FOCUS 33-24-Titelgeschichte_mit Cover_YUMPU
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AUSGABE <strong>33</strong> 9. August 20<strong>24</strong> € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 20<strong>24</strong> /// ADC GRAND PRIX 20<strong>24</strong><br />
Crash,<br />
Boom, Börse<br />
Die wichtigsten<br />
Antworten zum<br />
Schwarzen Montag<br />
Attacke<br />
gegen Merz<br />
Ex-Generalsekretär<br />
Czaja rechnet<br />
<strong>mit</strong> dem CDU-Chef ab<br />
ALLAHS SCHLÄFER<br />
So groß ist die islamistische Gefahr in Deutschland
Allahs Schläfer<br />
Eine neue Generation islamistischer Gewalttäter bedroht den<br />
Westen. Die jungen Terroristen lassen sich vom Hass im Netz<br />
infizieren. Sie können jederzeit zuschlagen – auch in Deutschland<br />
TEXT VON CHRISTOPH ELFLEIN, JAN-PHILIPP HEIN, ANTJE HILDEBRANDT,<br />
LUKAS KOPEREK UND MARKUS KRISCHER<br />
Fotos: dpa, REUTERS, imago images; Titel:fotos: Shutterstock<br />
Radikaler Hass<br />
Islamisten träumen von<br />
einem deutschen Gottesstaat.<br />
Der Verfassungsschutz<br />
geht von<br />
27 200 gewaltbereiten<br />
Unterstützern aus<br />
28 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong>
POLITIK<br />
Fotos: xxxxxx/<strong>FOCUS</strong>-Magazin Bxxxxx xxxxx<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong><br />
29
TITEL<br />
DDer Tag ließ den Frühling erahnen.<br />
Die Temperatur kletterte auf<br />
18 Grad. Nur wenige Wolken über<br />
Köln. Ideales Wetter für Schausteller<br />
und Besucher der Deutzer<br />
Kirmes. Das rheinische Volksfest<br />
lockte <strong>mit</strong> neuen Fahrgeschäften,<br />
etwa dem Laser-Pix, aber auch<br />
<strong>mit</strong> Klassikern wie der Wilden<br />
Maus oder einem Riesenrad.<br />
An jenem Ostermontag des vergangenen<br />
Jahres ließen sich in der<br />
gut gelaunten, lachenden Menge<br />
drei junge Männer treiben. Der<br />
Flüchtling Ata A. und seine beiden<br />
Kumpel fuhren Karussell, fotografierten<br />
die angesagten Fahrgeschäfte.<br />
Ein Selfie zeigt den Turkmenen<br />
A., einen stämmigen Typ<br />
<strong>mit</strong> kurz geschnittenem Backenbart.<br />
Er und seine beiden Begleiter<br />
grinsen, einer reckt den Zeigefinger<br />
in Richtung Kamera. Es war,<br />
da sind die Polizisten der mobilen<br />
Fahndungseinheit sicher, die<br />
den drei „Brüdern“ über Stunden<br />
unerkannt folgten, ein Grinsen<br />
der Bosheit.<br />
Ata A. und seine Begleiter gehören<br />
nach Überzeugung der<br />
Er<strong>mit</strong>tler zu einer Zelle der Terrormiliz<br />
Islamischer Staat Provinz<br />
Khorasan (ISPK). Unter dem<br />
Kommando des Turkmenen sollen<br />
sie die Deutzer Kirmes und den<br />
nahe gelegenen Kölner Dom als<br />
Attentatsziel ausgespäht haben.<br />
Ein Hinweis des niederländischen<br />
Nachrichtendienstes verhinderte<br />
wohl ein Massaker.<br />
In der vergangenen Woche be -<br />
gann in Saal 1 des Oberlandesgerichts<br />
Düsseldorf der Prozess<br />
gegen A. und sechs seiner mutmaßlichen<br />
Komplizen. Die Angeklagten,<br />
bewacht von jeweils zwei<br />
Beamten, saßen hinter Plexiglasscheiben.<br />
Per Kopfhörer verfolgten<br />
sie den Prozessauftakt. Zwei<br />
Dolmetscherteams übersetzten<br />
ins Tadschikische und ins Russische.<br />
Die Anklage wirft den sieben<br />
Männern die Bildung einer<br />
„terroristischen Vereinigung im<br />
Inland“ vor, die Planung „öffentlichkeitswirksamer<br />
Anschläge im<br />
Sinne des IS“ sowie das Spendensammeln<br />
für inhaftierte IS-Verbrecher.<br />
Menschen, die in Allahs Namen<br />
andere Menschen erschießen, erstechen,<br />
enthaupten, zerfetzen<br />
oder deren Körper und Seele verstümmeln<br />
– dieser Horror schien<br />
in den vergangenen Jahren immer<br />
weiter wegzurücken. Allenfalls<br />
erinnerten Nachrichten aus fernen<br />
Regionen daran, dass islamistisch<br />
motivierte Verbrecher immer wieder<br />
Orgien des Tötens und Quälens<br />
losbrachen.<br />
Dass jenem Heer der Verrohten<br />
und Pervertierten, die sich selbst<br />
zu Gotteskriegern adeln, auch<br />
etliche Deutsche zum Opfer fielen,<br />
blieb zwar unvergessen. Die<br />
Erinnerung aber bannte den<br />
Schrecken. Der Anschlag auf den<br />
Weihnachtsmarkt an der Berliner<br />
Gedächtniskirche, bei dem 13 Menschen<br />
starben und 67 verletzt wurden,<br />
liegt nun schon acht Jahre<br />
zurück. Die Bilder verblassen, die<br />
Angst verweht. Die Gefahr verschwindet?<br />
Die „einsamen Wölfe“ greifen an<br />
Leider nein. Die Gefahr des islamistischen<br />
Terrors ist da. Und sie<br />
ist nah. Sehr nah und sehr groß.<br />
Tausende muslimische Extremisten<br />
halten sich derzeit in Deutschland<br />
auf. Mehrere Hundert von<br />
ihnen, so urteilen die Fachleute<br />
der Polizei und des Verfassungsschutzes,<br />
sind als „Gefährder“<br />
einzustufen. Sie gelten als potenzielle<br />
Terroristen. Über digitale<br />
Plattformen sind sie <strong>mit</strong>einander<br />
vernetzt – und für die Gewaltfantasien<br />
von Fanatikern, mögen<br />
diese im Ruhrgebiet oder Tadschikistan<br />
residieren, jederzeit erreichbar.<br />
Fotos: dpa , REUTERS<br />
New York 2001<br />
Urknall des Terrors.<br />
Islamisten steuern am<br />
11. September Flugzeuge<br />
in das World Trade<br />
Center. Fast 3000 Tote<br />
30 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong>
POLITIK<br />
Was die neue Generation der<br />
Terroristen so gefährlich macht:<br />
Sie agieren autark. Sie schlagen<br />
zu, wann, wo und wie sie es wollen.<br />
Die Waffe ist zweitrangig. Die<br />
Zahl der Opfer auch. Blut soll<br />
fließen. Mit dem Blut entstehen<br />
die Bilder. Und <strong>mit</strong> den Bildern<br />
der Schrecken. Von den Fahndern<br />
werden die jungen muslimischen<br />
Schwerverbrecher „einsame Wölfe“<br />
genannt.<br />
Hohe „abstrakte“ Gefahr<br />
„Haben Sie Angst vor islamistisch<br />
motivierten Anschlägen in Deutschland?“<br />
keine<br />
Angabe<br />
weiß<br />
nicht<br />
(eher)<br />
nein<br />
1,1<br />
6,3<br />
25,5<br />
67,1<br />
%<br />
(eher)<br />
ja<br />
Quelle: Insa<br />
Bedrohung Zwei Drittel der Deutschen fürchten<br />
sich vor einem islamistischen Anschlag<br />
Zu diesen Schattenwesen gehörte<br />
der 25-jährige Afghane Sulaiman<br />
Ataee, der am 31. Mai auf<br />
dem Marktplatz in Mannheim<br />
über einen Polizisten hinterrücks<br />
herfiel und ihn <strong>mit</strong> Messerhieben<br />
ermordete.<br />
Der Flüchtling Ataee galt als unauffällig,<br />
harmlos, gut integriert.<br />
Doch im Netz hörte er Prediger,<br />
deren Hassbotschaften ihn verwandelten.<br />
In einen Radikalen. In<br />
einen von Allahs Schläfern.<br />
Wann wacht der Nächste auf?<br />
Tief besorgt zeigt sich Nordrhein-<br />
Westfalens Innenminister Herbert<br />
Reul im Gespräch <strong>mit</strong> <strong>FOCUS</strong>.<br />
(S. 36). Überall in Deutschland, so<br />
Reul, seien radikale Muslime unterwegs,<br />
die „Anschläge beabsichtigen<br />
könnten“. Auch wenn<br />
den Behörden keine konkreten<br />
Planungen für Attentate bekannt<br />
seien, so sei die „abstrakte Gefahr“<br />
sehr hoch. Von „alleinhandelnden<br />
Tätern“, so Sven Kurenbach, der<br />
beim Bundeskriminalamt die Abteilung<br />
für islamistisch motivierten<br />
Terrorismus leitet, gehe momentan<br />
eine „höhere Gefahr“ aus als von<br />
„organisationsgebundenen Tätergruppen“.<br />
Reul warnt: „Die Einzeltäter, die<br />
vor dem Computer sitzen und sich<br />
anstecken lassen, machen mir die<br />
größte Sorge.“ Seine Prognose:<br />
„Jederzeit und an jeder Stelle“<br />
könne es in Deutschland zu einem<br />
Anschlag kommen. Der Dschihadismus,<br />
so die Einschätzung des<br />
Terrorismusforschers Peter Neumann<br />
vom King’s College London,<br />
habe sich zur „größten Terrorbedrohung<br />
in Europa“ entwickelt.<br />
Auch deshalb, weil der Konflikt<br />
im Nahen Osten die Propaganda<br />
der Gewalt befeuert und die Radikalisierung<br />
vorantreibt. Die palästinensischen<br />
Terrorverbände Hisbollah<br />
und Hamas verfügen in<br />
Deutschland über Förderer und<br />
Sympathisanten, die sich bei einer<br />
weiteren Eskalation zu Attentaten<br />
aufgerufen fühlen könnten. Umso<br />
mehr, weil spektakuläre Anschläge<br />
in westlichen Ländern durchaus<br />
zur Agenda jener islamischen<br />
Macht gehören könnten, die den<br />
Kampf gegen Israel steuert. Dabei<br />
kann sich Teheran auf ein Netzwerk<br />
verlassen, das längst nach<br />
Deutschland reicht.<br />
Etwa nach Hamburg, zur Blauen<br />
Moschee an der Außenalster. Deren<br />
Betreiberverein, das Islamische<br />
Zentrum Hamburg (IZH), Bundesinnenministerin<br />
Nancy Faeser<br />
jetzt verbieten ließ. Das IZH, seit<br />
Jahrzehnten als Filiale<br />
des iranischen Regimes<br />
bekannt, habe laut Ministerium<br />
„das Bündnis <strong>mit</strong><br />
der terroristischen Hisbollah“<br />
gefördert. Zudem<br />
propagiere der Verein<br />
eine „islamistische,<br />
totalitäre Ideologie“ in<br />
Deutschland. Bereits 2022<br />
wurde der Vizechef des<br />
IZH wegen Unterstützung<br />
von Terrororganisationen<br />
ausgewiesen. Im Umfeld<br />
der Blauen Moschee, zu<br />
der bundesweit mehrere<br />
Vereine und Teilorganisationen<br />
gehörten, verharmloste<br />
man die iranische<br />
Theokratie, die israelfeindlichen<br />
Terrorismus<br />
fördert, als „Befreiungstheologie“.<br />
Dennoch war das IZH sehr lange<br />
Bestandteil des Rats der Islamischen<br />
Gemeinschaften in Hamburg<br />
(Schura), <strong>mit</strong> dem die Stadt<br />
2012 einen Staatsvertrag schloss.<br />
Erst 2022 trat das IZH bei der<br />
Schura aus. 2021 fielen dem Hamburger<br />
Verfassungsschutz iranische<br />
Dokumente in die Hände,<br />
„Seit dem<br />
7. Oktober, seit<br />
der Terroroffensive<br />
der Hamas<br />
und dem daraus<br />
resultierenden<br />
Konflikt haben<br />
wir eine riesige<br />
Mobilmachung<br />
von Islamisten“<br />
Peter Neumann, Terrorexperte<br />
Madrid 2004<br />
Al-Qaida-Anhänger zünden<br />
am 11. März zehn<br />
Bomben in vier Zügen.<br />
193 Menschen sterben,<br />
2051 werden verletzt<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong><br />
London 2005<br />
Terroristen zünden am 7. Juli während der Rushhour<br />
Bomben in U-Bahnen und einem Linienbus<br />
und töten 52 Insassen<br />
31
TITEL<br />
„Das Risiko<br />
dschihadistischer<br />
Anschläge<br />
ist so hoch wie<br />
seit Langem<br />
nicht mehr“<br />
Thomas Haldenwang,<br />
Präsident Bundesamt für<br />
Verfassungsschutz<br />
aus denen hervorgeht, dass das IZH<br />
ein „weisungsgebundener Außenposten<br />
des Teheraner Regimes“ ist.<br />
Laut der Behörde sei der Leiter des<br />
Zentrums als „geehrter Vertreter<br />
des Obersten Führers“ adressiert<br />
worden.<br />
Eine geschlossene Moschee,<br />
ein verbotener<br />
Verein, ein ausgewiesener<br />
Prediger – das mögen<br />
wichtige und richtige<br />
Maßnahmen des demokratischen<br />
Rechtsstaates<br />
gegen Hetze und Kriegspropaganda<br />
sein. Islamistische<br />
Ideologie hat aber<br />
längst andere und vielfach<br />
effektivere Wege der<br />
Verbreitung gefunden.<br />
Die neue Generation<br />
der Prediger sind Social-<br />
Media-Stars. Pop-Islamisten,<br />
die auf TikTok oder<br />
YouTube den Salafismus als Lifestyle<br />
vor Millionen Followern anpreisen.<br />
Sie haben nichts gemein<br />
<strong>mit</strong> asketischen Gelehrten, die<br />
Verzicht und Blutzoll fordern. Sie<br />
monologisieren nicht stundenlang<br />
und erheben auch nicht den<br />
Anspruch, den Koran bis in die<br />
letzte Sure zu verstehen. Auch vom<br />
frommen Lebenswandel scheinen<br />
sie weit entfernt.<br />
Im Gegenteil. Islamistische Influencer<br />
wie Dehran Asanov, Ibrahim<br />
Al-Azzazi oder Abul Baraa<br />
lassen sich bei ihren Botschaften<br />
in protzigen Mercedes-Limousinen<br />
oder beim Hanteltraining<br />
filmen, sie tragen teure Uhren,<br />
lachen und witzeln. Hey, Bruder,<br />
die Sprache ist derb und genau<br />
auf Jugendliche zugeschnitten. Im<br />
„Meiden Sie aus Angst vor Anschlägen<br />
Menschenansammlungen?“<br />
keine<br />
Angabe<br />
weiß<br />
nicht<br />
(eher)<br />
nein<br />
2,1<br />
42,9<br />
5,7<br />
%<br />
49,4<br />
Hintergrund laufen keine dschihadistischen<br />
Lieder, sondern es<br />
wummert Gangster-Rap.<br />
Sie lassen Fragen zu, diskutieren<br />
<strong>mit</strong> ihren Followern live über<br />
den Glauben. Graswurzel-Islamismus<br />
<strong>mit</strong> Glamourfaktor. Läuft das<br />
Gespräch aus dem Ruder? Egal.<br />
Das bringt Klicks.<br />
Islamisten als Internetstars<br />
(eher)<br />
ja<br />
Zurückhaltung Viele beschleicht bei Menschenansammlungen<br />
ein mulmiges Gefühl<br />
Quelle: Insa<br />
Sie suchen Verbindungen ins kriminelle<br />
Milieu, prahlen <strong>mit</strong> ihrer<br />
Kampfsporterfahrung und ihrem<br />
stahlharten Bizeps: Schau her, du<br />
kannst Salafist sein und trotzdem<br />
obercool.<br />
Über ihre Kontakte zu den Clans<br />
wie den Abou-Chakers generieren<br />
sie nicht nur Anhänger, sondern<br />
bedienen sich zur Finanzierung<br />
ihrer Aktivitäten auch<br />
immer mehr der Strategien der<br />
Organisierten Kriminalität. Laut<br />
NRW-Verfassungsschutz pflegen<br />
„insbesondere Asanov und Al-<br />
Azzizi Kontakt zu einschlägigen<br />
Szenegrößen“.<br />
Beide gelten als Stars der Lifestyle-Islamisten.<br />
Aktuell hat Asanov<br />
14 Millionen TikTok-Likes. Er<br />
ist auf allen Plattformen aktiv und<br />
tritt deutschlandweit live auf. Traditio<br />
nelle muslimische Kleidung<br />
vermeidet er, zeigt sich lieber in<br />
Basketballtrikots. Von sich behauptet<br />
er, ein Straßenkind gewesen<br />
zu sein und zeitweise „den<br />
falschen Weg“ beschritten zu<br />
haben. Aber jetzt sei das anders.<br />
Dank Allah. Er sei kein Gelehrter,<br />
aber einer von ganz unten, der die<br />
Menschen verstehe.<br />
Hinter der Fassade verbergen<br />
sich aber laut Verfassungsschutz<br />
„chauvinistisch-patriarchalische<br />
Werte und Moralvorstellungen,<br />
die <strong>mit</strong> extremistisch-salafistischen<br />
Begründungsmustern unterlegt<br />
werden“.<br />
Der Influencer Al-Azzazi dagegen<br />
pflegt durchaus den Stil eines<br />
Gelehrten. Bis Januar wurde sein<br />
YouTube-Kanal mehr als 10 Millionen<br />
Mal aufgerufen. Darin beantwortet<br />
er nach dem Muster<br />
islamischer Rechtsgutachten Fragen<br />
zum Glauben. Deutschland<br />
kann er wenig abgewinnen. Muslime,<br />
so fordert er, sollten sich in<br />
jeden Fall von den Ungläubigen,<br />
den „Kuffar“, fernhalten. Und<br />
von ihren Regeln. Ohnehin gebe<br />
es nur ein verbindliches Recht –<br />
die Scharia.<br />
Dass auch er von der deutschen<br />
Justiz wenig hält, demonstrierte<br />
jedenfalls der mutmaßliche<br />
Attentatsplaner Ata A. am ersten<br />
Prozesstag. Er grinste, lümmelte<br />
Fotos: REUTERS/Christinne Muschi, Christophe Ena/dpa, Britta Pedersen/dpa<br />
Paris 2015<br />
Islamisten stürmen<br />
am 7. Januar die<br />
Redaktion des Satiremagazins<br />
„Charlie<br />
Hebdo“, erschießen<br />
zwölf Mitarbeiter<br />
32<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong>
POLITIK<br />
sich feixend auf seinem Stuhl und<br />
schlürfte per Strohhalm Orangensaft<br />
aus einem Tetrapak.<br />
Die Gruppe der Kölner Angeklagten<br />
zeigt, wie groß die Gefahr<br />
islamistischer Anschläge in<br />
Deutschland tatsächlich ist. Auch<br />
nach dem militärischen Sieg über<br />
den Islamischen Staat. Oft verhindern<br />
nur der Zufall, die verbesserte<br />
Zusammenarbeit der Nachrichtendienste<br />
und das weltweite<br />
Mithören klandestiner Kommunikationsverbindungen<br />
ein terroristisches<br />
Verbrechen. Weiterhin<br />
wollen islamistische Gewalttäter<br />
Angst und Panik verbreiten. Ihr<br />
Ziel, den Westen und die Ungläubigen<br />
auszuradieren, haben sie<br />
nie aufgegeben.<br />
Dabei spielt es keine Rolle, welchen<br />
Namen sie sich geben. In<br />
ihren kruden Fantasien lebt der<br />
IS weiter, auch wenn das Kalifat<br />
längst Geschichte ist. Der von der<br />
Hamas am 7. Oktober des vergangenen<br />
Jahres verübte Massenmord<br />
<strong>mit</strong> 1200 Toten wirkt für viele Radikale<br />
geradezu inspirierend.<br />
Laut dem Terrorismusexperten<br />
Peter Neumann gab es seit dem<br />
7. Oktober allein in Westeuropa<br />
27 geplante Anschläge. Vier davon<br />
seien gelungen. Das bedeutet eine<br />
vierfache Steigerung im Vergleich<br />
zu den vergangenen Jahren. „Es<br />
brodelt ganz schön in der Szene“,<br />
so Neumann.<br />
Als besonders gefährlich gilt<br />
der ISPK. Neumann: „Das ist<br />
momentan die ambitionierteste<br />
und aggressivste Gruppe im IS.“<br />
Die Keimzelle der Terrorbrigaden<br />
liegt im Norden Afghanistans.<br />
Der Name „Provinz Khorasan“<br />
führt allerdings in die Irre. Es<br />
handelt sich um eine historische<br />
Anlehnung. Die Allah-Jünger<br />
herrschen über keine eigenen<br />
Landstriche, zerstreuen sich zellenartig<br />
in den Tälern und Dörfern.<br />
Ihr Hass gegen alles Westliche<br />
treibt sie an.<br />
Wenn Taliban als zu weich gelten<br />
Ihr Steinzeitglaube ist derart radikal,<br />
dass sie sogar die extremen<br />
Taliban als zu verweichlicht in<br />
ihrem Umgang <strong>mit</strong> Frauen und Ungläubigen<br />
verurteilen. Der Kampf<br />
zwischen den wieder herrschenden<br />
Mudschahedin und den IS-<br />
Anhängern wird <strong>mit</strong> rücksichtsloser<br />
Brutalität geführt. Zeitweise<br />
verübte der ISPK bis zu zehn Guerillaangriffe<br />
und über zehn Bombenanschläge<br />
in afghanischen<br />
Städten – pro Monat.<br />
Beamte wurden zerstückelt,<br />
Provinzchefs per Autobombe in<br />
die Luft gejagt. Die Taliban schlugen<br />
zurück. Sie folterten Gefangene<br />
und schlachteten sie ab. Sie<br />
wurden, so heißt es im IS-Jargon,<br />
„gemärtyrert“.<br />
In der Folge wichen die Dschihadisten<br />
nach Pakistan und weiter<br />
nach Zentralasien aus. Nach Tadschikistan,<br />
Kirgisien oder Turkmenistan.<br />
Aufgestachelt und radikalisiert<br />
sickern sie von dort aus in<br />
die Gebiete des erklärten Feindes.<br />
Nach Europa oder wieder zurück<br />
für Attentate nach Kabul.<br />
Die Kämpfer sind brutalisiert<br />
und ideologisch gefestigt. Nach<br />
Aussage eines ISPK-Kommandanten<br />
konzentrieren sich die Werber<br />
„immer auf hochbewusste Kämpfer<br />
aus Scharia-Fakultäten und<br />
Universitäten“. Nur sie<br />
brächten die nötige Moral<br />
auf, um die „Kämpfer<br />
für den Dschihad“ zu<br />
verbessern.<br />
Per Online-Kursen<br />
und über spezielle Telegram-Kanäle<br />
werden<br />
Gotteskrieger ideologisch<br />
geschult und für<br />
die Kampfeinsätze trainiert.<br />
Die Online-Militärausbildung<br />
läuft über<br />
Kanäle wie „Funun-e-<br />
Nezami“ oder „Commandos<br />
of Caliphate“.<br />
Ausbilder präsentieren<br />
Fotos und Videos vom<br />
richtigen Gebrauch der<br />
Kalaschnikows, zeigen<br />
den Einsatz von Sprengkörpern<br />
oder wie jedermann<br />
sich <strong>mit</strong> ein paar<br />
Zutaten aus dem Baumarkt<br />
eine Bombe basteln<br />
kann.<br />
Dazu gibt es Tipps,<br />
wie die Rekruten durch<br />
das Netz der Geheimdienste<br />
schlüpfen und<br />
wie sie verhindern, dass<br />
Fahnder ihr Handy abhören.<br />
Über Social Media versuchen<br />
die Terroristen, Jugendliche für<br />
den Heiligen Krieg anzusta-<br />
Milizen des Terrors<br />
Islamistische Mordbrigaden<br />
rekrutieren sich aus regionalen<br />
IS-Ablegern und Israel-Hassern<br />
ISPK<br />
Aktivste Truppe. Zentralasiaten.<br />
Kampfgebiet Afghanistan, Asien und<br />
Europa. Bis zu 6000 Mitglieder<br />
Boko Haram, JNIM, al-Shabaab<br />
Vor allem in Afrika aktiv. Niger, Mali,<br />
Sudan. Massaker an Zivilbevölkerung.<br />
Auslöser für Fluchtbewegung<br />
Hamas<br />
Ziel ist die Vernichtung Israels<br />
durch Terror. Verantwortlich für den<br />
Anschlag am 7. Oktober <strong>mit</strong> über<br />
1200 Toten. Kernland ist der Gazastreifen.<br />
Bis zu 40 000 Kämpfer<br />
Hisbollah<br />
Die schiitische „Partei Gottes“<br />
bekämpft Israel vom Libanon aus <strong>mit</strong><br />
Raketen und Attentaten. Kooperiert<br />
<strong>mit</strong> den iranischen Revolutionsgarden.<br />
Angeblich 100 000 Kämpfer<br />
Paris 2015<br />
Der IS tötet am 13. November<br />
131 Menschen.<br />
Anschlagsziele sind das<br />
Stade de France und die<br />
Konzerthalle Bataclan<br />
Berlin 2016<br />
Anis Amri rast am<br />
19. Dezember <strong>mit</strong> einem<br />
Lkw in den Weihnachtsmarkt<br />
am Breitscheidplatz.<br />
13 Tote<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong><br />
<strong>33</strong>
TITEL<br />
„Islamistische<br />
Hetzer, die<br />
geistig in der<br />
Steinzeit<br />
leben, haben<br />
in unserem<br />
Land nichts<br />
zu suchen“<br />
Nancy Faeser,<br />
Bundesinnenministerin<br />
cheln. So unterrichtete ein Tadschike<br />
aus dem fernen Hindukusch<br />
zwei Schüler aus Bremerhaven<br />
und Iserlohn im Bombenbau oder<br />
in den Regeln des perfekten<br />
Messerangriffs auf<br />
Polizeibeamte.<br />
Sprachschwierigkeiten<br />
gab es keine, der Instruktor<br />
lebte früher mal in<br />
Deutschland. Fahnder<br />
deckten das Komplott auf.<br />
Die Jungs wanderten für<br />
mehr als drei Jahre ins<br />
Gefängnis.<br />
Auch die radikale Postille<br />
„Voice of Khorasan“<br />
propagiert den Hass. Anhänger<br />
werden aufgerufen:<br />
„Führe einen Schlag<br />
durch, der ihnen die Herzen<br />
herausreißt.“ Wie und<br />
wo ist egal: <strong>mit</strong> Sprengstoff,<br />
Pistolen oder dem<br />
Messer. Bilder liefern<br />
mögliche Anschlagsziele gleich<br />
<strong>mit</strong>: feiernde Fußballfans, überfüllte<br />
Einkaufsmärkte, fröhliche Konzertbesucher.<br />
Im direkten Visier ist<br />
die liberale Ibn-Rushd-Goethe-<br />
Moschee in Berlin-Moabit.<br />
Auf einem Foto ist das Gotteshaus,<br />
das auch homosexuelle<br />
Muslime nicht aussperrt, <strong>mit</strong> Regenbogenflagge<br />
zu sehen. Für die<br />
Steinzeit-Islamisten „ein Ort der<br />
Teufelsanbetung“. Und da<strong>mit</strong> ein<br />
geeignetes Anschlagsziel für die<br />
Truppe um Ata A. Der wurde 1996<br />
in Aschgabat geboren. Wahrzeichen<br />
der turkmenischen Hauptstadt<br />
ist die Kiptschak-Moschee<br />
<strong>mit</strong> der vergoldeten Kuppel. 2013<br />
tauchte er in die Ukraine ab. Dort<br />
lernte er auch seine späteren<br />
„Wie bewerten Sie es, dass die Bundesregierung<br />
beschlossen hat, Terrorverherrlichung<br />
in sozialen Netzwerken<br />
(z. B. durch Hasskommentare) als Ausweisungsgrund<br />
zu bewerten?“<br />
keine<br />
(eher)<br />
Angabe 1,6<br />
74,1<br />
gut<br />
weiß<br />
7,6<br />
nicht<br />
5,9<br />
ist mir<br />
%<br />
egal<br />
10,7<br />
(eher)<br />
schlecht<br />
Härte Drei Viertel der Deutschen befürworten<br />
eine konsequente Abschiebepraxis<br />
Komplizen kennen. Zum Teil<br />
lebten sie in Flüchtlingsheimen,<br />
brachten sich <strong>mit</strong> Jobs am Bau<br />
durch. Immer wieder fielen sie<br />
durch Gewalttaten auf.<br />
Ata A. schlug einen Wachmann<br />
tot. Er war in Prügeleien verwickelt,<br />
in Diebstähle und Raubüberfälle<br />
<strong>mit</strong> Kalaschnikows.<br />
Zwei Tage nach Putins Angriff auf<br />
die Ukraine setzte sich die Truppe<br />
ab. In einem Skoda Fabia <strong>mit</strong><br />
dem Kennzeichen „AA 6258 XK“<br />
überquerten drei Extremisten die<br />
polnische Grenze und reisten weiter<br />
nach Deutschland.<br />
Nach Deutschland geschlichen<br />
Quelle: Insa<br />
Mit gefälschten Pässen und Papieren<br />
beantragte A. Asyl. Bei den<br />
Behörden gab er sich mal als<br />
Moldawier aus, dann als Ukrainer,<br />
russischer Student und zwischendurch<br />
als ein Turkmene auf<br />
der Flucht.<br />
Er schwadronierte von Folter<br />
und Krieg. In Deutschland klaute<br />
er weiter, prügelte sich, geriet<br />
in Verdacht, Geld für Kriminelle<br />
zu waschen. Mit seinem iPhone<br />
hielt er ständig Kontakt zu seinen<br />
über das Land verstreuten Gefolgsleuten.<br />
Die Überwachungsprotokolle<br />
der Sicherheitsbehörden, die<br />
<strong>FOCUS</strong> einsehen konnte, zeichnen<br />
ein Bild von jugendlicher<br />
Unbedarftheit, kleinkriminellem<br />
Machogehabe und religiöser Floskelei<br />
bis hin zu mörderischem<br />
Fanatismus. Ein Lehrbeispiel für<br />
die Banalität des Hasses.<br />
Die jungen Männer unterhielten<br />
sich darüber, ob Mozzarella halal<br />
und wie Hirschfleisch am besten<br />
zuzubereiten sei. Sie jammerten,<br />
dass von den „1600 Euro vom Amt“<br />
nur 400 zum Leben blieben. Und<br />
sie waren wie andere junge Männer<br />
auf Dating-Portalen unterwegs.<br />
A. nannte sich „Adam“. Er<br />
wiege 102 Kilo, habe zwei Hochschulabschlüsse,<br />
lebe gesund und<br />
treibe viel Sport. Begehrenswert<br />
war er nach seiner eigenen Überzeugung<br />
vor allem, da er den<br />
Koran auf Arabisch lesen könne.<br />
Humorvoll sei er außerdem und<br />
eifersüchtig – aber natürlich nur,<br />
wie es im Islam sein müsse. Erfolgreich<br />
gestalteten sich seine Avancen<br />
nicht. Meist waren die Frauen<br />
zu wenig Islam-affin.<br />
An der Spitze der mutmaßlichen<br />
Terrorzelle stehen aus Sicht<br />
der Er<strong>mit</strong>tler zwei Männer: In<br />
Deutschland Ata A. Er diente als<br />
Statthalter von Abdusamad A., der<br />
sich nach seiner Flucht im niederländischen<br />
Breda ansiedelte und<br />
von dort aus die Fäden zog.<br />
Fotos: Oriol Duran/dpa, REUTERS/Lisi Niesner, ddp images<br />
Barcelona 2017<br />
Der Attentäter steuert<br />
am 17. August einen Lieferwagen<br />
in eine Menschenmenge<br />
und überfährt<br />
14 Spaziergänger<br />
34 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong>
POLITIK<br />
Abdusamad stand bei den<br />
Nachrichtendiensten schon lange<br />
als Terrorpate auf der Beobachtungsliste.<br />
Bei Reisen durch Europa<br />
koordinierte er immer wieder<br />
verschiedene ISPK-Zellen, erörterte<br />
Anschlagsszenarien.<br />
In der Ukraine waren seine<br />
Pläne für einen Anschlag auf das<br />
jüdische Neujahrsfest in der Stadt<br />
Uman detailliert ausgearbeitet.<br />
Das Komplott flog knapp vor der<br />
Ausführung auf. Seinen Hass<br />
gegen die Ungläubigen entfachte<br />
der Fehlschlag nur noch mehr.<br />
Allein schon wenn er die Kinder<br />
der Kuffar sehe, spüre er das Verlangen,<br />
sie alle zu töten, ließ er<br />
seine Anhänger wissen.<br />
Die von den Fahndern auf den<br />
Mobilgeräten des Tadschiken<br />
ausgewerteten Foto- und Videolisten<br />
erwiesen sich als Handbücher<br />
für Terroristen: Anleitungen<br />
auf Russisch, wie Apartments in<br />
Wohnblöcken durch Gasexplosionen<br />
in Feuerhöllen zu verwandeln<br />
seien. Oder eine detaillierte<br />
Beschreibung über das Basteln<br />
von Bomben in Heimarbeit – einschließlich<br />
der Sicherheitsmaßnahmen,<br />
Zündvorrichtungen und<br />
Tipps, wie der Sprengstoff ganz<br />
einfach <strong>mit</strong> Haushalts<strong>mit</strong>teln zu -<br />
sammenzurühren sei.<br />
Ata und sein Führungsoffizier<br />
Abdusamad standen in permanentem<br />
Kontakt. Der „Sheik“ aus<br />
den Niederlanden gab die Befehle<br />
und musste dabei seinen jähzornigen<br />
Jünger immer wieder<br />
zügeln. Ata nutzte die Accounts<br />
@saffah_777 oder assassin_7799.<br />
Saffah bedeutet Killer oder Blutvergießer.<br />
Attentäter nennen sich<br />
häufig Assassin.<br />
Nachdem der damals 27-jährige<br />
Ata den Treueeid auf den Kalifen in<br />
seinen iCloud-Notes abgelegt hatte,<br />
konnte er es kaum noch erwarten,<br />
loszuschlagen. Schon im Juni<br />
erkundigte sich @saffah_777 bei @<br />
ummalbaraaa: „Wann führen wir<br />
hier einen Anschlag durch?“ Könne<br />
der „Sheik“ nicht im Namen des IS<br />
ein Attentat organisieren?<br />
Der bat noch um Geduld. Aber<br />
„Blutvergießer“ blieb dran. Und<br />
prophezeite im Chat: „Bald wird<br />
es eine Bombe geben, wenn Gott<br />
will.“<br />
Bis dahin peitschten sich die<br />
Zellen<strong>mit</strong>glieder gegenseitig <strong>mit</strong><br />
ihrem Hass gegen die Kuffar, die<br />
Juden, die Westler auf. Nebenbei<br />
planten sie offenbar die Anschläge<br />
und bereiteten die Beschaffung<br />
der nötigen Hilfs<strong>mit</strong>tel vor.<br />
Zugriff, als die Lage eskalierte<br />
Kalaschnikows wären in Deutschland<br />
relativ leicht zu haben – 2500<br />
Euro das Stück. Für 5000 Dollar<br />
bestellte A. bei einem ukrainischen<br />
Mittelsmann eine amerikanische<br />
Stinger-Rakete. Den Deal verhinderte<br />
nur eine russische Granate.<br />
Sie riss den Lieferanten an der<br />
Front in den Tod.<br />
LESERDEBATTE<br />
Leichter Datenzugriff<br />
für<br />
die Fahnder?<br />
Schreiben Sie uns an<br />
leserbriefe@focus-magazin.de<br />
Ata A. verschickte Fotos zum<br />
Bau von Kofferbomben im Chat.<br />
Sie zeigten übereinandergestapelte<br />
Plastikflaschen, gefüllt <strong>mit</strong> einer<br />
durchsichtigen Flüssigkeit.<br />
Eine tödliche Konstruktion<br />
<strong>mit</strong> hoher Sprengkraft.<br />
In einem Baumarkt in<br />
Gelsenkirchen schlichen<br />
die Dschihadisten in der<br />
Werkzeugabteilung herum.<br />
Begutachteten Stahlrohre,<br />
Muffen, prüften Lösungs<strong>mit</strong>tel<br />
und Chemikalien.<br />
Bei Treffen in türkischen<br />
Restaurants und<br />
Dönerbuden tauschten<br />
die Gotteskrieger ihre<br />
Erkenntnisse und Kontaktdaten<br />
<strong>mit</strong> den Glaubensbrüdern<br />
aus.<br />
Was sie nicht wussten:<br />
Jeder ihrer Schritte wurde<br />
von einem Observationsteam<br />
überwacht, jedes<br />
Treffen, ob in Berlin,<br />
Bonn, Gelsenkirchen,<br />
Düsseldorf oder Amsterdam,<br />
fotografiert, jedes<br />
Gespräch <strong>mit</strong>geschnitten,<br />
jeder Chat von Fahnder<br />
gelesen. Die Sicherheitsbehörden<br />
sammelten<br />
Beweise, verfolgten Querverbindungen.<br />
Als die Bedrohungslage<br />
eskalierte, schlugen die Spezialisten<br />
der Polizei zu: Nach einjährigen<br />
Er<strong>mit</strong>tlungen verhafteten<br />
sie die Zelle. 7<br />
Influencer des Hasses<br />
Die neue Generation der Lifestyle -<br />
Islamisten ködert Anhänger vor<br />
allem auf Social-Media-Kanälen<br />
Abul Baraa<br />
Radikaler Ex-Imam<br />
der As-Sahaba-<br />
Moschee. Jetzt Koranauslegung<br />
online<br />
Dehran Asanov<br />
Sneaker-Salafist,<br />
Prolo-Sprech,<br />
Gangster-Image. Über<br />
14 Mio. TikTok-Likes<br />
Ibrahim Al-Azzazi<br />
Beantwortet Alltagsfragen<br />
live. Pseudogelehrter.<br />
Über 10 Mio.<br />
YouTube-Aufrufe<br />
Raheem Boateng<br />
Einpeitscher bei<br />
Islamisten-Demos.<br />
Kämpft für Kalifat und<br />
Ende der Demokratie<br />
Wien 2020<br />
Bei einem Amoklauf am<br />
2. November erschießt<br />
ein IS-Sympathisant<br />
vier Menschen und verletzt<br />
23 schwer<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong><br />
Moskau 20<strong>24</strong><br />
ISPK-Killer stürmen<br />
am 22. März eine<br />
Konzerthalle, erschießen<br />
und verbrennen<br />
137 Besucher<br />
35
BLINDBLIND<br />
TITEL<br />
„Das kann jederzeit<br />
an jeder Stelle in<br />
Deutschland passieren“<br />
NRW-Innenminister Herbert Reul warnt vor Terroranschlägen von<br />
IS-Anhängern. Im Kampf gegen die „islamistischen Rattenfänger“<br />
wirft er Datenschützern vor, die Sicherheit zu gefährden, und fordert<br />
eine bessere technische Ausstattung der Polizei<br />
War es bisher Glück? Oder<br />
die gute Zusammenarbeit<br />
der Nachrichtendienste?<br />
Seit Wochen<br />
fiebern Millionen <strong>mit</strong><br />
den Sportlern: bei Europameisterschaft,<br />
Tour<br />
de France und Olympia. Hinter der Begeisterung<br />
schwelt aber auch die Angst.<br />
In ihren Propaganda-Kanälen rufen Islamisten<br />
zum tausendfachen Mord auf. Im<br />
französischen Saint-Étienne vereitelte die<br />
Polizei ein Attentat auf ein Fußballspiel.<br />
In Düsseldorf und Esslingen wurden IS-<br />
Anhänger festgenommen. Auch wenn der<br />
Islamische Staat militärisch besiegt ist: Der<br />
Hass seiner Anhänger auf den Westen<br />
bleibt. Die Gefahr für Bombenattentate<br />
oder Messerangriffe ist groß. Nordrhein-<br />
Westfalens Innenminister Herbert Reul<br />
(CDU) über den täglichen Kampf gegen die<br />
modernen Gotteskrieger.<br />
Schlafen Sie noch gut?<br />
Ja. Aber leider zu wenig.<br />
Sie sprechen von einer hohen abstrakten<br />
Gefahr durch den Islamismus. Für viele<br />
ist die Lage sogar dramatisch wie noch nie.<br />
Sie beschreiben die Lage richtig. Wir<br />
haben eine sehr große abstrakte Gefahr.<br />
Was mich ein wenig beruhigt, ist, dass wir<br />
keine konkreten Hinweise haben. Und:<br />
Ich weiß, dass unsere Sicherheitsbehörden<br />
alles tun, um vor die Lage zu kommen.<br />
Was bedeutet „große abstrakte Gefahr“?<br />
Dass wir genau wissen, dass Leute unterwegs<br />
sind, die Anschläge beabsichtigen<br />
könnten. Überall in Deutschland<br />
und in NRW sitzen Menschen, die sich<br />
radikalisiert haben. Wir wissen halt nur<br />
nicht, ob irgendeiner von denen auch mal<br />
<strong>mit</strong> einem Messer oder wo<strong>mit</strong> auch immer<br />
loszieht. Einige Gefährder haben wir im<br />
Blick. Aber wir kennen nicht alle, die vor<br />
dem Computer sitzen, den ganzen Tag im<br />
Internet surfen und sich anstecken lassen.<br />
Sie nennen das Internet einen Hochleistungsmotor<br />
für Radikalisierung.<br />
Wie steht es um die Leistungsfähigkeit<br />
der Er<strong>mit</strong>tler? Können die <strong>mit</strong>halten?<br />
Wir sind besser geworden, aber nicht gut<br />
genug.<br />
Wo müssen Sie noch nachrüsten?<br />
Es sind drei große Probleme: Zum einen<br />
fehlen uns Leute. Wir haben Schwierigkeiten,<br />
Digitalexperten zu<br />
gewinnen. Es gibt kaum<br />
welche, und die Industrie<br />
zahlt viel besser. Deshalb<br />
bilden wir selbst aus: Wir<br />
haben 50 jungen Polizisten<br />
einen Masterstudiengang<br />
Cybercops angeboten.<br />
50 sind zwar nicht viel<br />
bei rund 30 000 Islamisten<br />
in Deutschland, aber es ist<br />
besser als nix. Nur so geht<br />
es voran. Wir stochern online<br />
zwar immer noch im<br />
Nebel, aber wir finden öfter<br />
auch jemanden. Zweitens:<br />
Uns fehlt es an Technologie.<br />
Die Radikalen jedenfalls schlafen<br />
nicht und werden technisch immer besser.<br />
Das ist gerade besonders dramatisch,<br />
weil wir in finanziell schwierigen Zeiten<br />
leben. Drittens: Am dramatischsten ist die<br />
Rechtslage. Die hinkt der Zeit hinterher.<br />
Ein Beispiel: Bei den Anschlagsplänen<br />
auf den Kölner Dom zu Silvester kamen<br />
wir nur vorwärts, weil der Provider des<br />
Typen, den wir da erwischt haben, Daten<br />
„Der übereifrige<br />
deutsche Datenschutz<br />
darf nicht<br />
der Bremsklotz<br />
für die Innere<br />
Sicherheit sein“<br />
NRW-Innenminister<br />
Herbert Reul<br />
freiwillig gespeichert hatte, um Rechnungen<br />
stellen zu können. Wir brauchen bei<br />
besonders schweren Delikten die Vorratsdatenspeicherung,<br />
meinetwegen auch<br />
<strong>mit</strong> Richtervorbehalt. Ich will gar nicht,<br />
dass jeder Polizist jederzeit<br />
an alle Daten kommt.<br />
Was aber Bundesjustizminister<br />
Marco Buschmann<br />
von der Ampel da <strong>mit</strong> seinem<br />
sogenannten Quick<br />
Freeze versucht, ist allerdings<br />
Quatsch. Ich brauche<br />
Daten nicht erst, wenn<br />
was passiert ist. Ich brauche<br />
sie vorher.<br />
Sie sprechen über Technologie,<br />
die Sie sich gerade<br />
nicht leisten können.<br />
Was fehlt der Polizei?<br />
Teure Software. Als ich<br />
vor Jahren mal so was angeschafft<br />
habe, hat es sofort eine endlose<br />
Debatte gegeben, weil das eine amerikanische<br />
Firma war. Da wurde sofort über<br />
böse und dunkle Mächte orakelt. Dabei<br />
geht es um eine simple Frage: Wollen wir<br />
unserer Polizei die Möglichkeiten geben,<br />
die sie braucht? Es geht hier nicht um permanente<br />
Überwachung. Aber zwischen<br />
nichts tun und der totalen Kontrolle gibt es<br />
ne ganze Menge an Möglichkeiten dazwi-<br />
Foto: Dominik Asbach/laif<br />
36 <strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong>
BLINDBLIND POLITIK<br />
schen. Der übereifrige deutsche Datenschutz<br />
darf nicht der Bremsklotz für die<br />
Innere Sicherheit sein.<br />
In dem Fall ging es um das umstrittene<br />
Unternehmen Palantir,<br />
das eine Nähe zur CIA hat.<br />
Ja, aber manche gute technische Lösungen<br />
gibt es nur in Israel oder Amerika<br />
zu kaufen.<br />
Geht es Ihnen um die Fähigkeit, Geräte<br />
aus der Ferne knacken zu können?<br />
Ja, zum Beispiel. Bislang ist es so, dass<br />
wir nicht alles können, was wir müssten.<br />
Die Bedenkenträger im Bereich Datenschutz,<br />
die noch nicht mal eine Mehrheit<br />
in der Gesellschaft haben, sind sehr<br />
mächtig. Das hat dazu geführt, dass Verbrecher<br />
uns einen Schritt voraus sind.<br />
Welche digitalen Räume machen<br />
Ihnen besonders Sorge?<br />
Auf Plattformen wie TikTok findet die<br />
Radikalisierung ganz offen statt. Sie finden<br />
aber auch im Darknet vieles.<br />
Wie funktioniert digitale<br />
Radikalisierung?<br />
Wir sehen, dass junge Menschen, die<br />
in ihrer Persönlichkeit noch nicht besonders<br />
stabil sind und die viel Zeit im Netz<br />
verbringen, leichte Beute für islamistische<br />
Rattenfänger sind. Damals waren es<br />
Prediger, die die Leute verführten, heute<br />
sind es radikale Influencer. Die verkaufen<br />
Sicherheitschef<br />
Seit sieben Jahren ist<br />
Herbert Reul (CDU)<br />
Innenminister in NRW.<br />
Der 71-jährige Pädagoge<br />
gilt als Hardliner<br />
nicht nur erfolgreich Kosmetik, sondern<br />
auch aus ihrer Sicht Heilslehren.<br />
Man kann jedenfalls sehen, dass Terroristen<br />
jünger werden. Bei Ihnen in NRW wurden<br />
Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren festgenommen,<br />
die in Chats Anschläge geplant<br />
haben sollen. Was heißt das für die Er<strong>mit</strong>tler?<br />
Das heißt vor allem, dass wir vor großen<br />
Herausforderungen bei der Früherkennung<br />
und der Prävention stehen. Und<br />
dass wir nicht nur über die Polizei reden<br />
müssen, sondern über Elternhäuser und<br />
Schulen. Hier müssen alle einen genauen<br />
Blick haben.<br />
In Deutschland gibt es 500 Gefährder,<br />
in NRW sind es mehr als 100. Das<br />
sind viel zu viele, um sie überwachen<br />
zu können. Wie stellen Sie dennoch<br />
sicher, dass nichts passiert?<br />
Indem wir das bestmöglich organisieren.<br />
Außerdem ist Gefährder ja nicht gleich<br />
Gefährder. Wir sind schon in der Lage zu<br />
differenzieren und müssen nicht den ganzen<br />
Tag neben allen stehen.<br />
Wie priorisiert man denn da?<br />
Das will ich Ihnen ehrlicherweise gar<br />
nicht sagen.<br />
Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?<br />
Das kann man schwer beziffern. Ich arbeite<br />
auch nicht gerne <strong>mit</strong> Vermutungen.<br />
Aber die Einzeltäter, die vor dem Computer<br />
sitzen und sich anstecken lassen,<br />
machen mir die größten Sorgen.<br />
In welcher Beziehung stehen die zu<br />
Organisationen wie dem IS, dessen<br />
Ableger ISPK oder Al-Qaida?<br />
Die werden von denen angetörnt.<br />
Werden die inspiriert oder bekommen<br />
die auch konkrete Terroraufträge?<br />
So einen Fall kenne ich bislang nicht.<br />
Welche Organisationen bereiten<br />
Ihnen noch Sorgen?<br />
Die Hamas-Nachfolger und Gruppen<br />
wie „Generation Islam“, „Realität Islam“<br />
und „Muslim Interaktiv“ sind im Netz sehr<br />
offensiv. Deshalb müssen wir gegen sie<br />
vorgehen.<br />
Wegen der EM gab es Grenzkontrollen.<br />
Ist jetzt wieder alles gut?<br />
Nichts ist gut. Die abstrakte Gefahr ist<br />
weiter hoch.<br />
Müsste man dann nicht die Kontrollen<br />
aufrechterhalten?<br />
Das sind schwierige Fragen. Ich bin als<br />
glühender Europäer kein Freund davon.<br />
Aber wir können gerade nicht drauf verzichten.<br />
Besser wären natürlich strenge<br />
Kontrollen an den EU-Außengrenzen.<br />
So was sagt sich nicht leicht für ein Mitglied<br />
der Partei Adenauers und Kohls, oder?<br />
Das ist so, ja.<br />
Islamisten bedrohen besonders Juden,<br />
die sie auch als Vertreter Israels betrachten.<br />
Gibt es konkrete Bedrohungen<br />
jüdischer Einrichtungen in NRW?<br />
Da ist nichts konkret, aber wir haben das<br />
auf dem Schirm. Seit dem Hamas-Attentat<br />
auf Israel im Oktober ist die Lage allerdings<br />
besonders angespannt.<br />
Die antiisraelische Stimmung samt<br />
Sympathien für die Agenda der Hamas<br />
scheint bis hinein ins akademische und<br />
studentische Milieu verbreitet zu sein.<br />
„From the River to the Sea“ – ein Ausspruch,<br />
der das Existenzrecht Israels bestreitet –<br />
wird an deutschen Unis skandiert …<br />
Dieser Anschluss an die bürgerliche<br />
Mitte bereitet mir große Sorgen. Wir ha -<br />
ben das ja auch im Rechtsradikalismus<br />
bereits gesehen. Über den Nahostkonflikt<br />
bemerken wir so was in der Art jetzt auch<br />
beim Islamismus. Da gibt es auf einmal<br />
Zuspruch von Intellektuellen. Das vergrößert<br />
den Kreis der Unterstützer.<br />
Sind die islamischen Organisationen<br />
ein guter Partner bei der Bekämpfung<br />
von Islamismus?<br />
Das ist sehr unterschiedlich.<br />
Können Sie positive Beispiele nennen?<br />
Nein.<br />
Umgedreht?<br />
Auch nicht.<br />
Dieser Tage wird der Moscheeverband Ditib<br />
40 Jahre alt. Wo stehen denn Erdogans<br />
Imame, wenn wir über Islamismus reden?<br />
Das ist leider irre kompliziert, und ich<br />
kann es nicht genau sagen. Da agieren<br />
einzelne Vereine auch teilweise unterschiedlich.<br />
Das muss vielleicht auch nicht<br />
unbedingt im <strong>FOCUS</strong> stehen.<br />
Viele Islamisten sitzen im Knast,<br />
darunter zahlreiche IS-Rückkehrer.<br />
Müssen wir nicht <strong>mit</strong> dem Schlimmsten<br />
rechnen, wenn die freikommen?<br />
Da muss man sehr aufpassen, ja. Da sind<br />
unsere Leute auch sofort am Ball. Leider<br />
ist es häufig so, dass die Haft sie noch weiter<br />
radikalisiert.<br />
Für wie wahrscheinlich halten<br />
Sie einen Terroranschlag?<br />
Das kann jederzeit an jeder Stelle in<br />
Deutschland passieren. 7<br />
INTERVIEW: JAN-PHILIPP HEIN<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>33</strong>/20<strong>24</strong><br />
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