Dankbarkeit - SIFAT Heft 2/2024-Leseprobe
Die Fähigkeit zur DANKBARKEIT wird von den Weltreligionen, in spirituellen Lehren als Voraussetzung gesehen, sich einer Einheitserfahrung nähern zu können. Daher fanden wir es passend, in dem vorliegenden Heft diesen Aspekt genauer zu betrachten. DANKBARKEIT ist ein Schlüssel, das Herz zu öffnen, das Bewusstsein zu weiten und die Seele zu berühren. Die von uns ausgewählten Texte unterscheiden sich daher oftmals nicht in ihrer grundsätzlichen Botschaft, sondern beschreiben – wie die Gestaltung eines musikalischen Themas in verschiedene Variationen – den Klang der Dankbarkeit immer wieder etwas anders. Neben Mitgefühl und Achtsamkeit ist die Dankbarkeit eine der wichtigsten Säulen gelebter Spiritualitat. Wenn wir dankbar sind, fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die positiven Aspekte unseres Lebens und verleihen ihnen dadurch mehr Kraft. Darin liegt das große transformative Potenzial der Dankbarkeit, das sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und diese zum Erblühen bringt.
Die Fähigkeit zur DANKBARKEIT wird von den Weltreligionen, in spirituellen Lehren als Voraussetzung gesehen, sich einer Einheitserfahrung nähern zu können. Daher fanden wir es passend, in dem vorliegenden Heft diesen Aspekt genauer zu betrachten.
DANKBARKEIT ist ein Schlüssel, das Herz zu öffnen, das Bewusstsein zu weiten und die Seele zu berühren. Die von uns ausgewählten Texte unterscheiden sich daher oftmals nicht in ihrer grundsätzlichen Botschaft, sondern beschreiben – wie die Gestaltung eines musikalischen Themas in verschiedene Variationen – den Klang der Dankbarkeit immer wieder etwas anders.
Neben Mitgefühl und Achtsamkeit ist die Dankbarkeit eine der wichtigsten Säulen gelebter Spiritualitat. Wenn wir dankbar sind, fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die positiven Aspekte unseres Lebens und verleihen ihnen dadurch mehr Kraft. Darin liegt das große transformative Potenzial der Dankbarkeit, das sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und diese zum Erblühen bringt.
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Zeitschrift für Universalen Sufismus
52. Jg.
Heft 2
Juli 2024
Dankbarkeit
Sufismus
ist eine uralte Weisheit und zugleich eine Methode der geistigen Schulung, die
Menschen befähigt, diese Weisheit in ihrem täglichen Leben zu verwirklichen.
Der Universale Sufismus
nach Hazrat Inayat Khan ist nicht auf bestimmte Dogmen, Rituale oder
spirituelle Techniken festgelegt.
Der Universale Sufismus baut eine Brücke über die Unterschiede und Grenzen,
die Menschen und Religionen voneinander trennen. Er ermöglicht auch, die
eigene Religion besser zu verstehen und zu leben, weshalb jeder diesen Weg
gehen kann, unabhängig von der Religionszugehörigkeit.
Hazrat Inayat Khan
wurde am 5. Juli 1882 in der indischen Stadt
Baroda geboren. Seine hoch angesehene Familie
war durchdrungen vom Geist mystischer Religiosität
und von der Liebe zur klassischen indischen
Musik. Inayat Khan war von Kind auf in Kontakt
mit den geistigen Traditionen des Islam wie des
Hinduismus, in einer Atmosphäre freundlicher
Toleranz über alle konfessionellen Grenzen hinweg.
Im Jahre 1910 bekam er von seinem spirituellen
Lehrer, Abu Hashim Madani, der der Sufi-
Tradition der Chishtis angehörte, den Auftrag,
den Sufismus in den Westen zu bringen. Hier
wurde er der Begründer und das geistige Oberhaupt
(Pir-o-Murshid) der Sufi-Bewegung und ihrer esoterischen Schule, des
Sufi-Ordens (heute Inayatiyya), und er schuf den Universellen Gottesdienst.
Längere Zeit lebte er in Suresnes bei Paris, von wo er oft zu Reisen in die
ganze westliche Welt aufbrach. Seine Vorträge füllen die 13 Bände seiner „Sufi-
Botschaft“. Er starb am 5. Februar 1927 in New Delhi.
Hazrat Inayat Khans Lehre und die seiner Nachfolger ist geprägt von einer
umfassenden Toleranz, einer Verehrung und Liebe zu allen Prophetinnen und
Propheten und Heiligen der Menschheit und einem Verständnis gegenüber der
Vielfalt der religiösen Traditionen und Lebenserscheinungen.
Inhaltsverzeichnis
Dankbarkeit
Vorwort der Redaktion 4
Erinnerungen an Pir Vilayat Inayat Khan 5
Pir Vilayat Inayat Khan: Zitate aus „Befreite Spiritualität“ 7
Hazrat Inayat Khan: Dankbarkeit 8
Hazrat Inayat Khan: Klagen und Lächeln 10
Hidayat Inayat Khan: Glück 12
Wali Ali Meyer u.a.: Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit 14
David Steindl-Rastl: Der Gottesname Ash-Shakur – der DANKBARE 18
Mutter Meera: Um Hilfe bitten 19
Ibn' Abbad: Sei dankbar! 22
Dalai Lama: Ein wertvolles menschliches Leben 23
Eine Geschichte: Vom Leben und der Dankbarkeit 23
Noemi Berger: Wie ein frommer Mann und seine Frau dem
Propheten Elijahu begegneten 25
Noemi Berger: Hakarat HaTov 27
Gottfried Bühler: Eine Kultur der Dankbarkeit 29
David Steindl-Rast: Was bedeutet Dankbarkeit? 31
Anselm Grün: Der Engel der Dankbarkeit 34
Ahmadiyya Muslim Jamaat, Schweiz: Spenden für die Sache der Armen 36
Texte aus den Heiligen Schriften der Weltreligionen 42
Martin Kämpchen: Danken 44
Anthony de Mello: Warum der Schäfer jedes Wetter liebt 45
Lied: „Danke für diesen guten Morgen“ 47
Blick aus dem Fenster: Dankbar leben 50
Buchbesprechung: Oliver Sacks: Dankbarkeit 52
Buchbesprechung: Wali van der Zwan: In Family’s Footsteps
– Mahmood khan Youskine 55
Buch: Hazrat Inayat Khan: Worte zur Dankbarkeit 57
Impressum 58
80. Todestag von Noor-un-Nisa Inayat Khan: Veranstaltungen 59
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 3
Vorwort der Redaktion
Liebe Leserinnen und Leser,
im letzten Heft ging es um die EINHEIT als einen Seinszustand, in dem wir uns
permanent befinden und der gleichzeitig ein immerwährendes Ziel beschreibt.
Die Fähigkeit zur DANKBARKEIT wird von den Weltreligionen, in spirituellen
Lehren als Voraussetzung gesehen, sich einer Einheitserfahrung nähern zu
können. Daher fanden wir es passend, in dem vorliegenden Heft diesen Aspekt
genauer zu betrachten.
DANKBARKEIT ist ein Schlüssel, das Herz zu öffnen, das Bewusstsein zu weiten
und die Seele zu berühren. Die von uns ausgewählten Texte unterscheiden
sich daher oftmals nicht in ihrer grundsätzlichen Botschaft, sondern beschreiben
– wie die Gestaltung eines musikalischen Themas in verschiedene Variationen
– den Klang der Dankbarkeit immer wieder etwas anders.
Neben Mitgefühl und Achtsamkeit ist die Dankbarkeit eine der wichtigsten
Säulen gelebter Spiritualität. Wenn wir dankbar sind, fokussieren wir unsere
Aufmerksamkeit und Energie auf die positiven Aspekte unseres Lebens und verleihen
ihnen dadurch mehr Kraft. Darin liegt das große transformative Potenzial
der Dankbarkeit, das sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und diese zum
Erblühen bringt.
Blicken wir auf unser bisheriges Leben zurück, so erweisen sich manche Schwierigkeiten
oder vermeintliche Fehlentscheidungen als Herausforderungen, die
bewältigt werden wollten und an denen wir gewachsen sind: Hier finden wir
vielleicht erst im Rückblick zu einer dankbaren, bejahenden Haltung.
Wir leben in einer Zeit großer Herausforderungen und wir können uns entscheiden,
ob wir verunsichert und ängstlich auf die Krisen schauen oder ob wir
umso mehr dankbar sind für das Wunder dieses Lebens in all seinen Ausdrucksformen.
Die Texte dieses Heftes legen nahe, wie lohnend es ist, diese täglichen
Wunder bewusst und mit Freude wahrnehmen zu lernen.
Wir wünschen viel Interesse an dieser Textauswahl und Freude beim Lesen.
Die Redaktion:
Hans-Peter Baum, Claudia Nüssen, Regina Armaiti Winkler-Reber
4 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Erinnerungen an Pir Vilayat Inayat Khan
Erinnerungen an Pir Vilayat Inayat Khan
Anlässlich des 20. Urs am 17.06.2024 möchten wir noch
einmal an Pir Vilayat Inayat Khan erinnern. Wir veröffentlichen
deshalb eine kurze Biografie und einige Zitate von
ihm aus dem Heft „Befreite Spiritualität“. Damit werden
wir dem großen Sufi-Gelehrten allerdings kaum gerecht.
Vielleicht geht es den Leser*innen ebenso wie uns und sie
bekommen Lust, in den Werken Pir Vilayats weiter zu lesen.
Das Heft „Befreite Spiritualität“ kann gegen eine Spende an
Unicef bestellt werden. Außerdem
möchten wir auf die 10. Ausgabe der Sufi News für Europa
mit dem Titel „Was wäre wenn?“ hinweisen. Dieses Heft
wurde zum 100.Geburtstag Pir Vilayats zusammengestellt.
Es enthält zahlreiche Erinnerungen und Beschreibungen
über ihn. Das Heft ist gegen eine Spende an das Hope Projekt
ebenfalls noch erhältlich.
Beides kann kostenlos über den Verlag Heilbronn bestellt
werden: E-Mail: sifat@verlag-heilbronn.de
Redaktion und Verlag Heilbronn
Pir Vilayat Inayat Khan, geboren 1916 in London, gestorben 2004 in Suresnes
bei Paris, war ein international bekannter spiritueller Lehrer und das geistige
Oberhaupt des Internationalen Sufi-Ordens. Er lehrte den grenzüberschreitenden
‚Universalen Sufismus‘ in der Nachfolge seines Vaters Hazrat Inayat Khan
(1882-1927), des Wegbereiters der Sufi-Lehre im Westen, der in Indien ein
gefeierter Musiker war. Auch für Pir Vilayat hatte
die Musik einen besonderen Stellenwert. Er studierte
Musik, spielte Cello, und er absolvierte ein
Studium der Psychologie in Paris.
In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts
begann Pir Vilayat im Sufi-Orden zu lehren und zog
besonders in Amerika und Europa viele Menschen
an. Er lehrte seine Schüler Meditationstechniken
aus den verschiedenen geistigen Traditionen des
Ostens und des Westens und ebenso die bewährten
Sufi-Methoden. Immer wieder inspirierte ihn das
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 5
Erinnerungen an Pir Vilayat Inayat Khan
geistige Werk seines Vaters Hazrat
Inayat Khan.
Alljährlich leitete Pir Vilayat Sommer-Camps
in den Schweizer Alpen
und in den Vereinigten Staaten,
die von Hunderten von Menschen
besucht wurden. Seit 1965 berief er
in jedem Frühling in der Nähe von
Paris einen Kongress der Religionen
ein, um das Verständnis für die Sichtweisen der Vertreter anderer geistiger Wege
zu fördern. Dort erbaute er auch einen ‚Universel‘, einen Tempel aller Religionen,
als Symbol für die Einheit in der Vielfalt.
Sein lebhaftes Interesse für neue Erkenntnisse der
Wissenschaften führte dazu, dass er seine spirituellen
Vorträge durch wissenschaftliche Gedanken
bereicherte.
Mehr als hundert regionale Zentren für das
Studium des Sufismus gibt es in den Vereinigten
Staaten, mehr als fünfzig in Deutschland und
viele in zahlreichen anderen Ländern der Welt. Pir
Vilayats besondere Stärke war, dass er Tausenden
von Zuhörern den Zugang zu geistigem Wachstum
geöffnet hat, wobei er immer wieder betonte,
Fotos sind aus Illumination
von Mikhail Horowitz
dass jeder seinen eigenen Weg finden solle.
Gekürzte Fassung von Sharif Graham
6 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Pir Vilayat Inayat Khan: Zitate aus "Befreite Spiritualität"
Pir Vilayat Inayat Khan
Zitate aus „Befreite Spiritualität“
Der Weg der Sufis ist nicht, die Welt zu verlassen, sondern etwas von der
Gelassenheit, der Würde und der Einsicht hineinzubringen, die wir dadurch
gewinnen, dass wir uns mit dem Leben unseres Lebens identifizieren. (8)
Wenn Sie sich entwickeln wollen, müssen Sie Ihre Blickrichtung ändern. Statt
zur Erde schauen Sie zum Himmel. Das ist der Moment, wo Sie durch die Glorie
des Himmels inspiriert werden. (32)
Schönheit erweckt Liebe, und das ist eine Macht, durch die Gott eine Wirklichkeit
wird als Wir. (52)
Wenn ein Tiger Sie beißt, ist es nicht die Schuld des Tigers. Er ist halt so. (76)
Um Parfüm zu werden, muss die Blume alles Übrige loslassen. (88)
Der stärkste Schutz ist, zu wissen, wer man ist. (186)
Hören Sie Ihrem Herzensschrei zu. (223)
Das Schönste auf dem spirituellen Weg ist Freundschaft. (229)
Wenn Sie Ihre Intuition fördern wollen, dürfen Sie sich nicht auf Ihre Erfahrung
verlassen. (277)
Sie können sich nicht emporheben, indem Sie sich an Ihren Schnürsenkeln
hochziehen. Es geht nur, indem Sie Ihr Bewusstsein umkehren und sich vorstellen,
wie die Dinge vom göttlichen Standpunkt aussehen. (346)
Das Leben ist eine Gelegenheit, ein besserer Mensch zu werden: weiser, liebender,
erleuchteter, während wir in der Evolution voranschreiten. (350)
Fotos sind aus Illumination
von Mikhail Horowitz
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 7
Hazrat Inayat Khan: Dankbarkeit
Hazrat Inayat Khan
Dankbarkeit
Dankbarkeit im Charakter ist wie der Duft in einer Blüte. Im Charakter der
Menschen, die keine Dankbarkeit zeigen, wie gebildet und kompetent sie
auch sein mögen, fehlt die Schönheit, die einer Persönlichkeit Duft verleiht.
Dankbarkeit heißt, jede noch so geringe Wohltat, die uns jemand erweist,
bewusst wahrzunehmen. Wenn wir auf die Freundlichkeit anderer Menschen
mit Wertschätzung antworten, fördern wir die Entwicklung einer dankbaren
Gesinnung in unserem Wesen. Und dadurch, dass wir Dankbarkeit lernen,
erheben wir uns in einen Zustand, in dem wir die Güte und Barmherzigkeit
erkennen, die Gott uns erweist und für die wir niemals dankbar genug sein
können.
Saadi, ein großer Dichter unter den Sufis, lehrt, dass Dankbarkeit das Mittel ist,
mit dem wir die Gunst der Vergebung und Gnade Gottes auf uns ziehen, die
unserer Seele Erlösung bringt. Es gibt so vieles im Leben, wofür wir dankbar
sein können, trotz all der Schwierigkeiten und Mühsal im Leben. Saadi sagt:
„Sonne und Mond, Wolken und Regen, alle sorgen für deine Nahrung.“ 1 Und
es wäre wirklich ungerecht, wenn wir diese Geschenke nicht dankbaren Herzens
anerkennen.
Wir können die Güte Gottes nicht auf einmal erfassen. Es braucht Zeit, sie
zu verstehen. Aber wir sind fähig, kleine Akte der Freundlichkeit, die wir von
unseren Mitmenschen empfangen, zu verstehen, und dafür können wir dankbar
sein, sofern wir es denn wollen. Auf diese Weise entwickeln wir Dankbarkeit in
unserem Wesen und bringen sie als erlesene Form der Schönheit in unserem
Denken, Sprechen und Handeln zum Ausdruck. Solange wir abwägen und aufrechnen
in dem Sinne: „Was habe ich für dich getan, und was hast du für mich
getan“, und „wie nett war ich zu dir, und wie gut warst du zu mir“, verschwenden
wir unsere Zeit im nutzlosen Vergleich von Dingen, die sich nicht in Worte
fassen lassen. Zudem verstopfen wir damit den Quell der Schönheit, der aus
dem Strom der Dankbarkeit entspringt.
Die erste Lektion, die wir auf dem Weg der Dankbarkeit lernen können, ist,
vollständig zu vergessen, was wir für andere tun, und nur im Gedächtnis zu
1 Aus dem Golestan von Saadi Shirazi (1210-1291), persischer Dichter und Mystiker
8 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Hazrat Inayat Khan: Dankbarkeit
behalten, was andere für uns getan haben. Während der ganzen Reise auf dem
spirituellen Weg geht es in erster Linie darum, dass wir es schaffen, unser falsches
Ego zu vergessen. Nur auf diese Weise können wir vielleicht irgendwie zur
Erkenntnis jenes Wesens gelangen, das wir Gott nennen.
Es war einmal ein Sklave mit Namen Ayaz. Er wurde mit neun anderen Sklaven
vor den König gebracht, der einen von ihnen als Leibdiener auswählen wollte. In
seiner Weisheit gab der König jedem der zehn Sklaven ein Weinglas in die Hand
und befahl ihnen, es auf den Boden zu werfen. Alle gehorchten dem Befehl.
Darauf fragte der König jeden Einzelnen: „Warum hast du so etwas getan?“,
und neun von ihnen antworteten: „Weil Eure Majestät uns den Befehl gegeben
haben.“ Das war die einfache Wahrheit, trocken und klar. Als der zehnte, Ayaz,
an die Reihe kam, sagte er: „Vergib mir, oh König, es tut mir leid.“ Er wusste ja,
dass der König seinen eigenen Befehl kannte und er ihm mit der Antwort „weil
Eure Majestät es befohlen haben“ nichts Neues sagen würde.
Die Schönheit seiner Entgegnung gefiel dem König so gut, dass er Ayaz zum
königlichen Leibdiener erwählte. Es währte nicht lange, bis Ayaz das Vertrauen
und Wohlwollen des Königs erworben hatte und der König ihm die Aufsicht
über die Schatzkammer übertrug, wo kostbare Juwelen aufbewahrt wurden. Der
schnelle Aufstieg Ayaz' vom Sklaven zum Schatzmeister des Königs, einer sehr
begehrten Stellung, machte viele Leute am Hof neidisch.
Als sie erfuhren, dass Ayaz hoch in der Gunst des Königs stand, fingen sie
an, zahlreiche Gerüchte über Ayaz in Umlauf zu bringen, um ihn beim König
in Ungnade fallen zu lassen. So erzählten sie, Ayaz ginge täglich in die Schatzkammer
und würde nach und nach die Juwelen, die in der Schatztruhe verwahrt
wurden, stehlen. Der König aber erwiderte: „Nein, das kann ich nicht glauben.
Das müsst ihr mir beweisen.“
Da führten sie den König zu einer Stelle, wo er durch ein Loch in der Wand
in die Schatzkammer schauen und alles, was dort vor sich ging, beobachten
konnte. Er sah, wie Ayaz die Kammer betrat und den Deckel der Schatztruhe
öffnete. Und was nahm er heraus? Seine alten zerschlissenen Kleider, die er als
Sklave getragen hatte. Er küsste sie, hielt sie gegen seine Augen und legte sie
dann auf den Tisch, auf dem er Weihrauch entzündet hatte. Was er tat, war für
ihn eine heilige Handlung.
Dann zog er die alten Kleider an, stellte sich vor den Spiegel und sprach zu
sich selbst, als würde er ein Gebet sprechen: „Höre, oh Ayaz, und schau, was du
einst warst. Es ist der König, der dir die Aufsicht über seine Schätze anvertraut
hat. So betrachte diese Aufgabe als allerheiligste Pflicht und diese Ehre als dein
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 9
Hazrat Inayat Khan: Klagen und Lächeln
Privileg, und vergelte die Güte des Königs mit deiner Liebe. Wisse, dass es nicht
dein Verdienst ist, dem du diese hohe Stellung verdankst. Denke immer daran,
dass der König in seiner Größe, Güte und edlen Gesinnung deine Schwächen
übersehen und dir den Rang und die Position übertragen hat, die dir jetzt Ehre
verschaffen. Drum vergiss niemals deinen ersten Tag, den Tag, an dem du in
diese Stadt gekommen bist. Die Erinnerung an diesen Tag wird deine Seele in
angemessener Einstimmung halten.“
Darauf zog Ayaz die Kleider wieder aus, legte sie zurück an den sicheren Ort
und verließ die Schatzkammer. Und wen sah er draußen? Er sah den König, der
Ayaz, als er sich vor ihm verneigen wollte, stürmisch in seine Arme schloss und
sagte: „Was für eine Lehre hast du mir erteilt, Ayaz.“
Diese Lehre müssen wir alle beherzigen, gleich, in welcher Position wir uns
befinden. Denn vor dem König, in dessen Gegenwart wir alle Sklaven sind,
darf nichts uns vergessen lassen, wie hilflos wir einmal waren. Wir wurden als
hilflose Kinder aufgezogen und durften aus der Hilflosigkeit herauswachsen, wir
wurden zum Leben erweckt, damit wir das Leben erkennen und gestalten und
in Freuden leben können.
aus: Hazrat Inayat Khan, Centennial Edition Band 3, Die Kunst der Persönlichkeit,
Verlag Heilbronn 2020, S. 64 ff
Hazrat Inayat Khan
Klagen und Lächeln
Z
wei unterschiedliche Haltungen teilen die Menschen in die Gruppe der
ewig Klagenden und die Gruppe der immer Lächelnden. Das Leben bleibt
sich gleich, ob man es nun gut oder schlecht, richtig oder falsch nennt. Es ist,
wie es ist, und kann nicht anders sein.
Menschen klagen, um das Mitgefühl anderer zu gewinnen, um ihnen ihre
guten Seiten zu zeigen, und manchmal, um zu verdeutlichen, dass sie gerechter,
intelligenter als andere und im Recht sind. Sie beklagen sich über alles, über
Freund und Feind, über die, die sie lieben, und noch mehr über die, die sie
hassen. Sie jammern vom Morgen bis zum Abend und finden kein Ende. Es
kann so weit gehen, dass ihnen das Wetter, die Luft und die Atmosphäre nicht
behagen. Sie hadern mit der Erde und dem Himmel.
10 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Hazrat Inayat Khan: Klagen und Lächeln
Alles, was andere tun, ist falsch. Das steigert sich zu einem solchen Grad, dass
sie sogar ihre eigenen Worte und schließlich sich selbst nicht leiden können. Auf
diese Weise wenden sie sich gegen andere Menschen, gegen äußere Umstände
und am Ende gegen sich selbst.
Denken Sie nicht, dass dieser Charakter auf der Welt nur selten vorkommt.
Im Gegenteil, er ist recht häufig anzutreffen. Wer eine solche Haltung einnimmt,
ist gewiss sein eigener schlimmster Feind. Diejenigen mit der rechten Geisteshaltung
versuchen, selbst aus Unrecht Recht zu machen, während diejenigen
mit einer falschen Geisteshaltung alles, sogar das Recht in Unrecht verkehren.
Jede Seele braucht Magnetismus. Fehlt diese Energie, wird das Leben zur Last.
Die Neigung, alles als falsch anzusehen, beraubt uns größtenteils jenes Magnetismus,
den wir so sehr im Leben benötigen. Denn es liegt im Wesen des Lebens,
dass es von Natur aus nur diejenigen aufnimmt, die mit der Kraft des Magnetismus
ausgestattet sind, und alle anderen, die ebenso dazugehören möchten,
zurückweist. Anders ausgedrückt, die Welt ist ein Ort, den wir ohne eine Eintrittskarte
nicht betreten können, und diese Eintrittskarte ist Magnetismus. Wer
sie nicht besitzt, wird überall abgewiesen.
Es gibt viele Menschen, die ständig über ihren Gesundheitszustand klagen.
Sie mögen einen Grund haben, doch manchmal ist der Grund sehr geringfügig,
in der Tat zu geringfügig, um überhaupt erwähnt zu werden. Und wer sich
einmal angewöhnt hat, in negativer Weise auf die wohlwollende Frage „Wie
geht es dir?“ zu antworten, begießt mit dem Hang zum Klagen die Pflanze der
Krankheit im eigenen Innern.
Angesichts all der Begrenzungen und Einschränkungen in unserem Leben auf
der Erde, angesichts der wechselvollen und unbeständigen irdischen Annehmlichkeiten
und Freuden und der Unwahrhaftigkeit, auf die wir überall stoßen
– wollten wir über all das klagen, so würde unser ganzes Leben dafür nicht
ausreichen. Es wäre zu kurz. Jeder Augenblick unseres Lebens wäre angefüllt
mit Jammern. Der Ausweg heißt: Schau auf die heitere, die freundliche Seite
des Lebens. Besonders für diejenigen, die Gott und die Wahrheit suchen, gibt
es etwas anderes, worüber sie nachdenken können. Sie brauchen nicht zu überlegen,
wie schlecht eine Person ist. Wenn sie stattdessen bedenken, wer hinter
dieser Person steht, wer sich im Herzen dieser Person befindet, dann werden
sie das Leben voller Hoffnung betrachten. Wenn uns alles verkehrt und falsch
erscheint, brauchen wir nur daran zu denken, dass hinter allem Geschehen Gott
steht, die göttliche Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Dann wird ganz sicher
die Hoffnung in uns erwachen.
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 11
Hazrat Inayat Khan: Glück
Heilige zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf alles mit einem Lächeln blicken.
Ein Lächeln ist der Schlüssel zum Herzen der Menschen. Ein Lächeln für
Freundinnen und Freunde, aber auch für Feinde. Auch sie können am Ende mit
einem Lächeln gewonnen werden. Wie der Sonnenschein von außen die ganze
Welt erhellt, so erleuchtet die Sonne, wenn sie in unserem Inneren aufgeht,
das ganze Leben, all seinen scheinbaren Unzulänglichkeiten und Begrenzungen
zum Trotz. Gott ist Glück, die Seele ist Glück, Spiritualität ist Glück. Im Reich
Gottes gibt es keinen Platz für Traurigkeit. Alles, was uns unseres Lebensglücks
beraubt, raubt uns auch Gott und die Wahrheit.
Wir können lernen zu lächeln, indem wir selbst das geringste Gute, das uns
im Leben begegnet, wertschätzen und über alles Schlechte, das wir nicht gern
sehen wollen, hinwegschauen. Am besten, wir kümmern uns nicht zu viel um
unnötige Dinge im Leben, die uns nur Verdruss bereiten, sondern betrachten das
Leben aus einer hoffnungsvollen Geisteshaltung und mit optimistischem Blick.
Diese zuversichtliche Einstellung wird uns die Macht geben, Unrecht in Recht
zu verwandeln und Licht dorthin zu bringen, wo nichts als Dunkelheit herrscht.
Heiterkeit bedeutet Leben, schlechte Laune und Verdrießlichkeit bedeutet Tod.
Das Leben wirkt anziehend, der Tod abstoßend. Der Sonnenschein, der aus
unserer Seele strahlt, durch unser Herz aufsteigt und seinen Ausdruck in einem
Lächeln findet, ist in Wahrheit das Licht des Himmels. In diesem Licht blühen
viele Blumen und reifen viele Früchte.
aus: Hazrat Inayat Khan, Centennial Edition Band 3, Die Kunst der Persönlichkeit,
Verlag Heilbronn 2020, S. 64 ff
Hazrat Inayat Khan
Glück
Unser Glück oder Unglück hängt davon ab, wie wir das Leben betrachten
– ob wir alles, was wir haben, würdigen und wertschätzen oder ob wir es
abwerten und geringschätzen. Wenn wir an das denken, was wir im Leben nicht
haben, werden wir feststellen, dass es so vieles gibt, was wir nicht haben, und es
wird uns dann scheinen, dass das, was wir haben, nicht einmal so groß ist wie
eine Luftblase im weiten Meer. Doch wenn wir uns bewusst machen, was wir
alles haben, werden wir zur Einsicht kommen, dass das, was wir nicht haben,
wie eine Luftblase im weiten Meer ist. Es kommt darauf an, wie wir darauf
12 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Hazrat Inayat Khan: Glück
schauen. Üblicherweise sehen wir das, was wir im Leben nicht haben, und
kaum eine Menschenseele ist derart gesegnet und aufgewacht, dass sie alles, was
sie im Leben hat, schätzen kann und dankbar dafür ist. Wenn wir an das denken,
was wir nicht haben, steigt eine Flut des Mangels auf und überschwemmt
die ganze Welt; wir meinen, dass uns alles fehlt, was man haben könnte. Doch
wenn wir anfangen, uns bewusst zu machen, was wir haben, wird es vergrößert
und durch Fülle ergänzt, sodass wir letztlich erkennen können, dass wir wahrlich
alles haben. Darin liegt das Geheimnis der spirituellen Errungenschaft. Der
Ausspruch Christi: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles
andere hinzugefügt werden“ hat dieselbe Bedeutung: Wenn wir durch unsere
Dankbarkeit, durch unsere Wertschätzung des Lebens zur Fülle des Lebens
gelangen, werden wir in dieser Glückseligkeit das Reich Gottes finden, und
wenn das Reich Gottes verwirklicht ist, wird alles andere hinzugefügt werden.
Einst erschien ein Derwisch vor Sekandar, den großen König. Er trug eine Bettelschale
und fragte den König, ob er sie füllen könne. Sekandar sah ihn an und
dachte bei sich: „Was verlangt er von einem Herrscher wie mir? Diese kleine
Schale soll ich füllen?“ Der Derwisch fragte noch einmal: „Könnt Ihr diese
kleine Schale füllen?“ Der Herrscher sagte sofort „ja“, doch die Schale war eine
magische Schale. Hunderte, Tausende und Millionen wurden hineingeschüttet,
aber sie wollte einfach nicht voll werden, sie blieb immer halb leer, sodass immer
noch mehr hineingefüllt werden konnte. Als Sekandar anfing, sich dabei arm zu
fühlen, sagte er: „Derwisch, sag mir, bist du vielleicht ein Magier? Du hast eine
magische Schale mitgebracht; sie hat meinen ganzen Schatz verschluckt und ist
immer noch leer.“ Der Derwisch antwortete: „Sekandar, wenn man alle Schätze
der Welt hineinlegen würde, bliebe sie trotzdem leer. Wisst Ihr, was diese Schale
ist? Sie ist das Begehren der Menschen.“
Sei es Liebe oder Reichtum oder Aufmerksamkeit, sei es Dienst oder Bequemlichkeit,
Glück oder Vergnügen, sei es Rang, Stellung, Macht, Ehre oder Besitz
im Leben – je mehr ein Mensch davon erhält, desto mehr begehrt er. Er ist nie
zufrieden, er wird nie zufrieden sein. Je reicher ein Mensch wird – reicher an
allem und jedem – desto ärmer wird er, denn die Schale, die er mitgebracht hat,
die Schale des Begehrens, kann nie voll werden und wird nie ganz gefüllt sein.
Das einzige Geheimnis des Glücks besteht also darin, dass wir lernen, unsere
Privilegien im Leben wertzuschätzen. Wenn wir diesen Sinn für Wertschätzung
kultivieren, werden wir dankbar und zufrieden sein und Gott in jedem Augenblick
unseren Dank darbringen, denn Seine Gaben sind zahlreich und riesen-
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 13
Wali Ali Meyer u.a.: Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit
groß. Wenn wir sie nicht sehen, liegt das daran, dass unser Begehren unsere
Augen davor verschließt, all das zu sehen, womit das Schicksal uns gesegnet
hat. Keine Meditation, kein Studium, nichts kann dabei helfen, außer einer
Sache, und das ist, unsere Augen offen zu halten, um jede kleine Gabe im Leben
zu schätzen, jeden Anblick der Schönheit, der sich uns bietet, zu bewundern,
dankbar zu sein für jede kleine Liebe, Freundlichkeit oder Zuneigung, die uns
von Jungen oder Alten, Reichen oder Armen, Weisen oder Narren gezeigt wird.
Wenn wir die Fähigkeit, das Leben zu schätzen und es dem Danken zu widmen,
ständig weiterentwickeln, erreichen wir eine Glückseligkeit, die mit Worten
nicht erklärt werden kann und jenseits unserer Vorstellungen liegt: die Glückseligkeit,
dass wir bereits in das Reich Gottes eingetreten sind.
Hazrat Inayat Khan, Sommerschule 1924 in Suresnes
aus: Sufi Teachings. The Art of Being. Revised edition Vol. VIII, S. 252 ff
Übersetzung: H.-P. Baum
Hazrat Inayat Khan (* 5. Juli 1882 in Baroda; † 5. Februar
1927 in Neu-Delhi) ist der Gründer des Internationalen Sufi-
Ordens und der Internationalen Sufi-Bewegung. Er gilt als
Wegbereiter zahlreicher sufischer Organisationen in Europa
und den USA.
Wali Ali Meyer u. a.
Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit
Al-Hamid ist die Manifestation grenzenloser Dankbarkeit in jedes Ding und
in alle Dinge hinein. […] Betrachtet man es als Ausstrahlung aus der einen
und einzigen göttlichen Quelle, so fließt al-Hamid aus der Essenz in die Vielfalt.
In der uns geläufigen Form „Alhamdulillah“ jedoch, in der das „il“ auf Ausrichtung
hinweist, geht alle Dankbarkeit zu Allah. So fließt also die Qualität der
göttlichen Dankbarkeit auch von der Vielfalt zurück zur Essenz.
Diese zweifache Ausrichtung in der Qualität der Dankbarkeit veranschaulicht
eine Wahrheit, die zu erkennen für unser Verständnis durch das gesamte Cluster
14 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Wali Ali Meyer u.a.: Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit
von Namen hindurch erforderlich ist: Allah ist nicht nur die Vollkommenheit
einer Qualität, die alle Existenz durchdringt, Allah ist auch die Ausstrahlung
eben dieser Qualität, die alle existierenden Dinge an die grenzenlosen Quelle
zurückgeben. Auf einer tieferen Ebene sind beide ein und dasselbe.
Es gibt zwar einige wichtige, subtile Unterschiede zwischen diesen beiden
Namen, doch al-Hamid (aus der Wortwurzel hamd) ist annähernd synonym
zu ash-Shakur (shukr). Beide könnte man einfach als „göttliche Dankbarkeit“
übersetzen. Wir können jedoch sagen, dass shukr ein bestimmtes Gefühl der
Dankbarkeit ist, während hamd ein eher allgemeines Gefühl ist. Al-Hamid
manifestiert sich eher als Dankbarkeit für göttliche Qualitäten, zusammen mit
dem Gefühl, diese in Dankbarkeit an Allah zurückzugeben. Ash-Shakur manifestiert
sich eher als Dankbarkeit für ganz bestimmte Segnungen. […]
Al-Hamid und ash-Shakur weisen sicherlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede
auf. Al-Hamid strahlt aus der höchsten Quelle, Allah, in alles und in
jedes hinein aus. Ash-Shakur ist auf eine etwas andere Weise intensiv. Es strahlt
in die tiefste Ebene aus. Es reicht ganz hinein in den am meisten verhärteten
Punkt im Herzen, in die tiefste Verletzung.
Andere Worte, die aus derselben Wortwurzel wie al-Hamid gebildet werden,
haben irdische Bedeutungen: Ein intensiv loderndes Feuer und ein Tag feuriger
Hitze. Wenn wir begreifen, dass solche Schichten erweiterter Nebenbedeutungen
die reichhaltige Bedeutung aller Worte durchdringen, die aus derselben
Wortwurzel hervorgehen, dann können wir sagen, dass al-Hamid sich als eine
brennende Hitze oder als eine glühende Liebe in alle und alles in der Schöpfung
hinein manifestiert.
Ash-Shakur ist der/die/das Eine, das Dankbarkeit in den härtesten und dichtesten
Ort im Herzen hinein ausstrahlt. Der Liebende wird darum ringen, sie
dort zu finden! Einige irdische Bedeutungen der Wortwurzel von ash-Shakur
beziehen sich auf Euter oder Brüste, die sich füllen und auf die einzigartige
Empfindung, die die Mutter hat, wenn ihre Milch ausfließt. Ash-Shakur bedeutet,
dass man seine Aufmerksamkeit in Dankbarkeit auf die innere Vollkommenheit
richtet.
Das Wiederholen von Ya Shakur ist ein Gegenmittel gegen die Unzufriedenheit
mit der Unaufrichtigkeit oder der Unvollkommenheit der Welt. Dadurch
empfindest du Dankbarkeit im Herzen und richtest deinen Blick im Außen auf
die Zeichen Allahs in der Welt. In diesem Prozess, in dem Dankbarkeit manifestiert
und an Allah zurückgegeben wird, werden mehrere Stufen beschrieben.
Auf der höchsten Stufe fließt das Herz wie eine Fontäne über die Zunge, die
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 15
Wali Ali Meyer u.a.: Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit
Gliedmaßen und über alle Handlungen des dankbaren Dieners. Genau so hat
der Prophet Mohammed sich seiner Frau beschrieben: „Bin ich nicht 'abdun
shakurun (ein dankbarer Diener)?“
Hamd und shukr werden in der Rezitation vieler dhikrs miteinander verbunden.
Die Anrufung von Ya Hamid, Ya Shakur hilft, die Gedankenmuster des
niederen Selbst oder nafs zu überwinden, indem man Gott Dankbarkeit entgegenbringt.
Der Nutzen dieser Übung wird dadurch verstärkt, dass wir begreifen,
dass Gott für alles, was ist, Dankbarkeit hat. […]
Einer der interessantesten Punkte, die man an diesen beiden göttlichen Qualitäten
der Dankbarkeit untersuchen kann, ist die Frage, was sie jeweils in der
Struktur des dysfunktionalen menschlichen Egos ansprechen. Sie beziehen sich
unmittelbar auf das fortwährende Klagen und die Unzufriedenheit des nafs oder
des niederen Selbstes.
Auf einer gewissen Ebene unseres Egos erfahren wir einen Teil unserer selbst
als etwas, das ständig über alles klagt. Nichts ist jemals richtig. Immerzu finden
wir Fehler. Diese Haltung des Egos macht die Seele blind für die Wahrnehmung
des großen Überflusses und des Reichtums, der im inneren und äußeren Königreich
gegenwärtig ist. Solange das Ego in einem Muster des Beklagens gefangen
ist, ist man unfähig, der Wirklichkeit, Gott oder sich selbst große Wertschätzung
entgegenzubringen.
Wenn spirituelle Schüler wirklich zu erkennen beginnen, wie sehr sie sich ständig
beklagen, dann sind sie plötzlich in Tuchfühlung mit einer tiefen Schicht
ihrer eigenen Verwundbarkeit. Wenn man diese Schicht weiter erforscht, dann
zeigt sich, dass das Ego als solches sich um eine Verletzung herum gebildet hat,
die dadurch hervorgerufen ist, dass du von deinen Eltern nicht als der- oder
diejenige gesehen worden bist, der oder die du bist. Weil wir von denen, die uns
nahe sind, nicht als die erkannt oder gewürdigt wurden, die wir sind, haben wir
ein tiefes Verletzungsgefühl im Herzen erlitten, und durch Selbstmitleid haben
wir uns, als sich unsere Ego-Struktur entwickelt hat, in narzisstischer Weise mit
diesem verletzten Zustand identifiziert.
Wenn die spirituell Reisenden diese Ebene der narzisstischen Verletzung in
ihrem Prozess erreichen, dann kommen sie zu der Erkenntnis, wie häufig sie
sich eigentlich beklagen und auch, wie sehr dieses Sich-Beklagen die Wirklichkeit
färbt. Dann setzt eine Art von Reue ein, eine Trauer, weil sie begreifen, dass
sie sich selbst geblendet haben.
Eine solche Reue führt zu innerer Umkehr. Du spürst: „Ich bin mir selbst
16 SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit
Wali Ali Meyer u.a.: Ya Hamid, Ya Shakur: Die Namen der Dankbarkeit
ein Hindernis auf dem Weg zur Gnade. Ich bin ein Hindernis auf dem Weg
zur Realisation.“ Wird dieses erwachte Verstehen durch die Erfahrung genährt,
dass man von göttlicher Dankbarkeit berührt wird, dann hat das eine Art von
Ego-Tod zur Folge.
Das Ego löst sich auf, und ein Zustand der Sanftheit wird im heiligen Herzen
geboren. Diese Qualität ist wie Honig. Was auch immer das Universum dir bis
jetzt angetan hat, was auch immer die Menschheit getan hat: Es hat im Inneren
nur Verbitterung hervorgerufen und dir ein Hindernis in den Weg gelegt. Nun
gibt es diese wunderbare und tiefe Sanftheit, und wenn sich diese einstellt, dann
willst du einfach nach Hause zurückkehren. Du möchtest einfach schmelzen.
Und wenn sich dieses Schmelzen ereignet, dann öffnet der Honig das Herz, den
Verstand und den Körper.
Eine solche Erfahrung ist wahre Dankbarkeit. Es ist ein tiefgreifender Ego-
Tod. Das Ego löst sich auf und wird, während es zurückkehrt, einem Honigtropfen
gleich. Seine Struktur ist aus dem Getrenntsein von Gott entstanden
und aus dem Getrenntsein von der Sanftheit des Herzens. Es war zu einem
Sandkorn geworden, das Schmerz und Bitterkeit hervorruft.
Wird dieses Sandkorn erweicht, dann wird der umfassende Zustand der
Dankbarkeit mit all ihren vielen Attributen geboren. Ein Empfinden von Süße
verbreitet sich im Herzen, und das bringt die Macht der Transformation mit
sich. Es ist die wahre Essenz der Dankbarkeit. Die Dankbarkeit gilt allem, denn
alles wird als von Allah kommend erfahren.
In jedem Aspekt des Lebens empfängst du Überfluss. Der Baum gibt dir
Sauerstoff. Das Wasser ist kostbar. Es ist so, als wäre das gesamte Universum
zu einer Brust geworden, die erschaffen wurde, um dich körperlich, geistig und
emotional zu nähren. Und es ist so, als fließe die Milch aus der göttlichen Brust
in uns, und dieses wunderbare Empfinden von ash-Shakur wäscht alle Unterscheidung
zwischen Ego-Selbst und göttlicher Wirklichkeit hinweg.
aus: Wali Ali Meyer, Bilal Hyde, Faisal Muqaddam, Shabda Kahn:
Medizin des Herzens – 99 Heilungswege der Sufis. Verlag Heilbronn 2016, S. 278-282
Die Autoren haben als Gelehrte und Praktizierende jahrelang
an dem Projekt zusammengearbeitet, ein zeitgemäßes und
anspruchsvolles Handbuch über die 99 Schönen Namen Gottes
zu verfassen. Das englische Original wurde 2011 unter dem
Titel Physicians oft he Heart von Sufi Ruhaniat International
herausgegeben und die deutsche Übersetzung erschien 2016.
Nähere Angaben zu den Teammitgliedern finden sich unter
www.verlag-heilbronn.de/autorinnen
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 17
Impressum | Mitteilungen vom Verlag Heilbronn
Impressum
SIFAT – Zeitschrift für Universalen Sufismus
ISSN 1420-1712
Gegründet 1972 von Karima Sen Gupta, von 1997 - 2016 von Marita Ischtar Dvořák und
Wolfgang Huraksh Meuthen herausgegeben
Herausgeber und Redaktion:
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Claudia Nüssen claudianuessen@t-online.de 0049-(0)40 215439 (V. i. S. d. P.)
Regina Armaiti Winkler-Reber rwinklerreber@posteo.de 0049(0)731-7187642
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Heft 1 / 2024 – Einheit
Heft 3 / 2023 – Freude
Heft 2 / 2023 – Abschied
Heft 1 / 2023 – Freiheit
Heft 3 / 2022 – Frieden
Heft 2 / 2022 – Angst ausatmen – Mut einatmen
Heft 1 / 2022 – Hoffnung
Heft 3 / 2021 – Nächstenliebe
Heft 2 / 2021 – Heilung
Heft 1 / 2021 – Klangbrücken
Heft 3 / 2020 – Kraftquellen
Heft 2 / 2020 – AUFeinander achten
Heft 1 / 2020 – Die Erde lieben
Heft 3 / 2019 – Religion und Wissenschaft II
Heft 2 / 2019 – Religion und Wissenschaft
Heft 1 / 2019 – Glaube und Zweifel
Heft 3 / 2018 – Mutige Frauen – Gelebte Spiritualität
Heft 2 / 2018 – Sonderheft: Noor-un-Nisa Inayat Khan
Heft 1 / 2018 – Sehnsucht der Seele
Heft 3 / 2017 – Geschwisterlichkeit • Heft 2 / 2017 – Gerechtigkeit • Heft 1 / 2017 – Opfer u. Opfern
Heft 2 / 2016 – Religion und Liebe • Heft 1 / 2016 – Ein menschenfreundlicher Islam
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80. Todestag von Noor-un-Nisa Inayat Khan: Veranstaltungen
80. Todestag von Noor-un-Nisa Inayat Khan
Vorläufiges Programm – wird regelmäßig aktualisiert: www.verlag-heilbronn.de
Gedenkveranstaltung in Dachau (Inayatiyya)
13.09.2024: 14.00 Uhr – Ev. Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau
Universeller Gottesdienst mit Pir Zia Inayat Khan, Musik der Gruppe Tümata,
Ophiel van Leer, Joseph Achatz
Anschließende Blumenniederlegung an der Gedenktafel im Krematorium.
Gemeinsames Essen mit allen TeilnehmerInnen gegen 18 Uhr im Mathildensaal
Buchvorstellung und Lesung in München
13.09.2024: 19.30 Uhr
Veranstaltungsort: Mathildensaal, Mathildenstraße 4, 80336 München
• Grußwort Bayer. Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst – angefragt
• Pir Zia Inayat Khan: Mit-Autor der Gesamtwerke von Noor Inayat Khan
• David Harper: Neffe von Noor Inayat Khan (liest aus dem Werk)
• Ophiel van Leer (Musik)
• Signierstunde mit Pir Zia Inayat Khan
• begleitend die Ausstellung über Noor-un-Nisa Inayat Khan
Verlag Heilbronn in Koop. mit Inayatiyya DE, CH, AT, WHW Stiftung,
Sufi Ruhaniat, Buch und Mystik
Zoom Übertragung ist geplant
Treffen mit Pir Zia Inayat Khan in Dachau
14.09.2024: 9.30 Uhr, Max Mannheimer Haus, Dachau
• Meditation, Austausch, Zikr, ...
• gemeinsames Mittagessen
Gedenkveranstaltung der KZ-Gedenkstätte
Dachau für die 4 SOE-Agentinnen
14.09.2024: 14.00 Uhr im Kinosaal (diese Veranstaltung ist englischsprachig)
Buchvorstellung und Lesung in Berlin
18.09.2024 Haus für Poesie, Knaackstr. 97 (Kulturbrauerei)
• 16.00 Uhr Vernissage, Ausstellung der Illustrationen von Natsuyo Koizumi
• 18.00 Uhr Lesung und Gespräch zum Gesamtwerk von Noor Inayat Khan und
zur märchenpädagogischen Arbeit im Haus für Poesie
• mit Pir Zia Inayat Khan, Fatiha Streuff, Natsuyo Koizumi,
Karla Adiba Montasser, Verlag Heilbronn
• Signierstunde mit Pir Zia Inayat Khan
SIFAT 2 | 2024 – Dankbarkeit 59
Ash shakur
Dankbarkeit