<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlich die Mobilisierung, Verwahrung und physische Bearbei-<br />

27<br />

Vgl. exemplarisch Fix/Roth, Vorwort: »Der Umgang mit Tod und Trauer hat sich in den<br />

vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Er ist individuell geworden und damit zugleich<br />

vielfältig […]. Mit diesem Wandel <strong>der</strong> Thanatokultur in einer nicht mehr selbstverständlich<br />

als christlich zu betrachtenden Gesellschaft haben sich auch die kirchliche Trauerbegleitung<br />

und die kirchliche Bestattungspraxis verän<strong>der</strong>t.« Vgl. dazu auch das Diskussionspapier<br />

<strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland Herausfor<strong>der</strong>ungen evangelischer<br />

Bestattungskultur, das »tektonische Verschiebungen« ausmacht (vgl. Evangelische Kirche<br />

in Deutschland [Hg.], Herausfor<strong>der</strong>ungen, 2).<br />

28<br />

U.a. lässt sich dies am Wandel <strong>der</strong> Funeralästhetik in Bild (vgl. Benkel/Meitzler, Sinnbil<strong>der</strong>)<br />

wie Musik (Blume, Musik) zeigen.<br />

29<br />

Zu einer konzisen an konkreten Phänomenen orientierten Darstellung heterogener<br />

Wandlungsszenarien seit dem »Millenniumswechsel« vgl. Benkel u.a., Artefakt, 16---19.<br />

Vgl. dazu auch Kretzschmar, Bestattungskultur.<br />

30<br />

Vgl. dazu die Beiträge in Wagner-Rau/Handke (Hg.), Kasualpraxis; Schweighofer, Leben;<br />

aus religionswissenschaftlicher Perspektive Lüddeckens, Rituals.<br />

31<br />

Vgl. dazu Hermelink, Kasualkirche, hier 168ff; dazu auch Handke, Amtskirche, die eine<br />

mo<strong>der</strong>ne kirchliche Kasualpraxis im Kontext einer pluralisierten gesellschaftlichen<br />

Passageritenkultur in Gestalt einer »<strong>Die</strong>nstleistungskirche« verwirklicht sieht; Fechtner,<br />

Lebensraum, 48: »In <strong>der</strong> Konstellation mit konkurrierenden Anbietern wird kirchliches<br />

Bestattungshandeln nun auch zu einer Art ›<strong>Die</strong>nstleistung‹, ohne es dem eigenen Selbstverständnis<br />

nach in einem marktförmigen Sinne sein zu können (und zu wollen).«


2.3 <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Bestattungsinstitute 25<br />

tung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> überantwortet ist, hat sich die Rolle <strong>der</strong> Bestatter:innen merklich<br />

verän<strong>der</strong>t. Einst auf den Transport von Verstorbenen, die Versorgung <strong>der</strong> Leichen<br />

und den Verkauf von Särgen spezialisiert, kommt heute vielen Bestattungsfirmen<br />

<strong>der</strong> Status eines integralen <strong>Die</strong>nstleistungsunternehmens zu, das für die<br />

Angehörigen als erste Adresse fungiert und den funeralen Prozess in allen seinen<br />

Teilen organisatorisch begleitet. Hinzu kommt, dass sich durch verbandliche<br />

Organisation, Initiativen zur Qualitätssicherung und <strong>der</strong> 2003 erfolgten Einrichtung<br />

eines Ausbildungsgangs zur geprüften »Bestattungsfachkraft« 32<br />

nicht zuletzt<br />

auch das Kerngewerbe <strong>der</strong> Bestattertätigkeit markant professionalisiert hat.<br />

Im Verbund mit den »Fortbildungsmöglichkeiten zum ›Thanatopraktiker‹ und<br />

›Kremationstechniker‹ […] verdichtet sich [in diesem Beruf] die Expertise im<br />

Umgang mit dem Leichnam.« 33<br />

Wie professionstheoretische Studien 34<br />

zeigen, zeichnen die Bestatter:innen<br />

damit nicht nur verantwortlich für ein ganzes Set an Vorarbeiten, auf denen<br />

auch die kirchliche Ritualpraxis aufruht. Ein Gros <strong>der</strong> Bestatter:innen versteht<br />

sich aktuell selbst als Ritualexpertinnen und Trauerbegleiter, die liturgische wie<br />

seelsorgliche Services anbieten und eigene Formen des <strong>Toten</strong>umgangs propagieren.<br />

Wurde vereinzelt auf die religiösen Implikationen dieses Handelns bereits<br />

hingewiesen, wenn etwa Konturen einer »Bestatter-Religion« 35 herausgearbeitet<br />

worden sind o<strong>der</strong> Bestattungsinstitute mit ihren firmeneigenen Feierhallen,<br />

Trauerseminaren und Aufbahrungsräumen als populärreligiöse Orte <strong>der</strong> »Transzendenzerfahrung«<br />

thematisch werden, steht eine detaillierte Erkundung des<br />

Beitrags dieser Profession zur »religiösen Rahmung« des Lebensendes noch<br />

aus. 36<br />

32<br />

Vgl. Neuser/Wirthmann (Hg.), Bestattung, 39f.<br />

33<br />

Klie, Bestattungskultur, 207.<br />

34<br />

Vgl. etwa Hänel, Bestatter.<br />

35<br />

Hermelink, Bestattung. Vgl. dazu auch Frateantonio, Bestatter, 228: »Betrachtet man die<br />

Formen, die Semantik und die Rituale, <strong>der</strong>en Entwicklung die Bestatter vorantreiben<br />

wollen, muss die Nähe zu religiöser Semantik und Formensprache verblüffen. Religionswissenschaftlich<br />

stellt sich damit die von den Betroffenen selbst als Ablösungsprozess<br />

verstandene Rollenübernahme von im Wesentlichen christlich-kirchlichen Spezialisten<br />

als Diskurs über den Religionsbegriff dar. Es scheint, dass gerade im Zuge des Professionalisierungsprozesses<br />

hier Wissensbestände angeeignet werden sollen, die in einer längeren<br />

Perspektive die Bestatter selbst als religiöse Spezialisten erscheinen lassen.« Dazu<br />

passt, dass dem Ausbildungswissen des Bestattungsberufs ganz selbstverständlich<br />

religionskundliche Inhalte und Kenntnisse religiöser Jenseitsmodelle zugehören (vgl.<br />

Neuser/Wirthmann [Hg.], Bestattung, 18---23.205---235).<br />

36<br />

Vgl. Kahl, Körper, hier 205f.


26<br />

2 Forschungsstand<br />

2.4 Religion als Praxis. Praxistheoretische<br />

Perspektiven<br />

Wie die drei Schlaglichter verdeutlichen, greift die aktuelle Sepulkralforschung<br />

auf die Bestattung und den funeralen Umgang mit den <strong>Toten</strong> wesentlich<br />

akteurszentriert zu. Das Feld des Funeralen wird über seine zentralen<br />

Akteurspositionen angenähert und am Leitfaden <strong>der</strong> »Figuren« im sepulkralen<br />

»Spiel« perspektiviert. 37 Gilt dies schon für die auf die praktischen Betätigungen<br />

abzielenden Erkundungen <strong>der</strong> sozialen Konstruktion des Lebensendes, wenn bei<br />

Streckeisen u.a. <strong>der</strong> »berufliche Aspekt« 38<br />

im Zentrum des Interesses steht, so<br />

betrifft dies erst recht die maßgeblich professionstheoretisch angelegte Bestatter:innenforschung<br />

wie auch die praktisch-theologische Kasualtheorie. Sosehr<br />

die Bestattung nicht mehr im Frame <strong>der</strong> Amtshandlungen konzeptualisiert wird,<br />

sosehr wird <strong>der</strong> Gegenstandsbereich <strong>der</strong> Kasualforschung regelmäßig doch auf<br />

die kirchlichen Praxisvollzüge zurechtgeschnitten, was sich deutlich auch in <strong>der</strong><br />

relativ ungebrochenen Aufnahme <strong>der</strong> emischen Differenzkategorien einer ›freien‹<br />

und ›kirchlichen‹ Bestattung zeigt.<br />

Gegenüber diesem Ansatz bei den Akteur:innen wählt die vorliegende Studie<br />

einen Zugang, <strong>der</strong> an den Praktiken des Bestattens ansetzt. Sie versucht<br />

damit Einsichten des in den Sozial- und Kulturwissenschaften inzwischen etablierten<br />

praxeologischen Diskurses für die Erforschung des funeralen Umgangs<br />

mit den <strong>Toten</strong> fruchtbar zu machen. Dabei sind es vier Pointen, die mir einen<br />

praxistheoretisch inspirierten Zugriff für die hier verfolgte Fragestellung als<br />

beson<strong>der</strong>s gegenstandsangemessen wie analytisch produktiv erscheinen lassen.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedlichen Ausprägungen <strong>der</strong> Praxistheorie eint <strong>der</strong> Versuch, mit<br />

dem Praxisbegriff als »fundamentaler theoretischer Kategorie« 39 das Soziale als<br />

ein praktisches Vollzugsgeschehen zu beschreiben, das zunächst und zumeist<br />

nicht aus Handlungen im überkommenen Sinne einer Realisierung »vorgängige[r]<br />

geistige[r] Entwürfe« 40 besteht. Mit <strong>der</strong> Abkehr von einem Begriff des sozialen<br />

Handelns, <strong>der</strong> von einem starken, intentional agierenden Subjekt ausgeht,<br />

verbindet sich in analytischer Perspektive ein »Prinzip <strong>der</strong> Heterogenität« 41 ,<br />

wonach <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> an einer Praktik »partizipierenden« 42 Entitäten grundsätz-<br />

37<br />

Vgl. Breidenstein u.a., Ethnografie, 152.<br />

38<br />

Streckeisen u.a., Konstruktion, 12.<br />

39<br />

Schäfer, Einleitung, 11. Vgl. dazu auch Hillebrandt, Praxistheorien, 61; Reckwitz,<br />

Grundelemente, 290.<br />

40<br />

Hirschauer, Verhalten, 47.<br />

41<br />

Vgl. Schäfer, Praxis, 145f.<br />

42<br />

Nach Stefan Hirschauer sind die unterschiedlichen Komponenten sozialer Praktiken als<br />

»Partizipanden des Tuns« zu beschreiben. Damit verbindet sich die Möglichkeit, über den<br />

genaueren Modus ihrer Beteiligung nicht schon vorempirisch, gewissermaßen auf sozialontologischer<br />

Ebene entscheiden zu müssen, wie es etwa Bruno Latour und die Akteur-<br />

Netzwerk-Theorie tun, wenn sie im Rahmen einer »symmetrischen Anthropologie« (Latour,<br />

Anthropologie) die Dinge pauschal als Akteure fassen und damit letztlich einem


3 Studiendesign<br />

Ethnografische Anlage und qualitative Theoriebildung<br />

Auf Grundlage dieser knappen Hinweise zum Forschungsstand lässt sich das<br />

Erkenntnisinteresse <strong>der</strong> Untersuchung konzis konturieren und die Spezifik ihrer<br />

methodischen Anlage herausstellen.<br />

3.1 Fragestellung<br />

(1) <strong>Die</strong> Analysen <strong>der</strong> vorliegenden Studie richten sich nicht generell auf den<br />

Umgang mit den Verstorbenen. Ihr Fokus liegt auf funeralen Umgangsweisen.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> beschriebenen Relationalität von Praktiken ist es nur bedingt<br />

möglich, das funerale Handeln eindeutig aus dem größeren Zusammenhang <strong>der</strong><br />

death-related practices auszugrenzen. Um den Unschärfen dieser Grenzen methodisch<br />

Rechnung zu tragen, werden in Form von zwei exemplarischen Fallstudien<br />

auch ›präfunerale‹ und ›postfunerale‹ Formen des Umgangs mit den <strong>Toten</strong><br />

in die Analyse integriert. <strong>Die</strong> beiden Case Studies, die sich einerseits auf Abschiedspraktiken<br />

in einem Hospiz und an<strong>der</strong>erseits auf Trauerpraktiken jenseits<br />

<strong>der</strong> Beisetzung richten, gehen über eine reine Sichtung <strong>der</strong> offenen Grenzbereiche<br />

<strong>der</strong> Bestattung freilich hinaus. Wie u.a. Ursula Streckeisen und Tony Walter<br />

herausgearbeitet haben, sind es gerade die verdichteten Schwellenphasen, in<br />

denen Menschen vom Leben in den Tod übergehen bzw. vom sichtbaren Leichnam<br />

zur erinnerten Person werden, die für den Umgang mit den Verstorbenen<br />

auch in seiner funeralen Gestalt instruktive Einsichten versprechen. 53<br />

(2) <strong>Die</strong> funeralen Umgangsweisen mit den <strong>Toten</strong> werden aus einer konstruktivistischen<br />

Perspektive anvisiert. Analog zu den soziologischen Studien zum<br />

Umgang mit den <strong>Toten</strong> im klinischen Bereich setzt auch die vorliegende, auf die<br />

Bestattung konzentrierte Untersuchung das Lebensende nicht als ein rein biologisches<br />

Faktum voraus. Der Tod kommt als eine Größe in Betracht, die sozial<br />

hervorgebracht wird. Wie die »Praktiken <strong>der</strong> Voruntersuchung, Untersuchung,<br />

<strong>der</strong> Aufnahme und Entlassung, <strong>der</strong> Feststellung des Todes, des Versorgens, Her-<br />

53<br />

Vgl. Streckeisen, Tod, 17---134; <strong>Die</strong>s. u.a., Konstruktion, 148---259; Walter, Dead.


30<br />

3 Studiendesign<br />

richtens und Fortschaffens <strong>der</strong> Leiche« in Einrichtungen <strong>der</strong> Pflege und medizinischen<br />

Settings Akte <strong>der</strong> »Produktion einer sterbenden und toten Person« darstellen,<br />

so sind auch die funeralen Praktiken keine sekundären Reaktionen auf<br />

ein fraglos vorgegebenes Naturereignis. 54 Was die <strong>Toten</strong> sind und was mit ihnen<br />

ist, versteht sich nicht von selbst, son<strong>der</strong>n wird im Medium diverser, nicht zuletzt<br />

bestattungskultureller Praktiken repetitiv enaktiert, situativ aufgeführt und<br />

sozial fabriziert. Der Umgang mit den Verstorbenen macht etwas aus ihnen.<br />

(3) Bei Sudnow und an<strong>der</strong>en stehen Praktiken im Zentrum, in denen ein<br />

Mensch sukzessive zum Leichnam ›deanimiert‹. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit gilt Dynamiken,<br />

die aus Personen biologische Körper und dinghafte Entitäten, aus präsenten<br />

Teilnehmern sozialer Interaktion Abwesende und sozial Ausgeglie<strong>der</strong>te werden<br />

lassen. Demgegenüber richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Studie<br />

bewusst auch auf gegenläufige Prozesse. Leitend ist die Einsicht, dass eine adäquate<br />

Erkundung zeitgenössischer Bestattungskulturen analytisch nicht von<br />

einer dichotomischen Gegenüberstellung von Leben und Tod ausgehen sollte,<br />

um den Fokus dann einseitig auf die degenerativen Dynamiken des Sepulkralen<br />

scharf zu stellen. Wie Michael Lambek im Kontext <strong>der</strong> neueren Anthropology of<br />

Death vermerkt, ist das Verhältnis zwischen Leben und Tod vielmehr als<br />

»connected processes of animation, de-animation, and reanimation« anzusetzen.<br />

55 Eine Erkundung des funeralen <strong>Toten</strong>umgangs hat ihren Gegenstand insofern<br />

nach Maßgabe einer Heuristik zu entwerfen, in <strong>der</strong> er als ein ambiger Zwischenraum<br />

beobachtbar wird und in den bestattungspraktischen Konstruktionen<br />

<strong>der</strong> <strong>Toten</strong> auch die ›reanimierenden‹ Dynamiken in Betracht kommen können.<br />

54<br />

Vgl. Sudnow, Sterben, 13---19, hier 14. Das heißt nicht, dass <strong>der</strong> Tod »nicht auch Produkt<br />

biologischer Mechanismen« ist. Wie schon <strong>der</strong> Diskurs um Kriterien <strong>der</strong> Todesfeststellung<br />

zeigt, müssen »biologische Vorgänge« allerdings »›entdeckt‹, ›erkannt‹ und ›benannt‹«<br />

werden (15). Sie kommen im Rahmen einer sozialen Umwelt zu stehen, in <strong>der</strong><br />

ihre vermeintlich bloße Registrierung auf kulturell geregelten Handlungsabläufen beruht,<br />

in die ihrerseits je spezifische historische Ontologien, gesellschaftliche Diskurse und<br />

fachspezifische Wissenskulturen eingelagert sind. Vgl. dazu auch Feldmann/Fuchs-<br />

Heinritz, Tod, 12; Leming/Dickinson, Un<strong>der</strong>standing, 46---53.<br />

55<br />

Vgl. Lambek, Life, 643. Der Versuch, binäre Konzeptionalisierungen des Verhältnisses<br />

von Leben und Tod zugunsten differenzierterer, ambiguitätssensiblerer und den lebensweltlichen<br />

Praktiken des Sterbens und <strong>der</strong> Trauer damit bestenfalls angemessenerer<br />

ethnografischer Beschreibungsvokabulare zu reformulieren, kann als eine <strong>der</strong> zentralen<br />

Weiterentwicklungen <strong>der</strong> aktuellen Anthropology of Death gelten. Vgl. dazu Robben,<br />

Anthropology, 16: »The differentiation of life and death into distinct ontologies, and the<br />

recognition that cultures mediate this division through religious beliefs of immortality,<br />

have dominated the anthropology of death since its inception. [Recent studies try] to<br />

overcome this stark separation by analyzing life and death as continuous processes of<br />

generation and regeneration that are manifested in spiritual, cosmological, recollective,<br />

communicational, and technological ways. The perspective of regeneration offers an<br />

alternative to the conceptionalization of life and death as a dichotomy or as an incommensurable<br />

binary opposition. Many people do, of course, un<strong>der</strong>stand life and death as such<br />

and construct cosmologies and funerary cultures on the basis of this differentiation, but<br />

many others un<strong>der</strong>stand life and death in relational terms.«


3.1 Fragestellung 31<br />

Wie Dagmar Hänel zeigt, ist die Grenze zwischen Leben und Tod in <strong>der</strong> Tat auch<br />

in ›unserer‹ Kultur »keinesfalls absolut eindeutig bestimmbar«, son<strong>der</strong>n notorisch<br />

durch »Unschärfen« qualifiziert, die sich gerade im Leichnam »manifestieren«:<br />

--- Er kann auf die Vergänglichkeit <strong>der</strong> Materie verweisen --- wie er zugleich die<br />

Individualität einer gelebten Person repräsentiert;<br />

--- er wird aus den interaktionalen Sphären des Sozialen separiert --- wie er zugleich<br />

ein Teil <strong>der</strong>selben zu bleiben vermag;<br />

--- in ihm manifestiert sich die Unwie<strong>der</strong>bringlichkeit des irdischen Daseins ---<br />

wie er zugleich die Frage nach einer Transzendenz dieses Daseins offenhält. 56<br />

Es sind diese Ambiguitäten, auf die die Untersuchung immer wie<strong>der</strong> abstellen<br />

wird.<br />

(4) Dass ein solcher Forschungsfokus in religiöser Hinsicht relevante Einsichten<br />

verspricht, legen die Überlegungen zur kasualtheoretischen Bestattungsforschung<br />

nahe. Wenn hier religiöse Bezüge insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> biographischen<br />

Deutung eines abgeschlossenen Lebens erkannt werden und Religion typischerweise<br />

mit Jenseitsvorstellungen in Verbindung gebracht wird, dann erweisen<br />

sich Praxisarrangements, in denen ein toter Körper als Person in Erscheinung<br />

treten und auf eine über den Tod hinausreichende Transzendenz verweisen<br />

kann, für die qualitative Religionsforschung als bedeutsam. Hinzu kommt, dass<br />

auch die Frage nach postmortalen sozialen Präsenzen insbeson<strong>der</strong>e im Trauerdiskurs<br />

um die continuing bonds nicht nur intensiv debattiert, son<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong>holt<br />

auch auf ihre religiösen Implikationen hin bedacht worden ist. 57<br />

Insofern<br />

nehme ich die Partizipation von Verstorbenen an Praktiken <strong>der</strong> Interaktion<br />

ebenfalls als heuristischen Marker für ein Set an Handlungen, das sub specie<br />

religionis interessante Analysen erwarten lässt.<br />

Nun vermag ein praxistheoretischer Ansatz an den auf Sprache, Kommunikation,<br />

Symbolgehalt und Deutung konzentrierten Religionsbegriff nur gebrochen<br />

anzuschließen. Sosehr auch diskursive Praktiken in die Analysen dieser<br />

Arbeit eingehen und Artefakte und Körpergesten als symbolische Vollzüge reflektiert<br />

werden, sosehr gilt es schon hier, die Diskurse immer wie<strong>der</strong> auch auf<br />

ihre Materialitäten hin zu erkunden sowie die Dinge und Körperpraxen nicht<br />

allein als symbolische Ausdrucksgestalten o<strong>der</strong> Träger religiöser Ideen zu reflektieren,<br />

son<strong>der</strong>n als Konstituenten des Religiösen ernst zu nehmen. Es sind nicht<br />

nur sprachlich verfasste Bedeutungen, über die sich Religion aufbaut, son<strong>der</strong>n<br />

embodied practices des Hörens, Sehens und Berührens. Es sind häufig nicht Jenseitsvorstellungen<br />

und ethnoeschatologische Überzeugungen, die sich standardisiert<br />

o<strong>der</strong> im Rahmen eines narrativen Interviews o<strong>der</strong> informellen Gesprächs<br />

abfragen ließen, in denen die ›letzte Grenze‹ <strong>der</strong> Alltagswirklichkeit bearbeitet<br />

56<br />

Vgl. Hänel, Bestatter, 19---24. Zu einer Ausleuchtung <strong>der</strong> liminalen Grauzonen zwischen<br />

Leben und Tod vgl. auch die Beiträge in Ahn u.a. (Hg.), <strong>Die</strong>sseits sowie Benkel/Meitzler<br />

(Hg.), Leben; ferner Howarth, Boundaries.<br />

57<br />

Vgl. etwa Klass, Grief; Walter, Dead.


32<br />

3 Studiendesign<br />

wird, son<strong>der</strong>n Praktiken wie z.B. das Anreden <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> o<strong>der</strong> das Anblicken<br />

eines Fotos. Kerzenlicht kann nicht nur als Zeichen »des ewigen Lebens« dechiffriert<br />

werden, 58<br />

son<strong>der</strong>n auch als Medium sinnlich konstituierter religiöser Erfahrung<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> auratischen Illuminierung eines Leichnams fungieren. Entsprechend<br />

versuchen sich die folgenden Studien immer wie<strong>der</strong> daran, die Welt<br />

des Funeralen nicht exklusiv über ihre Semantiken zu erschließen, son<strong>der</strong>n in<br />

wie<strong>der</strong>holten Anläufen und Detailstudien die Mikropraktiken <strong>der</strong> Sinne, räumliche<br />

Arrangements, rituelle Mobilitätsordnungen, »Emotionspraktiken« 59 , die<br />

Handhabung von Artefakten und habituell eingekörpertes Wissen zu rekonstruieren<br />

und interpretativ auf ihre Beiträge zur Religion <strong>der</strong> Bestattung zu befragen.<br />

60<br />

(5) <strong>Die</strong> Fragestellung <strong>der</strong> Studie lässt sich vor diesem Hintergrund wie folgt<br />

pointieren: Wie wird --- im Rahmen <strong>der</strong> Bestattung --- mit den <strong>Toten</strong> umgegangen?<br />

Was wird --- in diesem Umgang mit ihnen --- aus ihnen gemacht? Und welche<br />

Rolle kommt Religion dabei zu? Um im Gesamt <strong>der</strong> funeralen Vollzüge Praxiskomplexe<br />

identifizieren zu können, die sich für eine Beantwortung <strong>der</strong> Forschungsfrage<br />

als potenziell aufschlussreich erweisen, orientiert sich die Untersuchung<br />

heuristisch an folgendem Operationsschema:<br />

--- Lassen sich Praktiken identifizieren, und wenn ja welche, an denen im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Bestattung die <strong>Toten</strong> so partizipieren, dass sie nicht allein als<br />

physischer Körper und materielles Objekt, son<strong>der</strong>n auch als Person zur Aufführung<br />

kommen?<br />

--- Lassen sich Praktiken identifizieren, und wenn ja welche, an denen im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Bestattung die <strong>Toten</strong> so partizipieren, dass sie nicht nur sozial<br />

ausgeglie<strong>der</strong>t werden, son<strong>der</strong>n auch Teil sozialer Interaktion bleiben?<br />

--- Lassen sich Praktiken identifizieren, und wenn ja welche, an denen im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Bestattung die <strong>Toten</strong> so partizipieren, dass sie nicht allein als<br />

irdisch Gestorbene, son<strong>der</strong>n auch als postmortal --- in irgendeiner Form ---<br />

Fortexistierende enaktiert werden? 61<br />

58<br />

Vgl. Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Gottesdienstbuch, 20.<br />

59<br />

Vgl. Scheer, Emotionspraktiken.<br />

60<br />

Zu praxistheoretisch informierten Zugängen zur Religion vgl. etwa Ammerman, Religion;<br />

Limacher/Walthert (Hg.), Praxistheorien; Cress, Sakrotope; Johansen/Schmidt (Hg.),<br />

Practice.<br />

61<br />

An dieser Stelle sei nochmals unterstrichen, dass aufgrund des entanglements <strong>der</strong> Praktiken<br />

einfache Identifikationen solcher Praxiskandidaten noch nicht zureichen, son<strong>der</strong>n<br />

häufig eine Analyse <strong>der</strong> Verkettungen dieser Praktiken mit an<strong>der</strong>en, vermeintlich religiös<br />

uninteressanten Betätigungen weiterführende Perspektiven erschließt.


3.2 Leitperspektiven 33<br />

3.2 Leitperspektiven<br />

Für die Ausarbeitung eines Methodendesigns, das dieser Fragestellung Rechnung<br />

tragen kann, erweisen sich vier Leitperspektiven als maßgebend. Sie bilden<br />

kein Programm, das im Forschungsprozess umgesetzt wurde. Vielmehr<br />

geben sie eine Optik, die den Forschungsprozess in seinem Verlauf immer wie<strong>der</strong><br />

orientiert hat. 62<br />

3.2.1 Praxis<br />

Wie beschrieben, erforscht die Studie den funeralen Umgang mit den <strong>Toten</strong> als<br />

Praxis. In Aufnahme zentraler Grundeinsichten interaktionistischer Ansätze gilt<br />

auch praxistheoretischen Zugängen die Wirklichkeit unserer kulturellen Welt<br />

als Effekt eines permanenten sozialen Tuns. Wie ethnomethodologisch jedes<br />

›being‹ als ein ›doing being‹ aufzufassen ist, propagieren auch praxistheoretische<br />

Zugänge eine Optik, in <strong>der</strong> die Realität unserer Lebenswelten als ein praktisches<br />

Vollzugsgeschehen in Erscheinung tritt, das zugleich als ein fortwähren<strong>der</strong> Herstellungsprozess<br />

zu stehen kommt. Entsprechend sind auch die funeralen Praktiken<br />

des Umgangs mit den Verstorbenen als performative Konstruktionsvollzüge<br />

zu beobachten, in denen sich das, was die <strong>Toten</strong> sind und was mit ihnen ist,<br />

komplex konstituiert.<br />

Gegenüber Ansätzen des klassischen soziologischen Interaktionismus besitzen<br />

praxistheoretische Zugänge eine auch für die qualitative Religionsforschung<br />

weitreichende Pointe. Sie muten dem auf verbale Kommunikationen spezialisierten<br />

Religionsdiskurs eine Blickwinkelweitung zu, in <strong>der</strong> die materiellen Komponenten<br />

religiöser Praxis in den Kreis <strong>der</strong> analytisch zu beachtenden Gegenstände<br />

einrücken. Eine praxistheoretisch inspirierte Heuristik behaftet die<br />

Funeralforschung mit Nachdruck darauf, die Dinge, Körper und Räume in ihre<br />

»Berichte eingehen« zu lassen und sie zum ›Datum‹ zu machen. 63<br />

Dass gerade<br />

Praktiken, an denen die <strong>Toten</strong> partizipieren, mit einem auf die sayings konzentrierten<br />

Blick eine Verkürzung erfahren würden, wird sich im Verlauf <strong>der</strong> Untersuchung<br />

immer wie<strong>der</strong> zeigen. Der funerale Umgang mit den Verstorbenen ist<br />

ein eminent materiell vermitteltes Geschehen und lässt sich nur über eine Analyse<br />

seiner »sozio-materiellen Konstellationen« 64<br />

angemessen verständlich machen.<br />

62<br />

Ihre Orientierungswirkung entfalteten die Perspektiven nicht von außen, als leiteten sie<br />

den »iterativ-zyklischen« Prozess um Fragestellung, Sampling, Methodenfragen, Datenerzeugung<br />

und -analyse aus einer externen Warte rigide an (vgl. Strübing, Sozialforschung,<br />

207). <strong>Die</strong> Leitperspektiven sind selbst Teil dieses Prozesses: Sie sind aus ihm hervorgegangen,<br />

haben sich verfestigt, wurden reformuliert und haben sich erneut stabilisiert.<br />

63<br />

Vgl. Latour, Soziologie, 136.<br />

64<br />

Kalthoff u.a., Einleitung, 11.


34<br />

3 Studiendesign<br />

Hatte schon <strong>der</strong> Interaktionismus die Idee einer souveränen Einzelhandlung<br />

im Konzept eines von Grund auf wechselseitig konstituierten gemeinsamen<br />

Handelns verworfen, dezentrieren auch Praxistheorien das Subjekt und verteilen<br />

das Handeln auf die an ihm beteiligten materiellen Komponenten. Als<br />

»Partizipanden des Tuns« 65 sind die Körper und Artefakte und ihre räumlichen<br />

Arrangements an <strong>der</strong> funeralen <strong>Konstitution</strong> <strong>der</strong> Verstorbenen beteiligt. Tatsächlich<br />

fassen mit dem Praxisbegriff operierende Theorien ihre konstruktivistischen<br />

Implikationen in <strong>der</strong> Regel nicht in einem »akteurzentrierten Vokabular« 66 . Sie<br />

leiten dazu an, das doing death des funeralen <strong>Toten</strong>umgangs nicht einfach auf<br />

die Intentionen <strong>der</strong> beteiligten Akteur:innen zurückzuführen. Auch hier gilt<br />

sozusagen Erving Goffmans prominentes Plädoyer, nicht »Menschen und ihre<br />

Situationen« in den Blick zu nehmen, son<strong>der</strong>n »Situationen und ihre Menschen«.<br />

67<br />

3.2.2 Prozess<br />

Mit einem praxistheoretisch informierten Zugang verbindet sich eine prozessuale<br />

Perspektive. Praktiken besitzen Vollzugscharakter; sie bestehen in actu. Sie<br />

sind allerdings nicht als isolierte Einzelereignisse zu analysieren, son<strong>der</strong>n als<br />

entanglements, die an vorausgehende Praktiken anschließen und sich in Folgepraktiken<br />

fortsetzen.<br />

Leitet diese Perspektive dazu an, die Praktiken des funeralen Umgangs mit<br />

den <strong>Toten</strong> als »Praktiken-in-Prozessen« 68 zu beschreiben, kommt damit ein wichtiges<br />

Strukturmoment <strong>der</strong> Bestattung insgesamt in den Blick. Eine dynamische<br />

Forschungsperspektive erlaubt es, die Bestattung als Verlaufsgeschehen beobachtbar<br />

zu machen, das sich über verschiedene Orte und Zeiten hinweg verteilt.<br />

Ohne die funerale Wirklichkeit in allen ihren Facetten integrieren zu können,<br />

verspricht ein Forschungsansatz bei den Verstorbenen doch, diesen Prozesszusammenhang<br />

<strong>der</strong> Bestattung in einer beson<strong>der</strong>s leistungsfähigen Weise<br />

aufzuhellen. Sofern mit den <strong>Toten</strong> diejenigen Partizipanden <strong>der</strong> Funeralpraxis<br />

im Fokus stehen, über die die meisten, wenn nicht alle ihre Episoden verkoppelt<br />

sind, macht die Untersuchung die Bestattung als ›gestreckte Kasualie‹ empirisch<br />

zugänglich. Methodisch erfor<strong>der</strong>t dies die Einnahme eines mobilen Beobachterstandpunkts,<br />

wie er modellhaft in Konzepten einer multi-sited ethnography vertreten<br />

worden ist. 69<br />

65<br />

Vgl. Hirschauer, Praktiken, passim.<br />

66<br />

Vgl. Knorr Cetina, Konstruktivismus, 36.<br />

67<br />

Vgl. Goffman, Interaktionsrituale, 9; dazu auch Breidenstein u.a., Ethnografie, 152---155.<br />

68<br />

Dellwing/Prus, Einführung, 51.<br />

69<br />

Vgl. Breidenstein u.a., Ethnografie, 77. Vgl. dazu auch das Programm einer »transsequentiellen<br />

Analytik« von Thomas Scheffer (vgl. Ders., Analyse; Ders., Zug). Zur multisited<br />

ethnography einschlägig vgl. Marcus, Ethnography.


B Analysen<br />

Der funerale Umgang mit den<br />

<strong>Toten</strong>


1 Einführung<br />

Den <strong>Toten</strong> folgen. <strong>Die</strong> pluralen Prozesslogiken <strong>der</strong><br />

Bestattungspraxis<br />

Dass die Bestattung ein zeitliches Geschehen beschreibt, hat die rezente<br />

Kasualtheorie in zweifacher Hinsicht herausgestellt. Mit Etablierung des lebensgeschichtlichen<br />

Paradigmas 137 sowie im Rekurs auf den ritualwissenschaftlichen<br />

Diskurs um die rites de passage 138<br />

wurde die Bestattungsfeier als performative<br />

Verdichtung eines biographischen Übergangs thematisiert. Das Ritual verläuft<br />

nicht nur, wie jede Praxis, in <strong>der</strong> Zeit. Seiner spezifischen »Abfolgeordnung« 139 ist<br />

ein symbolischer Charakter zu eigen. So bringt die kirchliche Bestattung in actu<br />

mittels ihres rituellen Verlaufs den Tod als »Übergang«, den Umgang mit den<br />

<strong>Toten</strong> als »Weggeleit« und die Abschiednahme als »Übergabe« zur Aufführung. 140<br />

Bezieht sich in dieser Perspektive die Zeitlichkeit des Funeralen auf das Ritualgeschehen<br />

selbst, wurde mit <strong>der</strong> Rede von <strong>der</strong> ›gestreckten Kasualie‹ <strong>der</strong><br />

Prozesscharakter <strong>der</strong> Bestattung in einen weiter ausgreifenden Horizont gestellt.<br />

Kasualtheoretisch ist es allem voran das Trauergespräch, das einer Engführung<br />

<strong>der</strong> Bestattung auf die gottesdienstliche performance entgegensteht. 141 Aber auch<br />

<strong>der</strong> agendarisch zur Bestattung gerechnete »Abschiedssegen« zeigt die kirchliche<br />

Bestattungspraxis als ein verteiltes Handeln an, das Ritualisierungen »am<br />

Krankenbett«, »kurz vor o<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Einsargung« o<strong>der</strong> »vor <strong>der</strong> Überführung<br />

aus dem Trauerhaus, dem Krankenhaus o<strong>der</strong> dem Altenheim« involviert. 142 Berücksichtigt<br />

man zuletzt die durch die Verbreitung <strong>der</strong> Kremation zunehmend<br />

erfolgte Entkopplung von Trauerfeier und Beisetzung, dehnt sich die Bestattung<br />

137<br />

Vgl. dazu Wagner-Rau, Segensraum, 18---22; Fechtner, Kirche, 31---37; Albrecht,<br />

Kasualtheorie, 2006, 195---215; klassisch Matthes, Amtshandlungen.<br />

138<br />

Arnold van Genneps Untersuchung <strong>der</strong> Übergangsriten hat nicht zuletzt über ihre<br />

Aufnahme bei Victor Turner Eingang in den praktisch-theologischen Diskurs gefunden<br />

und wurde hier insbeson<strong>der</strong>e kasualtheoretisch rezipiert. Vgl. Van Gennep, Übergangsriten;<br />

Turner, Period; Ders., Process, 94---130.<br />

139<br />

Van Gennep, Übergangsriten, 20.<br />

140<br />

Vgl. Fechtner, Lebensraum, 48---52.<br />

141<br />

Zum Kasualgespräch als Prozessepisode eines situationsübergreifenden kasuellen<br />

Verlaufszusammenhangs vgl. <strong>Stetter</strong>, Praktiken, 142f.<br />

142<br />

Vgl. Evangelischer Oberkirchenrat (Hg.), Gottesdienstbuch, 19.


58<br />

1 Einführung<br />

auf liturgische Anlässe auch nach <strong>der</strong> Gottesdienstfeier aus und wird als Prozess<br />

beschreibbar, <strong>der</strong> über verschiedene Orte und Zeiten hinweg diffundiert.<br />

Nun ist diese, an <strong>der</strong> liturgischen Beteiligung eines:r Pfarrer:in orientierte<br />

Prozesslogik nur eine Möglichkeit, die Bestattung als zeitlichen Verlauf zu rekonstruieren.<br />

Spricht man mit Angehörigen, kommt wie<strong>der</strong>holt z.B. die Abholung<br />

als relevante, emotional besetzte funerale Episode in den Blick. Vor allem<br />

aber werden in <strong>der</strong> narrativen Rückschau ganz verschiedene Verlaufszusammenhänge<br />

entworfen, variiert und wie<strong>der</strong> umerzählt, in denen die Trauerfeier<br />

mit Erfahrungen <strong>der</strong> Sterbebegleitung ebenso verknüpft wird, wie Friedhofsbesuche<br />

Teil <strong>der</strong> »ritual narratives« 143 <strong>der</strong> Bestattung sind.<br />

Noch einmal an<strong>der</strong>s nimmt sich das Bestattungsgeschehen dort aus, wo es<br />

auf Folie <strong>der</strong> Arbeitsabläufe im Bestattungsbetrieb gezeichnet wird. So hat Ekkehard<br />

Coenen die Bestattung als Prozess bestimmt, <strong>der</strong> fünf, in sich heterogene<br />

und miteinan<strong>der</strong> verkoppelte, aber doch relativ eigenständige Phasen umfasse. 144<br />

<strong>Die</strong>nt die »Initiationsphase« <strong>der</strong> behördlichen wie materiellen »Übersetzung« 145<br />

des Leichnams in den Bestattungsprozess, zentriert sich die »Konsultationsphase«<br />

auf den Kontakt mit den Angehörigen, um im spannungsvollen Ineinan<strong>der</strong><br />

von Verkauf, Trauerbegleitung und Ritualdesign die Bestattungsfeier zu planen.<br />

<strong>Die</strong> »Präparationsphase« umfasst neben <strong>der</strong> Bearbeitung <strong>der</strong> Körper <strong>der</strong> <strong>Toten</strong>,<br />

die bürokratische Verwaltung des Lebensendes sowie die Organisation aller an<br />

<strong>der</strong> Bestattung beteiligten professionellen Akteur:innen und bereitet darin die<br />

von Coenen als »Kern des Bestattungstrajekts« 146 bestimmte »Ritualphase« vor. In<br />

<strong>der</strong> »postfuneralen Phase« wird die Kundenbeziehung zwischen Hinterbliebenen<br />

und Bestatter:innen aufgekündigt. <strong>Die</strong> Bestattung geht in Form <strong>der</strong> Erinnerungsarbeit<br />

ganz in die Hand <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> sozialen Netzwerke des:<strong>der</strong> Verstorbenen<br />

über und gelangt letztlich erst dort an ihr Ende, so Coenen, wo das Grab<br />

aufgelöst wird und die <strong>Toten</strong> in Vergessenheit geraten sind, die Verstorbenen<br />

also ihr materielles wie ideelles soziales Dasein verloren haben. 147<br />

Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass eine prozessuale Ausdeutung <strong>der</strong><br />

Bestattung nicht erst durch ihre praxistheoretische Rahmung nahegelegt wird,<br />

143<br />

Grimes, Bone, 10.<br />

144<br />

Vgl. zum Folgenden Coenen, Zeitregime, 126---147.<br />

145<br />

Coenen, Zeitregime, 131.<br />

146<br />

Coenen, Zeitregime, 142.<br />

147<br />

Zu analogen Sequenzierungen vgl. etwa Hänel, Bestatter, 49---71; Roost Vischer, Tote,<br />

17---24. Ihnen gegenüber liegt die Pointe <strong>der</strong> Beschreibung von Coenen darin, den Prozess<br />

des Bestattens nicht als starre Handlungsabfolge zu begreifen, son<strong>der</strong>n als Phasen, <strong>der</strong>en<br />

praktische Komponenten sich im konkreten Arbeitsalltag vielfältig überlappen und<br />

»kreuzen« (Ders., Zeitregime, 31). In <strong>der</strong> Tat zeigt sich die Bestattung aus Sicht <strong>der</strong> einzelnen<br />

Mitarbeitenden und im Horizont <strong>der</strong> tagtäglich zu bewerkstelligen Arbeiten gerade<br />

nicht als das modellhaft beschriebene Verlaufsgeschehen. Auch aus Bestatter:innenperspektive<br />

lässt es sich als solches nur rekonstruieren, wenn man nicht dem<br />

Personal, son<strong>der</strong>n den <strong>Toten</strong> folgt. Sie sind es, an denen die heterogenen, parallel, partiell<br />

und arbeitsteilig durchgeführten Einzeltätigkeiten zu einem Phasenzusammenhang aggregieren.


1 Einführung 59<br />

son<strong>der</strong>n schon feldimmanent angezeigt ist. Deutlich wird allerdings auch, dass<br />

<strong>der</strong> Verlauf nicht objektiv vorliegt, son<strong>der</strong>n auf perspektivischen Konstruktionen<br />

beruht. Es existieren diverse Verlaufslogiken <strong>der</strong> Bestattungspraxis, nach denen<br />

bereits im Feld ausgewählte »Ereignisse« zu einem je spezifischen »Prozess«<br />

synthetisiert werden. 148<br />

Wenn <strong>der</strong> analytische Fokus im Folgenden auf Praktiken <strong>der</strong> Abholung, <strong>der</strong><br />

Leichenbesorgung, <strong>der</strong> Aufbahrung sowie <strong>der</strong> Ritualisierung <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> gelegt<br />

wird, ist deutlich, dass diese Auswahl nicht einfach einer dieser lokalen Prozesslogiken<br />

folgt. Sie verdankt sich einer Perspektive, die auf die <strong>Toten</strong> fokussiert ---<br />

bzw. einem Forschungsverlauf, in dem sich nach Maßgabe <strong>der</strong> Fragestellung<br />

dieser Arbeit, in <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holten Beobachtung diverser Praktiken und ihrer<br />

fortschreitenden Analyse bestimmte Situationen herauskristallisiert haben, in<br />

denen sich <strong>der</strong> funerale Umgang mit den Verstorbenen verdichtet und auf instruktive<br />

Weise herausarbeiten lässt. <strong>Die</strong> Komposition dieser Situationen orientiert<br />

sich an einer praktischen Bedingungslogik. Mit Thomas Scheffer könnte<br />

man von »trans-sequentielle[n] Konstellationen« sprechen, die dadurch qualifiziert<br />

sind, dass bestimmte Praktiken das Erfolgtsein an<strong>der</strong>er Praktiken zeitlich<br />

voraussetzen. 149<br />

<strong>Die</strong> Darstellung dieses Kapitels erfolgt insofern nicht<br />

akteurszentriert, wenn damit die lebenden menschlichen Partizipanden <strong>der</strong><br />

Funeralpraxis gemeint sind, son<strong>der</strong>n orientiert sich an den Verstorbenen, die als<br />

»formative Objekte« den Prozess des Bestattens genauso integrieren, wie sie<br />

durch ihn hervorgebracht werden. 150<br />

Der Verlaufszusammenhang, in den <strong>der</strong> funerale Umgang mit den Verstorbenen<br />

dadurch gebracht wird, besitzt demnach in dreifacher Hinsicht einen<br />

konstruktiven Charakter:<br />

(1) Er geht über die im Feld greifbaren akteursspezifischen Prozesslogiken<br />

hinaus. Im Versuch, den <strong>Toten</strong> zu folgen, erhält die Bestattung eine Verlaufsgestalt,<br />

die sich aus den Perspektiven <strong>der</strong> an ihr beteiligten Personengruppen nicht<br />

unmittelbar ableiten lässt. Das heißt nicht, dass damit ein Standpunkt über dem<br />

Feld eingenommen wäre. Als auf Praktiken bezogene Ethnografie zielte die Erhebung<br />

vielmehr darauf, diverse Feldpositionen zu besetzen und durch Perspektivwechsel<br />

die Komplexität des funeralen Umgangs mit den Verstorbenen beobachtbar<br />

zu machen. Vor allem eröffnet <strong>der</strong> praxistheoretische Zugriff aber<br />

auch, die »nonhuman actors and actants« 151<br />

--- bzw. präziser: die materiellen<br />

148<br />

Vgl. Scheffer, Zug.<br />

149<br />

Vgl. Scheffer, Analyse, 94f. <strong>Die</strong> zeitliche Abhängigkeit <strong>der</strong> Praktiken ist dabei nicht<br />

logischer Natur, son<strong>der</strong>n bestimmt sich aus den kulturell etablierten, feldspezifischen<br />

›Logiken <strong>der</strong> Praxis‹ (vgl. Bourdieu, Entwurf, 248---255; Ders., Vernunft, 146f [Hervorhebung<br />

M.S.]). So setzt die Aufbahrung einer:s <strong>Toten</strong> gedanklich nicht notwendig ihre körperliche<br />

Präparation voraus. Im bestattungskulturellen Zusammenhang <strong>der</strong> von mir<br />

untersuchten Praktiken findet eine öffentliche Präsentation <strong>der</strong> toten Körper ohne <strong>der</strong>en<br />

vorausgehende Bearbeitung allerdings schlechterdings nicht statt.<br />

150<br />

Vgl. Scheffer, Analyse, 90.<br />

151<br />

Vgl. Clarke u.a., Analysis, 87---91.


60<br />

1 Einführung<br />

Komponenten des Sepulkralen --- in die Berichte eingehen zu lassen und den<br />

Bestattungsprozess auch über die Mobilisierung von Körpern, »räumliche Verbindungen«<br />

152 und travelling objects zu rekonstruieren.<br />

(2) Das ›Netzwerk funeraler Situationen‹ 153 , das sich aus einer solchen Analyse<br />

ergibt, lässt sich nicht umfassend repräsentieren. Es geht auf Ebene <strong>der</strong><br />

Darstellung, aber auch schon im Forschungsvollzug, mit Selektionen einher. <strong>Die</strong><br />

Auswahl resultiert dabei auf forschungsstrategischen Erwägungen --- wenn die<br />

ausführlich untersuchten Situationen etwa ein vielfältiges und exemplarisches<br />

Sample versammeln sollen. Aber auch forschungspraktische Faktoren nehmen<br />

Einfluss auf das Spektrum <strong>der</strong> erkundeten Praktiken --- so wenn z.B. Zugänge zu<br />

bestimmten funeralen Situationen verwehrt werden. 154<br />

(3) Wie die benannten Prozesslogiken zeigen, verdankt sich die temporale<br />

Einfassung des funeralen Umgangs mit den <strong>Toten</strong> Grenzziehungen, die sehr<br />

disparat ausfallen können. Wenn im Folgenden <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> von <strong>der</strong> Abholung<br />

bis zur Beisetzung nachgezeichnet wird, handelt es sich um einen Zuschnitt,<br />

<strong>der</strong> zwar nicht dezisionistisch gesetzt wird, de facto aber auch an<strong>der</strong>s<br />

vorgenommen werden könnte. 155 Um diese Unschärfen <strong>der</strong> funeralen Grenzregionen<br />

nicht einfach zu übergehen, werden die Analysen dieses Kapitels exemplarisch<br />

durch Beobachtungen im Zusammenhang <strong>der</strong> Sterbebegleitung sowie<br />

postfuneraler Trauerpraktiken gerahmt. Wie erwähnt sind es gerade diese<br />

liminalen Zonen, also Praxiskomplexe, in denen die Lebenden in einen toten<br />

Körper und die <strong>Toten</strong> in ein »disembodied being« 156 übergehen, die auch für den<br />

funeralen Umgang mit den Verstorbenen im engeren Sinne instruktive Einblicke<br />

versprechen.<br />

Der Verlaufszusammenhang, den die folgenden Untersuchungen präsentieren<br />

und zu erkunden suchen, liegt demnach, we<strong>der</strong> was seine zeitliche Abgrenzung<br />

noch was seine situativen Bestandteile und auch nicht was seine temporale<br />

Konstruktionslogik betrifft, einfach vor. Wie jedes ethnografisch beforschte und<br />

repräsentierte Feld basiert er auf einer Herstellungsleistung, die allerdings nicht<br />

152<br />

Schäfer, Praxis, 144.<br />

153<br />

Vgl. Spradley, Observation, 43ff. James Spradley unterscheidet drei Modi, in denen<br />

soziale Situationen miteinan<strong>der</strong> verkoppelt sein können: durch räumliche Nähe<br />

(»physical proximity«), die Beteiligung identischer Akteur:innen (»same people«) o<strong>der</strong><br />

vergleichbare Praktiken (»similar activities«). <strong>Die</strong> im Folgenden analysierten Praxissituationen<br />

stehen in Teilen durch alle drei Bezugsweisen in Verbindung zueinan<strong>der</strong>, besitzen<br />

ihren Zusammenhang als »network of social situations« aber vor allem in <strong>der</strong> Partizipation<br />

<strong>der</strong> Verstorbenen (vgl. ebd.).<br />

154<br />

Zu Lücken im Gegenstandsbereich und Offenheiten <strong>der</strong> Forschung vgl. C.1.<br />

155<br />

Wenn ein Bestattungsmitarbeiter auf meine Erläuterung, dass es mir nicht nur um die<br />

Trauerfeier ginge, son<strong>der</strong>n mich auch die Arbeiten im Vorfeld interessierten, adhoc mit<br />

<strong>der</strong> Formulierung »also vom Abdecken bis zum Zudecken« reagiert, wird deutlich, dass<br />

auch betriebliche Eigenlogiken die internen Feldabgrenzungen mitbeeinflussen. Sofern<br />

diesem Unternehmen die Friedhofsbetreuung obliegt, spannt sich <strong>der</strong> Bestattungsverlauf<br />

für das damit betraute Personal von <strong>der</strong> Aushebung des Grabes bis zu seiner Schließung.<br />

156<br />

Hallam u.a., Body, 13f.


1 Einführung 61<br />

von einer theoretischen Außenwarte vorgenommen wird, son<strong>der</strong>n aus einem<br />

Forschungsprozess hervorgeht, <strong>der</strong> verschiedene feldimmanente Grenzbildungen<br />

berücksichtigen kann, in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Forschungsfrage bestimmten<br />

Artefakten, Diskursen, Körpern und räumlichen Relationen des Feldes folgt,<br />

um anhand <strong>der</strong> Route <strong>der</strong> <strong>Toten</strong> Einsichten in die Verfasstheit des Feldes zu<br />

gewinnen. 157<br />

157<br />

Zur Abkehr von einem »naturalistische[n] Feldbegriff« und zu den diversen <strong>Konstitution</strong>sprozessen,<br />

aus denen ›das‹ Feld ethnografischer Arbeit emergiert, vgl. Breidenstein<br />

u.a., Ethnografie, 45---70.


2 Unscharfe Grenzen<br />

Präfunerale Praktiken des Umgangs mit den <strong>Toten</strong> --<br />

Fallbeispiel: Hospiz<br />

Das Verhältnis zwischen Leben und Tod wird gemeinhin in Form eines binären<br />

Gegensatzes gefasst. Wie ein Gerät, das entwe<strong>der</strong> auf ›Off‹ o<strong>der</strong> ›On‹ gestellt ist,<br />

geben Tod und Leben zwei exklusive Alternativen, die durch eine eindeutige<br />

Grenzlinie geschieden sind. 158<br />

Mag dieses in <strong>der</strong> Regel als ›westlich‹ und ›mo<strong>der</strong>n‹<br />

näher bestimmte Alltagsverständnis lebensweltlich für viele kaum infrage<br />

stehen, nimmt sich das Verhältnis von Leben und Tod insbeson<strong>der</strong>e dort deutlich<br />

verwickelter aus, wo, um im Bild zu bleiben, <strong>der</strong> ›Schalter umgelegt‹ wird.<br />

Wie Glennys Howarth argumentiert, ist es <strong>der</strong> mikrologische Blick auf die Rän<strong>der</strong><br />

des Lebens und die sie bevölkernden Praktiken, <strong>der</strong> geeignet ist, den allzu<br />

selbstverständlichen »life-death dualism« zu destabilisieren. 159 Hospize bieten für<br />

eine solche ethnografische Nahaufnahme eine instruktive Gelegenheit. Als Institutionen,<br />

die auf das Sterben spezialisiert sind, geben sie eine <strong>der</strong> zentralen<br />

Instanzen, in denen in unserer Gesellschaft <strong>der</strong> Übergang vom Leben in den Tod<br />

bearbeitet wird. 160<br />

158<br />

Vgl. dazu Baudrillard, Tausch, 251: »[U]nsere mo<strong>der</strong>ne Idee vom Tode wird durch ein<br />

ganz an<strong>der</strong>es Vorstellungssystem bestimmt: das <strong>der</strong> Maschine und des Funktionierens.<br />

Eine Maschine läuft o<strong>der</strong> sie läuft nicht. So ist die biologische Maschine tot o<strong>der</strong> lebendig«<br />

(Hervorhebung im Original).<br />

159<br />

Vgl. Howarth, Death, 190f.<br />

160<br />

Stationäre Hospize gehören zu den dezidiert palliativ ausgerichteten Sterbeorten. Trotz<br />

<strong>der</strong> sukzessiven Ausdifferenzierung professioneller Sterbegleitung, in dessen Zuge palliativmedizinisches<br />

Wissen immer verlässlicher in die Praktiken des Sterbens auch an<br />

an<strong>der</strong>en Sterbeorten eingeht, bleibt im Folgenden die Spezifik des palliativ-hospizlichen<br />

Umgangs mit den Verstorbenen zu berücksichtigen. Gegenüber den gängigen, normativ<br />

orientierten »Erfolgsgeschichten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne [sic] Hospizbewegung« (Müller, Lebensqualität,<br />

21) haben empirische Studien über die letzten Jahre zu einem realistischeren Bild<br />

dieser Spezifik beigetragen. Man muss die humanisierenden Leistungen <strong>der</strong><br />

Hospizbewegung nicht in Abrede stellen, um auch die Palliative Care auf Diskrepanzen<br />

zwischen offizieller Selbstbeschreibung und konkreter Alltagspraxis, organisationelle<br />

Zwänge des Palliativwesens o<strong>der</strong> implizite Normierungen des guten Sterbens zu befragen:<br />

»Das Aufgeben <strong>der</strong> Krankenrolle bedeutet nicht nur, dass therapeutische und diagnostische<br />

Zumutungen nicht mehr hinzunehmen sind, son<strong>der</strong>n auch, dass <strong>der</strong> Patient


64<br />

2 Unscharfe Grenzen<br />

2.1 Skilled Vision. <strong>Die</strong> Feststellung des Todes<br />

Dass Hospize keine ›Sterbehäuser‹ sind, wird mir gleich am ersten Tag meines<br />

Forschungsaufenthalts deutlich. Nachdem <strong>der</strong> Leiter des Hospizes mich den<br />

an<strong>der</strong>en Teammitglie<strong>der</strong>n vorgestellt hat, werde ich über die aktuellen Bewohner:innen<br />

ins Bild gesetzt, wobei lediglich einer <strong>der</strong> »Gäste«, so <strong>der</strong> Ethnocode<br />

für die Hospizbewohner:innen, mit dem Prädikat »sterbend« resp. »akut sterbend«<br />

versehen wird. Darin deutet sich an, was eine Mitarbeiterin auf <strong>der</strong> klinischen<br />

Palliativstation pointiert zum Ausdruck bringt. Im Gespräch über einen<br />

Patienten, dessen Tod sich wi<strong>der</strong> Erwarten seit Längerem nicht einstelle, verschafft<br />

sie ihrer Verwun<strong>der</strong>ung rhetorisch originell Geltung: »Gibt es eine Steigerung<br />

von Sterben? (-) Sterbend, sterben<strong>der</strong>, am sterbendsten?« Mit diesem<br />

grammatischen Experiment verweist die Krankenpflegerin nicht nur auf die<br />

Prozesshaftigkeit des Lebensendes und die innere Vielschichtigkeit dessen, was<br />

gemeinhin mit dem Begriff ›Sterben‹ bezeichnet wird; sie spielt auch nicht nur<br />

mit dem Umstand, dass sich das Sterben in unserer Sprache und vielleicht auch<br />

unserem Alltagsdenken nicht steigern und ausdifferenzieren lässt; vor allem<br />

lässt ihr Erstaunen darauf schließen, dass dem palliativen Berufswissen bei<br />

allem Bewusstsein für die Komplexität des Übergangs in den Tod ein implizites<br />

Konzept des absehbaren Sterbens zu eigen ist.<br />

Analytisch interessant ist nicht, dass diese Normalerwartung mitunter irritiert<br />

wird, son<strong>der</strong>n dass sie auf einem Wissen beruht, das sich offenbar nur bedingt<br />

objektivieren lässt. So nennen Ärzt:innen und Pfleger:innen auf Nachfrage<br />

kein klar umrissenes Set an validen Sterbezeichen. Eher werden einzelne »Vorboten<br />

des Todes« 161 exemplarisch aufgerufen o<strong>der</strong> in kurzen, offenen Beispielreihen<br />

benannt: Es ist von »Atempausen« die Rede, davon, »dass jemand nicht<br />

mehr ansprechbar« sei; verwiesen wird auf Verfärbungen an <strong>der</strong> Körperoberfläche;<br />

immer wie<strong>der</strong> ist auch vom »Blick« <strong>der</strong> Patient:innen die Rede. Als ich eine<br />

Ärztin dazu befrage, fällt es ihr erkennbar schwer, die optische Qualität dieses<br />

Blicks sprachlich zu fassen. Er sei »glasig«, ein »fast jenseitiger Blick«; ein Blick,<br />

dem es an »Schärfe« fehle; »als wär’ ein Staunen darin«, ein »Verwun<strong>der</strong>n«; das<br />

sei »schwierig zu beschreiben« --- aber: ihre Pflegerinnen, die hätten einen »guten<br />

Blick« dafür.<br />

Folgt man diesen Beschreibungen, ist deutlich, dass (1) das Pflegepersonal<br />

auf kein eindeutig umgrenzbares Raster möglicher Anzeichen des nahenden<br />

Todes zurückzugreifen scheint, dass vor allem (2) die Sterbezeichen nicht objektiv<br />

am Körper vorliegen, son<strong>der</strong>n auf einer kundigen, praktisch geschulten<br />

tatsächlich den Pflichten eines Sterbenden nachzukommen hat« (Dreßke, Identität, 128;<br />

vgl. dazu auch Müller, Lebensqualität; Lawton, Process).<br />

161<br />

Streckeisen, Tod, 81. Zur Praxis <strong>der</strong> Bestimmung von »Todeskandidatinnen« im Pflegeheim<br />

vgl. Salis Gross, Tod, 179---182.


2.1 Skilled Vision. <strong>Die</strong> Feststellung des Todes 65<br />

Wahrnehmung, einer »skilled vision« 162 , beruhen, und dass es (3) eben um die<br />

sinnliche Wahrnehmung eines Körpers geht: Das Wissen um den imminenten<br />

Tod resultiert aus <strong>der</strong> physischen Interaktion; es wird nicht aus Krankenakten<br />

o<strong>der</strong> biographischen Parametern gewonnen, son<strong>der</strong>n am Körper abgelesen.<br />

Sterben stellt sich in dieser Perspektive weniger als ein biologischer Tatsachenvorgang<br />

dar denn als geübter Blick und Interaktionspraxis. Ganz analog<br />

gründet auch die Feststellung erfolgten Sterbens in einem habituell einverleibten<br />

pflegerischen Wahrnehmungswissen, das das Gestorbensein eines Menschen<br />

anhand bestimmter Körpersymptome zu ›entdecken‹ und ›erkennen‹ weiß,<br />

um auf ihrer Grundlage das Attribut ›tot‹ zuzuschreiben. 163<br />

<strong>Die</strong> kulturelle Konstituiertheit des Übergangs vom Leben in den Tod wird<br />

nicht nur an diesen Wahrnehmungspraktiken und dem in sie eingelassenen,<br />

sozial erlernten Wissen ersichtlich. Sie tritt ebenso dadurch hervor, dass die<br />

Attestierung des Todes Gegenstand staatlicher Ordnung ist. 164<br />

Unter welchen<br />

Umständen die Todeszuschreibung zulässig ist, versteht sich nicht von selbst,<br />

son<strong>der</strong>n wird sozial geregelt: in Deutschland genauerhin in Form einer rechtlichen<br />

Ausgestaltung <strong>der</strong> Todesfeststellung. <strong>Die</strong> Bestattungsgesetze <strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />

sehen dafür das Institut <strong>der</strong> »Leichenschau« vor. 165 Demnach reicht eine Zuschreibung<br />

des Todes durch das Pflegepersonal nicht zu, um am Körper sein<br />

Gestorbensein gültig auszuweisen. <strong>Die</strong> Definitionsmacht über den Tod eines<br />

Menschen obliegt <strong>der</strong> Ärzteschaft. Anhand <strong>der</strong> sog. »sicheren« Todeszeichen, die<br />

bestattungsrechtlich als »<strong>Toten</strong>starre, <strong>Toten</strong>flecken, Fäulniserscheinungen, mit<br />

dem Leben unvereinbare Verletzungen, Hirntod 166 sowie die Erfolglosigkeit <strong>der</strong><br />

Reanimation« näher bestimmt werden und unter denen im Hospiz lediglich die<br />

ersten beiden virulent sind, haben approbierte Ärzt:innen das Totsein <strong>der</strong> Gestorbenen<br />

zu konstatieren und in Form <strong>der</strong> »Todesbescheinigung« festzuschrei-<br />

162<br />

Auf die Trainierbarkeit <strong>der</strong> Sinne und die lokale, praktische Erlerntheit insbeson<strong>der</strong>e<br />

des Sehens hat prominent Cristina Grasseni hingewiesen (vgl. <strong>Die</strong>s., Skill; <strong>Die</strong>s., Introduction).<br />

163<br />

Vgl. Sudnow, Sterben, 15: »Selbstverständlich handelt sich beim Sterben um einen<br />

biologischen Vorgang; aber biologische Vorgänge werden ›entdeckt‹, ›erkannt‹ und ›benannt‹<br />

--- sie spielen sich in einer organisierten sozialen Umwelt ab […]. Das bloße Feststellen<br />

und Benennen eines biologisch lokalisierbaren Ereignisses, in unserem Fall das<br />

›Eintreten des Todes‹, ist eine soziale Betätigung«.<br />

164<br />

Zur necropower des Staats vgl. Robben, Anthropology, xvff.<br />

165<br />

Vgl. BestattG BW §20.<br />

166<br />

Dass Sterben und Tod soziokulturelle Konstrukte sind, wurde in <strong>der</strong> Debatte um den<br />

Hirntod offensichtlich. Medizinische Konzeptionen des Todes unterliegen einem Wandel.<br />

Wie Gesa Lindemann detailliert herausgearbeitet hat, betrifft <strong>der</strong> konstruktive Charakter<br />

dabei auch im Hinblick auf den Hirntod nicht allein die gesellschaftliche Aushandlung<br />

von begrifflichen Todesdefinitionen, son<strong>der</strong>n ebenso die praktische Feststellung des<br />

Hirntods selber. Auch die Attestierung des Hirntods verlangt eine »wertende Deutung«.<br />

Vgl. <strong>Die</strong>s., Grenzen, 351---424; Oduncu/Stoecker, Hirntod; Feldmann/Fuchs-Heinritz, Tod,<br />

14.


66<br />

2 Unscharfe Grenzen<br />

ben. 167 Dabei ist es insbeson<strong>der</strong>e dieses Schriftartefakt, das als materielles Resultat<br />

<strong>der</strong> Leichenschau die Todesfeststellung zu einem entscheidenden sozialen<br />

»Passagepunkt« 168<br />

des Bestattungsprozesses erhebt, ist doch die ärztliche Ausstellung<br />

des <strong>Toten</strong>scheins die conditio sine qua non, ohne die kein Körper überführt<br />

werden kann. Als Voraussetzung <strong>der</strong> standesamtlichen Ausstellung <strong>der</strong><br />

Sterbeurkunde macht sie darüber hinaus den Tod einer Person allererst zu einem<br />

behördlichen Wissenstatbestand und administrativ beobachtbar. 169<br />

Durch die rechtliche Regelung und Institutionalisierung <strong>der</strong> Feststellung des<br />

Todes macht die Gesellschaft die Leichenschau »zu jenem gewichtigen Akt, <strong>der</strong><br />

die Zäsur zwischen Leben und Totsein kulturell markiert« 170 . Mit Ausstellung des<br />

<strong>Toten</strong>scheins ist das Leben definitiv in den Tod übergangen. Sofern dieser definitorische<br />

Akt auf ein ihm vorausliegendes ›Entdecken‹ und ›Erkennen‹ des Todes<br />

immer nur reagiert, zeigt sich sein dezidiert deklaratorischer Charakter. In <strong>der</strong><br />

Tat dient die ärztliche Leichenschau de facto nicht <strong>der</strong> Ausräumung etwaiger<br />

Zweifel am Gestorbensein eines Menschen. Auch nimmt sie in <strong>der</strong> Regel keine<br />

an<strong>der</strong>en Mittel in den <strong>Die</strong>nst, als die Pfleger:innen es tun. 171 <strong>Die</strong> Leichenschau<br />

stellt insofern einen bereits festgestellten Tod fest, nicht durch an<strong>der</strong>e Erkenntnismittel,<br />

son<strong>der</strong>n durch an<strong>der</strong>e Legitimationsmittel, und verobjektiviert so das<br />

Gestorbensein qua Deklaration und Beurkundung zu einem gesellschaftlichen<br />

Faktum.<br />

Sucht man im Kontext des Hospizes nach dem ›Schalter‹, <strong>der</strong> einen Menschen<br />

von ›lebend‹ auf ›tot‹ stellt, stößt man bereits bei <strong>der</strong> Feststellung des<br />

Todes auf einen in sich zerdehnten Prozess, auf Körpertechniken <strong>der</strong> Wahrnehmung,<br />

kulturell geschulte Sinne, Rechtsordnungen, die soziale Distribution von<br />

Deutungsmacht, variierende Konzepte des Todes, administrative Artefakte u.a.m.<br />

Der Übergang vom Leben in den Tod liegt insofern nicht vor, er wird durch kulturelle<br />

Institutionen und Praktiken vorliegend gemacht.<br />

167<br />

Vgl. BestattG BW §22, 2.<br />

168<br />

In Anlehnung an Michel Callons Konzept <strong>der</strong> »obligatory passage points« können<br />

Passagepunkte als soziale Situationen begriffen werden, in denen ein Gegenstand definitiv<br />

festgelegt wird, um ihn dadurch für bestimmte Weiterverwendungen geeignet zu<br />

machen (vgl. Ders., Elements; Scheffer, Analyse, 93).<br />

169<br />

Vgl. Thieme, Sterben, 31: »Mit <strong>der</strong> Todesbescheinigung wird <strong>der</strong> Tod ›amtlich‹ und <strong>der</strong><br />

erste Schritt zur ›Aktenkundigkeit‹ ist hergestellt.« Vgl. dazu auch Meitzler, Professionalität;<br />

Coenen, Zeitregime, 137: »Der <strong>Toten</strong>schein ermöglicht die raumzeitliche Ausdehnung<br />

<strong>der</strong> Todesfeststellung über die Situation <strong>der</strong> ärztlichen Untersuchung hinaus sowie die<br />

kommunikative Anschlussfähigkeit des attestierten Todes in den bürokratischen Strukturen<br />

<strong>der</strong> Todesverwaltung.«<br />

170<br />

Streckeisen, Tod, 84.<br />

171<br />

Vgl. Saternus, Todesfeststellung.


2.2 Alltagstranszendenz. <strong>Die</strong> Veröffentlichung des Gestorbenseins 67<br />

2.2 Alltagstranszendenz. <strong>Die</strong> Veröffentlichung des<br />

Gestorbenseins<br />

Situationen, in denen <strong>der</strong> Übergang eines Sterbenden zum Verstorbenen konstatiert<br />

wird, bleiben mir während meiner Zeit im Hospiz verborgen. Ich werde<br />

davon ex post bei den täglichen Übergabegesprächen o<strong>der</strong> en passant in Kenntnis<br />

gesetzt.<br />

Als ich von <strong>der</strong> Toilette zurückkomme und auf das <strong>Die</strong>nstzimmer zugehe, tritt [Roswitha]<br />

aus <strong>der</strong> Tür des kleinen Raums, in dem die gebrauchte Bettwäsche gesammelt<br />

wird. »Der Herr [Maas] isch jetzt gschdorba«, sagt sie knapp und zeigt mit ihrer Hand<br />

auf das Tischchen vor dem <strong>Die</strong>nstzimmer, wo nun die weiße Stumpenkerze im Windlichtglas<br />

brennt. Ich weiß nicht recht, wie antworten. Kurz darauf im <strong>Die</strong>nstzimmer<br />

frage ich, wie sich <strong>der</strong> Tod zutrug. »<strong>Die</strong> Tochter hot klingelt und gsagt, dass er jetzt<br />

an<strong>der</strong>sch isch.«<br />

Das »Gschdorba«-Sein stellt sich im Hospiz nach seiner Feststellung als ein Set<br />

weiterer Praktiken dar, zu dem zunächst die Veröffentlichung des Todes gehört.<br />

Wie die Protokollsequenz andeutet, wird <strong>der</strong> Tod eines:r Bewohner:in <strong>der</strong><br />

Hospizöffentlichkeit materiell angezeigt. Es reicht offenbar nicht zu, ihn (durch<br />

Angehörige und Pfleger:innen) zu ›entdecken‹ und (qua Leichenschau) ›amtlich‹<br />

zu machen. Zur Kundgabe des Todes dient ein kleiner Holztisch, auf dem eine<br />

Vase mit Blumen sowie eine Kerze in einem Windlicht stehen. Wie ein Blick auf<br />

das architektonische Setting des Hospizes verdeutlicht, ist <strong>der</strong> Tisch prominent<br />

platziert. Er befindet sich exakt am Kreuzpunkt <strong>der</strong> beiden Korridore, die das<br />

Hospiz in Form eines T strukturieren (vgl. Abbildung 3). Durch seine Anordnung<br />

im gebauten Raum wird <strong>der</strong> Tisch so universal sichtbar gemacht. Wer das Hospiz<br />

betritt und sich im Hospiz bewegt, sieht sich optisch unweigerlich auf den<br />

Tisch bezogen. 172<br />

172<br />

Zur räumlichen Herstellung von Sichtbarkeit vgl. Hausendorf/Schmitt, Interaktionsarchitektur,<br />

33---38.


<strong>Manuel</strong> <strong>Stetter</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1981, studierte Evangelische<br />

Theologie in Tübingen und Leipzig. Er ist Professor für Praktische<br />

Theologie an <strong>der</strong> Theologischen Fakultät <strong>der</strong> Universität Rostock.<br />

Eine Bezuschussung <strong>der</strong> Druckkosten erfolgte durch die Evangelische Kirche in<br />

Deutschland (EKD). Herzlichen Dank!<br />

Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong><br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2024 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

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Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: <strong>Manuel</strong> <strong>Stetter</strong>, Rostock<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07569-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-07570-6<br />

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