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ROT (Leseprobe)

Leseprobe zu: ROT – Farben der Kunst – Von Pompeji bis Rothko Autorin: Hayley Edwards-Dujardin 112 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.70 | CHF 30 ISBN 978-3-03876-287-4 (Midas Collection) Keine andere Farbe ist so präsent und hat eine derart intensive Wirkung wie Rot. Es ist die Farbe der Liebenden und die Farbe von höchsten Gefühlen: von Liebe und Leidenschaft, aber auch die Farbe des Blutes, des Kampfes und des Feuers. Rot ist stolz und glänzend, aber auch ambivalent. Wir finden feierliche Kardinäle, karminrote Frauen, blutbefleckte Heilige und scharlachrote Damen - eine Mischung aus allem, was die Menschheit ausmacht. Das Rot von Rothko ist spirituell, das von Delance ist politisch. Bei Boldini ist es festlich, bei Chardin genussvoll. Dieses Buch ist eine unterhaltsame und kenntnisreiche Einladung, diese Farbe anhand von 40 Beispielen aus der Kunst zu entdecken. Eine präzise Auswahl an bekannten und unerwarteten Werken, angereichert mit Chronologien, Karten und Grafiken sowie zahlreichen Infoboxen mit Anekdoten und Hintergrundinfos

Leseprobe zu:
ROT – Farben der Kunst – Von Pompeji bis Rothko
Autorin: Hayley Edwards-Dujardin
112 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.70 | CHF 30
ISBN 978-3-03876-287-4 (Midas Collection)

Keine andere Farbe ist so präsent und hat eine derart intensive Wirkung wie Rot. Es ist die Farbe der Liebenden und die Farbe von höchsten Gefühlen: von Liebe und Leidenschaft, aber auch die Farbe des Blutes, des Kampfes und des Feuers.

Rot ist stolz und glänzend, aber auch ambivalent. Wir finden feierliche Kardinäle, karminrote Frauen, blutbefleckte Heilige und scharlachrote Damen - eine Mischung aus allem, was die Menschheit ausmacht. Das Rot von Rothko ist spirituell, das von Delance ist politisch. Bei Boldini ist es festlich, bei Chardin genussvoll.

Dieses Buch ist eine unterhaltsame und kenntnisreiche Einladung, diese Farbe anhand von 40 Beispielen aus der Kunst zu entdecken. Eine präzise Auswahl an bekannten und unerwarteten Werken, angereichert mit Chronologien, Karten und Grafiken sowie zahlreichen Infoboxen mit Anekdoten und Hintergrundinfos

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<strong>ROT</strong><br />

VON POMPEJI<br />

BIS <strong>ROT</strong>HKO<br />

Hayley Edwards-Dujardin<br />

MIDAS


Wenn ich kein Blau habe,<br />

nehme ich Rot.<br />

Pablo Picasso


Rot in der Kunst<br />

Übelriechendes<br />

Purpur<br />

Es heißt, Kleopatra habe<br />

eine Leidenschaft für<br />

Purpur gehabt. Sogar die<br />

Segel ihrer Schiffe und<br />

ihre Möbel trugen diesen<br />

Farbton. Bei seinem Besuch<br />

im Jahr 48 v. Chr. soll<br />

Julius Cäsar das Pigment<br />

entdeckt und zur kaiserlichen<br />

Farbe gemacht haben.<br />

Zum Einfärben einer<br />

römischen Toga braucht<br />

man 250.000 Purpurschnecken<br />

(Murex). Der<br />

Herstellungsprozess ist<br />

sehr geruchsintensiv, und<br />

so sind Kleider, die nach<br />

Fisch riechen, ironischerweise<br />

ein Zeichen für<br />

Reichtum!<br />

Der Zaubertrank<br />

für Krapprot<br />

Im 17. Jahrhundert<br />

verwendet die Königliche<br />

Gobelin-Manufaktur<br />

Krapprot. Die Herstellung<br />

ist ziemlich unappetitlich:<br />

Der gekochte Stoff wird<br />

mit Mist und ranzigem<br />

Rizinusöl bestrichen und<br />

dann in Natriumkarbonat<br />

getränkt. Durch Zugabe<br />

von Ochsenblut entsteht<br />

Krapprot.<br />

Am Anfang war die Farbe Rot. Das Pigment ist in<br />

unseren Kulturen und Traditionen tief verwurzelt. Rot<br />

nährt unsere intimsten Gefühle und Neurosen. Angeblich<br />

ist es sogar der Farbton, den das menschliche Auge<br />

als Erstes wahrnimmt.<br />

Primärfarbe<br />

Rot sei die erste Farbe, die einen Namen erhalten hat. In<br />

einigen alten Sprachen sind die Wörter »Rot« und »Farbe«<br />

sogar synonym. Seit Anbeginn der Menschheit verbrüdert<br />

sich der Mensch mit diesem Farbton – er denkt an Feuer<br />

und Blut und bemalt damit Höhlenwände. Schon bald wird<br />

Rot zu einem wesentlichen, wenn auch widersprüchlichen<br />

Begleiter, denn es symbolisiert alles: vom strahlenden<br />

Leben bis zur Trauer, von den Ursprüngen bis zu den<br />

Bestattungsriten.<br />

Das Spiel der Gegensätze<br />

Auch in den Religionen verkörpert Rot seit der Antike<br />

sowohl das Gute als auch das Böse. Diese Ambivalenz<br />

bestätigt sich im Katholizismus, der in diesem Farbton<br />

spirituelle Eigenschaften sieht – das Opfer Christi, verkörpert<br />

durch die Passion –, aber auch die Manifestation des<br />

Teufels und der Sexualität. Von der göttlichen Liebe zur<br />

Sünde des Fleisches ist es nur ein kleiner Schritt. Die<br />

jeweiligen Machthaber verstärken dieses Paradoxon. Als<br />

stolze und strahlende Farbe wird Rot zum kaiserlichen<br />

Purpur, aber es stigmatisiert auch diejenigen, die als<br />

unmoralisch gelten, wie Prostituierte, die buchstäblich<br />

gezwungen werden, sich durch die Farbe Rot zu erkennen<br />

zu geben. So finden wir Könige mit roten Schuhsohlen,<br />

feierliche Kardinäle, Techtelmechtel mit Paaren in karminroten<br />

Gewändern, blutbefleckte Heilige und elegante<br />

Damen in scharlachroter Kleidung: ein Querschnitt durch<br />

alles, was die Menschheit ausmacht.<br />

6


Erste Spuren der<br />

Verwendung von Ocker<br />

Mythische Entdeckung<br />

des aus Schnecken<br />

gewonnenen Purpurs<br />

3. Jahrtausend v. Chr. 1400 v. Chr. Fresken von Pompeji<br />

mit Zinnober und<br />

Mennige*<br />

Erste Sepia-Tuschezeichnung<br />

in China<br />

Erste chinesische<br />

Lacke mit synthetischem<br />

Zinnober<br />

ca. 4. Jahrhundert v. Chr.<br />

6. Jahrhundert 7. Jahrhundert<br />

Verwendung von<br />

Bleimennige und Beschreibung<br />

seiner Herstellung<br />

Beschreibung des präkolumbianischen<br />

Rots, das aus<br />

Cochenilleläusen gewonnen<br />

wird, die an Kakteen sitzen<br />

Erste Verwendung von<br />

Rötelstiften; synthetisches<br />

Zinnoberrot ist sehr beliebt<br />

11. Jahrhundert<br />

um 1520<br />

Alizarin: erstes<br />

chemisches Pigment<br />

(durch Graebe und<br />

Liebermann)<br />

16. Jahrhundert<br />

Forschungen von<br />

Michel-Eugène Chevreul<br />

Erstes kommerzielles<br />

Patent von bordeauxrotem<br />

Farbstoff<br />

1869<br />

Kommerzielle<br />

Nutzung von<br />

Cadmiumrot<br />

um 1830<br />

Erste Sepia-<br />

Fotografien<br />

1878 1910 1920<br />

* Ältestes künstlich hergestelltes Rotpigment.<br />

7


Die haben doch nichts drauf … nur ich habe<br />

Temperament, nur ich weiß, wie man Rot macht.<br />

Paul Cézanne<br />

Alles in Nuancen<br />

Wieso Rot und<br />

Schwarz?<br />

1830 veröffentlicht<br />

Stendhal seinen Roman<br />

Rot und Schwarz, der<br />

ursprünglich Julien heißt.<br />

Warum ändert er den<br />

Titel? Julien Sorel, die<br />

Hauptperson, kann sich<br />

nicht entscheiden, ob er<br />

zur Armee gehen, deren<br />

Rot und Weiß an Napoleon<br />

erinnert, oder sich dem<br />

schwarzgekleideten Klerus<br />

anschließen soll. Andere<br />

sehen im Rot die verführerischen<br />

karminroten<br />

Lippen und im Schwarz die<br />

Gier nach Erfolg und dem<br />

Heldentod. So viele Interpretationen<br />

wie Leser ...<br />

Rot hält Einzug bei Festen und im Theater.<br />

Der Rausch und die Sinnlichkeit, immer wiederkehrend,<br />

eine ewige Melodie, von Tizians sinnlichen Akten bis zu<br />

den Gemälden der Symbolisten. War die Revolution<br />

vielleicht nur der letzte Schritt, das letzte Emblem, das<br />

bislang ignoriert wurde? Die Ironie der Geschichte will,<br />

dass Ende des 18. Jahrhunderts die rote Fahne zum Symbol<br />

der Unterdrückung und des Aufruhrs wird und gleichzeitig<br />

auf Nationalflaggen Vorrang behält.<br />

Rot steht gleichermaßen für Befreiung wie Unterwerfung<br />

– so führt etwa ein gewisser Bonaparte die Farbe<br />

Purpur wieder ein, als er sich zum Kaiser macht. Ende des<br />

19. Jahrhunderts beginnen die Frauen, karminrote Kleider<br />

zu tragen, wobei die Gesellschaft sie auf ihre Rolle als<br />

häusliches oder erotisches Objekt beschränkt. Man lässt<br />

sich im Kabarett betäuben, während die Arbeiter Gerechtigkeit<br />

einfordern und andere, wie Gauguin, einen mystischen<br />

Blick auf die Welt entwickeln.<br />

Vom Leben zum Tod<br />

Die Farben von Eluard<br />

»Rouge amoureuse«<br />

ist der Titel eines<br />

Gedichts aus dem Kapitel<br />

»Premièrement« der<br />

Sammlung L’Amour, la<br />

poésie (1929). Im selben<br />

Kapitel spricht Paul Eluard<br />

auch von der Erde, die<br />

»blau ist wie eine Orange«.<br />

Moderne und zeitgenössische Künstler verzichten nicht<br />

auf Rot, sondern nutzen die Farbe interessanterweise wie<br />

einen Doppelgänger ihrer Intimität. Rot wird abstrahiert<br />

und verkörpert das gesamte Spektrum menschlicher<br />

Gefühle: Verlangen, Angst, Gewalt, aber seltsamerweise<br />

auch eine Form der Ruhe. Zudem steht Rot für alles, was<br />

wir nicht unter Kontrolle haben: Liebes- und Fleischeslust,<br />

Zorn, Körpersubstanzen, gesellschaftliche Unruhen oder<br />

die entfesselte Natur. Am Anfang war Rot, die archetypische<br />

Farbe … am Ende auch.<br />

Kardinal Richelieu bei der Belagerung<br />

von La Rochelle, Ausschnitt aus einem<br />

Gemälde von Henri-Paul Motte (1881).<br />

Dieses Rot, das sogenannte »Kardinalspurpur«,<br />

ist seit 1245 die offizielle Farbe<br />

der Kardinäle.<br />

8


9


Geografische Vorkommen<br />

Herkunft der wichtigsten<br />

natürlichen Pigmente<br />

Tierische Pigmente<br />

Kermes (Kermes-Schildlaus)<br />

Südostfrankreich und Spanien<br />

Echtes Karmin (Cochenille-<br />

Schildlaus)<br />

Mexiko, Peru<br />

Purpur (Purpurschnecke)<br />

Nordafrika, Griechenland,<br />

Mesopotamien<br />

Sepia (Tintenfisch)<br />

Adria, Ärmelkanal<br />

Pflanzliche Pigmente<br />

Brasilholz<br />

Brasilien<br />

Krapp<br />

Mittelmeerbecken<br />

Mineralische Pigmente<br />

Mennige (hochgiftiges<br />

Bleioxid)<br />

China, Indien, Persien,<br />

Spanien<br />

Zinnober (Quecksilbersulfid)<br />

Frankreich, Türkei, Israel,<br />

Spanien, China, Balkan,<br />

Ägypten, Griechenland, Peru,<br />

Mexiko<br />

Hämatit (Eisenoxid)<br />

Mittelmeerbecken<br />

Ocker<br />

Frankreich<br />

10


Ein hündischer Fund<br />

Die Murex brandaris oder<br />

Herkuleskeule lieferte<br />

das für die Herstellung<br />

des kaiserlichen Purpurs<br />

benötigte Färbemittel. Der<br />

Legende nach war es der<br />

Hund des Herkules, der<br />

am Strand von Tyros (im<br />

heutigen Libanon) in eine<br />

solche Muschel biss und so<br />

den Purpur entdeckte.<br />

Synthetische Pigmente<br />

Alizarin<br />

Deutschland<br />

Zinnober<br />

China, Ägypten<br />

Cadmiumpurpur<br />

Deutschland<br />

11


Die Farbpalette<br />

Die neun Schattierungen von Rot<br />

Farben werden anhand von Farbtafeln klassifiziert, von<br />

denen es so viele gibt, dass man sich darin verlieren<br />

kann. Zu den bekanntesten gehören die von Michel-<br />

Eugène Chevreul und die des amerikanischen Herstellers<br />

Pantone. Allerdings lassen solche Systeme wenig<br />

Raum für Fantasie – frustrierend angesichts einer Farbe,<br />

die so stark emotional aufgeladen ist wie Rot. Wir<br />

wollen uns also von diesen numerischen Kodierungen<br />

lösen und uns neun Nuancen mit bildhafteren Bezeichnungen<br />

anschauen.<br />

USA<br />

Farbsystem von<br />

Albert Henry<br />

Munsell<br />

Mehr als<br />

1.500 Farben<br />

Rot wie …<br />

Krapprot (frz. Garance)<br />

wie die Hauptfigur Garance<br />

in dem Film Kinder des<br />

Olymp von Marcel Carné<br />

(1945)<br />

Scharlachrot<br />

wie das Rot als Zeichen<br />

der Fruchtbarkeit im<br />

Roman Der Report der<br />

Magd von Margret Atwood<br />

Magenta<br />

wie die Schlacht<br />

bei Magenta unter<br />

Napoleon III. (1859).<br />

Frankreich<br />

Farbkreis von Michel-<br />

Eugène Chevreul<br />

72 Grundfarben für<br />

14.400 Farbtöne<br />

Schweden<br />

Das »Natural<br />

Color System«<br />

1.950 Farben<br />

Deutschland<br />

RAL-System<br />

213 Grundfarben für<br />

1.825 Farbtöne<br />

USA<br />

Pantone-<br />

Farbfächer<br />

11 Grundfarben für<br />

1.114 Farbtöne<br />

1861 1898–1905 1920 1927 1963<br />

12


Krapprot<br />

Schon die alten Ägypter gewannen aus<br />

den Wurzeln der Krapppflanze einen<br />

roten Farbstoff. Sein synthetisches<br />

Derivat, Alizarin, war das erste chemische<br />

Rotpigment, das von den deutschen<br />

Chemikern Carl Graebe und Carl Liebermann<br />

im Jahr 1869 gewonnen wurde.<br />

> Georges de La Tour (S. 32)<br />

> Émile Levy (S. 82)<br />

Scharlachrot<br />

Dieser Rotton wird mit der Kermes-<br />

Schildlaus (Mittelmeerschildlaus) in<br />

Verbindung gebracht, einem Schädling,<br />

der auf Eichen lebt. Man gewinnt das<br />

Pigment durch Trocknen und Zermahlen<br />

des Insekts. Es wurde schon in prähistorischer<br />

Zeit verwendet.<br />

> Rogier van der Weyden (S. 24)<br />

> Chiharu Shiota (S. 104)<br />

Magenta<br />

Magenta wird aus dem chemischen Pigment<br />

Fuchsin hergestellt. Im Vergleich zum<br />

ursprünglichen Rosa hat Magenta einen<br />

rötlicheren Ton. Der Name »Magenta« ist<br />

eine kommerzielle Bezeichnung und entspricht<br />

keiner genauen Farbmetrik.<br />

> Philippe de Champaigne (S. 34)<br />

> Otto Dix (S. 46)<br />

Zinnoberrot<br />

Zinnoberrot hat einen mineralischen<br />

Ursprung: den Zinnober. Es fasziniert<br />

die Menschen schon seit prähistorischen<br />

Zeiten, doch erst die Römer gaben ihm<br />

eine künstlerische Bestimmung. Eine<br />

synthetische Form von Zinnober war<br />

bereits im alten China bekannt.<br />

> Mysterienvilla (S. 20)<br />

> František Kupka (S. 94)<br />

Karminrot<br />

Dieses Rot stammt von der Cochenille-<br />

Schildlaus, die auf Opuntien (einer Kakteenart)<br />

lebt. Es wurde in Südamerika<br />

verwendet, hier im 15. Jahrhundert von<br />

den spanischen Kolonisatoren entdeckt<br />

und verdrängte den teureren Kermes.<br />

> Jan van Eyck (S. 22)<br />

> Tizian (S. 30)<br />

Ockerrot<br />

Das einfache Ockerrot ist eine durch<br />

Eisenoxid gefärbte Tonerde, die bereits<br />

in prähistorischer Zeit verwendet wurde.<br />

Ocker ist funktional und prophylaktisch<br />

und überdauert die Zeit. Roter Ocker kann<br />

auch erzeugt werden, indem man gelben<br />

Ocker bei 700 °C brennt.<br />

> Cueva de las Manos (S. 16)<br />

> Jean-Jacques Henner (S. 80)<br />

Tomatenrot<br />

Es war Michel-Eugène Chevreul, der die<br />

Beziehungen der Farben zueinander erforschte<br />

und die Farbtöne mit bekannten<br />

Referenzen verknüpfte. So definiert er<br />

das Rot-Orange als Tomatenrot.<br />

> Carolus-Duran (S. 86)<br />

> Giovanni Boldini (S. 88)<br />

Purpur<br />

Schon in der Antike schätzten die römischen<br />

Kaiser die Farbe Purpur. Die Farbe<br />

war so beliebt, dass sie zum Symbol der<br />

Macht wurde – eine Zuschreibung, die bis<br />

heute bei Kardinälen zu finden ist.<br />

> Meister mit dem gestickten Laub (S. 62)<br />

> Joshua Reynolds (S. 78)<br />

Bordeauxrot<br />

Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff<br />

»Bordeaux« als Bezeichnung für ein dunkles,<br />

ins Violette gehende Rot in den Sprachgebrauch<br />

aufgenommen. Der Name leitet<br />

sich von den Weinen aus Bordeaux ab, mit<br />

denen man diesen Farbton verbindet.<br />

> Paul Gauguin (S. 38)<br />

> Jean-Marc Nattier (S. 72)<br />

13


14


IM RAMPENLICHT<br />

Cueva de las Manos<br />

Attische Schale in Rotfiguren-Technik<br />

Mysterienvilla<br />

Mann mit rotem Turban<br />

Passionsdiptychon<br />

Bildnis einer Dame in rotem Kleid<br />

Venus mit Orgelspieler und<br />

kleinem Hund<br />

Hiob und seine Frau<br />

Dreifaches Porträt von<br />

Kardinal Richelieu<br />

Napoleon Bonaparte als Erster Konsul<br />

Arearea – Der rote Hund<br />

Das rote Atelier<br />

Liebespaar<br />

Bildnis der Journalistin Sylvia<br />

von Harden<br />

Komposition B (Nr. II) mit Rot<br />

Ohne Titel<br />

Concetto spaziale, attese<br />

Red Dots<br />

15


IM RAMPENLICHT<br />

Cueva de las Manos<br />

11000 bis 7500 v. Chr.<br />

Prähistorische<br />

Farben<br />

Prähistorische Kunst nutzt<br />

für ihre Ausdrucksformen<br />

einige seltene Pigmente:<br />

die Ockerfarben Gelb<br />

und Rot sowie Schwarz.<br />

Zu Pulver zermahlen,<br />

werden diese Farben<br />

mit Wasser (manchmal<br />

auch mit Speichel oder<br />

Urin) angerührt und mit<br />

dem Finger oder einem<br />

Stück Leder aufgetragen.<br />

Werden sie mit dem Mund<br />

aufgesprüht, ergibt sich<br />

eine Art dunstiger Effekt.<br />

ZEITACHSE<br />

Es wird handgreiflich …<br />

1508<br />

Michelangelo,<br />

Die Erschaffung<br />

Adams<br />

1823<br />

Auguste Rodin,<br />

Hände der<br />

Liebenden<br />

1953<br />

Giorgio<br />

De Chirico,<br />

Metaphysisches<br />

Interieur mit der<br />

Hand Davids<br />

Albrecht Dürer,<br />

Betende Hände<br />

1512<br />

Théodore<br />

Géricault,<br />

Die linke Hand<br />

1904<br />

Pablo Picasso,<br />

Mains au poisson<br />

1968<br />

Cueva de las Manos<br />

11000 bis 7500 v. Chr.<br />

Höhlenmalerei, Patagonien<br />

Hand in Hand<br />

Die Farbe Rot ist schon früh in der Geschichte der<br />

Menschheit präsent. Bereits in prähistorischen Zeiten<br />

verwendeten unsere Vorfahren roten Ocker, um ihre<br />

Körper zu Lebzeiten zu schmücken oder nach dem Tod<br />

im Jenseits zu schützen. Später wird Ocker in der<br />

Höhlenmalerei verwendet.<br />

Die Cueva de las Manos (»Höhle der Hände«) im argentinischen<br />

Patagonien enthält eine Reihe von Felszeichnungen,<br />

deren älteste Darstellungen 13.000 Jahre zurückreichen.<br />

Man entdeckte Jagdszenen und Tierdarstellungen,<br />

vor allem von Guanakos, wilden Kamelen, die mit den<br />

Lamas verwandt sind. Ihren Namen verdankt sie jedoch<br />

ihren erstaunlichsten Darstellungen: einer Vielzahl von<br />

Händen – insgesamt 829 – in Negativform, wie mit einer<br />

Schablone ausgeführt. Es handelt sich fast ausnahmslos<br />

um linke Hände, die vermutlich vor über 10.000 Jahren<br />

gemalt wurden. Während wir eher mit der Darstellung<br />

mythischer Tiere an Höhlenwänden vertraut sind, überraschen<br />

diese Bilder durch ihre Motive: bewegenden<br />

Zeugnissen der Menschheit.<br />

Die Bedeutung dieser Zeichnungen ist unbekannt. Vielleicht<br />

ist es eine Initiationszeremonie, ein Übergang ins<br />

Erwachsensein – es scheint sich nur um Männerhände zu<br />

handeln. Es könnte aber auch ein Ritual sein, mit dem die<br />

Menschen um Jagdglück baten. Dies ist nicht die einzige<br />

prähistorische Stätte, an der solche Muster zu sehen sind,<br />

aber sie ist der wichtigste Höhlenkomplex.<br />

Was für eine Komposition! Eine Verkörperung des<br />

ursprünglichen Lebens. Stellen Sie sich vor, wie aufregend<br />

es sein muss, vor dieser Wand zu stehen, die vom Leben<br />

unserer Vorfahren zeugt. Verletzliche Menschen, die in<br />

einer Höhle Schutz suchen und uns hier ein rührendes<br />

Zeugnis ihres Weges hinterlassen, wie eine Hand, die zum<br />

Gruß winkt und uns gleichsam etwas übergibt. Eine<br />

Ge schichte von Mensch zu Mensch, die immer weiter<br />

geschrieben wird.<br />

16


17


IM RAMPENLICHT<br />

Attische Schale in Rotfiguren-Technik<br />

um 500 v. Chr.<br />

Eine Frage des<br />

Brandes<br />

Der Ton wird vor der<br />

Bearbeitung auf der<br />

Töpferscheibe mit rotem<br />

Ocker gemischt. Nach<br />

dem Trocknen zeichnet<br />

der Künstler sein Muster<br />

vor und trägt dann mit<br />

dem Pinsel eine braune<br />

Tonglasur auf das Muster<br />

oder den Hintergrund auf.<br />

Beim Brennen entwickeln<br />

sich die unterschiedlichen<br />

Farben: Rot entsteht durch<br />

oxidierendes Brennen bei<br />

800 °C, Schwarz in reduzierender<br />

Atmosphäre in<br />

einem Ofen bei 950 °C,<br />

der die Keramik schwärzt,<br />

bevor der Töpfer den<br />

Schornstein zur Belüftung<br />

öffnet. Durch diese<br />

Abkühlung werden die<br />

Bereiche ohne Glasur<br />

rot gefärbt.<br />

Schwarze Figuren<br />

Vor der Erfindung der<br />

Rotfiguren-Technik wurde<br />

der Maler der »schwarzen<br />

Figuren« zum Graveur. Er<br />

ritzte Details mit einem<br />

Griffel in schwarz bemalte<br />

Silhouetten ein. Mit der<br />

neuen Technik kann er sie<br />

tatsächlich mit einem Pinsel<br />

malen und viel exakter<br />

arbeiten.<br />

Rot und Schwarz<br />

Die sogenannte »rotfigurige« Keramik stammt hauptsächlich<br />

aus Athen, ist aber auch über die Grenzen<br />

Westgriechenlands hinaus sehr erfolgreich. Die Virtuosität<br />

der Muster und Formen ist konkurrenzlos.<br />

Diese ungewöhnlich große Schale ist in der Mitte mit<br />

einem Medaillon verziert, das zeigt, wie die auf einem<br />

eleganten Thron sitzende Göttin Amphitrite den Helden<br />

Theseus empfängt, der von Triton und einigen Delfinen<br />

gestützt wird.<br />

In der Mitte steht majestätisch Athene mit ihrem Speer<br />

und ihrer Eule. Alles ist mit großer Sorgfalt ausgeführt, von<br />

den Haaren der Figuren über die Federn der Eule bis hin<br />

zu den typisch griechischen Kleidungsstücken – Chiton<br />

und Himation – mit ihren Falten und Drapierungen.<br />

Die Schale wurde in der Werkstatt des Töpfers Euphronios<br />

gefertigt, während die Malerei von Onesimos ausgeführt<br />

wurde, der sich in seinen Studien mit Körpern und<br />

Bewegung beschäftigte. Die Geschichte des Theseus<br />

findet sich auch in anderen Werken, in denen er dessen<br />

Heldentaten gekonnt illustrierte.<br />

Der rotfigurige Stil erlaubte es den Künstlern, ihre Striche<br />

im Vergleich zur früheren »schwarzfigurigen« Technik<br />

flexibler und exakter zu positionieren. Bei der Rotfiguren-<br />

Technik bleiben die Motive im Rot des verwendeten Tons,<br />

während der Hintergrund schwarz glasiert wird. In der<br />

Komposition dominiert der Mensch und mit ihm ein<br />

großer Sinn für Realismus von Gesichtern und Körpern,<br />

für Bewegung und für Volumen in der detaillierten Beschreibung<br />

von Motiven und Emotionen – eine stilistische<br />

Entwicklung, die in der klassischen Bildhauerei ihr Gegenstück<br />

finden wird.<br />

18


Attische Schale in Rotfiguren-Technik<br />

um 500 v. Chr.<br />

Keramik<br />

Louvre, Paris<br />

19


IM RAMPENLICHT<br />

Mysterienvilla<br />

1. Jahrhundert v. Chr.<br />

Ein neuer Farbton<br />

Und wenn die Mysterienvilla<br />

uns einen Streich<br />

spielt? Einigen Experten<br />

zufolge hatten ihre Mauern<br />

in Wirklichkeit ursprünglich<br />

einen gelben Ockerton.<br />

Ausdünstungen von Gasen<br />

aus dem Vulkan sowie das<br />

Vorhandensein von Blei<br />

und Quecksilber in den<br />

Fresken hätten angeblich<br />

die gelben Pigmente<br />

rot werden lassen. Ein<br />

weiteres Rätsel, das sich<br />

um diese berühmte Villa<br />

rankt.<br />

Es bleiben Zweifel<br />

Der Name der Mysterienvilla geht auf ihre Fresken<br />

zurück. Dieses majestätische Haus wurde im ersten<br />

Jahrhundert v. Chr. in Pompeji inmitten eines reichen<br />

Weinguts errichtet. Bei den Ausgrabungen im Jahr 1909<br />

traten geheimnisvolle Wandmalereien zutage.<br />

An den Wänden dessen, was möglicherweise ein Triclinium<br />

ist, ein Speisesaal reicher Römer, zeigen sich rätselhafte<br />

Szenen vor einem leuchtend roten Hintergrund, der<br />

vermutlich mit Zinnober gemalt wurde, dem von den<br />

Römern so geschätzten Quecksilberpigment. Die Kalkfresken<br />

stellen vor allem weibliche Personen dar. Begleitet<br />

werden sie von mythologischen Figuren, geflügelten<br />

Wesen, die Putten ähneln, berauschten Faunen ... und<br />

ebenso vielen faszinierenden Objekten wie Masken oder<br />

Musikinstrumenten. Wenn wir daran zweifeln, dass es sich<br />

um ein Esszimmer handelt, dann deshalb, weil uns die<br />

Bedeutung dieser Gemälde unklar ist. Was stellen sie<br />

wirklich dar?<br />

Einige Historiker glauben, dass es sich hierbei um eine<br />

Veranschaulichung der Initiationsphasen und Hochzeitsvorbereitungen<br />

einer angesehenen Frau handelt, die<br />

Ehefrau und Mutter wird. Es wäre somit eine Art visuelle<br />

und bewegende Biografie der Hausherrin. Andere wiederum<br />

sehen in diesen Szenen das Zeugnis eines geheimen<br />

Ritus, eines Kultes, der dem Gott Dionysos geweiht ist.<br />

Auch hier wäre das Thema die Initiation einer Frau, jedoch<br />

nicht in die Ehe, sondern in eine okkulte Religion. Wenn<br />

diese Vermutung stimmt, würde man diese Gemälde nicht<br />

in einem Empfangsraum wie dem Speisesaal öffentlich<br />

zugänglich machen, sondern sie in der intimen Sphäre etwa<br />

einer Privatwohnung belassen. Der eigentliche Zweck des<br />

Raumes bleibt also weiterhin ein Rätsel.<br />

Mysterienvilla<br />

1. Jahrhundert v. Chr.<br />

Fresko<br />

Pompeji<br />

Wie auch immer: Es geht um die Verbindung mit einem<br />

geliebten Menschen oder einem Glauben. Die Geheimnisse<br />

dieser römischen Villa tragen zu der Faszination bei,<br />

die von der Stadt ausgeht, die unter der Lava eines – in<br />

rotem Zorn – wütenden Vulkans begraben liegt.<br />

20


21


IM RAMPENLICHT<br />

Mann mit rotem Turban<br />

1433<br />

Falscher Name<br />

Das Werk hat den Titel<br />

Mann mit rotem Turban,<br />

obwohl der Mann in Wirklichkeit<br />

einen sogenannten<br />

Chaperon trägt. Diese<br />

für das Mittelalter und<br />

die frühe Renaissance<br />

charakteristische Kopfbedeckung<br />

zeichnet sich<br />

durch ihre Breite und ihren<br />

voluminösen Knoteneffekt<br />

aus. Eine wirksame<br />

Methode, um den gesellschaftlichen<br />

Rang des<br />

Trägers zu betonen.<br />

Expertise<br />

Auch wenn Giorgio<br />

Vasari behauptet, dass Jan<br />

van Eyck die Ölmalerei<br />

erfunden habe, ist das<br />

nicht der Fall. Sicher ist<br />

hingegen, dass er sich<br />

diese Technik in einer<br />

Zeit, in der sie erst<br />

zögerlich eingesetzt<br />

wurde, aneignete und sie<br />

perfektionierte. Die neue<br />

Methode ermöglicht ein<br />

ausgeprägteres Spiel mit<br />

Licht, Details und Tiefe.<br />

Mann mit rotem Turban<br />

Jan van Eyck<br />

1433<br />

Öl auf Holz<br />

The National Gallery, London<br />

Rotkäppchen<br />

Jan van Eyck ist Hofmaler und steht im Dienst des<br />

Herzogs von Burgund, Philipp des Guten. Er ist bekannt<br />

für seine majestätischen Darstellungen der Madonna mit<br />

Kind und seine Porträts, die man gern als »lebensecht«<br />

bezeichnet.<br />

Dies ist eines seiner ehrlichsten Porträts. Wir sehen einen<br />

Mann, dessen Identität uns unbekannt ist – manche<br />

Historiker halten es für ein Selbstporträt des Künstlers.<br />

Aber muss man wirklich wissen, wer abgebildet ist, um<br />

dieses Gesicht mit Genuss zu betrachten? Und es ist ein<br />

Genuss, denn auch wenn das Modell mit seiner strengen<br />

Miene und seinem verkniffenen Mund nicht sehr warmherzig<br />

wirkt, ist sein Blick doch durchdringend, fast schon<br />

verstörend.<br />

Man taucht in die minutiöse Beschreibung und betrachtet<br />

jedes Detail – was uns das ungerührte Modell auch tat -<br />

sächlich erlaubt. Hier bemerkt man Falten auf der Stirn,<br />

dort Falten in den Augenhöhlen und an den Schläfen.<br />

Noch faszinierender sind die Blutgefäße in den Augen und<br />

die unrasierten Haare an Mund und Kinn.<br />

Van Eyck widersteht der Idealisierung seines Modells,<br />

verblüfft uns aber mit dem feurigen Kopfschmuck des<br />

Mannes. Er steht in scharfem Gegensatz zur Strenge und<br />

Klarheit des Gesichts sowie dem dunklen Hintergrund und<br />

dem theatralisch drapierten Mantel, der von strikter<br />

Materialität kündet. Es ist, als ob der Turban mit seiner<br />

extravaganten Erscheinung eine Selbstverständlichkeit,<br />

ein Absolutum wäre. Das ist kaum verwunderlich, denn im<br />

späten Mittelalter war diese Kopfbedeckung ein Privileg<br />

der eleganten Menschen aus bürgerlichen Kreisen.<br />

So erzählt uns dieser Mann nicht viel von sich, sondern<br />

sorgt vor allem dafür, dass wir seinen Rang erkennen.<br />

Seine Persönlichkeit enthüllt sich lediglich durch das<br />

»einflussreiche« Rot.<br />

22


23


IM RAMPENLICHT<br />

Passionsdiptychon<br />

1460<br />

Unvollständig?<br />

Einige Historiker sind<br />

fasziniert von der<br />

mangelnden Symmetrie<br />

und der scheinbaren<br />

Unausgewogenheit des<br />

Kunstwerks. Sie sehen<br />

darin einen Beweis dafür,<br />

dass das Diptychon in<br />

Wirklichkeit ein Triptychon<br />

ist und ein Flügel fehlt.<br />

ZEITACHSE<br />

Der gemalte Schmerz<br />

1420–1423<br />

Francisco de<br />

Zurbarán,<br />

Der Gekreuzigte<br />

1631<br />

Simon Vouet,<br />

Die Kreuzigung<br />

1835<br />

Paul Gauguin,<br />

Der gelbe<br />

Christus<br />

1944<br />

Fra Angelico,<br />

Kreuzigung<br />

1627<br />

Rembrandt,<br />

Kreuzigung<br />

1637<br />

Eugène<br />

Delacroix,<br />

Christus am<br />

Kreuz<br />

1889<br />

Francis Bacon,<br />

Drei Studien zu<br />

Figuren am Fuße<br />

einer Kreuzigung<br />

Passionsdiptychon<br />

Rogier van der Weyden<br />

1460<br />

Öl auf Holztafel<br />

Philadelphia Museum of Art,<br />

Philadelphia<br />

Rot wie Blut<br />

In den 1440er-Jahren, nach dem Tod des Jan van Eyck,<br />

wurde Rogier van der Weyden zu einem der Lieblingsmaler<br />

von Philipp dem Guten. Als Porträtist der einflussreichen<br />

Personen von Brüssel spezialisierte er sich auf<br />

religiöse Werke, die Dramatik und Glauben betonten.<br />

Bei Rogier van der Weyden herrscht die Mystik. Er stellt<br />

Emotionen und Psychologie der Menschen in seinen Szenen<br />

in den Vordergrund und fordert uns auf, seine Hingabe zu zu<br />

teilen. Auf den beiden Tafeln breitet er die tragische Szene<br />

aus und zeigt den Schmerz des Geopferten ebenso wie die<br />

Not der Lebenden. Doch trotz ihrer Verzweiflung wirken<br />

die Personen auf dem Bild majestätisch.<br />

Auffällig sind zwei sehr gegensätzliche Elemente: der<br />

unglaublich hellen Kleidung – der eisblauen Tunika der<br />

Jungfrau Maria, dem leuchtenden Gewand des Johannes<br />

und dem bleichen Körper des Christus, der durch seinen<br />

strahlend weißen Lendenschurz betont wird – steht ein<br />

glühendes Rot gegenüber. Es symbolisiert das Blut der<br />

Wundmale des Gekreuzigten. Die roten Tücher im Hintergrund<br />

lenken unseren Blick auf den tiefschwarzen Himmel –<br />

die Düsternis des Todes. Farbkontraste schaffen Formgegensätze:<br />

horizontale und vertikale Linien, die einander<br />

herausfordern, die gebeugte Silhouette der zusammengebrochenen<br />

Jungfrau, die der Strenge der rechten Tafel<br />

trotzt. Daneben der Körper von Christus in Form eines Y.<br />

Man wundert sich über den fast schon abstrakten Stil des<br />

Werks, über das minimalistische Dekor, das nicht dem<br />

Kanon der damaligen Zeit entspricht, und über das überraschende<br />

und auffällige Rot. Viele Historiker vermuteten,<br />

es handele sich um ein Andachtsbild für ein Kloster. Der<br />

Blick darf daher durch nichts getrübt werden. Es geht<br />

darum, durch Einfachheit zur Frömmigkeit zu finden und die<br />

Geschichte durch Symbole zu erzählen: Schädel und<br />

Knochen sind Allegorien für Adam, den ersten Menschen.<br />

Rot steht für die Passion. Der Betrachter steht im Bann des<br />

Opfers und ehrt es durch sein Schweigen.<br />

24


Wieder hat Jesus Christus seinen Leib und sein Blut<br />

real am Kreuz oder mystisch auf den Altären gegeben.<br />

Bossuet<br />

25


IM RAMPENLICHT<br />

Bildnis einer Dame in rotem Kleid<br />

1525–1535<br />

Triumph<br />

In der Renaissance<br />

beherrscht man das Rot in<br />

Venedig am besten. Hier<br />

werden die tiefsten und<br />

strahlendsten Farbtöne<br />

hergestellt. Der Reichtum<br />

eines Stoffes liegt<br />

weniger in seinen Farben,<br />

als in seinem Leuchten<br />

begründet. Bis zum 19.<br />

Jahrhundert stehen fade,<br />

verblasste oder stumpfe<br />

Töne für Menschen, die<br />

mit geringen Farbmengen<br />

auskommen müssen.<br />

Manierismus<br />

Hinter diesem<br />

geheimnisvollen Namen<br />

steckt eine künstlerische<br />

Bewegung, die zwischen<br />

1520 und 1580 angesiedelt<br />

ist und der es nicht um<br />

exakte Proportionen,<br />

Farbharmonien und<br />

realistische Raumaufteilung<br />

geht. Manieristische<br />

Künstler wie Bronzino,<br />

Arcimboldo und Correggio<br />

lassen sich von Raffael,<br />

Michelangelo und da Vinci<br />

inspirieren und schaffen<br />

eine gelehrte, an Symbolen<br />

reiche Kunst.<br />

Bildnis einer Dame in rotem Kleid<br />

Bronzino<br />

1525–1535<br />

Öl auf Holztafel<br />

Städel Museum, Frankfurt am Main<br />

Frau sein<br />

Als Lehrling des manieristischen Malers Pontormo<br />

erregt Bronzino die Aufmerksamkeit der Herzöge von<br />

Urbino. Ab 1530 arbeitet er als Maler an deren Hof. 1539<br />

wird er Hofmaler der Medici-Familie.<br />

Wir kennen die Identität dieser eleganten Frau im roten<br />

Kleid nicht, doch sie ist unbestreitbar eine Aristokratin: Ihr<br />

sozialer Hintergrund drückt sich in ihrer prunkvollen<br />

Kleidung, der Raffinesse ihres mit Edelsteinen verzierten<br />

Goldschmucks und natürlich ihrer stolzen Haltung aus.<br />

Der Blickfang ist ihr Kleid. Eine so üppige Menge an Stoff<br />

können sich nur reiche Frauen leisten: In einem solchen<br />

Outfit kann man nicht arbeiten gehen oder Hausarbeiten<br />

erledigen. Neben der Form sticht das leuchtende Rot mit<br />

den orangefarbenen Nuancen hervor. Es ist das Rot der<br />

gehobenen Gesellschaft, der Macht, ein teurer Farbton<br />

mit einer starken Symbolik. Die Szene enthält noch<br />

weitere Symbole des Reichtums: einen majestätischen<br />

grünen Samtsessel, einen neoklassizistischen Alkoven, vor<br />

dem das Modell sitzt, aber auch die beiden Bücher im<br />

Hintergrund, die auf die Gelehrsamkeit derjenigen anspielen,<br />

die sich Bildung leisten – und Bücher kaufen können.<br />

Abgesehen von ihrem Wohlstand erfahren wir jedoch<br />

nicht viel über diese mysteriöse Dame. Sie ist abwesend,<br />

distanziert und wirkt fast wie ausgelöscht: Sie lässt nichts<br />

durchblicken. Der Rosenkranz auf ihrem Schoß könnte<br />

einen Hinweis geben, aber scheinbar soll er nur zeigen,<br />

dass sie eine respektable Frau ist, ganz, wie es ihr Umfeld<br />

verlangt. Kann der Hund sie aufheitern? Offenbar nicht,<br />

denn auch er wird auf ein Symbol reduziert: die Treue. Die<br />

Dame ist also eine treue verheiratete Frau.<br />

Es gelingt uns nicht, das Eis zu brechen. Unsere Dame in<br />

Rot ist eine Abstraktion, die Personifizierung der moralischen<br />

Qualitäten einer verehrungswürdigen Frau ihrer<br />

Zeit.<br />

26


27


IM RAMPENLICHT<br />

Venus mit Orgelspieler und kleinem Hund<br />

1550<br />

Viermal Venus,<br />

eine Orgel und eine<br />

Laute<br />

Tizian hat vier Venus-Bilder<br />

mit Musikern gemalt.<br />

Die ersten (1548–1555)<br />

stellen die Göttin mit<br />

einem Orgelspieler dar<br />

und befinden sich im Prado<br />

(Madrid) und in der Gemäldegalerie<br />

(Berlin). Die<br />

nächsten (1565–1570) zeigen<br />

sie mit einem Lautenspieler<br />

und sind im Metropolitan<br />

Museum (New York)<br />

und im Fitzwilliam-Museum<br />

(Cambridge) zu sehen.<br />

ZEITACHSE<br />

Treue Begleiter<br />

1434<br />

Diego<br />

Vélasquez,<br />

Las Meninas<br />

1758<br />

Gustave<br />

Courbet,<br />

Selbstbildnis<br />

mit schwarzem<br />

Hund<br />

1893<br />

Giacomo Balla,<br />

Dynamik eines<br />

angeleinten<br />

Hundes<br />

1938<br />

Jeff Koons,<br />

Puppy<br />

Jan van Eyck,<br />

Die Arnolfini-<br />

Hochzeit<br />

1656<br />

François<br />

Boucher,<br />

Die glückliche<br />

Mutter<br />

1842–1844<br />

Berthe Morisot,<br />

Julie mit einem<br />

Windhund<br />

1912<br />

Frida Kahlo,<br />

Selbstbildnis<br />

mit Hund<br />

1992<br />

Venus oder nicht Venus?<br />

Das von Giorgione eingeführte Motiv der liegenden<br />

Venus durchdringt Tizians Werk. Mal ist sie schüchtern,<br />

mal verführerisch, aber immer sinnlich. Sie verkörpert<br />

einen Stil, der die Sprache der Farbe der Sprache der<br />

Linie vorzieht.<br />

Es gibt verschiedene Variationen der Göttin, darunter<br />

mehrere Bilder, auf denen die Venus von einem Musiker<br />

begleitet wird, mal von einem Lautenspieler, mal – wie<br />

hier – von einem Orgelspieler. Auf allen Gemälden liegt die<br />

Venus vor einem großen Fenster oder einer Loggia, die sich<br />

im Hintergrund nach außen öffnet. Hier erkennt man einen<br />

Park und dessen zentrale Allee mit einem Springbrunnen.<br />

Konzentrieren wir uns aber auf die beiden Figuren. Der<br />

Mann, der Musiker, trägt die Gewänder seiner Zeit, ein eng<br />

anliegendes Wams und eine Pluderhose. Er spielt auf seiner<br />

Orgel, richtet aber seinen Blick auf den spielenden Hund<br />

und vermutlich vor allem auf den nackten Körper der<br />

liegenden Frau. Diese Frau setzt dem modernen Anzug des<br />

Musikers ihre Nacktheit gegenüber; ihre milchweiße Haut<br />

wird nur durch einige raffinierte Schmuckstücke geziert.<br />

Auch sie schaut auf den Hund – und nur auf den Hund. Sie<br />

ist der Höhepunkt des Spektakels. Tizian lässt über ihr ein<br />

rotes Tuch wallen, das wie ein Theatervorhang anmutet.<br />

Das Werk ist eine Allegorie der Sinne und der Freude,<br />

etwa an der Musik, am Spiel und am Fleisch. Venus strahlt<br />

Sinnlichkeit aus, der rote Stoff, auf dem sie liegt, besitzt<br />

eine eindeutig erotische Symbolik. Dennoch scheint das<br />

Gemälde in einem braveren Kontext entstanden zu sein,<br />

als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Vermutlich<br />

wurde es im Auftrag eines Ehepaares geschaffen und stellt<br />

dieses auch dar: Die Gesichtszüge sind individualisiert und<br />

vor allem trägt Venus einen Ehering! Außerdem fehlt<br />

Amor, obwohl er in allen anderen Versionen der getreue<br />

Begleiter der Göttin ist. Die hier abgebildete Dame ist also<br />

keine Venus, sondern eine verheiratete Frau, die durch den<br />

Hund an die Treue ihrer Liebe erinnert wird.<br />

30


Ein guter Maler braucht nur drei Farben:<br />

Schwarz, Weiß und Rot.<br />

Tizian<br />

Venus mit Orgelspieler und<br />

kleinem Hund<br />

Tizian<br />

1550<br />

Öl auf Leinwand<br />

Museo del Prado, Madrid<br />

31


IM RAMPENLICHT<br />

Hiob und seine Frau<br />

um 1630<br />

Happy End<br />

Hat Hiob einen Grund zu<br />

glauben? Er hat alle seine<br />

Güter, seine Frau und seine<br />

Kinder verloren – sie kamen<br />

beim Einsturz eines Hauses<br />

ums Leben. Er musste<br />

Krankheit und Spott über<br />

sich ergehen lassen, bevor<br />

Gott seinen Besitz wieder<br />

herstellt, ihn verdoppelt<br />

und ihm sieben Söhne,<br />

drei Töchter und eine<br />

liebevolle Ehefrau schenkt.<br />

Unglück kann grundlos über<br />

einen hereinbrechen, aber<br />

man muss immer an eine<br />

bessere Zukunft glauben.<br />

Wiederentdeckt<br />

Georges de La Tour<br />

gerät in Vergessenheit.<br />

Erst im 20. Jahrhundert<br />

wird er wiederentdeckt<br />

und bewundert, als der<br />

deutsche Kunsthistoriker<br />

Hermann Voss ihm 1915<br />

zwei Gemälde im Museum<br />

in Nantes zuordnen kann.<br />

Nun interessiert sich alle<br />

Welt für dieses Genie des<br />

Chiaroscuro (Hell-Dunkel-<br />

Malerei), dem etwa 30<br />

Gemälde zugeschrieben<br />

werden.<br />

Hiob und seine Frau<br />

Georges de La Tour<br />

um 1630<br />

Öl auf Leinwand<br />

Musée départemental d’Art ancien<br />

et contemporain, Épinal<br />

Den Glauben bewahren<br />

Bei Georges de La Tour liegt die Stärke seiner Werke<br />

oft in einer einfachen Kerze, die kraftvolle Szenen des<br />

Lebens sanft beleuchtet. Auch wenn die große Mehrheit<br />

seiner Gemälde biblische Episoden erzählt, tut er dies<br />

ohne Nachdruck und führt uns damit die Wahrheit des<br />

Evangeliums vor Augen.<br />

Georges de La Tour illustriert einen Abschnitt aus dem<br />

alttestamentarischen Buch Hiob: eine Prüfung der Glaubensfestigkeit.<br />

Hiob ist ein reicher und gottesfürchtiger<br />

Mann, den Satan mit Gottes Einverständnis in Schwierigkeiten<br />

bringt, um ihn zu Verrat, Rebellion oder Verleugnung<br />

zu provozieren. Doch Hiob gibt seinen Glauben nicht<br />

auf; er bleibt Gott treu, auch wenn dieser ihm ungerechte<br />

Lasten auferlegt.<br />

Der Maler stellt dieses Dulden oder besser gesagt: sein<br />

Vertrauen dar. Mittels Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Malerei)<br />

betont er die malerischen und symbolischen Kontraste<br />

seines Gemäldes. Unübersehbar ist der offensichtliche<br />

Gegensatz zwischen den beiden Figuren. Hiobs Ehefrau<br />

wirkt fast bedrohlich, so als wolle sie ihn dazu bringen,<br />

seinen Gott zu verraten. De La Tour gibt ihr so viel Raum,<br />

dass es scheint, als müsse sie sich beugen, um auf dem<br />

Bild Platz zu finden. Eingehüllt in ihr rotes, von einer Kerze<br />

beleuchtetes Kleid ragt sie über Hiob auf. Dieser sitzt<br />

schwach und leidend vor ihr. Zu seinen Füßen ist ein<br />

Tongefäß zu sehen, dessen Inhalt ihm hilft, das Brennen<br />

seiner Geschwüre zu lindern. Alles an den beiden Menschen<br />

ist gegensätzlich. Sie ist bekleidet, er fast nackt; sie<br />

ist kräftig, er mager; sie ist jung, er alt. Der Künstler stellt<br />

sogar Hiob in den Schatten: Hat er alles verloren?<br />

Und dann sehen wir seine gefalteten Hände und seinen<br />

wie von innerer Überzeugung erhobenen Blick, der von<br />

einem rötlichen Schimmer erhellt wird. Sollten wir das Bild<br />

anders deuten? Vielleicht ist es die Frau, die sich der Last<br />

der Situation beugen muss? Hiob dagegen sitzt aufrecht<br />

mit erhobenem Kopf. Er bleibt würdevoll und mutig.<br />

32


Dreifaches Porträt von Kardinal Richelieu<br />

um 1642<br />

Uniform<br />

Die Kardinäle tragen die<br />

Farbe Rot in Anlehnung<br />

an das von Christus<br />

vergossene Blut. Ihr<br />

Gewand – aus Moiréseide<br />

im Sommer, aus Wolle<br />

im Winter – besteht aus<br />

einem Scheitelkäppchen<br />

(Kalotte oder Pileolus),<br />

einer Soutane und einem<br />

kurzen Pilgermantel,<br />

der Mozetta. Hier trägt<br />

Richelieu zudem die<br />

Medaille des Ordens vom<br />

Heiligen Geist, die an<br />

einem breiten blauen Band<br />

befestigt ist.<br />

Aus drei Blickwinkeln<br />

betrachtet<br />

Das Dreifachporträt gibt<br />

es seit der Renaissance.<br />

Damals verwendeten es<br />

die Maler als Provokation<br />

der Bildhauer: Erstere<br />

wollten zeigen, dass sie<br />

die Kunst, ein Gesicht aus<br />

mehreren Perspektiven<br />

darzustellen, ebenso gut<br />

wie Letztere beherrschen.<br />

Später dienen diese<br />

Mehrfachporträts als<br />

Vorlagen für Skulpturen.<br />

Drei Versuche<br />

Kardinal Richelieu beauftragte Philippe de Champaigne,<br />

dieses Modellporträt zu schaffen, mit dem er zunächst<br />

den zwischenzeitlich verstorbenen Maler Anthonis van<br />

Dyck betraut hatte.<br />

Der Anblick dieses Dreifachporträts könnte uns dazu<br />

bringen, Philippe de Champaigne für einen Avantgarde-<br />

Künstler zu halten. Doch das wäre ein Missverständnis:<br />

Das Porträt sollte als Modell für eine Statue des Kardinals<br />

dienen, die bei Francesco Mocchi in Auftrag gegeben<br />

worden war.<br />

Der Minister und Geistliche ist im Dreiviertelprofil und im<br />

Profil (rechts und links) abgebildet und trägt das für<br />

Kardinäle typische rote Gewand. Der Künstler genießt es,<br />

den Staatsmann zugleich als Individuum zu beschreiben.<br />

Philippe de Champaigne enthüllt körperliche Details des<br />

Kardinals, wie den Höcker auf der Nase, die Spuren des<br />

Alters, die pochende Vene an der linken Schläfe, die unter<br />

einem dünnen Schnurrbart gespitzten Lippen und den<br />

stechenden Blick.<br />

Die drei Porträts stehen vor einem dunklen Hintergrund,<br />

der Richelieus Größe betont. Das Rot seiner Kleidung<br />

lässt ihn erhaben und edel aussehen. Das Wesentliche ist<br />

erzählt, die Essenz lautet: Weisheit, Würde und Hingabe.<br />

Es ist nicht nur ein zeremonielles Porträt, sondern das Bild<br />

eines Mannes, der sein Amt aus tiefer Seele bekleidet.<br />

Interessant ist hier die Art und Weise, wie der Kardinal<br />

und der Künstler dieses Porträt gemeinsam erschaffen, in<br />

dem Bestreben, ein Ideal festzuschreiben.<br />

Der Minister von Ludwig XIII. schätzte die Darstellungen<br />

des Malers so sehr, dass er Philippe de Champaigne<br />

beauftragte, alle seine alten Porträts zu überarbeiten und<br />

an dieses anzupassen. So wird es zu einer Vorlage mit<br />

Absolutheitsanspruch.<br />

34


Ein lebhaftes Rot belebte seinen Teint.<br />

Voltaire<br />

Dreifaches Porträt<br />

von Kardinal Richelieu<br />

Philippe de Champaigne<br />

um 1642<br />

Öl auf Leinwand<br />

The National Gallery, London<br />

35


IM RAMPENLICHT<br />

Napoleon Bonaparte als Erster Konsul<br />

1802<br />

Rote Seide aus Lyon<br />

Napoleon Bonaparte<br />

sorgte für einen<br />

Aufschwung der Seidenweberei<br />

in Lyon, als er<br />

die offizielle Kleidung<br />

änderte und entsprechende<br />

Aufträge erteilte.<br />

Als er 1800 nach seinem<br />

Sieg bei Marengo durch<br />

Lyon reiste, schenkte man<br />

ihm dieses Gewand des<br />

Ersten Konsuls aus rotem<br />

Seidensamt. Er trug es bei<br />

offiziellen Zeremonien und<br />

bei der Unterzeichnung des<br />

Konkordats im Jahr 1801.<br />

In extremis<br />

Am Ende seines Lebens<br />

schenkte Napoleon dieses<br />

rote Kleidungsstück der<br />

Tochter des Oberhofmarschalls<br />

Bertrand,<br />

Hortense, die es zum<br />

Kleid umarbeiten lassen<br />

sollte. Den Brauch der<br />

Weitergabe von Kleidung<br />

gibt es seit dem Mittelalter.<br />

Zum Glück erhielt das<br />

junge Mädchen das Stück<br />

in seinem Originalzustand.<br />

Heute wird es im Schloss<br />

Malmaison aufbewahrt.<br />

Napoleon Bonaparte<br />

als Erster Konsul<br />

Antoine-Jean Gros<br />

1802<br />

Öl auf Leinwand<br />

Musée de la Légion d’honneur, Paris<br />

Die Kleider der Macht<br />

Nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire im Jahre 1799<br />

und der Einführung der Konsulatsherrschaft setzt sich<br />

Napoleon Bonaparte als Erster Konsul Frankreichs durch.<br />

Seine Frau Josephine Bonaparte lernt 1796 den Maler<br />

Antoine-Jean Gros kennen und macht ihn zum offiziellen<br />

Porträt- und Historienmaler. Seit der Einführung des<br />

Konsulats umgibt sich Bonaparte mit Künstlern, die ihn mit<br />

Porträts, formellen Darstellungen und glanzvollen Allegorien<br />

preisen sollen.<br />

Antoine-Jean Gros beteiligt sich an dieser Bewegung und<br />

erschafft zahlreiche Porträts von Napoleon. Hier sehen wir<br />

den stolzen Bonaparte in voller Größe als Konsul der<br />

Republik, gekleidet in ein extravagantes Gewand. Der rote<br />

Überrock wird ergänzt durch eine strahlend weiße Hose<br />

mit goldenen Pflanzenstickereien, einen luxuriösen Degen<br />

sowie Kavalleriestiefel. Mit den Papieren auf dem Tisch zu<br />

seiner Rechten, auf denen deutlich »Traités« (Verträge) zu<br />

lesen ist, und dem imposanten Tintenfass präsentiert sich<br />

der Konsul als reformorientierter Politiker und erfahrener<br />

Soldat. Deutlich zu lesen sind »18 Brumaire« und »Concordat«,<br />

womit der Künstler die Rolle Bonapartes als Konsul<br />

unterstreicht. Napoleon schenkte das Gemälde übrigens<br />

dem zweiten Konsul, Cambacérès.<br />

In Rot gekleidet setzt sich Bonaparte als Erbe sowohl der<br />

Monarchie als auch der römischen Kaiser in Szene. Schließlich<br />

war diese Farbe im alten Rom ein Symbol der Macht<br />

– und die kaiserliche Macht schmückt sich mit üppigem<br />

Purpur. Verrät der Konsul damit bereits seine Ambitionen<br />

als Kaiser? Gleichzeitig entfernt er sich nicht völlig vom<br />

königlichen Erbe, denn seine Silhouette erinnert an den<br />

von Ludwig XIV. eingeführten französischen Kleidungsstil.<br />

Die drei wichtigsten Elemente: der Rock, die Weste und<br />

die Kniebundhose. Neu ist nur der hohe, gerade Kragen,<br />

der typisch für die neue Mode ist.<br />

36


IM RAMPENLICHT<br />

Arearea<br />

1892<br />

Ein roter Hund?<br />

Im November 1893 präsentierte<br />

Gauguin in Paris eine<br />

Reihe seiner tahitianischen<br />

Bilder. Die Ausstellung<br />

ist ein Misserfolg: Man<br />

verspottet seine Farben<br />

und vor allem seinen roten<br />

Hund! So beschließt er<br />

1895, Frankreich endgültig<br />

zu verlassen und nach<br />

Tahiti zu gehen. Er kauft<br />

Arearea zurück, denn er<br />

liebt ihn, seinen roten Hund.<br />

Esoterische Kunst<br />

Der Symbolismus entsteht<br />

1876, als Émile Zola das<br />

Werk von Gustave<br />

Moreau als »symbolistisch«<br />

kritisiert. 1886 wird das<br />

offizielle Manifest der<br />

Bewegung erarbeitet. In<br />

der Malerei sind Gustav<br />

Klimt, Odilon Redon,<br />

Gustave Moreau, Fernand<br />

Khnopff und James<br />

Ensor die wichtigsten<br />

Vertreter. Idealistisch und<br />

pessimistisch zugleich<br />

offenbart ihre Ästhetik<br />

eine Vorliebe für die<br />

Chimäre, das Spirituelle<br />

und das Unterbewusste.<br />

Unsichtbare Wahrheit<br />

1891 lässt sich Paul Gauguin auf Tahiti nieder, wo er »einen<br />

Himmel ohne Winter« entdecken will. Dort zieht er seine<br />

Inspiration aus den schillernden Landschaften und einer<br />

primitiv anmutenden, naturverbunden Lebensweise.<br />

Seit der Künstler mit dem Symbolismus liebäugelt – in<br />

seinem Werk gekrönt durch den in Pont-Aven entstandenen<br />

Gelben Christus –, schafft er Bilder mit klaren Farbflächen<br />

und synthetischen Formen. Tahiti nährt diese Vorliebe,<br />

die er immer weiterentwickelt. Auf der Insel befreit<br />

er sich von den traditionellen Regeln der Kunst, um »unsichtbare<br />

Wahrheiten« besser ausdrücken zu können.<br />

Mit Arearea setzt Gauguin seine Suche nach einer Verbindung<br />

von Traum und Wirklichkeit fort. Er definiert eine<br />

Komposition, in der die bunte Landschaft auf die spirituelle<br />

tahitianische Kultur trifft, und lässt seine eigene Fantasie<br />

einfließen. Was wir sehen, ist durchaus passend: zwei<br />

sitzende Frauen, von denen die eine Flöte spielt, während<br />

die andere den Betrachter anschaut. Die Landschaft<br />

breitet sich aus und im Hintergrund gehen andere Frauen.<br />

Vielleicht tanzen sie auch, und die letzte reckt wie in<br />

mystischer Anbetung einer imposanten Statue ihre Arme<br />

nach oben.<br />

Die Ebenen überlagern sich nahezu ohne Tiefe. Einen<br />

Himmel gibt es nicht, obwohl der Künstler die Szene mitten<br />

in der Natur spielen lässt. Die Farben sind allmächtig, sie<br />

heben die Ebenen hervor und erzählen von den verschiedenen<br />

Materialien der Landschaft: hier ein Rasen, dort ein<br />

Weg ... Für Erstaunen sorgen die Farbtöne, denn sie entsprechen<br />

nicht unserem realistischen Kanon. Der scharlachrote<br />

Pfad erscheint uns ungewöhnlich – und was ist mit<br />

diesem karminroten Hund? Ist das ein echter Hund? Das<br />

wäre gar nicht überraschend, denn der Maler ist von der<br />

schamanistischen Welt Tahitis fasziniert, in der Menschen<br />

und Geister unter der Schirmherrschaft des Glaubens und<br />

einer allmächtigen Natur zusammenleben. Gauguin liebt es,<br />

das Unsichtbare sichtbar zu machen.<br />

38


Der Traum ruht nie in diesem glühenden Hirn: Er wächst<br />

und wird immer größer, je mehr er Gestalt annimmt.<br />

Octave Mirbeau<br />

Arearea<br />

Paul Gauguin<br />

1892<br />

Öl auf Leinwand<br />

Musée d’Orsay, Paris<br />

39


IM RAMPENLICHT<br />

Das rote Atelier<br />

19111911<br />

Einflussreiches Rot<br />

Im Jahr 1949 sieht Mark<br />

Rothko Das rote Atelier<br />

im MoMA in New York. Er<br />

ist von Matisses Gemälde<br />

mit seinen farbenfrohen<br />

Flächen fasziniert. Das<br />

Gemälde wird zu seiner<br />

großen Inspirationsquelle,<br />

insbesondere für die<br />

Gemälde seiner Spätphase<br />

mit ihren Rechtecken in<br />

kontrastierenden Farben.<br />

Komischer Name<br />

Der US-amerikanische<br />

Kunsthistoriker Alfred<br />

Barr gab der Serie den<br />

Namen Symphonic<br />

Interiors (Symphonische<br />

Interieurs). Er erkannte<br />

darin eine Ähnlichkeit in<br />

der Komposition und eine<br />

Analogie in den Farben<br />

und Motiven. Die Serie<br />

umfasst vier Gemälde: Das<br />

rosa Atelier, Die Familie<br />

des Malers, Interieur mit<br />

Auberginen und Das rote<br />

Atelier.<br />

Das rote Atelier<br />

Henri Matisse<br />

1911<br />

Öl auf Leinwand<br />

MoMA, New York<br />

Rot sehen<br />

Als der russische Sammler Sergej Schtschukin 1911 das<br />

Atelier von Matisse besucht, kauft er Das rosa Atelier und<br />

Die Familie des Malers und gibt ein drittes Bild in Auftrag.<br />

Es wird Das rote Atelier – das er schließlich ablehnt!<br />

Matisse malt diese Gemälde aus der Serie der sogenannten<br />

Symphonischen Interieurs in seinem Atelier in Collioure. Die<br />

Bilder verbindet das gemeinsame Thema des Ateliers mit<br />

der dekorativen Wirkung von Farbe und Motiv.<br />

Sein Rotes Atelier ist der Höhepunkt seiner Forschungen.<br />

Dies drückt sich in einem alles umfassenden, lebendigen<br />

Zinnoberrot aus. Inspiriert von byzantinischen Ikonen,<br />

japanischer und islamischer Kunst, erschafft Matisse einen<br />

Dialog zwischen Flächen, die kein Volumen mehr haben. Das<br />

konzentrierte Rot lässt jedes Element hervortreten und<br />

betont seinen dekorativen Wert.<br />

Unser Blick schweift vom Zifferblatt der Uhr über die<br />

Gemälde und Keramiken sowie die seltenen Gegenstände,<br />

die Matisse speziell hervorhebt. Er erzeugt eine Hierarchie<br />

zwischen Objekten, die er beschreiben möchte, und<br />

solchen, die er nur andeutet. Die Bilder setzen ebenso wie<br />

die Schachtel mit Bleistiften im Vordergrund farbliche<br />

Kontrapunkte: Matisse feiert sein Werk in dieser feurigen<br />

Allegorie des Ateliers. Obwohl das Rot die Leinwand<br />

überflutet, kann man sich leicht von ihr distanzieren, da man<br />

die Farbe mit der Zeit nicht mehr wahrnimmt. Spontan<br />

entscheidet unser Blick, sich auf alles zu konzentrieren, was<br />

nicht rot ist. Matisse zerlegt seine Malerei in Fragmente, was<br />

bereits ein Hinweis auf die Collagen sein könnte, die er am<br />

Ende seines Lebens schaffen wird. Dies ist ein erster Schritt<br />

auf dem Weg zur ultimativen Vereinfachung der Formen.<br />

Dennoch vergisst der Maler seine Anfänge nicht, denn, wie<br />

er selbst sagt: »Fauvismus ist, wenn es rot ist«.<br />

Das Atelier wird zum physischen und moralischen Ort des<br />

Malers. Ein Ort des Schaffens und der Anregung, der davon<br />

erzählt, was den Künstler ausmacht.<br />

42


In meinem Atelier ist der Boden ochsenblutrot wie bei den<br />

provenzalischen Kacheln; die Wand ist rot; so als hätte das<br />

Blut alles durchdrungen, um es zu färben.<br />

Henri Matisse<br />

43


IM RAMPENLICHT<br />

Liebespaar<br />

1913<br />

Jugendstil<br />

1897 gründeten einige<br />

Künstler, darunter Josef<br />

Hoffmann, Otto Wagner<br />

und Koloman Moser, die<br />

Wiener Secession, die<br />

sich zum Ziel gesetzt<br />

hatte, die sogenannten<br />

»kleinen« Künste zusammenzubringen,<br />

die Grenzen<br />

zwischen Kunst und Zweck<br />

aufzuheben und sich gleichzeitig<br />

von einem veralteten<br />

Akademismus zu lösen.<br />

Angetan von den Ideen der<br />

»antiakademischen« Gruppe<br />

stellte Egon Schiele seine<br />

Arbeiten in diesem Ausstellungshaus<br />

aus.<br />

Das Übel des Lebens<br />

Der deutsche<br />

Expressionismus entwickelt<br />

sich in den 20er-Jahren<br />

des 20. Jahrhunderts. Er<br />

besteht hauptsächlich aus<br />

zwei Gruppen: Die Brücke,<br />

gegründet von 1905 von<br />

Ernst Ludwig Kirchner,<br />

und Der Blaue Reiter,<br />

gegründet 1911 von Wassily<br />

Kandinsky und Franz<br />

Marc. Ziel der Künstler<br />

ist es, statt der Realität<br />

Emotionen darzustellen,<br />

die am Vorabend des<br />

Ersten Weltkrieges häufig<br />

qualvoll sind.<br />

Körper an Körper<br />

Während sich Egon Schiele in modernistischen Bewegungen<br />

wie der Wiener Secession oder dem deutschen<br />

Expressionismus betätigt, erschafft er ein Werk, das die<br />

menschliche Verfassung mit großer Wut hinterfragt.<br />

In der Arbeit des österreichischen Künstlers finden sich<br />

tausende erotische Werke, die Grenzen überschreiten. Für<br />

die Serie, zu der das Liebespaar gehört, setzt Egon Schiele<br />

seine Lebensgefährtin Edith Harms mit Felix Albrecht Harta,<br />

einem Freund, in Szene.<br />

Der Künstler spielt den Voyeur und befriedigt gleichzeitig<br />

einen erotischen Trieb. Er macht sich einen Spaß daraus, die<br />

traditionelle Haltung des heterosexuellen Paares umzukehren.<br />

Hier nimmt der Mann eine weibliche, offene, anbietende<br />

Position ein, während die Frau in phallischer Haltung zwischen<br />

den Beinen ihres Liebhabers liegt. Egon Schiele mischt und<br />

verflicht Körper in animalischer Dringlichkeit – einer vitalen<br />

Sehnsucht. Er idealisiert die Gesichtszüge nicht, die Körper<br />

sind kränklich und kantig, als ob die Physiologie des Körpers<br />

den Rhythmus der Haut bestimmt: Knochen, Sehnen und Muskeln<br />

scheinen hervorzubrechen und die Silhouetten zu<br />

verzerren. Um Leidenschaft noch mehr mit Sexualität zu<br />

verknüpfen, nutzt er die Farbe Rot – beim Haar der Geliebten<br />

und ihren Strümpfen, die sich zwischen ihren Beinen zu einer<br />

unförmigen Masse ausdehnen: Blut?<br />

Die Umarmung der Liebenden ist verstörend, ist sie doch<br />

sehr weit vom romantischen Ideal entfernt. Doch spürt man in<br />

dieser Rohheit die gewalttätige Schönheit der Sinne und der<br />

Liebe, die Emotionen und die Verletzlichkeit, die das Intime<br />

hervorruft. Seine Geliebte richtet ihren Blick auf den, der sie<br />

malt, als wolle sie sich versichern, dass alles nur gespielt ist<br />

und ihr wahrer Liebhaber hinter der Staffelei steht.<br />

Noch vor dem Ersten Weltkrieg erzählt der Künstler von<br />

den Ängsten der Menschen. Diese für die Ewigkeit gezeichnete<br />

Umarmung verkörpert einen Hauch des einfachen<br />

Lebens zwischen Unanständigkeit und Erhabenheit.<br />

44


Ich male das Licht, das alle Körper ausstrahlen.<br />

Egon Schiele<br />

Liebespaar<br />

Egon Schiele<br />

1913<br />

Bleistift, Aquarell und Gouache auf Papier<br />

Leopold Museum, Wien<br />

45


IM RAMPENLICHT<br />

Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden<br />

1926<br />

Politische Kunst<br />

Anfang der 1920er-Jahre<br />

entstand die Neue Sachlichkeit<br />

unter Künstlern<br />

wie Otto Dix, Christian<br />

Schad, George Grosz,<br />

Rudolf Schlichter,<br />

Alexander Kanoldt und<br />

Max Beckmann. Unter<br />

dem Einfluss der Dada-Bewegung<br />

und des Expressionismus<br />

versuchten sie,<br />

die Gesellschaft aus einem<br />

realistischen, manchmal<br />

sogar hyperrealistischen,<br />

brutalen und engagierten<br />

Blickwinkel zu betrachten.<br />

Filmstar<br />

Diese Frauendarstellung<br />

ist so präsent<br />

in der kollektiven<br />

Vorstellungswelt, dass<br />

Bob Fosse sie in seinem<br />

berühmten Musical<br />

Cabaret aus dem Jahr 1972<br />

zitiert. Sie erscheint in der<br />

Eröffnungsszene wie eine<br />

Offenbarung, als absolutes<br />

Symbol für das dekadente<br />

Berlin, von dem dieser Film<br />

erzählt.<br />

Bildnis der Journalistin<br />

Sylvia von Harden<br />

Otto Dix<br />

1926<br />

Öl und Tempera auf Holz<br />

Musée national d’Art moderne,<br />

Centre Pompidou, Paris<br />

Jungenhaft<br />

Otto Dix erlebt die Schrecken des Ersten Weltkriegs<br />

aus nächster Nähe. Sie verfolgen ihn und sind in seiner<br />

Malerei spürbar. Zwischen 1925 und 1927 produziert er<br />

in Berlin eine Reihe von Gemälden, die Zerrbilder der<br />

Gesellschaft seiner Zeit darstellen.<br />

Das Porträt von Sylvia von Harden ist das wichtigste von<br />

allen Porträts aus diesen Jahren. Otto Dix sagte zu der<br />

Journalistin: »Ich muss Sie malen! Ich muss! Sie repräsentieren<br />

eine ganze Epoche!<br />

Als Erstes fällt die Hässlichkeit der abgebildeten Frau auf.<br />

Keine falsche Höflichkeit, kein Schönheitskanon. Das ist<br />

nicht die Absicht des Malers. Im Gegenteil: Er verherrlicht<br />

ihre Schönheitsfehler, wie es auch einige deutsche Künstler<br />

in der Renaissance taten – allen voran Holbein oder Grünewald.<br />

Und das sind nicht die einzigen Bezüge zu den alten<br />

Meistern, denn er verwendet sogar dieselbe Technik –<br />

Tempera auf Holz, was in der modernen Kunst ungewöhnlich<br />

ist – und greift das Motiv der Kartusche auf, indem er<br />

den Namen des Modells in die Zigarettenschachtel schreibt.<br />

Sylvia von Harden sitzt schlaff auf ihrem Stuhl. Ihr Blick ist<br />

grimmig, das Gesicht blass, der Mund verkniffen ... Ein<br />

Strumpf rollt sich über ihr Knie. Das ist nicht erotisch,<br />

sondern eher grotesk, geradezu erniedrigend. Ihre Silhouette<br />

besteht aus Ecken und Kanten, aus denen kräftige, fast<br />

unförmige Hände herausragen.<br />

Dix spielt mit Ambivalenz, mit einer trüben männlich-weiblichen<br />

Allüre. Das Bild ist kein Porträt, sondern das Symbol<br />

einer Zeit, in der das Berlin der Weimarer Republik – deren<br />

Adler die Streichholzschachtel ziert – einen künstlerischen<br />

Überschwang erlebt, der durch das absurde Monokel<br />

verkörpert wird. In diesem Berlin blüht eine homosexuelle<br />

Gemeinschaft und befreit sich von den Regeln des Geschlechts.<br />

Sylvia von Harden steht für Emanzipation, eine<br />

gewisse Gleichgültigkeit, aber auch für die Einsamkeit<br />

derer, die eine Rolle spielen und deren dumpfe und brutale<br />

Angst das aufdringliche, rohe, glühende Rot einfängt.<br />

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