Chemnitz Capital - Sonderheft zur Kulturhauptstadt 2025 | Ausgabe 2 | (2023)
In Chemnitz leben engagierte und erfindungsreiche Menschen, hier lebt europäische Kultur, hier zeigen sich die Bruchlinien unserer Vergangenheit und Gegenwart nicht nur im Stadtbild. Mit der Sonderheftreihe „Chemnitz Capital“ begleitet der Freistaat Sachsen, gemeinsam mit dem Magazinen Cicero und Monopol, die Stadt Chemnitz auf Ihrem Weg zu Kulturhaupstadt. In der zweiten Ausgabe (Juni 2023) werden u.a. Menschen vorgestellt die von den vielen Schritten berichten, die es auf dem Weg bis 2025 (noch) braucht. Es wird an jenen Sachsen erinnert der das Feuer erfand, von einem Besuch im einem Makerhub berichtet und von einer ganzen Parade von Apfelbäumen berichtet. Chemnitz ist echt und mit diesem Heft wird es sichtbar.
In Chemnitz leben engagierte und erfindungsreiche Menschen, hier lebt europäische Kultur, hier zeigen sich die Bruchlinien unserer Vergangenheit und Gegenwart nicht nur im Stadtbild. Mit der Sonderheftreihe „Chemnitz Capital“ begleitet der Freistaat Sachsen, gemeinsam mit dem Magazinen Cicero und Monopol, die Stadt Chemnitz auf Ihrem Weg zu Kulturhaupstadt.
In der zweiten Ausgabe (Juni 2023) werden u.a. Menschen vorgestellt die von den vielen Schritten berichten, die es auf dem Weg bis 2025 (noch) braucht. Es wird an jenen Sachsen erinnert der das Feuer erfand, von einem Besuch im einem Makerhub berichtet und von einer ganzen Parade von Apfelbäumen berichtet. Chemnitz ist echt und mit diesem Heft wird es sichtbar.
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CHEMNITZ
CAPITAL
BEINE MACHEN
Chemnitz 2025
kommt ins Laufen
AM OSTPOL
Gibt es eine
osteuropäische
Identität?
SPUR DER
SKULPTUR
Der Lila Pfad der
Gegenwartskunst
Abenteuer
Archäologie
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EDITORIAL
3
Ralf Hanselle,
Redakteur von
Chemnitz Capital
Titelfoto: Thomas Meyer/Ostkreuz. Illustration: Anja Stiehler- Patchan
Eine Stadt läuft los. Die mittelsächsische Metropole Chemnitz, das Tor zum
Erzgebirge, hat sich auf den Weg gemacht, Kulturhauptstadt Europas 2025
zu werden. Vieles ist dabei in Bewegung geraten. Überall in der Stadt wird
nun gedacht, erneuert, getüftelt. In den sogenannten Makerhubs, den Kreativschmieden
für Künstler, Handwerker und Bastler, wird Raum geschaffen für tatkräftige
Impulse; und auf dem Purple Path, einem neuen Kunstpfad durch die an
Chemnitz angrenzenden Gemeinden des Erzgebirges, werden die ersten Werke
zeitgenössischer Kunst aufgestellt. Auf den Interventionsflächen wird gepflanzt,
gebaut oder gehobelt; und das Projekt „We Parapom!“, eine stadtübergreifende
Pflanzung von sage und schreibe 4000 Apfelbäumen, schlägt nach und nach
Wurzeln.
Von all diesen Dingen erzählt die nun vor Ihnen liegende zweite Ausgabe des
Magazins Chemnitz Capital. Es ist ein Heft über die Drehung der Schraube. So
nämlich würde Stefan Schmidtke, der Geschäftsführer hinter der traditionsreichen
Marke „Kulturhauptstadt“, über die unzähligen kleinen Dinge sprechen, die in den
zurückliegenden Monaten in Bewegung geraten sind. In einem Interview (S. 40)
erklärt Schmidtke, wie er zusammen mit den Chemnitzerinnen und Chemnitzern
tagtäglich Hunderte kleine Schräubchen dreht, um dann am Ende stolz und ganz
sicher auch etwas erschöpft jenes große Gesamtwerk präsentieren zu können, auf
das sich schon jetzt alle in Chemnitz so sehr freuen: die Kulturhauptstadt Europas
Chemnitz 2025.
Die Macherstadt tut also das, was sie immer schon am besten konnte: machen!
Und manchmal gibt es dabei auch Dinge, die sind leider noch unerledigt oder
harren eines tatkräftigen Anpackers. Da muss man der Stadt mit dem übergroßen
Philosophenkopf in ihrem Zentrum vielleicht noch etwas „Beine machen“. Wie das
geht? Das zeigen acht Chemnitzerinnen und Chemnitzer in einer interessanten
fotografischen Versuchsanordnung (S. 6).
Somit ist definitiv sichergestellt: Chemnitz 2025 ist auf dem Weg. Davon können
Sie sich auf den kommenden Seiten überzeugen. Wir wünschen ein spannendes
Leseerlebnis!
Covermotiv:
Unser Cover zeigt Julia
Voigt, Geschäftsführerin
des Kulturzentrums
Weltecho – Das Ufer e.V.
Sie ist eine von acht
Chemnitzerinnen und
Chemnitzern, die der
Stadt auf den Seiten 6–13
„Beine machen“.
CHEMNITZ CAPITAL
4
18
DIE SPUR
DER SKULPTUR
Der „Purple Path“ verbindet die
Region um Chemnitz mit Mitteln der
Kunst. Eine Begehung
6
Laufen lassen
Chemnitz hat sich auf den Weg
gemacht, Kulturhauptstadt Europas
zu werden. Wir stellen Chemnitzer vor,
die davon berichten, welche Schritte
bis 2025 noch unternommen werden
müssen
Tanja Rochelmeyer „Glance“, 2022 (Detail)
14
Am Ostpol
Gibt es eine osteuropäische Identität,
die Chemnitzer mit Menschen aus
Prag, Danzig oder Debrecen verbindet?
Die Schriftstellerin Grit Lemke hat
sich auf die Suche gemacht
24
Zimmer mit Aussicht
Seit über 30 Jahren hat Heike Straube
einen besonderen Blick auf Chemnitz
und auf seine Veränderungen
26
DER SACHSE,
DER DAS FEUER ERFAND
In gewisser Weise ist Carl Friedrich
Uhlig der Ziehvater des Tangos. Eine
Chemnitzer Musikgeschichte
30
Und es bewegt
sich doch!
Auf den Interventionsflächen tut sich
einiges. Bürgerinnen und Bürger erzählen
von ihrem Engagement
Fotos: © Thomas Meyer/Ostkreuz. © Thomas Victor. Ernesto Uhlmann, © Tanja Rochelmeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2023
CHEMNITZ CAPITAL
INHALT
5
36
Und sollte morgen
die Welt untergehen ...
Mit „We Parapom!“ soll in Chemnitz
eine Parade der Apfelbäume entstehen.
Reiner Amme ist der Initiator des
40
MR. MAKER
Ein Gespräch mit Stefan Schmidtke
über den Weg bis zum Ziel
verbindenden Projekts 42
Seid umspannt,
Regionen!
Die Makerhubs sind Orte für Kreative
in der Region. Wir haben einen
solchen Hub in einem einstigen Umspannwerk
besucht
48
SERVICE
Die nächsten Termine auf dem
Weg zur Kulturhauptstadt
Europas
Fotos: © Felix Adler. Zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz. Illustration: Nina Tiefenbach
Herausgeber Freistaat Sachsen
Archivstr. 1, 01097 Dresden
Verlag Res Publica Verlags GmbH,
Fasanenstraße 7–8, 10623 Berlin
Geschäftsführung Alexander Marguier
Verlagsleitung Martin Stedler
Leitung Redaktionsmarketing
Janne Schumacher
Chefin vom Dienst Maíra Goldschmidt (fr.)
IMPRESSUM
Redaktion Ralf Hanselle
Art-Direktion StudioKrimm (fr.)
Bildredaktion Tanja Raeck
Schlussredaktion Helmut Krähe (fr.)
Produktion Jeff Harwell (fr.)
Herstellung/Vertrieb Erwin Böck
Druck/Litho Westermann Druck / pva,
Georg-Westermann-Allee 66, 38104
Braunschweig
50
Kolumne
Der Realsozialismus hatte den Charakter
einer Religion. Rebecca Maria
Salentin ist für uns auf dem „Weg der
Freundschaft“, dem Pilgerweg des
Ostblocks, unterwegs gewesen
Leserservice Cicero Leserservice,
Postfach 1154, 23600 Bad Schwartau,
Tel.: +49 (0)451 4906 440
E-Mail: cicero@medienexpert.com
Verlag Tel.: +49 (0)30 981 941–100, Fax –199
Diese Drucksache wird auf der Grundlage
des von den Abgeordneten des Sächsischen
Landtags beschlossenen Haushaltes zur
Verfügung gestellt.
Gedruckt auf UPM-Papier mit dem
EU-Umweltzeichen Registriernummer FI/11/001
CHEMNITZ CAPITAL
Benjamin Gruner,
Kulturmanager
„Chemnitz ist für mich die ideale
Werkstatt – Freiraum zum Gestalten
ohne das Rauschen der Großstadt. Ich
wünsche mir, dass jungen Menschen
mehr zugehört und zugetraut wird, damit
sie eigene Werkzeuge gegen Gefühle
der Ohnmacht und Sprachlosigkeit entwickeln
können. Besonders in Ostdeutschland
braucht es Selbstvertrauen
und Resilienz, um kleingeistigen Modellen
von Heimat und Tradition etwas
entgegenzustellen.“
Julia Voigt,
Operative Geschäftsführerin
Kulturzentrum Weltecho
„Chemnitz ist die Spaziergängerin unter
den Sich-Fortbewegenden. Mit einem
meist unterschätzt-lässigen, leider immer
noch etwas rechts hinkenden Schritt
schlendern wir stets ein paar Jahre hinter
der Progressivität her. Der Reiz liegt aber
doch darin, die Schönheit im Spazieren
zu finden – denn es gibt Raum und Fokus
für bedachtes Wachstum, schöne
Kleinigkeiten, ehrliches Empowerment
und gutes Training unseres linken Beins.“
CHEMNITZ CAPITAL
Maria Tomasa Llera Pérez,
Geschäftsführerin Club Atomino
„Die freien Räume und Möglichkeiten, die
wir in Chemnitz haben, sind unser
größtes Potenzial. Darüber müssen wir
in den nächsten Jahren uns selbst und
möglichst viele Menschen mit dem
europäischen Gedanken in Verbindung
bringen.“
David Neubert,
Unternehmer und Tänzer
„Chemnitz bietet für mich viel Raum zur
Entwicklung – einen Raum, den ich
gerne mit Inhalten fülle. Von der Stadt
fühle ich mich dabei aber hin und
wieder im Stich gelassen.“
Christian Knaack,
Teamleiter
„Chemnitz hat eine vielfältige freie
Kulturszene, für die ich mich begeistere.
Außerdem gibt es infrastrukturell alles,
was zu einer Großstadt gehört. Meine
Ermutigung gilt also allen Chemnitzerinnen
und Chemnitzern, die eigenen
Beine in die Hand zu nehmen und Stadt,
Region und Macher zu entdecken!“
Jacqueline Drechsler,
Soziologin
„Chemnitz ist vielleicht nicht die Stadt der
Liebe auf den ersten Blick, aber wenn
wir uns die Zeit nehmen, sie kennenzulernen,
können wir viele engagierte Menschen
und wunderbare Orte entdecken.
Im Titelgewinn ,Kulturhauptstadt 2025‘
sehe ich auch den Auftrag an uns,
selbst noch genauer hinzuschauen und
die bisher verborgenen Schätze
unserer Stadt ans Licht zu bringen.“
CHEMNITZ CAPITAL
14
AM OSTPOL
Gibt es eine osteuropäische
Identität?
Die Schriftstellerin
Grit Lemke erzählt
von den magnetischen
Kräften, die Menschen
aus Prag, Debrecen
oder Chemnitz
immer wieder
zueinanderbringen
15
TEXT Grit Lemke
ILLUSTRATION Nina Tiefenbach
Neulich ging ich mit meinem
alten Freund Aljoscha in Wien
spazieren. Obwohl wir uns
unweit des pompösen Karlsplatzes verabredet
hatten, führte unser Weg wie von
allein durch ein wenig mondänes Viertel
mit verblichenen Fassaden, verrammelten
Läden und geschlossenen
Cafés. Wir fanden nichts dabei – Aljoscha
kommt aus Sibirien, ich aus Hoyerswerda.
Unsere offensichtliche Genügsamkeit
fiel uns erst auf, als wir irgendwann
erschöpft auf der rostigen
Stahlumrandung einer Blumenrabatte
saßen und uns über die kargen Schaufenster
unserer Kindheit austauschten.
Aljoscha sagte, dieser Nachmittag sei für
ihn eine Erholung vom anstrengenden
Asylanten-Dasein. Ständig erklären zu
müssen, wie man etwas meint. Auch
dieses Gefühl teilen wir.
Aljoscha ist, was man einen Kosmopoliten
nennt. Er spricht fließend mehrere
westeuropäische Sprachen, hat
lange Zeit in Deutschland, Italien und
Österreich verbracht und sich immer als
Europäer bezeichnet. In seiner Heimat
Russland war das schwierig, aber sowieso
drehte und produzierte er systemkritische
Filme und hat nie Förderung
oder irgendeine Unterstützung vom
russischen Staat bekommen. Als der
Ukraine-Krieg ausbrach, strandete er
mit einem Koffer in Wien und wusste,
dass er nicht zurückkonnte. Er hatte
16 ESSAY
Freundinnen und Freunde in der Stadt,
die ihm halfen, dreht weiter Filme und
ist im Westen angekommen. Aber neuerdings,
so sagt er – der erbitterte Putin-
Gegner, der einen hohen Preis für diese
Haltung zahlt –, nennt er sich „russischer
Europäer“. Denn auch wenn wir
dazugehören: Unser Europäisch-Sein
ist anders.
Alle meine osteuropäischen Freundinnen
und Freunde kenne ich aus der
Zeit, da ich als Programmleiterin eines
großen Filmfestivals auf internationalen
Branchenveranstaltungen unterwegs
war. Warum auch immer – meistens
hatten wir uns am Ende langer Tage
gefunden und feierten unsere eigenen
Partys. Als hätten wir kleine Magnete
implantiert, die uns zusammenführten.
Dabei schien es keine Rolle zu spielen,
ob wir den Sozialismus selbst noch
erlebt hatten oder nach 1989 geboren
waren. Es schien etwas zu geben, das
uns verband.
In den ersten Jahren war es sicher
noch eine gemeinsame Unsicherheit.
Unser Englisch klang polnisch, slowakisch
oder in meinem Fall wahrscheinlich
ostdeutsch. Auf den großen Flughäfen,
in den schicken Hotels und den
noblen Restaurants bewegten wir uns
nicht mit der Nonchalance der Kolleginnen
und Kollegen aus Westeuropa.
Für sie machte es keinen Unterschied,
ob wir uns in Toronto, Warschau, Prag
oder Auckland trafen. Für uns schon.
Bei näherem Hinsehen entpuppt sich
der geografische Unterschied auch als
ein sozialer. Die Eltern meiner osteuropäischen
Kollegen waren Eisenbahner,
Krankenschwestern, Ingenieurinnen
oder Ingenieure. Kaum jemand von
uns hatte familiär etwas mit Film oder
Kunst zu tun. (In dieser Hinsicht ist mir
ein Arbeiterkind aus Gelsenkirchen näher
als ein Künstlerfamilienspross aus
Bratislava.) Die meisten von uns hatten
eine Kindheit erlebt, in der beide Eltern
arbeiteten und man mit sechs Jahren
den Schlüssel um den Hals gehängt bekam.
Viele von uns waren das, was man
später abfällig „Plattenkinder“ nannte.
Wenn wir „Berge“
sagten, meinten wir
das Riesengebirge,
und das Meer endete
in Kap Arkona,
Klaipeda oder Varna
Wir hatten unsere Sommer in Ferienlagern
verbracht bzw. waren eingepfercht
in Trabbis in die Hohe Tatra oder im
besten Fall an den Balaton gefahren.
Später waren wir nach Prag, Krakow
oder Budapest getrampt und wussten,
wo man dort Westfilme sehen und umsonst
übernachten konnte. Wenn wir
„Berge“ sagten, meinten wir das Riesengebirge,
und das Meer endete in Kap
Arkona, Klaipeda oder Varna. Nun
saßen wir beim Dinner in irgendeinem
Sheraton und wussten im Gegensatz zu
unseren westeuropäischen Kollegen
mit ihren meist gutbürgerlichen Elternhäusern
nicht, welches Besteck man zu
welchem Gang benutzt. Dann half es,
wenn einer eine „Anfrage an Radio Jerewan“
– den Ostblockwitz-Evergreen
– stellte und nur Eingeweihte wussten,
wie die Antwort lauten musste.
Aber die Newcomer aus Prag, Krakow
und Sofia holten auf. Ich bewunderte,
mit welchem Ehrgeiz und Elan
sie Märkte und Plattformen eroberten,
Festivals, Institute und Produktionsfirmen
gründeten. Ich beneidete sie, weil
sie die Leitungspositionen ganz selbstverständlich
selbst besetzten. Noch
dazu: Es waren zumeist junge Frauen,
die sich an die Spitze setzten. Das neue
Osteuropa war weiblich und verfügte
zunehmend über westeuropäische Studien-
und Arbeitserfahrung samt
geschliffenem Englisch. Vor allem bekamen
diese neuen Führungskräfte reihenweise
Kinder – und fanden das völlig
normal. Wahrscheinlich sind selten vorund
nachher so viele dicke Bäuche und
Buggys über Filmmärkte geschoben
worden wie in den 2000ern. Westeuropäische
Kolleginnen auf Führungsebene
hatten selten Kinder. Stattdessen konnten
sie ernsthaft darüber diskutieren,
ob man sich welche „anschaffen“ sollte
oder nicht. Uns Osteuropäerinnen
schien der Gedanke absurd, über so
etwas überhaupt nachzudenken.
Sagte ich gerade „uns Osteuropäerinnen“?
Tatsächlich fühlte ich mich diesen
Runden stets zugehörig – war aber
meist die einzige (Ost-)Deutsche. „Wo
seid ihr denn alle?“, hatte mich ein
estnischer Kollege einmal gefragt. Ich
wusste es nicht. In den Reihen der sogenannten
„Decision Makers“ – wo ich
offensichtlich aus Versehen gelandet war
– gab es uns jedenfalls eher nicht. Auch
das (sächsische!) Festival, für das ich
arbeitete, wird seit zwei Jahrzehnten von
westdeutschen bzw. -europäischen
Führungskräften geleitet und hat sich im
Programmbereich zwar vorbildlich
divers, aber eben konsequent nicht-ostdeutsch
aufgestellt.
Genau an dieser Stelle unterscheiden
sich meine Erfahrungen von denen meiner
osteuropäischen Kolleginnen und
Kollegen. Zum Konfliktpotenzial wurde
das, als wir in einer größeren Gruppe
an einem gemeinsamen Projekt zum
20. Jahrestag der 1989er-Umbrüche
arbeiteten. Aus Osteuropa kamen stapelweise
Filme über die Verbrechen des
Kommunismus und die fiesen Machenschaften
der jeweiligen Geheimdienste.
Da der Plan war, alle ausgewählten
Filme in allen beteiligten Ländern zu
zeigen, hatte ich damit ein Problem.
Denn das mediale Umfeld, in dem ich
Programme machte, reduzierte unser
Leben in der DDR mit all seinen Facetten
ausschließlich auf eine Diktaturerfahrung
und die (natürlich dazugehörigen)
Menschenrechtsverletzungen,
also auf „Stasi und sonst nichts“. Mir
hingegen ging es um die Darstellung
von Komplexität, was allein schon ein
Gegennarrativ darstellte. Es kostete viele
Sitzungen, durchdiskutierte Nächte und
auf die Probe gestellte Freundschaften,
bis ich verstand, dass es den anderen
CHEMNITZ CAPITAL
ESSAY
17
Beteiligten um das Gleiche ging – in
Gesellschaften, in denen gerade die
Diktaturerfahrung kaum je öffentlich
benannt oder gar aufgearbeitet worden
war. Was in meiner Programmarbeit
hieß, mit dem hegemonialen Strom zu
schwimmen, bedeutete dort, sich gegen
ihn zu stemmen. Genauso schwer fiel
es den osteuropäischen Partnern zu
begreifen, wie randständig die gesellschaftliche
Position war, auf der ich als
Ostdeutsche agierte. Und dass es bei
uns allen ein Ringen um die EIGENE
Geschichte und um Deutungshoheit
war.
Für mich wie für die anderen Beteiligten
dieses Prozesses war es wohl das
Ende des unschuldigen Glaubens daran,
dass eine gemeinsame osteuropäische
Nachwende-Erfahrung uns verbindet.
Für meine osteuropäischen Freundinnen
mag dies gelten – für mich nicht. Und
doch finden wir uns am Ende langer
Abende noch zusammen – als wüssten
die Magnete nicht, dass unsere Wege
jetzt in verschiedene Richtungen führen.
Vielleicht ist es eine Art tief sitzender
DNA. Osten – das ist ja mehr als Ideologien
und Systeme, mehr als DDR,
UdSSR und RGW. Gerade mit unseren
direkten Nachbarländern verbinden uns
– anders als die Gebiete jenseits der
Elbe – auch tausend Jahre slawischer
Geschichte.
Vielleicht aber verbindet uns jetzt,
mehr als drei Jahrzehnte nach den Umbrüchen,
auch eine neue Ernüchterung.
Das Gefühl, von Europa nicht gemeint
zu sein. Von uns ist nur die Rede, wenn
wieder etwas falsch gemacht wurde – in
den Augen des Westens. Meine mutigen
Kollegen in Prag, Krakow und Sofia
konnten (mit viel EU-Förderung!) Institutionen
gründen, so viele sie wollten.
Sie können die schönsten Filme produzieren
– auf den großen Festivals und in
unseren Kinos kommen diese allenfalls
als Marginalie und in Nebenreihen
oder als „Special“ vor.
Die Frage, ob wir nun alle Europäer
sind, könnte also in Anlehnung an
Radio Jerewan beantwortet werden mit:
„Im Prinzip ja, aber …“ •
GRIT LEMKE
Grit Lemke, 1965 in Spremberg
geboren, aufgewachsen in
Hoyerswerda, arbeitet als Dokumentarfilmregisseurin
und
Autorin. Ihr Film „Gundermann
Revier“ wurde 2020 für den
Grimme-Preis nominiert. 2019
debütierte sie als Autorin mit
„Unter hohen Himmeln“. 2022
erschien bei Suhrkamp ihr
Buch „Kinder von Hoy. Freiheit,
Glück und Terror“. Lemke
wohnt in Berlin.
Gerade mit unseren
direkten Nachbarländern
verbinden uns
auch tausend Jahre
slawische Geschichte
CHEMNITZ CAPITAL
18 PURPLE PATH
TEXT Sylvie Kürsten
DIE SPUR
DER SKULPTUR
Der Purple Path ist eines der
Highlights der Kulturhauptstadt
Europas 2025 – und das schon,
bevor es überhaupt losgeht. In
unzähligen Gemeinden des Erzgebirges
treffen in den kommenden
Wochen und Monaten Werke
der zeitgenössischen Kunst auf eine
reichhaltige lokale Kulturtradition.
In Marienberg, Oederan, Flöha,
Thalheim und Freiberg gibt es schon
jetzt herausragende internationale
Gegenwartskunst zu sehen
Rechts: In ihrem Langzeitprojekt
„Abgewandte
Portraits“ erzählt Corina
Gertz die Geschichten
menschlicher Kleidung.
Was wird passieren, wenn
2025 plötzlich ein
erzgebirgischer Knappschaftsmann
und eine
kenianische Turkana-Frau
(wie in der rechts zu
sehenden Arbeit „CHN 06“,
2017) Rücken an Rücken
stehen?
Fotos: © Marc Frost (2). Courtesy Galerie Clara Maria Sels, © Corina Gertz / VG Bild-Kunst, Bonn 2023.
Links: Seit über 850
Jahren gibt es in der Gegend
um Chemnitz
Bergbau. Die traditionelle
Kleidung der Bergmänner,
der sog. Habit, unterscheidet
sich nach Region
und wird bis heute bei historischen
Knappschaftsparaden
getragen.
Corina Gertz setzt dieses
einzigartige Erbe fotografisch
in Szene
ALICJA KWADE IN MARIENBERG:
FASCHINGSUMZUG IM NUSSKNACKERLAND
Der Marktplatz von Marienberg ist
einer der größten Deutschlands. Eine
ideale Bühne für Bergmannsparaden.
Neuerdings hält der Kurator Alexander
Ochs hier Referate über den Auftritt
großer Kunst im kunsthandwerklich
versierten Erzgebirge. Seine Mission:
der Purple Path, bis 2025 größter
Skulpturenpfad Europas. So alles
klappt mit der Kulturhauptstadt in
und um Chemnitz, für die er sich seit
drei Jahren engagiert. Mit schnellen
Gesten skizziert der Kurator Kugeln
und Quader in die Luft. Solche, wie
sie etwa auch die Berliner Bildhauerin
Alicja Kwade gern baut. Ihre Installationen
könnten die kühne Symmetrie
der 500 Jahre alten Silberstadt plastisch
im Heute weiterdenken. Wer,
wenn nicht die renommierte Gesteinsexpertin,
sollte diesem aus der
Finsternis geschürften Bergbau-Erbe
eine griffige Form verleihen, so Ochs.
Er zeigt, wie Kwades Werk das zukünftige
Unesco-Welterbezentrum für
die Montanregion mit dem Denkmal
für Heinrich den Frommen verbinden
könnte – dem Begründer dieser
ersten Idealstadtanlage nach italienischem
Vorbild nördlich der Alpen.
Noch ist die Skulptur von Alicja
Kwade nicht zu sehen. Doch um bereits
jetzt schon einmal Werbung für
sie sowie für den gesamten Purple
Path zu machen, lässt Ochs kurz vor
Ostern gleich mehrere Blitzlichtanlagen
in Marienberg aufbauen: Im Rathaus
dann marschieren zwei Herren
in historischer Paradeuniform vor der
Düsseldorfer Fotokünstlerin Corina
Gertz auf. Sanft rückt die einen der
reich bestickten Bergmannrücken gerade
und drückt auf den Auslöser der
Kamera. Es sind die ersten männlichen
Portraits, die sie für ihr weltumspannendes
Projekt über die Macht der
Tracht sowie identitätsstiftende Mode
sammelt. Plötzlich wird das Erzgebirge
etwas ganz besonderes.
Markus Seiler, einem der letzten
Trachtenmacher weit und breit,
kommen die Tränen. Er kann gar
nicht fassen, was hier passiert. Während
seine Familienwerkstatt für ein
Purple-Path-Kampagnenshooting
hergerichtet wird, sagt er: „Diese Aufmerksamkeit
für unsere Tradition, das
ist wie eine Art Lohn für all die mühevolle
Arbeit.“
CHEMNITZ CAPITAL
20
ROLF BÜTTNER IN ANNABERG:
KUNST KOMMT VON MACHEN. UND AUCH VON HIER
Wie jedes kulturelle Großevent setzt
auch der Purple Path auf einen Mix aus
internationalen Stars und lokalen
Künstlern. Neben großen Namen wie
Alicja Kwade oder James Turrell soll
auch Kunst von lokalen Künstlern entstehen
und zu sehen sein. Das wurde
von der Szene vor Ort eingefordert.
So ist es ein Akt der Genugtuung, dass
sich seit Februar die ersten Locals auf
dem Vorplatz der Chemnitzer Jakobikirche
behaupten dürfen – neun Skulpturen,
die auf einem Bildhauersymposium
in Annaberg letzten Herbst
entstanden sind und die von einer regionalspezifischen
Sicht auf die Welt erzählen.
Auch dabei: Rolf Büttners aus
Eichenholz gesägtes und mit Beton
abgeformtes Sarkophag-ähnliches Gebilde
„Formung“. Dem freischaffenden
Designer mit Di plom der Bauhaus-
Uni Weimar ging es um die Frage:
Was prägt uns, was formt uns? Ganz
klar, der Bergbau und der Tod, so der
gebürtige Karl-Marx-Städter abgeklärt.
Und die Region. Büttner wäre wohl nie
Künstler geworden, hätte er nicht vor
Jahrzehnten bei einem Ferienmalwettbewerb
einen Bildhauerkurs an der
Volkskunstschule im nahe gelegenen
Oederan gewonnen. In der 1967 gegründeten
Laien-Institution hat er wie
Hunderte anderer gelernt, wie man zu
seiner Form kommt. „Die konzeptionellen
Fragen eines Kunstwerks sind ja
immer gleich, egal ob man große Weltkunst
macht oder nicht“, so Büttner.
Der 55-Jährige, der sich gegen den Weg
zum „Vollprofi“ entschieden hat, ist seit
20 Jahren Leiter der Volkskunstschule,
einem Relikt sozialistischer Kulturpolitik,
das die DDR erstaunlicherweise
überlebt hat und heute großteils kommunal
getragen wird. Bis zu 350 Schüler
lernen hier schnitzen und töpfern
sowie Cartoons oder Lithografien herzustellen.
Auf der Website bekennt
man sich zum Purple Path. Dass dort
in großem Maßstab kulturelle Identität
gestiftet werden soll, das könne er doch
nur unterstützen, so Büttner. Im Juli
wird er das zweite lokale Bildhauersymposium
für die Kulturhauptstadt mit
ausrichten. Im Herbst gibt’s dann einen
Fotokurs, wo Hobbyfotografen die
Veränderungen durch Chemnitz 2025
in der Region dokumentieren. Dem
Ankommen internationaler Kunst in
seiner Heimat sieht Büttner mit Staunen
zu: „Wenn so große Sachen hierherkommen,
motiviert das einen ja
selbst auch wieder zu Größerem!“
Neun Holzskulpturen von
regionalen Künstlern
sind als Teil des Purple
Path im Außenbereich der
Chemnitzer Jakobikirche
zu sehen. Sie sind im
Herbst 2022 bei dem von
Rolf Büttner initiierten
Bildhauersymposium
„Annaberger Impuls“
entstanden. Dieser soll
2023 und 2024 wiederholt
werden
Foto: © Ernesto Uhlmann
CHEMNITZ CAPITAL
Foto: © Marc Frost, © Tanja Rochelmeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Die 38 farbigen, mehrfach
wiederholten Tafeln im
Bahnhof Flöha stehen für
die 38 Kommunen des
Kunst- und Macherweges
rund um Chemnitz. Die
Künstlerin Tanja
Rochelmeyer gab ihrer
Arbeit den Titel „Glance“,
2022 (Detail), was
übersetzt so viel heißt wie:
einen flüchtigen Blick
werfen
TANJA ROCHELMEYER IN FLÖHA:
VOM KURATIEREN IN PROBLEMZONEN
Es ist ein virales Bonmot: „Auf Veränderung
zu hoffen, ohne selbst etwas dafür
zu tun, ist, wie am Bahnhof zu stehen
und auf ein Schiff zu warten.“ Der
Autor ist leider unbekannt. Doch es
könnte ganz sicher auch von Alexander
Ochs, dem Kurator des Purple Path,
stammen. Ochs nämlich steht nicht nur
an den verwaisten Bahnhöfen von Sachsen,
wo 30 Jahre nach der Bahn-Privatisierung
jeder fünfte Gleiskilometer stillgelegt
wurde, er will sie auch wieder
ertüchtigen. Und da Kultur Katalysator
für Revitalisierungsprozesse sein soll,
schleppt Ochs in Fitzcarraldo-Manier
Kunst ins Erzgebirge. Für das Flagship-
Projekt Purple Path hat er zusammen
mit den ins Boot geholten Bürgermeisterinnen
und Bürgermeistern schon
einige Dinge in der Kulturregion realisiert.
In Flöha wird sich der städtische
Schandfleck Bahnhof vorgeknöpft. Ein
Bermuda-Beton-Dreieck aus Bundesstraßen-
und Bahntrassen-Unterführung,
das seit Jahren ein tristes Dasein samt
Vandalismus fristet. Seit vergangenem
Herbst können sich hier die Besucher in
einer farben- und formenfrohen Wandinstallation
spiegeln, wenn sie den 100
Meter langen Gleistunnel entlanglaufen.
Ein kleiner Anfang für den Kunstbahnhof,
den Anwohner erfrischend finden.
Selbst die Bahn, die die Materialkosten
für Tanja Rochelmeyers 172-teilige Installation
„Glance“ trägt, tauscht sogar
noch den Fußboden aus. Doch um den
Zauber komplett zu machen, um sich
auch die verwahrloste Schalterhalle in
zwei Jahren als Kunstbühne vorzustellen,
dafür braucht es noch Fantasie.
Diesen Ort zu beleben, davon hatte
schon Afzahl Mahmood aus Pakistan
geträumt, als er vor sieben Jahren den
Bahnhof für kleines Geld ersteigerte.
Doch für mehr als eine Handvoll
Einliegerwohnungen samt Dönerladen
hat es bei dem Hansdampf in allen
Gassen bisher nicht gereicht. Aber wenn
ihn die Stadt – wie gerade diskutiert –
bei der Foyersanierung finanziell unterstützen
könnte, dann würde er auch
die Schalterhalle ohne Weiteres dem
Purple Path überlassen.
CHEMNITZ CAPITAL
MICHAEL MORGNER IN FREIBERG:
AUGENFASTEN MIT ABSTRAKTER KUNST
Als „Jakobsweg der Gegenwartskunst“
wird der Purple Path auch bezeichnet.
Schließlich sind die geplanten 70
Skulpturen und Kunstwerke auch
durch eine spirituelle Idee verbunden.
Und erstmals ist auch die Kirche aktiv
im Boot einer Kulturhauptstadt. So
konnten Besucher des Freiberger Doms
während der Passionszeit erleben, wie
sich das Frühlingslicht in einem drei
mal fünf Meter großen Fastentuch von
Michael Morgner verfing. Wie jeder
Lufthauch diese aus bedruckten Seidenpapierblättern
bestehende Fläche zum
Glitzern und Knistern brachte. Dass
das fragile Werk von einem der wichtigsten
zeitgenössischen Künstler aus
Chemnitz im Altarverhüllungsprogramm
des Purple Path gelandet ist, ist
eine glückliche Fügung. Denn eigentlich
hält der notorische Unruhegeist
Morgner nicht viel vom Kulturhauptstadtspektakel.
Dabei erzählt sein Werk
so viel von dieser mittelsächsischen
Welt, vielleicht mehr als manch andere
künstlerische Arbeit des Purple Path –
eines Weges, der Verbindungen zwischen
lokaler Kultur und globaler
Kunst sucht. Vor Publikum erzählt
der 81-Jährige, wie ihn schon früh eine
500 Jahre alte Christusfigur aus Holz
im Bergbaumuseum Freiberg zu seinem
ewigen Ecce-Homo-Thema inspirierte.
Seitdem findet sich in Morgners Werk
immer wieder eine arm- und beinlose
Figur – ob als normierte, geschundene
Seele im Sozialismus oder im Getriebe
des Kapitalismus. Auf die schmeichelhafte
Frage, ob denn sein Fastentuch
von jetzt an jedes Jahr zur Karzeit den
Freiberger Altar verhüllen könne,
scheint Kulturhauptstadt-Pfarrer
Holger Bartsch fast gewartet zu haben.
Ja, den Purple Path zu verlängern, das
Erbe des Kulturhauptstadtprozesses
Michael Morgners abstrakt-modernes
Fastentuch
fügt sich in den
sandsteinfarbenen spätgotischen
Dom in Freiberg
ideal ein. Das Werk greift
die jahrhundertealte
Tradition der Altarverhüllung
während der Fastenzeit
wieder auf und holt
sie mithilfe zeitgenössischer
Kunst in die
Gegenwart
über das eigentliche Titeljahr hinaus
nachhaltig zu sichern, genau dazu
möchte man ermutigen. Vielleicht kann
die Gemeinde das fragile Stück dauerleihborgen!?
Abgesehen davon wird
derzeit an einer Stiftung gearbeitet,
die den Verbleib der vielfach nur geliehenen
Kunstwerke auf dem Purple Path
in der Region dauerhaft absichern soll.
38 sächsische Gemeindebürgermeister,
die sich für zeitgenössische Kunst einsetzen.
Eine ungewöhnlich gute Botschaft!
Foto: © Klaus Killisch, © Michael Morgner / VG Bild-Kunst, Bonn 2023
CHEMNITZ CAPITAL
FRIEDRICH KUNATH IN THALHEIM:
GROSSE KUNST MIT EIERSCHECKE
Foto: © Frank Wendt
Chemnitz ist Europäische Kulturhauptstadt
2025, der Purple Path ihr kulturelles
Programm in der Region – eben
Chemnitz Plus. So liest man auf der
Website des Fördervereins FreundInnen
der Europäischen Kulturregion, die
mittlerweile 38 kunstwillige Gemeinden
umfasst – von A wie Amtsberg bis Z wie
Zwönitz. T wie Thalheim, da dürfte es
beim eingefleischten Kunstfan durchaus
schon klingeln. Die feierliche Eröffnung
des Purple Path im vergangenen August
samt Skulptureneinweihung und urbanem
Kunstfestival Begehungen hat auch
international Wellen geschlagen. Ein
beinah surreales Highlight sei das gewesen,
erinnert sich der 40-jährige Bürgermeister
Nico Dittmann, der vielleicht
einer der aktivsten Schnittstellenbauer
zwischen Chemnitz und der Region,
ja ein Treiber des Purple Path ist. „Ich
stelle mir eine Vernissage in der Kunstmetropole
Berlin steifer vor als das, was
wir erlebt haben.“ Schließlich ist zur
Einweihung von Friedrich Kunaths
Skulptur zeitgleich zur Oma mit Rollator
der Porsche vorgefahren, hat der
Bürgermeister dem nach Kalifornien
ausgewanderten, aber in Karl-Marx-
Stadt geborenen Künstler am Ende eine
Eierschecke im Supermarkt ausgegeben.
So geht sächsisch. „Ja, in der Provinz
hauen nicht alle wie die Nazis mit dem
Löffel aufn Topf“, so Dittmann entschieden.
Genau deswegen passt auch
Kunaths Gruppenskulptur „Include me
out“ wie Arsch auf Eimer. Schließlich
illustriert seine mannshohe Bronze den
absurden Wunsch, gleichzeitig Teil einer
Gemeinschaft und auch für sich zu
sein. Was dialektische Konzeptkunst befürchten
lässt, kommt bei Kunath als
naiv-augenzwinkerndes Spiel daher: hier
sechs vermenschlichte Tannenbäume,
die sich an ihren hängenden Ästen bei
der Hand nehmen. Und da eine beleidigte
Baumleberwurst im Abseits. Wie
man das jetzt finde, so Dittmann, sei
jedem selbst überlassen. Kunst lasse sich
ja glücklicherweise nicht gleichschalten.
Mittlerweile haben die Thalheimer
den Platz um ihre Skulptur mit Blumen
und Bänken erobert, finden Konzerte
statt und wollen sogar Paare dort heiraten.
So geht Kunst im öffentlichen
Raum. •
Mit Friedrich Kunaths
Bronze „Include me out“
ist die Drei-Tannen-Stadt
Thalheim die erste von
38 Chemnitzer Umlandgemeinden,
die anlässlich
der bevorstehenden
Kulturhauptstadt mit
Kunst bereichert wurden
CHEMNITZ CAPITAL
24 PORTRÄT
Zimmer
mit Aussicht
Seit über 30 Jahren hat Heike Straube
einen Logenplatz: Von der 26. Etage
eines Hotels schaut sie auf die Stadt
TEXT Maria Winkler
FOTO Thomas Victor
Heike Straube schaut aus dem
Fenster. Nicht so, wie andere
vielleicht aus dem Fenster
schauen. Wenn die Frau mit den blonden
und leicht zurückgebundenen
Haaren von ihrem Panoramaplatz nach
unten blickt, dann geht es 97 Meter
in die Tiefe. Und wenn sie ihren Blick
von hier in die Weite schweifen lässt,
dann sieht sie weit über die Dächer der
mittelsächsischen Metropole hinweg –
bis hinüber ins Erzgebirge.
C the Unseen! Das Motto der Kulturhauptstadt
2025 ist Heike Straube
in Fleisch und Blut übergegangen.
Nicht erst jetzt. Vor Jahrzehnten schon.
Denn Straube sieht, was andere nicht
sehen. Jetzt gerade zum Beispiel ist die
Sonne über der Stadt aufgegangen.
Prächtig funkelt sie auf den Dächern
von Chemnitz. Es riecht nach Kaffee,
nach gebratenem Speck und nach
Rührei. 8 Uhr. Im Panoramarestaurant
des Dorint Hotels, in dem Heike
Straube Tag für Tag ihrer Arbeit nachgeht,
herrscht um diese Zeit munteres
Treiben.
Das allein, es wäre natürlich nicht
ungewöhnlich. So oder ähnlich findet
es jeden Tag in Hunderten Hotels
des Landes statt. Doch hier, in der 26.
Etage eines gewaltigen Hochhauses
inmitten der Chemnitzer Innenstadt,
genießt man eben nicht nur seinen Kaffee.
Man hat auch einen gigantischen
Rundumblick über nahezu alles, was die
so oft übersehene Stadt zu bieten hat.
Das Dorint, es ist mit Abstand das
höchste Gebäude der Stadt. Und es
belegt immerhin Platz 86 im Ranking
der höchsten Gebäude Deutschlands.
Ein Koloss. Und genau hier, im obersten
Stockwerk, schlägt sein eigentliches
Herz: das große Frühstücksrestaurant,
in dem sich seit der Hotel-Eröffnung
im Jahr 1974 den Besuchern eine atemberaubende
Aussicht bietet. Was hat
man von hier oben nicht schon alles gesehen?
Die Chemnitzer, wie sie lebten
und liebten. Den Aufbau der sozialistischen
Stadt. Die Wende. Den Wandel
der Nachwende-City. All das konnte
Heike Straube von hier aus aus sicherer
Distanz betrachten. Weit weg und
doch ganz nah dran.
Vielleicht ist es genau diese schier
unvorstellbare Weite, die die Frau mit
dem einnehmenden Lachen so gelassen
und sympathisch gemacht hat. Straube
kennt das hohe Haus wie kaum eine
Zweite. Einen Lieblingsperspektive habe
sie dennoch nicht, sagt sie gleich zur
Begrüßung. Die Aussicht sei doch überall
schön.
Und wer wüsste das besser als sie:
die Frau, die von hier oben ganz sicher
jeden Standpunkt und jede Perspektive
bereits mindestens einmal ausprobieren
Heike Straube hat
den schönsten
Fensterplatz von
Chemnitz
konnte? Im Dorint angefangen nämlich
hat die heutige Bankettleiterin des Hotels
bereits vor 43 Jahren. Damals wollte
sie unbedingt Kellner werden. Nicht
irgendwo, sondern genau hier. Im
höchsten Haus der Stadt. Zu DDR-Zeiten
ein Privileg. Nicht jeder konnte im
damaligen Interhotel so ohne Weiteres
eine Lehrstelle bekommen. Sie hatte
Glück. Vielleicht, weil sie immer schon
nach ganz oben gewollt hat. So genau
kann sie sich an die Gründe gar nicht
mehr erinnern.
Vieles ist eben längst verblasst. In
Straubes Erzählungen geblieben aber ist
ein in der DDR übliches Maskulinum.
Sie nutzt es noch heute. Zum Beispiel
wenn sie über ihren Beruf spricht: Kellner
sei sie. Nicht Kellnerin. Diese
männliche Form sei für sie vollkommen
normal. Das hieß damals eben so.
CHEMNITZ CAPITAL
Doch auf dem Weg durch ihre zweijährige
Lehre hat Heike Straube nicht
nur Namen und Titel gelernt. Die
wichtigste Lektion: Diskretion und
Res pekt. „Ein Kellner hat nicht schöner
auszusehen als der Gast.“ Für die Frauen
hieß das: kein Make-up, kein Schmuck,
keine manikürten Fingernägel. Für
die Herren wiederum waren Bärte tabu.
Diese Ausbildung, erinnert sie sich,
war hart und streng und Pünktlichkeit
eine wichtige Tugend. Zehn Minuten
vor Dienstbeginn hatte man da zu sein.
„Wir waren immer im Dienst, auch
wenn wir mal lange Party gefeiert haben.
Da wurde am nächsten Tag eben durchgezogen.
Streng nach dem Motto: Wer
feiern kann, kann auch arbeiten.“
Der Lohn: Nach der Lehre wurde man
übernommen und durfte zwei Restaurants
angeben, in denen man künftig
Vielleicht hat Heike
Straube mehr
Ein- und Aufsichten
als irgendjemand
sonst in der Stadt
arbeiten wollte. Für Heike Straube waren
zwei schon damals eines zu viel.
Sie wollte immer nur nach oben. Hoch
hinaus ins Panoramarestaurant. Den
zweiten Wunsch ließ sie daher offen.
Später dann, als ihr größter Traum in
Erfüllung ging, hat sie über den Dächern
von Chemnitz die Wichtigen und
Mächtigen aus Politik und Kultur gesehen.
Einige von ihnen hat sie sogar
bedient. Kurt Biedenkopf, Udo Jürgens,
Carmen Nebel, Helene Fischer, die gesamte
deutsche Volksmusik. Doch wenn
es um Anekdoten über Promis geht,
hält sich Straube diskret zurück. Ganz
dem Ethos ihres Berufes entsprechend.
Ganz Kellner. Man steht im Hintergrund
und ist verschwiegen.
Einsichten und Aufsichten. Heike
Straube hat von den großen wie kleinen
Blicken auf das Leben wohl mehr als
irgendjemand sonst in Chemnitz genossen.
Von ihrem Panoramaplatz aus kann
sie sogar die Karl-Marx-Büste sehen.
1971, bei der Einweihung, war sie mit
dabei. Nach 43 Dienstjahren hat sie
zwölf Direktoren kommen und gehen
sehen. Ob sie je woanders hätte arbeiten
wollen? „Natürlich nicht!“ Chemnitz,
das sei ihre Heimat. Auch wenn sich
vieles hier verändert habe. Manches bemerkt
man erst beim Draufschauen. •
CHEMNITZ CAPITAL
26
Der Sachse, der
das Feuer erfand
TEXT Jens Wiesner
Zugegeben: Bilder von verruchten
Hafenspelunken in La Boca, von
knisternder Erotik, enttäuschter
Liebe und Heimweh ruft der Name
Carl Friedrich Uhlig nun wirklich nicht
auf den Plan. Tatsächlich hat besagter
Herr, um den es in dieser Geschichte
gehen wird, auch niemals Tango getanzt
oder auch nur musikalisch begleitet.
Denn zu Uhligs Lebzeiten – er wurde
1789 in Bernsdorf bei Chemnitz geboren
und starb 1874 – gab es den Tanz
noch gar nicht. Somit muss man schon
jetzt konstatieren: Uhlig ist eigentlich
gar nicht sexy.
Nichtsdestotrotz sind sich Mathis
Stendike und Thu Trang Sauer von der
Carl Friedrich Tango Connection, die
Chemnitzer Stadtführerin Edeltraud
Höfer, Franz Wagner-Streuber von der
Sächsischen Mozart-Gesellschaft, Jürgen
Karthe, Bandoneonlehrer in der Chemnitzer
Musikschule und Orchesterleiter
des größten Tangoorchesters Europas,
sowie Peer Ehmke vom Schloßbergmuseum
Chemnitz einig: „Ohne Uhlig
kein Tango!“ Ihr Ziel: Sie wollen den
Oben rechts:
Concertina-Spieler
aus Chemnitz
Oben:
Historisches Foto
des Konzertina-
Klubs Chemnitz-
Markersdorf,
aufgenommen im
Jahr 1924
CHEMNITZ CAPITAL
RÜCKBLICK
27
Chemnitz als Wiege des Tangos? Auch
wenn es den Sachsen an Feuer sicher
nicht mangelt – das klingt doch eher
nach einem Märchen aus der Stadt-
PR. Wer einen Blick in die Geschichtsbücher
wirft, stellt aber überrascht fest:
Dieses Märchen ist wahr.
Fotos: zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz (2). Wir haben uns bemüht alle Rechte bezüglich des verwendeten Fotos zu klären, leider ist es
uns trotz intensiver Recherche nicht gelungen. Bei etwaigen Rechtsansprüchen wenden Sie sich bitte an die Redaktion. mauritius images / Zip Lexing / Alamy
vergessenen Sohn der Stadt zurück ins
Rampenlicht holen und „Chemnitz ein
Stück seiner Vergangenheit zurückgeben“,
so Wagner-Streuber.
Und das ist gar nicht so einfach:
„Vieles aus seinem Leben ist mittlerweile
in Vergessenheit geraten“, sagt Höfer,
die aktuell zu Uhlig forscht. Bekannt ist,
dass der junge Carl Friedrich zunächst
eine Lehre als Strumpfwirker abschloss
und wohl auch Strümpfe produzierte,
bis er der familiären Zunft überdrüssig
wurde und sich beruflich seiner Leidenschaft
zuwandte: Ungefähr ab dem
30. Lebensjahr arbeitete Uhlig, der als
Soloklarinettist in einem Chemnitzer
Orchester spielte, als Musikalienhändler
und Instrumentenbauer. „Er wird sich
wohl in Wiener Harmonikawerkstätten
und auch beim Akkordeonerfinder
Cyrill Demian umgeschaut und dieses
Wissen mitgebracht haben“, so die
Stadtführerin Höfer.
Die Gewissheit der Chemnitzer
Uhlig-Freunde, dass an einer Renaissance
seiner Person nichts vorbeiführt, liegt
in Uhligs wichtigster Erfindung begründet:
einem kleinen Kasten, den das ungeübte
Auge als ein klobiges Akkordeon
missdeuten mag, der Experte aber als
ein eigenständiges Handzuginstrument
aus der Familie der Harmonikas erkennt:
die Konzertina.
Nur: Konzertina hieß das Instrument
noch gar nicht, als „Harmonika-Fabrikant“
Uhlig seine neueste Erfindung
1834 im „Chemnitzer Anzeiger“ als
„Accordion neuer Art“ bewarb. Bereits
ein Jahr später begann die Produktion in
größerem Stil. Das anfängliche Fehlen
eines eigenständigen Produktnamens
sollte in der Folgezeit jedoch für allerlei
Begriffsdurcheinander sorgen.
Zehn Jahre nach Uhligs „Accordion
neuer Art“ ließ sich nämlich der englische
Physiker und Instrumentenbauer
Charles Wheatstone eine von ihm entworfene
Ziehharmonika-Variante als
„Konzertina“ patentieren, nachdem er
bereits 1829 einen Vorläufer entwickelt
hatte. Diese Bezeichnung gefiel Uhlig
offenbar so gut, dass er sie ab 1851
selbst für sein Produkt nutzte. Zur
besseren Unterscheidung der beiden
Varianten spricht man heute von der
Chemnitzer beziehungsweise Deutschen
Konzertina und von der Englischen
Konzertina.
Worin aber lag dann das Neue an
Uhligs Erfindung? „Das Grundprinzip
Der Instrumentenbauer
Carl Friedrich
Uhlig vor einem
Harmonium
CHEMNITZ CAPITAL
Die Konzertina war
früh ein Instrument
für jedermann
Plattencover
des Orchestre
Argentin aus den
1930er-Jahren
ist dasselbe wie bei jedem Handzuginstrument“,
erklärt der passionierte Bandoneonspieler
Jürgen Karthe. „Mittels
eines Balges wird Luft durch Metallzungen
gepresst, sodass diese zum Schwingen
kommen und dabei einen Ton
erzeugen.“ Anders als beim Akkordeon
und bei der Englischen Konzertina erzeugt
die Chemnitzer Bauart beim
Zusammendrücken und Auseinanderziehen
des Balgs aber unterschiedliche
Töne, gehört damit also zu den wechseltönigen
Instrumenten. „Damit war
der Spieler nicht so festgelegt und konnte
sich jede Harmonie einzeln zusammensuchen“,
so Karthe. „Dieses Prinzip
steht dem Klavier übrigens viel näher
als dem Akkordeon.“
Uhligs Ur-Konzertina besaß zunächst
nur fünf Knopftasten an jeder Seite,
mit denen ihr immerhin schon 20 Töne
entlockt werden konnten. Damit aber
auch Menschen ohne Notenkenntnis
das Instrument zu spielen vermochten,
versah Uhlig diese Knöpfe mit Zahlen,
nach denen vom Blatt gespielt wurde.
Das machte die Konzertina gemeinsam
mit ihrem günstigen Kaufpreis, der
transportablen Größe und ihrer Lautstärke
besonders in der Arbeiterschaft
und unter Bergleuten beliebt: Bereits
1874 gründete sich der erste Konzertina-Verein
in Chemnitz. Zum Repertoire
gehörten vor allem Volksmusik
und Gassenhauer – also Märsche, Walzer
und Polka. „Sie dürfen sich das aber
Der Ur-Konzertina
ließen sich immerhin
schon 20 Töne
entlocken
nicht als Alte-Herren-Musik vorstellen“,
sagt Museumsmann Peer Ehmke, der
2001 eine Konzertina-Ausstellung kuratierte.
„Polka war damals Jugendkultur,
mit dem Punk der 1980er-Jahre vergleichbar!“
Gespielt wurde vornehmlich
in Bierzelten und Kneipen, an Straßenecken
und bei Familienfeiern – übrigens
nicht wie oft beim Akkordeon stehend,
sondern sitzend übers Knie gelegt.
Da es zu dieser Zeit in Deutschland
noch kein Patentrecht gab, bauten bald
andere Fabrikanten Uhligs Knopfkasten
nach und entwickelten ihn dabei stetig
weiter, darunter Stiefsohn Christian
Friedrich Reichel und Schwiegersohn
Friedrich Anton Lange. Letzterer
übernahm 1863 den Betrieb von Uhlig,
der elf Jahre später im Alter von 85 Jahren
verstarb.
Mit der Zeit entstanden so immer ausgereiftere
Bauformen mit immer mehr
Knöpfen und Tönen – in Carlsfeld oder
dem sächsischen Musikwinkel zum
Beispiel, aber auch in Krefeld, wo ein
Instrumentenhändler namens Heinrich
Band lebte. Dieser war in Sachen Marketing
deutlich gewiefter als sein Chemnitzer
Kollege und bezeichnete die
von ihm vertriebene (und ggf. entworfene)
Konzertina-Variante einfach nach
sich selbst: Bandonion (heute übliche
Schreibweise: Bandoneon).
Unter diesem Namen ging die Konzertina
nun auf große Reise. Angelockt
vom Versprechen auf eine bessere
Welt, waren ab der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts neben Italienern
und Spaniern auch zahlreiche Deutsche
nach Argentinien ausgewandert. Für
den Großteil der Auswanderer endete
der Traum allerdings schon in den
CHEMNITZ CAPITAL
RÜCKBLICK
29
Fotos: zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz. Wir haben uns bemüht alle Rechte bezüglich des verwendeten Fotos zu klären,
leider ist es uns trotz intensiver Recherche nicht gelungen. Bei etwaigen Rechtsansprüchen wenden Sie sich bitte an die Redaktion.
ärmlichen Hafenvierteln und Bordellen
am Río de la Plata. Um ihrer Sehnsucht
nach der alten Heimat Ausdruck zu verleihen,
entstand in diesem Schmelztiegel
eine neue, feurige Musik: der Tango.
Und das Bandoneon – mitgereist im
Gepäck der deutschen Auswanderer –
wurde mit seinem unverwechselbar
„traurigen, samtenen Klang“, wie es
Tango-Virtuose Astor Piazzolla einst beschrieb,
zu seinem zentralen Instrument.
In ihrem Heimatland befand sich die
Konzertina (bzw. das Bandoneon) zunächst
auf einem ähnlichen Siegeszug:
Zur Blütezeit 1927 meldete der „Deutsche
Konzertina- und Bandonion-Bund“
rund 1000 Vereine und über 14.000
Einzelmitgliedschaften deutschlandweit.
Mit der Gleichschaltung des Vereinswesens
durch die NSDAP bekam dieser
Aufwärtstrend jedoch erste Risse. „Leute,
die den Nationalsozialisten politisch
nicht genehm waren, wurden aus den
Vereinen gedrängt“, weiß Ehmke vom
Schloßbergmuseum Chemnitz. „Und
viele weitere Vereinsmitglieder starben
im Zweiten Weltkrieg an der Front.“
Gleichzeitig brach die Produktion der
Instrumente vollends zusammen und
sollte auch nach Kriegsende nie wieder
Fahrt aufnehmen: Sowohl in der BRD
als auch in der DDR, wo die Produktionsstätten
verstaatlicht wurden, setzte
man nun auf die Herstellung von
Akkordeons.
Die
Bandoneon-
Spielerin Nina
Alexia
Der eigentliche Todesstoß
für die Instrumente liegt aber
ganz woanders. „Nach dem
Krieg brach einfach eine völlig
andere Zeit an. Bandoneons
und Konzertinas waren nicht
mehr schick; die Jugend hörte
nun Beatmusik, tanzte Swing
und wollte E-Gitarre spielen“,
resümiert Ehmke. „Mit der
breiten Verfügbarkeit von Tonkonserven
wie der Schallplatte sank
außerdem der Bedarf an Livemusik.“
Und in Chemnitz? Von ehemals über
20 Konzertina-Vereinen blieben nach
dem Krieg nur zwei übrig. Diese schlossen
sich 1964 zum „Konzertina & Bandonion
- Orchester 1890 Chemnitz“
zusammen und spielten immerhin bis
Anfang der 2010er-Jahre Volksmusik
auf regionalen Festen.
So hätte diese Geschichte beinahe
ein trauriges Ende gefunden, wäre das
Bandoneon nicht dank einer großen
Tango-Renaissancewelle in den 1990ern
auch zurück nach Chemnitz geschwappt
– ins legendäre Chemnitzer Kulturzentrum
VOXXX zum Beispiel, wo zu
Techno und Tango getanzt wurde. 2014
organisierte die Sächsische Mozart-
Gesellschaft gar ein Tangofestival unter
dem großen Marx-Kopf – und selbst
für den Nachwuchs wird mittlerweile
gesorgt: An der Chemnitzer Musikschule
lernen derzeit zehn Schüler
zwischen 7 und 80 Jahren bei Karthe
das Bandoneonspiel.
Mit den Hochzeiten der Vergangenheit
lässt sich diese Situation freilich
nicht vergleichen – und so bleibt das
Wissen um die Herkunft des wichtigsten
Instruments für den feurigen Tango
einem kleinen Kreis von Kennern
vorbehalten. „Ich habe das Bandoneon
immer nur mit Tango und Argentinien
verbunden“, gesteht auch Sauer, die
erst im Rahmen der Bewerbung zur
Kulturhauptstadt von seinem sächsischen
Ursprung erfahren hat.
Um dieses Wissen zurück im Chemnitzer
Stadtgedächtnis zu verankern,
träumt Wagner-Streuber von der Sächsischen
Mozart-Gesellschaft von einem
Denkmal zu Ehren Uhligs und seiner
Erfindung: „So machen wir Geschichte
wieder be-greif-bar: Wenn die Knöpfe
der Konzertina irgendwann golden
schimmern, weil so viele Hände sie berührt
haben…“ Die Stadtführerin Edeltraud
Höfer hat auch schon einen passenden
Ort im Blick: „Am besten in der
Nähe des großen Marx-Kopfes, in dieser
Ecke stand nämlich die Fabrik, in der
die ersten Konzertinas gefertigt wurden.“
Allerdings, und das bedeutet Wagner-
Streuber ganz viel: „Wir wollen die
Konzertina nicht allein als historische
Reliquie auf einem Sockel anbeten!“
Auch Mathis Stendike von der Tango
Connection hält nichts davon, das Instrument
zu musealisieren. „Carl Friedrich
war offen, neue Dinge auszuprobieren
– das wollen wir in unsere Musik
übersetzen. Gemeinsam mit der Berliner
Bandoneonspielerin Bettina Hartl
suchen wir den Tango auch an ungewöhnlichen
Stellen, zum Beispiel in der
Barockmusik und in Kombination mit
elektronischen Sounds.“
Eine Tango-Renaissance
hat das
Bandoneon zurück
nach Chemnitz
gebracht
Eine alte Uhlig-Konzertina haben
sich die drei trotzdem besorgt. Auf ihren
Konzerten steht sie nun in einem kleinen,
von einer einzelnen Kerze beleuchteten
Schrein – in Gedenken an jenen
Erfinder, den die Welt fast vergessen
hätte. •
CHEMNITZ CAPITAL
Johannes Rödel auf
der Baustelle des Eisenbahnviadukts
über
den Chemnitz-Fluss
INTERVENTIONEN
31
Und es bewegt
sich doch!
Kulturhauptstadt ist Entwicklung. Bürger und Initiativen
verändern schon jetzt das Gesicht der Stadt. Davon
zeugen vor allem die Interventionsflächen. Drei engagierte
Chemnitzer im Gespräch
INTERVIEW Ralf Hanselle
FOTOS Felix Adler
JOHANNES RÖDEL
VON DER INTERVENTIONSFLÄCHE „BAHNVIADUKT
AN DER BECKERSTRASSE“
Seit über zehn Jahren kämpft der
Bürgerverein Viadukt e.V. – Verein zur
Nutzung des baulichen Erbes der
Industrialisierung um die Erhaltung
einer alten Eisenbahnbrücke an der
Annaberger Straße in Chemnitz. Eigentlich
wollte die Deutsche Bahn die
historische Stahlarchitektur aus dem
frühen 20. Jahrhundert schon abreißen.
Jetzt aber ist das Glanzstück sächsischer
Industriekultur Teil der Interventionsfläche
„Stadt am Fluss“ geworden.
Herr Rödel, wieso macht man sich
für ein altes Eisenbahnviadukt stark?
JOHANNES RÖDEL: Wenn ich ehrlich bin,
rutscht man in so ein Projekt zunächst
einfach rein. Die Pläne der Deutschen
Bahn, die Brücke abzureißen, reichen
bereits in die 1990er-Jahre zurück. Als
der Abriss dann 2013 immer konkreter
wurde, formierte sich in Chemnitz
Widerstand. Es gab Leute, die haben
eine Petition gestartet, andere eine Ausstellung
organisiert oder Experten kontaktiert.
Ich wollte die Initiative zur
Erhaltung des Viadukts zunächst nur
von der Seitenlinie aus unterstützen. Na
ja, und irgendwann hält man dann
seinen ersten Vortrag und ist mit ganzem
Herzen mit dabei.
Was fasziniert Sie denn so an der
Überführung?
JR: An dieser historischen Eisenbahnüberführung
über den Chemnitzfluss
wird Industriekultur sichtbar – nicht
nur Industriekultur aus Chemnitz, sondern
aus der gesamten westsächsischen
Industrieregion. Die Brücke wurde einst
in Zwickau gefertigt, in der damals
größten Stahlhütte der Region. Das waren
die wichtigsten Brückenbauer ihrer
Zeit. Die Hütte hat unter anderem auch
das legendäre Blaue Wunder in Dresden
gebaut. Das Chemnitzer Viadukt hat
sogar den Zweiten Weltkrieg nahezu
unbeschadet überstanden.
Wie viel aktive Streiter für den Erhalt
des Viadukts sind Sie?
JR: Im Verein sind wir heute noch gut
zehn Leute. Wir haben den Verein
auch aus rechtlichen Gründen aus der
Taufe gehoben. Als Verein, dessen
Ziel es ist, ein Denkmal zu erhalten, ist
es einfacher, in einem Planfeststellungsverfahren
einen begründeten
Einspruch zu erheben. Und das war
letztlich auch erfolgreich.
Das Viadukt wird im kommenden Jahr
fertiggestellt und 2025 Teil der Interventionsfläche
„Stadt am Fluss“ sein.
Ist das nicht ein großartiges Beispiel
dafür, dass sich Engagement am Ende
auszahlt?
JR: Auf jeden Fall. Aber noch gibt es viel
zu tun. Die Sanierung ist noch gar
nicht abgeschlossen. Zudem gibt es
auch noch einige Denkmalschutzfragen
zu klären. Und dann geht es im letzten
Schritt um die Umfeldgestaltung.
CHEMNITZ CAPITAL
32 INTERVENTIONEN
Eigentlich nämlich wollte die Bahn das
Areal direkt unter der Brücke einzäunen.
Aber das hätte die Nutzung für die
Stadtgesellschaft eingeschränkt. Spätestens
2025 soll das Viadukt ja Teil einer
Interventionsfläche sein. Bis dahin ist
es immer wieder ein Ringen. Am Ende
aber haben wir mit unserem Projekt
schon jetzt wirkungsvoll deutlich machen
können, dass es sich lohnt, wenn
man sich für eine Sache einsetzt.
„Man erreicht
Veränderungen
nicht im Hauruckverfahren“
Was waren in diesem Prozess Ihre
wichtigsten Lehren?
JR: Dass man nichts im Hauruckverfahren
erreichen kann. Gut Ding will
Weile haben. Zudem kann man sich
nicht sofort um alles kümmern.
Wichtig ist, dass man Geduld hat und
sich auf eine Sache fokussiert. Da habe
auch ich mir viele Hörner abstoßen
müssen.
Wissen Sie denn schon, was für Sie
nach dem Viadukt kommt?
JR: Das wird man dann sehen. Es gibt
unendlich viele Themen in der Stadt –
Themen, die immer wieder auch mit
der Industriekultur und mit der reichhaltigen
industriellen Geschichte der
Region rund um das Erzgebirge zu tun
haben. Da wird etwas Neues kommen.
Ich bin mir ganz sicher.
BRIGITTE PFÜLLER
VON DER INTERVENTIONSFLÄCHE „ENSEMBLE
KARL SCHMIDT-ROTTLUFF“
Der Förderverein Karl Schmidt-Rottluff
e.V. kümmert sich seit acht Jahren
um das Erbe eines der größten Söhne
der Stadt. In einer alten Mühle im
heute zu Chemnitz gehörenden Dorf
Rottluff hat der 1884 geborene Expressionist
Karl Schmidt-Rottluff seine
Kindheit verbracht. Lange Zeit war das
Gebäude verfallen. Der Bürgerverein
will nun einen lebendigen Erinnerungsort
für eine der wichtigsten Kunstströmungen
der Avantgarde schaffen
– und steht bereits kurz vor dem Ziel.
Frau Pfüller, Sie haben 2014 den
Chemnitzer Förderverein Karl Schmidt
Rottluff e.V. gegründet. Schmidt-Rottluff
und Chemnitz: Ist das nicht wie
Eulen nach Athen tragen?
BRIGITTE PFÜLLER: Nein, auf keinen Fall.
Viele wissen gar nicht, dass der Künstler
Karl Schmidt-Rottluff ein Chemnitzer
war. Auch in Chemnitz selbst, wo es in
den Kunstsammlungen eine der größten
Sammlungen zu Schmidt-Rottluff
gibt, spielt der Maler noch nicht die
Rolle, die er verdient hätte. Viele denken
bei Chemnitz immer an Karl Marx.
Dabei war dieser nie in der Stadt. Früher,
als ich Schülerin war, wurde uns
oft von Schmidt-Rottluff erzählt. Wir
sind sogar rausgefahren zur alten Wohnmühle,
wo er Kindheit und Jugend
verbrachte.
Just diese alte Mühle haben Sie nun
zusammen mit Ihrem Verein saniert.
Wie sind Sie überhaupt auf die Idee
gekommen?
BP: Unser Verein, dem gut 20 Leute angehören,
ist getragen von der Liebe
zu Schmidt-Rottluff und zum Expressionismus.
Die Künstlergemeinschaft
Brücke hat ihre personellen Wurzeln in
Chemnitz und Westsachsen. Karl
Schmidt-Rottluff und Erich Heckel
wurden schon als Schüler in Chemnitz
Freunde, und auch Ernst Ludwig
Kirchner kam aus Chemnitz. Max
Pechstein und Fritz Bleyl stammen aus
Zwickau. Erst als sie 1905 nach Dresden
gingen, geriet Chemnitz aus dem
Fokus des deutschen Expressionismus.
Dabei gibt es viele Motive im Werk
Schmidt-Rottluffs, die in Rottluff und
rund um die Mühle entstanden. Der
Künstler war seiner Herkunft stets verbunden.
Deshalb hat er sich auch
nach seiner Heimatgemeinde Rottluff
benannt. Hier steht auch heute noch
die elterliche Wohnmühle. Nach
der Wende wurde sie von Investoren gekauft,
die das denkmalgeschützte Gebäude
verfallen ließen. Die Stadt Chemnitz
nutzte 2008 ihr Vorkaufsrecht.
2009/2010 erfolgte durch die Kommune
dann eine Dach-, Fassaden- und
Deckensanierung.
Wofür brauchte es dann noch einen
Verein?
BP: Weil der Ausbau nicht voranging.
Als wir uns des Gebäudes annahmen,
gab es hier unverputzte Wände, kein
Wasser, keinen Strom. Unser Ziel ist es,
die Wohnmühle als Elternhaus von
Schmidt-Rottluff für die Öffentlichkeit
als Veranstaltungs- und Begegnungsstätte
zugänglich zu machen. Sie soll zugleich
ein Erinnerungsort für den Expressionismus
werden.
Wo lagen dabei die größten
Herausforderungen?
BP: Wir sind im Verein eine bunte Mischung.
Da hat jeder das gemacht,
was er am besten kann. Klar, wir haben
auch gemalert oder den Garten mit
gestaltet. Aber die eigentliche Arbeit
bestand darin, Geld einzuwerben, mit
Verantwortlichen zu sprechen und Menschen
zusammenzubringen. So haben
wir unter anderem mit der Volksbank
Chemnitz eine Crowdfunding-Aktion
mit 20.000 Euro realisiert. Von Bund
und Land Sachsen erhielten wir
CHEMNITZ CAPITAL
INTERVENTIONEN
33
„Viele wissen ja
gar nicht, dass Karl
Schmidt-Rottluff
Chemnitzer war“
Denkmalfördermittel von rund 165.000
Euro, auch die Stadt Chemnitz holten
wir finanziell ins Boot.
Was haben Sie denn 2025, im Jahr der
Kulturhauptstadt, mit der dann fertig
sanierten Mühle vor?
BP: Hier sollen Veranstaltungen stattfinden.
Es geht um Lesungen, Diskussionen,
Ausstellungen, und auch für
Kinder wollen wir ein Programm auf
die Beine stellen. Gleich neben dem
Gebäude liegt das Landhaus, das die
Familie Schmidt 1913/14 errichtete.
Karl Schmidt-Rottluff lebte hier von
1943 bis 1946, nachdem seine Wohnung
in Berlin durch Bomben zerstört
wurde. Die Stadt Chemnitz plant, im
Landhaus ein „Museum Karl Schmidt-
Rottluff Haus“ einzurichten, um ab
2025 die Werkentwicklung des Künstlers
zu zeigen. Die Mühle ist als Veranstaltungsort
eine ideale Ergänzung.
Landhaus und Wohnmühle gehören als
Ensemble Schmidt-Rottluff zu den Interventionsflächen
für die Kulturhauptstadt
Europas 2025.
Hätten Sie, als Sie den Verein vor acht
Jahren gründeten, je daran geglaubt,
dass sich Ihre Vision relativ schnell realisieren
lässt?
BP: Klar, ich habe immer daran geglaubt.
Sonst muss man damit nicht anfangen.
Wir sind als Verein gut vernetzt und
kennen auch viele Handwerker aus der
Region. Das hat einige Arbeiten sehr
erleichtert. Außerdem hat das Werk von
Schmidt-Rottluff immer noch eine
große Kraft und Ausstrahlung.
Brigitte Pfüller vor
dem einstigen
Wohnhaus Karl
Schmidt-Rottluffs
CHEMNITZ CAPITAL
34 INTERVENTIONEN
GRIT STILLGER
VON DER INTERVENTIONSFLÄCHE
„DIE STADTWIRTSCHAFT“
Auf dem Gelände einer ehemaligen
Stadtreinigungsanlage, die 1891 im
Chemnitzer Arbeiterviertel Sonnenberg
errichtet wurde, wird in den kommenden
Jahren ein kultureller Inkubator
namens „Die Stadtwirtschaft“
entstehen. Daran haben sowohl die
Stadt wie auch engagierte Kreative
einen immensen Anteil.
Frau Stillger, glaubt man dem berühmten
italienischen Künstler Piero
Manzoni, dann soll Merda d’artista, zu
Deutsch: „Künstlerscheiße“, ein sehr
kostbares Gut sein. Ist das der Grund
dafür, dass die Stadt Chemnitz ein
neues kreatives Zentrum mitten auf
ein altes Areal der Dünge- und Fäkalienabfuhr
gesetzt hat?
GRIT STILLGER: Die Gebäude der sogenannten
Stadtwirtschaft wurden bereits
Ende der 1990er-Jahre aufgegeben.
Seither gibt es hier auch keine Düngeabfuhr
mehr. Aber es stimmt natürlich:
Seit 1891 befand sich auf dem Areal
die Chemnitzer Düngeabfuhrgesellschaft.
In jenen Jahren war das umgebende
Stadtviertel noch nicht wirklich bebaut,
und der heute als kreatives Jugendstilquartier
boomende Sonnenberg war
noch in der Findungs- und Aufbauphase.
Damals also war an dieser Stelle eine
riesige Freifläche. Das Arbeiterwohnviertel
wuchs in der Gründerzeit bis
etwa 1930. Ende der 1990er-Jahre dann
wurde das Areal vom städtischen Entsorgungsbetrieb
aufgegeben. So etwas
passte einfach nicht mehr mitten in die
Stadt. Bald darauf fanden sich erste
kleine Handwerksbetriebe, die sich hier
ansiedelten und an die die Stadt einzelne
Räume sehr niederschwellig vermietet
hat.
Mit dem nun entstehenden Kreativgelände
quasi als Nukleus?
GS: Schon, aber damals hat man wirklich
nur das Notwendigste für die
Instandsetzung gemacht. Man hat die
Räume ein bisschen ertüchtigt, aber es
gab keine Heizung und kaum Wasseranschluss.
Das war noch vor dem späteren
Entwicklungskonzept, das der
Stadtrat dann 2021 beschlossen hat.
Wie kam es denn überhaupt zu der
Idee, ein ganzes Kreativzentrum,
einen kulturellen Inkubator, aus dem
alten Gebäudekomplex zu
entwickeln?
GS: Der Sonnenberg ist heute ein buntes
und urbanes Quartier mit viel Potenzial,
aber auch mit viel Entwicklungsbedarf.
Gerade Künstler und Kreative kommen
hierher, weil sie das Unfertige auf dem
Sonnenberg so lieben. Also hat sich
die Stadt Chemnitz in Kooperation mit
einem Partner aus der Kreativwirtschaft,
dem Verein Kreatives Chemnitz e.V.,
gefragt, wo es im Quartier Räume gibt,
in denen man diese kreative Szene ansiedeln
könnte. Wir sind dann schnell
auf das Gelände der einstigen Stadtwirtschaft
gekommen. Das ist ein so
schönes Juwel, dass man es nicht verkommen
lassen will.
Was soll denn hier nun genau
passieren?
GS: Wir wollen die Stadtwirtschaft in den
nächsten Jahren Stück für Stück und
in unterschiedlichen Phasen in ein Kreativlabor,
in einen Ort für Macher der
Kultur- und Kreativwirtschaft weiterentwickeln.
Dazu gehören mehrere Gebäude
und Höfe. Das erste Haus an
der Jakobstraße wurde quasi als Pilot
dem Verein Kreatives Chemnitz e.V.
übergeben, und der Verein hat sich im
Gegenzug vertraglich dazu verpflichtet,
passende Mieter anzusiedeln und dafür
zu sorgen, dass diese zueinanderfinden.
Für den gesamten Standort wird bis
Anfang 2024 ein Betreibermodell entwickelt
und ein Betreiber von uns
beauftragt.
Das heißt, die Stadtwirtschaft ist
nichts für Eigenbrötler und zurückgezogene
Ich-linge.
GS: Auf keinen Fall. Das Projekt will
nachhaltig in das Quartier hinein- und
wieder herauswachsen. Jeder soll sich
hier einbringen – mit Ideen, Wissen,
Ressourcen oder sogar mit Workshops
für die Mieter sowie für das ganze
Quartier auf dem Sonnenberg. Es geht
also nicht darum, sich in sein Kämmerchen
zu verkriechen. Wir wollen
zum Beispiel gemeinsam mit den
Mietern die Hofgestaltung weiter voranbringen.
Vielleicht gibt es auch die
CHEMNITZ CAPITAL
Grit Stillger mit
Mitgliedern des
Partners Kreatives
Chemnitz e.V.
„Die Stadtwirtschaft
will in das Quartier
hinein- und wieder
herauswachsen“
Möglichkeit, Flächen für Urban Gardening
zu gestalten. Das alles wird sich
im weiteren Prozess zeigen. Das heißt
aber auch, dass es von unserer Seite keinen
fertigen Plan gibt. Wir als Stadt sagen
also nicht, was genau jetzt zu passieren
hat. So definieren wir nicht unsere
Aufgabe. Wir bieten nur den Rahmen.
Ein Ansatz, der perfekt zum Konzept
der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz
2025 passt. Die hat sich mit vielen
Projekten ja sehr bewusst an das
Image „Chemnitz – Stadt der Macher“
angelehnt.
GS: Ja, der Kulturhauptstadt-Titel hat
unsere Idee eines Kreativzentrums noch
mal sehr gepusht. Schnell ist die Stadtwirtschaft
daher auch als Interventionsfläche
für das Jahr 2025 erkannt und
gefördert worden. Das macht vieles
leichter. Zumal wir uns immer wieder
mit den Initiatoren und Vereinen austauschen,
die hinter den anderen Interventionsflächen
stehen. Gemeinsam
mit den ersten Pioniernutzern freuen
wir uns schon jetzt darauf, wenn sich
die Stadtwirtschaft dann in zwei Jahren
auch für ein internationales und
kreatives Publikum öffnen wird. •
CHEMNITZ CAPITAL
36 ORTSBEGEHUNG
Und sollte morgen
die Welt untergehen ...
37
... würde
Reiner Amme noch
heute 4000 Apfelbäume
pflanzen.
Ein Besuch im Garten
TEXT Felix Huber
FOTOS Felix Adler
Reiner Amme
präsentiert stolz
seine Apfelsorten
Wenn Reiner Amme von seltenen
Setzlingen und ausländischen
Apfelsorten
spricht, ist er wie in einer anderen Welt.
Amme ist ein Anpacker-Typ. Seit 50
Jahren bereits beschäftigt er sich mit
Streuobst, mit Äpfeln und natürlich mit
seinem Hauptthema: Apfelsaft. Wenn
es also einen gibt, der in Chemnitz um
die feinen Unterschiede zwischen einem
Kronprinz Rudolf und einem McIntosh,
zwischen einer Muskatrenette und
einer Rubinette weiß, dann Amme.
Sie aber haben von all diesen Begriffen
noch nie etwas gehört? Und alle Äpfel
heißen für Sie vielleicht Pink Lady?
Dann ist es höchste Zeit für einen Besuch
in Reiner Ammes Garten.
Der Gärtner selbst erscheint zum
Treffen stilecht in rotem Karo-Hemd
mit hochgekrempelten Ärmeln und
schwarzer Weste. Amme ist eben ein
echter Macher inmitten einer natürlichen
Apfelidylle – vordergründig zumindest.
Auf dem von ihm gepachteten Grundstück,
das kein Tor hat und das man
daher nur mit einem beherzten Sprung
über den Gartenzaun betreten kann,
stehen frisch gepflanzte Apfelbäume
neben Beerensträuchern und anderen
jungen Pflanzen. Geschützte Feuerameisen
krabbeln in Windeseile über
einen Wasserschlauch, und zwei
Schafe grasen seelenruhig auf dem
Nachbargrundstück.
Für die Idylle hat der Apfelexperte
heute keinen Blick, denn Reiner Amme
ist gehetzt. Er erklärt, dass er sich gerade
noch in Windeseile umziehen
konnte, nachdem er den ganzen Tag
bereits die Baumpflanzungen durch die
Mitarbeiter des Naturschutzbundes
koordinieren musste. Der Vorarbeiter
sei krank gewesen und der Chef „beim
Fernsehen“. Da habe er dann selbst
einspringen müssen. Amme ist eben ein
gefragter Mann. Doch dazu später.
Die Herzkammer von Reiner Ammes
Apfelwelt ist ein zwei Hektar großes
Stück Land in Chemnitz-Hilbersdorf
inmitten von Kleingärten liegt es direkt
an der künftigen „We Para pom!“-
Paradestrecke. Auf insgesamt zwei
Hektar Land sind hier 150 Apfelbäume
gepflanzt worden. Seit 2005 züchtet
Reiner Amme eigenhändig Apfelsorten
und hat den Boden seines Pachtgrundstücks
entsprechend kultiviert. Im
Jahr 2016 gründete er zusammen mit
dem Naturschutzbund und dem
Grünflächenamt die Initiative „Apfel
2000“, mit der er die Pflanzung von
insgesamt 2000 Apfelbäumen in
der Stadt finanzieren wollte. Und als
dann 2019 erste Ideen für das Programm
der angedachten Kulturhauptstadt
Chemnitz 2025 gesammelt
wurden, reichte Amme kurzerhand auch
seine Idee der neuen Apfelbaumpflanzungen
ein.
CHEMNITZ CAPITAL
38 ORTSBEGEHUNG
Aus dieser kleinen Apfel-Idee ist inzwischen
ein gigantisches Kunstprojekt
entstanden: „We Parapom!“ Unter der
Kuration der österreichischen Künstlerin
Barbara Holub wird eine kollektive
„Europäische Parade der Apfelbäume“
realisiert. Ziel ist es, in einer bestimmten
Route durch die Stadt 4000 Bäume zu
pflanzen. Ein Mammutvorhaben. Umgesetzt
wird das von der Kulturhauptstadt
Europas Chemnitz 2025 GmbH.
Denn „We Parapom!“ gehört zu den vier
Flaggschiffen, die die Stadt mit ihrer
Bewerbung eingereicht hat. Und vermutlich
werden es am Ende auch die Apfelbäume
sein, die künftigen Besuchern
der Stadt optisch am meisten in Auge
stechen werden.
Wer da an Joseph Beuys und an seine
berühmten 7000 Eichen denkt, die
der Filzhut-Künstler 1982 auf der Documenta
in Kassel pflanzen ließ, der liegt
nicht falsch. Zumindest der organisatorische
Aufwand einer solch gewaltigen
Pflanzaktion ist damals wie heute identisch.
In gewisser Weise ist Reiner Amme
also der Beuys von Chemnitz. Wenn
auch mit weit weniger Hybris und ohne
Gegenwind. Denn als Beuys damals
sein grünes Zeichen gegen die Verstädterung
setzen wollte, stieß er noch auf
große Kritik und strikte Ablehnung.
In Chemnitz ist das heute anders.
Die Menschen scheinen sich schon jetzt
auf die Parade zu freuen. Die wird 2025
von der zentralen Asylbewerberanlaufstelle
Ebersdorf Richtung Gablenz führen,
von dort weiter ins Stadtzentrum,
mit einer „Kundgebung“ vor der berühmten
Karl-Marx-Skulptur, über den
Stadtpark, Alt-Chemnitz und weiter
zum Fritz-Heckert-Gebiet.
Alle 2000 deutschen Apfelsorten,
sagt Amme, sollen dann das Stadtbild
prägen und zudem ein neues Gemeinschaftsgefühl
schaffen. Denn der Kulturhauptstadt
geht es vor allem darum,
gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen
anzustoßen.
Bis dahin ist viel zu tun. Und so ist
Reiner Amme mit seinem Apfel-Knowhow
irgendwann sogar zum Berater
Bis 2025 möchte
Reiner Amme Apfel-
Radler und Saftverkostungen
anbieten
können
der Kulturhauptstadt GmbH aufgestiegen.
Er bestellt Bäume, kümmert
sich um ihre Lagerung und Pflege. Mit
einem selbstironischen Lachen nennt
er sich selbst mittlerweile „Bauleiter“.
Doch mit einem Apfel-Bauleiter ist
es natürlich nicht getan. Alle Chemnitzer
werden daher für den Erfolg von
„We Parapom!“ aufgerufen, einen eigenen
Apfelbaum zu pflanzen oder zumindest
eine Patenschaft für einen solchen
Baum zu übernehmen. Anwohner
können als Paten einen Baum pflegen,
andere finanzielle Unterstützung leisten
und alle die Ziele auch kostenfrei per
Unterschrift unterstützen. Bäume sollen
bewusst auf Grundstücksgrenzen zwischen
zwei Wohnparteien gepflanzt,
private Grundstücke zur Verfügung gestellt
und damit auch soziale Grenzen
gesprengt werden.
Reiner Amme weiß, dass das nicht
einfach werden wird. Er berichtet von
den vielen Anlaufschwierigkeiten.
Seiner Meinung nach sei nicht von jedem
zu erwarten, dass er einen eigenen
Apfelbaum auf seinem Grundstück
haben wolle. Doch inzwischen sei das
Projekt in Fahrt gekommen. Die Kommunen
pflegten eigene Gemeindewiesen
und setzten größere Baumansammlungen
auf diese. Auch immer mehr
Firmen erklärten sich mittlerweile dazu
bereit, ihre Gebäudenebenflächen
bepflanzen zu lassen. Ein Tech-Unternehmen
pflanze sogar für jeden Mitarbeiter
einen eigenen Baum.
Ebenso wurden im letzten Herbst 50
Bäume auf öffentlichem Grund gepflanzt,
und zur Programmverkündung
der Kulturhauptstadt 2024 sollen auf
einen Schlag noch einmal 1000 weitere
aus der Erde wachsen. Reiner Amme
macht sich vor diesem Hintergrund
keine Sorgen mehr. Seine Initiative geht
fest davon aus, die Fördermittel bis
2028 weiter beziehen zu können. Damit
wäre die nötige Unterstützung für die
Sortenvielfalt und gegen die CO₂-
Emissionen von Apfeltransporten sowie
Düngern gewährleistet.
Und das Tollste: Die Menschen machen
mit. Reiner Amme erzählt von den
vielen Leuten in Chemnitz, die eigene
Gärten hätten und die für Ratschläge
immer wieder mal auf ihn zukämen.
Besonders vom pomologischen Austausch
mit europäischen Nachbarn erhofft
er sich eine neue Blütezeit für die
europäischen Äpfel. Denn seit dem Jahr
1900 sind 90 Prozent aller Apfelsorten
ausgestorben. Amme möchte daher
bei den späteren Besuchern Interesse an
unbekannten oder vergessenen Apfelsorten
sowie Freude am Baumpflanzen
wecken. In Chemnitz selber veranstaltet
er daher bereits regelmäßig Verkostungen
und Ausstellungen im Umweltzentrum.
Bis 2025 möchte der leidenschaftliche
Apfelsaftproduzent auch noch Radler
mit Apfelgeschmack in sein Programm
mit aufnehmen, schließlich müsse man
den Leuten ja was bieten.
Zusätzlich zu den Pflanzungen realisieren
europäische und internationale
Künstler Interventionen im öffentlichen
Raum. Diese sollen ohne direkte Bildungsabsicht
gesellschaftliche und
politische Themen in den Fokus der Öffentlichkeit
rücken. Der ökologische
Aspekt ist hierbei wichtig: So wird über
CO₂-Ausstoß und die Versiegelung von
Böden gesprochen. Doch auch über
Mi gration, Arbeitsbedingungen und die
aktuelle Repräsentation der Bürger in
der Demokratie.
Die „Parade der Äpfel“ bedient sich
für dieses Vorhaben eines starken Symbols.
Denn das als sozialistische Musterinnenstadt
entworfene Chemnitzer
Zentrum hat eine besondere Geschichte
mit Paraden. Die breiten Prachtstraßen
wurden einst einzig für öffentliche
Aufmärsche gebaut und zeugen von
CHEMNITZ CAPITAL
Heimische Apfelsorten
sind auf dem
Rückzug
normativer Gleichheit sowie von der
Unterdrückung anderer Meinungen.
„We Parapom!“ versteht sich als Ausbruchsversuch
aus ebendiesem engen
Wertekorsett. Die Parade der Apfelbäume
sucht nicht Ideologie und Gleichheit,
sondern eine schier grenzenlose
natürliche Vielfalt.
Denn auch deutsche Äpfel leiden zunehmend
unter einer aufgezwungenen
Gleichheit. Dadurch, dass sie über feste
EU-Normen definiert werden, können
kaum noch heimische Sorten in unseren
Supermärkten angeboten werden. Für
den Handel von Bedeutung sind schätzungsweise
20 Sorten. Und lediglich
70 Sorten werden im gewerblichen Obstanbau
kultiviert. Das absolute Highlight:
der Elstar, eine Züchtung aus Golden
Delicious und Ingrid Marie. Ein
Apfel, der besonders saftig ist, der sich
aber nur schwer lagern lässt.
Reiner Amme sieht diese Verödung
äußerst kritisch. Für ihn sind Äpfel seit
2000 Jahren ein gesamteuropäisches
Kulturgut. Er warnt vor dem Verlust der
Sortenvielfalt und erklärt, Äpfel mit
einem Pflanzenschutzmittelindex von 38
seien das am meisten genmanipulierte
Obst. Die deutschen Äpfel, die den
Normtest nicht bestehen, werden teilweise
stark reduziert in Österreich
angeboten – unter dem eigentümlichen
Namen „Wunderlinge“.
Für das Hinterfragen von lang gelebten
Glaubenssätzen und für den zeitweiligen
Ausbruch aus Normen gibt
„We Parapom!“ einen Raum. Das Ziel
ist eine offene und bunte Gesellschaft.
Menschen aller Religionen und Kulturen
sollen sich für ein Schwätzchen
unter den jungen Apfelbäumen treffen.
Manchmal kann es nämlich doch erstrebenswert
sein, zu den „Wunderlingen“
zu gehören und sich nicht der Norm
anzupassen. Wie die wild wachsenden
Apfelbäume auf dem Grundstück von
Reiner Amme. •
CHEMNITZ CAPITAL
40
INTERVIEW
MR. MAKER
Stefan Schmidtke über
Machermentalität,
Gigantomanie und
die tägliche Kleinarbeit
auf dem langen Weg
nach 2025
INTERVIEW Ralf Hanselle
FOTO Thomas Victor
Herr Schmidtke, in Chemnitz dreht
sich alles um das Jahr 2025. Aber was
passiert eigentlich 2026? Wird mit
Silvester alles vorbei sein?
STEFAN SCHMIDTKE: Nein, ich bin mir sicher,
auch 2026 und darüber hinaus
wird sich in der Stadt und in der Region
sehr viel bewegen. Viele der angeschobenen
und aufgebauten Projekte werden
sich dann etabliert haben. Aber es werden
nicht nur Events bleiben. Hinzu
kommt hoffentlich noch etwas Zweites:
eine Art kreativer Phantomschmerz. Ich
hoffe, dass sich die Chemnitzerinnen
und Chemnitzer im Jahre eins nach der
Kulturhauptstadt einen Hunger nach
Kunst und Kultur bewahren werden. Und
dass dieser dazu führt, dass langfristig
Energie und finanzielle Ressourcen in
bestehende und neue Projekte fließen.
Im Zentrum steht also das eigene
Engagement?
SS: Natürlich. Und das nicht erst 2026.
Kulturhauptstadt ist ein Projekt, das
von den Menschen getragen wird – in
jeder Hinsicht. Die lokalen Akteure
setzen unzählige Projekte um. Wir
unterstützen sie dabei, sich weiter zu
professionalisieren, internationale Kontakte
zu knüpfen, in einer neuen europäischen
Dimension zu denken. Gleichzeitig
sind die Menschen aufgerufen
mitzumachen, zum Beispiel indem sie
eigene Ideen in sogenannten Mikroprojekten
umsetzen oder in ihren Vereinen
und Unternehmen Ideen für die
Kulturhauptstadt entwickeln.
Das heißt, die viel beschworenen Macher
in der „Macherstadt“ Chemnitz
machen ihr Ding. Wo liegt dann
eigentlich Ihre Aufgabe?
SS: Zurzeit steht bei mir die tägliche
Kleinarbeit im Fokus. Das sind vor allem
Gespräche mit Menschen. Ich drehe
jeden Tag an einer kleinen Schraube,
damit spätestens 2025 die riesige
Maschine läuft. Bei einem so umfangreichen
Projekt kommt nicht über
Nacht der große Ruck. Eher geht es um
die Orchestrierung von tausend Kleinigkeiten.
Die vielen kleinen Dinge
greifen wie Zahnräder ineinander. So
lange, bis das große Ganze sichtbar wird.
Ich weiß, da wird auch manch einer
nervös. Viele denken, dass morgen Früh
eine Pauke nach der anderen geschlagen
wird. In Wahrheit aber ist das ein
langsames Crescendo.
Wie schafft man es, dieses Crescendo
richtig zu orchestrieren?
SS: Es gibt natürlich eine Dramaturgie
für das Ganze. Für die sind wir als
Team der Kulturhauptstadt GmbH verantwortlich.
Alle Projektideen, die in
das Programm für 2025 einfließen, stehen
in dem Bewerbungsbuch, für das
Chemnitz 2020 den Titel Kulturhauptstadt
Europas verliehen bekommen hat.
Das sind über 70. Unsere Herausforderung
besteht ganz aktuell vor allem
darin, mit den Ideengebern und allen
Beteiligten zu erarbeiten, wie die im
Bewerbungsprozess skizzierten Projekte
tatsächlich realisiert werden können.
Das Programm ist vielfältig. Es beginnt
mit den Erzählungen über das Erzgebirge,
dann folgen die Erzählungen
über die Menschen. Und dann gibt es,
wenn man bei der Sprache der Musik
bleibt, noch einen langsameren Satz. In
dem verschaffen wir der Freude und
der Lebensfreude Gehör. Und das alles
entwickeln wir aus dem Motto „Chemnitz:
C the Unseen“.
Gibt es auch Projekte aus der Bewerbung,
die nicht realisiert werden
können?
SS: Ja, die gibt es auch. Aber das ist nicht
ungewöhnlich in diesem Prozess. Im
Programm für das Kulturhauptstadtjahr
geht es nicht um Quantität, sondern
um eine alle Events und Projekte durchdringende
Qualität und Aktualität.
Deshalb läuft im Moment ein umfangreicher
Ausschreibungsprozess für neue
Projekte in verschiedenen Themenbereichen
– zum Beispiel Kinder-, Jugendund
Generationenprojekte. Die Idee
Kulturhauptstadt dreht sich meiner
Meinung nach nicht darum, bei einer
namhaften Agentur große Acts einzukaufen.
Es ist sehr viel nachhaltiger,
die bereits existierende Kunst- und Kulturszene
zu stärken und weiter
auszubauen.
Welche Rolle spielen in diesem Prozess
die angrenzenden Gemeinden im
Erzgebirge sowie die Nachbarn in Polen
und Tschechien?
SS: Die Industriestadt Chemnitz trägt
den Titel Kulturhauptstadt zusammen
mit 38 Kommunen aus der umliegenden
Erzgebirgsregion. Mit den Rohstoffen,
die in den Bergwerken des Erzgebirges
gefördert wurden, ist die Stadt
während der Industrialisierung zu
Wohlstand gekommen. Stadt und Region
waren so schon immer eng miteinander
verbunden. Jetzt werden Kunst
und Kultur zu den neuen Rohstoffen in
der Region. Das Erzgebirge ist seit jeher
bekannt für seine traditionelle Handwerkskunst.
Mit den Makerhubs entstehen
jetzt in der Region neue kreative
Zentren, in denen Menschen arbeiten
werden, die Tradition und Innovation
zusammenbringen, und ich bin sehr
gespannt, wie es mit ihnen weitergeht. •
CHEMNITZ CAPITAL
„Es kommt nicht über
Nacht der große Ruck,
eher geht es um das
Zusammenspiel der
vielen Kleinigkeiten“
42 RUNDGANG
Seid umspannt,
Regionen!
Rund um Chemnitz entstehen Orte für Macher.
In sogenannten Makerhubs sollen Kreative künftig ihre Ideen
verwirklichen können. Wir haben uns im ehemaligen
Umspannwerk Etzdorf angeschaut, wie Kulturhauptstadt auf
dem Land funktioniert
TEXT Robert Horvath
FOTOS Christoph Busse
Die Gerüchte sind schon weit vor
mir da. „Man sagt, da wohnt
jetzt ein Künstler“, erzählt der
ältere, vermutlich längst berentete
Mann, als ich ihn nach dem Weg zum
ehemaligen Umspannwerk frage. Er unterbricht
seine Gartenarbeit, hebt den
Kopf und kommt langsam näher. „Was
wollen Sie denn von dem?“, fragt er
und schaut mich mit einem Blick aus
Vorwurf und Neugierde an. Schweigen.
Angeblich, so erfahre ich später, habe er
die Leute gekannt, die früher im Werk
gearbeitet haben. Vielleicht wirkt er
deshalb so skeptisch gegenüber den
sich ankündigenden Neuerungen. Im
Gebäude selbst, sagt er, sei er aber nie
gewesen.
Ich spaziere also weiter. Mitten durch
den 700-Seelen-Ort Etzdorf hindurch.
40 Autominuten nordöstlich von
Chemnitz bildet er gemeinsam mit anderen
kleineren Ortschaften die Gemeinde
Striegistal im Erzgebirgsvorland.
Die Landschaft ist hügelig. Am Horizont
drehen sich Windräder. Es ist der
erste warme Frühlingstag.
Die Nachricht, dass ein Projekt der
Kulturhauptstadt Europas Chemnitz
2025 auch hier in Etzdorf ansässig, ja
sogar jetzt bereits in Vorbereitung ist,
hat sich wie ein Lauffeuer in dem Dorf
verbreitet. Doch Genaueres weiß man
eben nicht. Vielleicht liegt das daran,
dass das ehemalige Umspannwerk etwas
außerhalb des eigentlichen Ortskerns
liegt. Ich passiere also das Ortsausgangsschild.
Zu meiner Linken begleitet
mich der Etzdorfer Bach, und nach fünf
Gehminuten entlang der fußweglosen
Straße bin ich am Ziel. Ein Bushaltestellenschild
verrät mir, dass hier das alte
Umspannwerk sein muss. Das sich zur
Fahrbahn hin öffnende, dreigeschossige
Gebäude ist beige verputzt und leicht
u-förmig. Unterhalb der Dachrinne kleben
Schwalbennester.
Hier also bin ich mit Guido „Rebel
73“ Günther verabredet. Ein komischer
Name. Einer, der nicht ganz in diese
ländliche Idylle hineinpassen will. Während
ich auf ihn warte, werfe ich einen
kurzen Blick auf den Briefkasten. Ein
runder Sticker klebt auf der Klappe:
„Wir sind Rebellen!“ Ist das Prophezeiung?
Oder schon eine Drohung? Während
ich noch überlege, öffnet ein groß
gewachsener Mann mit Stoppelbart
und langem, zu einem Dutt gebundenem
Haar. In der Hand ein halbvoller Kaffeebecher:
„Tut mir leid, dass das so lang
gedauert hat. Ich habe gerade noch ein
Huhn beerdigt.“ Man hört den leicht
sächsischen Dialekt und weiß: „Rebel
73“, das ist einer von hier. Einer aus
Mittelsachsen. Auf gestelzte Förmlichkeiten
wird daher verzichtet. Schnell
ist man beim Du.
CHEMNITZ CAPITAL
44 RUNDGANG
Nachdem die Formalien also geklärt
sind, betreten wir gemeinsam das Gebäude.
Drinnen ist es deutlich kühler als
draußen. Egal. Bei dem sich nun bietenden
Anblick wird jedem Kulturliebhaber
ohnehin sofort warm. Vor unseren
Augen öffnet sich ein riesiger Raum
mit hohen Decken. Und das weiche Tageslicht,
das aus unzähligen Fenstern
hereinströmt, erschafft mit den im
Raum verteilten Säulen ein spannendes
Spiel aus Licht und Schatten. „Ist geil
hier, oder?“, sagt Günther, den ich fortan
also Guido nennen darf, und schlürft
am Kaffee. „Und das wollten die abreißen.“
Guido Günther schüttelt den
Kopf, gießt noch einmal Kaffee nach
und erzählt mir dann von der spannenden
Geschichte des weitläufigen
Gebäudekomplexes.
Erbaut wurde der im frühen 20. Jahrhundert.
Von 1916 bis 1919. Damals
war es eines der ersten Umspannwerke
in Mittelsachsen. Ein Motor der Industriekultur.
Und das zu einer Zeit, als
die Region um Chemnitz neben dem
Ruhrgebiet einer der wichtigsten Industriestandorte
Deutschlands war. „Das
Umspannwerk hat bei der Elektrifizierung
ganz Mittelsachsens eine wichtige
Rolle gespielt“, erklärt Günther so stolz,
als wäre er selbst mit dabei gewesen.
Früher, sagt er, hätten die Transformationsanlagen
noch im Inneren des Hauses
gestanden. Günther zeigt mit dem Finger
durchs Fenster. Später dann habe
man die dort hinten auf den Hinterhof
verlagert. Dort stehen sie noch heute
– und sehen so aus, als wären sie überdimensionierte
Lockenwickler.
Guido Günther
hat sich in seinem
neuen Atelier
bereits eingerichtet
Ein Haus wie ein
Labyrinth: Im
Inneren kann man
sich verlaufen
CHEMNITZ CAPITAL
RUNDGANG
45
Chemnitz zählte
zu den wichtigsten
deutschen Industriestandorten
Ab 1989 dann, doziert Guido Günther
weiter, habe der Verband der Elektrotechnik
Elektronik Informationstechnik,
der VDE, hier vorübergehend ein
Zuhause gefunden. Doch nach ein paar
Jahren sei wieder Schluss gewesen.
Von da an blieb das ehemalige Umspannwerk
ungenutzt. Irgendwann sollte es
sogar mal abgerissen werden. „Und das
war dann der Moment, in dem wir
auf das Gebäude aufmerksam geworden
sind.“
Guido Günther redet und redet. Und
immer wieder geht es um dieses geheimnisvolle
„Wir“. Gemeint ist damit
das „Kulturnetzwerk UW Etzdorf“ – ein
Name, fast so kryptisch wie „Rebel 73“
Günter. Doch hinter den so nüchtern
klingenden Buchstaben verbirgt sich ein
Kreativ-Cluster, der den alten Industriebau
mehr und mehr in einen Hotspot
für Künstler, Architekten, Handwerker,
Grafiker, Fotografen, Bildhauer, Werbetechniker
und anderes mehr verwandeln
will. Außer Günther ist heute
niemand im Haus. Der riesige Komplex
ist noch im Werden.
Wir sind im Büro von Guido Günther
angekommen. Es ist einer der
wenigen beheizten Räume im gesamten
Komplex. Die Wände hier sind über
und über mit verschiedensten Bildern
und Grafiken behangen – Werke von
befreundeten Künstlern und von ihm
selbst. Guido Günther. Ein Maler
aus Chemnitz.
Während im anliegenden Hof die
Hühner gackern, setzen wir uns auf
einen Stuhl und plaudern weiter. Dabei
erfahre ich, dass Günther 1980 im
damaligen Karl-Marx-Stadt geboren
und aufgewachsen ist. Schon während
der Schulzeit habe ihn ein Fach besonders
interessiert: „Kunst war mein Ding.
Und das auch in den anderen Fächern:
Ich hab in Mathe gemalt, ich hab in
Deutsch und Englisch gemalt.“ In Bio,
Erkunde, Chemie: gemalt und gemalt.
Günther lacht. „Manchmal habe ich
dann eben auch mal vor der Tür malen
46 RUNDGANG
müssen. Die Lehrerin fand meine Leidenschaft
für die Kunst eben nicht ganz
so toll wie ich.“
Bald fängt Guido Günther an, erste
Graffiti zu sprühen. Das ist die Zeit,
in der er sich dann auch den Künstlernamen
Rebel gibt. Rebel 73. Über
die Jahre wird er sich unter diesem Pseudonym
in der Urban- und Street-Art-
Szene einen Namen machen und sich in
seiner Heimatstadt Chemnitz dafür
einsetzen, dass dort Flächen entstehen,
die legal besprüht werden können.
„Für mich war damals schon klar: Ich
will nur malen“, erinnert sich der
heute 42-Jährige an die Anfangsjahre.
Günther zieht die Konsequenz,
macht nach der Schule eine Ausbildung
zum Maler und Lackierer. 1998 dann
macht er sich selbstständig, gründet die
RebelArt GmbH und geht mit alten
Weggefährten in die Fassadenmalerei.
Fachlich korrekt will er „das Umfeld
aufwerten“, will Künstler, aber auch
Dienstleister sein. Anfangs sei es
Hier war eines
der ersten
Umspannwerke in
Mittelsachsen
zunächst darum gegangen, überhaupt
Fuß zu fassen in der Szene: „Wir waren
im Osten. Da haben wir jeden Gestaltungsjob
angenommen, den wir kriegen
konnten: Schaufenster von Dönerläden,
Diskotheken.“ Und Stück für Stück
kam dann der Erfolg. „Wahrscheinlich
war das auch das Einzige, was möglich
war. Ich konnte ja nichts anderes.“
Wieder muss Günther lachen. Je
mehr er erzählt, desto mehr bekomme
ich den irgendwie doch beklemmenden
Eindruck, dass vor mir ein Mann sitzt,
der irgendwie zufrieden ist mit sich
selbst und mit dem, was er tut. Man
könnte fast neidisch werden. Und dass
er angeblich nichts anderes könne als
Im ehemaligen
Umspannwerk
gibt es überall
etwas zu entdecken
malen und sprühen, scheint sich, je
länger man redet, als Untertreibung herauszustellen.
Guido Günther hat viel
Talent. Er vereint Kunstfertigkeit und
Geschäftssinn und hat in den letzten
Jahren verschiedenste Projekte erfolgreich
auf die Beine gestellt. Mit anderen
Leuten hat er Wohnungsgenossenschaften
ins Leben gerufen, hat Kleinkunstund
Eventmärkte organisiert. Er betrieb
eine Kneipe und eine Stickerei. „Ich
denke mein Leben in Projekten“, erklärt
er. Und bis mindestens 2025 soll
nun eben Etzdorf mit seinem alten
Umspannwerk sein Hauptprojekt sein.
Er hat sich auf die Fahne geschrieben,
das alte Gemäuer mit neuem Leben
zu erfüllen.
Günther führt mich jetzt durch die
Treppenhäuser. Einige, ja die meisten
Räume und Flächen sind noch leer.
„Für manche Räume haben wir noch
kein Konzept, aber der Dachboden
soll definitiv bespielt werden.“ Nur außen
müsse alles so bleiben – „Denkmalschutz“.
Generell sei er offen für Ideen
und für jeden, der hier was machen will.
2025 dann, zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres,
soll alles fertig
und das ehemalige Umspannwerk ein
Gesamtkunstwerk mit wechselnden
Ausstellungen sein, Ausbildungsräume
für Gestaltungsmaler beheimaten und
Platz für Veranstaltungen aller Art
bieten: Führungen, Vorträge, Partys,
Proben, Konzerte. „Wir wollen hier
Raum für Möglichkeiten bieten. Auch
für unternehmerische Möglichkeiten.“
Der Rundgang ist beendet. Als wir
das Umspannwerk durch die Hintertür
verlassen, scheint die Sonne. Günther
schließt ab: „Sonst kommen die Ziegen
rein.“ Natur, Idylle, Freiheit, denke ich
im Gehen. Und mittendrin Kultur.
Es scheint, als könne man hier in Etzdorf
tatsächlich die ganze Breite der Kulturhauptstadt
erleben – nur eben etwas
naturnaher und langsamer. Rebel 73,
denke ich bei mir – ein Name für
eine echte Erneuerungsbewegung auf
dem Lande. •
CHEMNITZ CAPITAL
48
SERVICE
SO GEHT KULTUR-
HAUPTSTADT
Noch zwei Jahre bis zur Kulturhauptstadt
Europas 2025. Bis
dahin wird noch einiges geschehen.
Hier lernen Sie die nächsten
Wegstrecken kennen
Makers United
MAKERS UNITED
Stadthallenpark Chemnitz
Die Makers United ist die Mitmachmesse für Jung und
Alt, bei der Technik, Handwerk, Kunst und Wissenschaft
aufeinandertreffen. Jeder kann seine Stärken oder etwas
Neues entdecken oder sich einfach nur ausprobieren: vom
Programmieren eines Roboters bis hin zum Nähen oder
Korbflechten. Tüfteln, experimentieren, forschen und
mitmachen!
29.06. – 02.07.2023
Silbermann-Tage
SILBERMANN-TAGE
Gesamte Region
Johann Sebastian Bach und Gottfried Silbermann: Diese
beiden Namen lassen bei Musikliebhabern aus aller Welt noch
immer die Herzen höherschlagen. Vor 300 Jahren prägten
sie von Mitteldeutschland aus die Musikwelt und schufen
bis heute gültige Klangideale – der eine mit seinen Kompositionen,
der andere mit seinen meisterhaften Orgeln. In
diesem Jahr widmen sich die Silbermann-Tage, eines der bedeutendsten
Festivals rund um die Orgel, diesen beiden
Musikgenies.
01.09. – 10.09.2023
European Peace Ride
EUROPEAN PEACE RIDE
Chemnitz und Umland
Die europäische Friedensfahrt wird 2023 von Görlitz nach
Mladá Boleslav und Plzeň in Tschechien zurück nach
Chemnitz führen. 500 Kilometer und 5000 Höhenmeter
werden überwunden. Mehr als „nur“ ein Radsport-Event.
08.09. – 10.09.2023
Fotos: Dirk Hanus. Max Grünwald. Gottfried-Silbermann-Gesellschaft/Detlev Müller. © Ernesto Uhlmann
CHEMNITZ CAPITAL
SERVICE
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SPORTS UNITED
City Chemnitz
Bei Sports United geht es um das wertvolle Gemeinschaftsgefühl, das zum Austausch
mit anderen einlädt und gesellschaftliche Gräben überwindet. Sport
steht als Mittler zwischen Kulturen, Generationen, sozialen Schichten und
Interessen. Laufen, Wandern, Fahrradfahren, MTB und Skaten haben ein und
dasselbe Ziel: die Chemnitzer Innenstadt! Zahlreiche Sportvereine haben es
sich gemeinsam zur Aufgabe gemacht, vielseitige sportliche Herausforderungen
zu kreieren, die sich nach einzelnen Rundkursen in und um Chemnitz sowie
mehrtägigen Touren entlang des Purple Path in der Innenstadt verbinden.
08.09. – 10.09.2023
WE PARAPOM!
Fotos: © Ernesto Uhlmann. © sazinc. Frieda Pirnbaum. picture alliance/dpa/Courtesy Friedrich Kunath and König Galerie/Ernesto Uhlmann
WE PARAPOM!
City Chemnitz
Im Projekt „We Parapom! – Europäische
Parade der Apfelbäume“ pflanzen
die Chemnitzer verschiedene europäische
Apfelsorten in einer Achse quer
durch die Stadt. Internationale Künstler
verhandeln das Projekt zudem aus
ihrer individuellen Perspektive.
Bis Frühjahr 2025
PURPLE PATH
Kulturregion
Der Purple Path verbindet die Kulturregion rund um
Chemnitz, insgesamt 38 Kommunen, die gemeinsam
mit Chemnitz den Titel Kulturhauptstadt tragen. Erste
Kunstwerke können bereits entlang des Lila Wanderwegs
entdeckt werden. Weitere kommen von internationalen
und lokalen Künstlern hinzu, ergänzt durch ein umfangreiches
Begleitprogramm.
Bis 2025
Purple Path Thalheim
Sports United
MAKERHUB
Kulturregion
Mit den Makerhubs entstehen
im Rahmen des
Flagship-Projekts
„Makers, Business, Arts“
Orte, in denen Gestalter,
Handwerker, Unternehmer,
der Fachkräftenachwuchs
von morgen und
Macher:innen aus aller
Welt aufeinandertreffen,
um voneinander zu
lernen und gemeinsam
Offene Türen im Makerhub Lößnitz
Neues zu erschaffen.
Im Kulturhauptstadtjahr
2025 werden dann auch Touristen aus Europa und aller
Welt zu Makern. Am 22.09.2023 findet in Chemnitz erstmalig
die Konferenz „Tourismus:kreativ – Vom Anschauen
zum Mitmachen“ statt.
Bis 2025
50
KOLUMNE
BIS ANS
ENDE ...
UND NOCH
WEITER
Weitwandern ist en
vogue! Was kaum einer
weiß: Auch Sachsen
hat einen Wanderweg
der Superlative. Die
Autorin Rebecca Maria
Salentin gehört zu
den wenigen, die ihn
gegangen sind
TEXT Rebecca Maria Salentin
ILLUSTRATION Silke Werzinger
Als sich die schweren Regentropfen
endlich verzogen haben,
sitzen weiße Schwaden dicht
und gespenstisch zwischen den hohen
Tannen, greifen so tief ins Unterholz,
als wollten sie das Land zudecken oder
für immer verschwinden lassen. Es duftet
nach Nadelholz, Harz und feuchtem
Laub. Gierig sauge ich diesen Geruch
ein, als ob der Wald mich beatmet mit
der Kraft seiner grünen Lunge. Nur
der regelmäßige Ruf eines Kuckucks
leistet mir Gesellschaft. Meine Schuhe
versinken in weichen Mooskissen und
nassem Gras. Schmal ist der Pfad. Heidelbeersträucher
schmiegen sich an die
kleinen weißen Grenzsteine, und so
wandere ich mit einem Fuß in Sachsen
und dem anderen in Tschechien.
Auch wenn das 1983, im Gründungsjahr
des Wegs, so nicht möglich gewesen
ist, war genau das die Intention:
grenzüberschreitend wandern. Einst verband
der sagenumwobene EB auf
seiner 2700 Kilometer langen Strecke
zwischen Eisenach und Budapest die
sozialistischen Bruderländer DDR,
ČSSR, Polen und Ungarn, heute kann
man auf seinen Spuren über die grünen
Ländergrenzen hinwegwandern. Allein
375 Kilometer führen durch die spektakulärsten
Landstriche des Freistaates.
„Weg der Freundschaft“ ist der Beiname
des Pfads, und wenn man ihn
in diesem Sinne geht, spinnt man
mit jedem Schritt aus dem
Netz der Fernwege ein Netz
länderübergreifender
Freundschaften, auch
indem man das reichhaltige
kulturelle
Erbe seiner Heimat
in die Fremde trägt.
Dem Ruf des
Fernwanderns zu folgen
bedeutet nämlich nicht
nur, sich ganz der Landschaft
hinzugeben,
sondern vor allem, Gast in der Welt zu
sein. Und wer jemals von der Gastfreundschaft
in der Fremde profitierte,
der weiß, dass nun auch seine Türen
für Fremde stets geöffnet sind. Ist es
nicht ein schöner Gedanke, die Kunde
einer Kulturhauptstadt über Hügel
zu Hügel, von Dorf zu Dorf und Land
zu Land zu tragen?
Von Chemnitz ist es nur ein Katzensprung
auf den Trail. Gerade hast du
noch Stadtluft geschnuppert, schon
geht es eingelullt von Windesrauschen
und Vogelgezwitscher durch tiefe Nadelwälder,
saftige Flussauen, sattgrüne
Hügellandschaften und urige Dörfer,
die sich um kleine Weiher und alte Kirchen
drängeln. Bucklige Obstbaumalleen
führen von Tal zu Tal. Die dem
Bergbau verbundene Lebensart der
Montanregion Erzgebirge zeigt sich in
beinahe jedem Dorf: Schwibbögen und
Holzpyramiden sind so allgegenwärtig
wie der Gruß „Glück auf“. Basaltkegel
erheben sich düster und schroff im Waldesgrün,
uralte Stollen sind längst versiegelt,
die Skilifte warten geduldig auf
den nächsten Schnee, Rehe springen
über Felder, Krähen krächzen von den
Kronen, Postmeilensäulen markieren
ein altes Wegenetz.
Im pittoresken Felsenmeer der rötlich
schimmernden Gesteinsriffe
des Elbsandsteingebirges hat man es
geschafft: Man verlässt Deutschland
endgültig gen Osten, und wenn man
weitergeht, immer weiter, dann steht
man irgendwann in den Karpaten, wo
orthodoxe Zwiebelturmkirchen stehen,
Schafherden über die Almen ziehen und
Bären die Wälder durchstreifen. Das
Abenteuer wartet vor der Haustür, und
die Welt liegt einem sprichwörtlich zu
Füßen! Und eins ist klar, egal wie weit
man kommt: Man wird unterwegs neue
Freundschaften fürs Leben schließen. •
REBECCA MARIA SALENTIN
wurde 1979 geboren und lebt als Schriftstellerin
in Leipzig. 2021 erschien ihr Reisebericht
„Klub Drushba“.
CHEMNITZ CAPITAL
Bach&
Silbermann
MUSIKFESTIVAL UND INTERNATIONALER ORGELWETTBEWERB
SILBERMANN-TAGE
01. – 10.09.2023
Gaechinger Cantorey / Pascal von Wroblewsky / Sjaella / Els Biesemans / Albrecht Koch /
Jean Baptiste Robin / Capricornus Consort Basel / Thomanerchor Leipzig u.v.a.m.
Mit ihrem unverwechselbaren silbernen Klang sind die Orgeln
Gottfried Silbermanns einzigartige Kulturschätze, die bis
heute Musikfreunde aus aller Welt nach Sachsen ziehen.
Vor 300 Jahren schuf der Meister von Freiberg aus eine
Orgellandschaft, die Generationen fasziniert. Alle zwei Jahre
findet mit den Silbermann-Tagen eines der bedeutendsten
Festivals rund um die Orgel statt, das hochklassige Konzerte
auch in kleine Dorfkirchen holt und tief verwurzelte Traditionen
mit innovativen Formaten verbindet.
2023 stehen zwei Genies der Barockzeit im Mittelpunkt:
Johann Sebastian Bach und Gottfried Silbermann waren in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Superstars. Auch in
der Gegenwart sind beide ein Sehnsuchts-Tandem: Bach
auf Silbermann gehört nach wie vor zum Erlesensten, was
man sich vorzustellen vermag. Bachs Musik und Silbermanns
Instrumente bewegen bis heute die Menschen.
Die Silbermann-Tage bieten Konzerte mit renommierten
Künstlern, aber auch mit Kindern der Region oder
Studierenden mitteldeutscher Musikhochschulen. Das Festival
verbindet Bach im exquisiten Originalklang mit packenden
Jazzadaptionen oder faszinierenden Improvisationen.
Neue Perspektiven dürfen ungewöhnlich sein.
www.silbermann.org | GOTTFRIED-SILBERMANN-GESELLSCHAFT E. V.
BOM FOR
ZIO NÖS
BOMFORZIONÖS = SÄCHSISCH FÜR „GROSSARTIG“,
ABGELEITET VOM FRANZÖSISCHEN „BONNE FORCE“.
Leipziger Gewandhaus, Dresdener Semperoper, Sächsische Staatskapelle, Kunstsammlungen
Chemnitz, Thomaner- und Kreuzchor, Silbermann-Orgel, UNESCO Weltkulturerbe,
Montanregion Erzgebirge, Chemnitz - die Kulturhauptstadt Europas 2025 und und und...
Bomforzionös ist bei uns vor allem die Vielfalt an sächsischer Kunst und Kultur.
Lassen Sie sich vom sächsischen Glanz inspirieren!
www.so-geht-sächsisch.de