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Nicht ohne Regenschirm

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Helen Liebendörfer<br />

<strong>Nicht</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Regenschirm</strong><br />

Historischer Roman


Helen Liebendörfer<br />

<strong>Nicht</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Regenschirm</strong><br />

<br />

Historischer Roman<br />

Friedrich Reinhardt Verlag


Titelbild: Treppenhaus im Haus zum Kirschgarten,<br />

Historisches Museum Basel<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2024 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />

Projektleitung: Claudia Leuppi<br />

Korrektorat: Daniel Lüthi<br />

Cover: Célestine Schneider<br />

Satz: Siri Dettwiler<br />

ISBN 978-3-7245-2726-8<br />

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird<br />

vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag<br />

für die Jahre 2021–2025 unterstützt.<br />

www.reinhardt.ch<br />

Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung der Fotos.<br />

In einzelnen Fällen konnten die Rechteinhaber nicht ermittelt<br />

werden. Wir bitten um Hinweise an den Verlag, allfällige<br />

Honorar ansprüche werden gerne abgegolten.


Ich begnügte mich gern mit meinem<br />

zweiten Platze, wie ich denn mich selten<br />

vorgedrängt habe in meinem Leben,<br />

und merke, dass diejenigen, die mir lieb sind,<br />

mir doch ein Ehrenplätzchen aufbewahren.<br />

<br />

Charlotte Kestner


Vorwort<br />

In diesem Roman wird am Beispiel der unverheirateten<br />

Charlotte Kestner, der Tochter von Goethes «Lotte» (Die<br />

Leiden des jungen Werther) ein Frauenschicksal aus der<br />

Zeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschildert. Sie<br />

wurde in Hannover geboren, kam im Alter von zwanzig<br />

Jahren zu ihrem verwitweten Bruder Carl nach Thann im<br />

Elsass, führte ihm über vierzig Jahre den Haushalt und<br />

ersetzte dessen Kindern Charles und Caroline die Mutter.<br />

Als sie älter wurde, lebte sie in Basel, wo sie noch während<br />

rund dreissig Jahren im Haus zum Kirschgarten wohnte.<br />

Das Leben von ledigen Frauen in früheren Jahrhunderten<br />

war meist unspektakulär, oft unerfüllt und von<br />

Verzicht geprägt. Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

herrschte immer noch eine klare Trennung der Geschlechter:<br />

Das Haus war der Ort der Frauen, die Öffentlichkeit<br />

der Ort der Männer. Die Ausbildung der Söhne war das<br />

Wichtigste, dafür scheute man keine Ausgaben, auch<br />

wenn es die Mitgift der Töchter und damit ihre Heiratschancen<br />

reduzierte. Die jungen, gut ausgebildeten<br />

Frauen lernten keinen Beruf, sassen zu Hause, beschäftigten<br />

sich mit Sticken und Klavierspielen, und konnten<br />

deshalb überall in der Familie einspringen, wo es nötig<br />

war – als Ersatzmutter oder Krankenpflegerin. Oft<br />

rutschten sie in Situationen hinein, aus denen sie nicht<br />

mehr herausfanden, doch sie waren «versorgt» und «sinn-<br />

6


voll beschäftigt». Allerdings fühlten sich viele um ihr<br />

eigenes Leben betrogen. Ein Vormund, Vater oder Bruder,<br />

bestimmte über ihr Leben, und die Familie bot<br />

Schutz und Rückhalt sowie Anerkennung von aussen. Es<br />

gab kaum jemanden, der in der Verwandtschaft nicht<br />

eine gealterte Tante hatte.<br />

Aus den Briefen von Charlotte Kestner an ihren Bruder<br />

August, welche diesem Roman hauptsächlich zu -<br />

grunde liegen, kann man feststellen, dass nicht alle ledigen<br />

Frauen ihr Schicksal resigniert hinnahmen. Zwar<br />

findet man bei Charlotte Kestner alle Eigenschaften, die<br />

von einer Frau damals erwartet wurden: Bescheidenheit,<br />

Gelassenheit und Religiosität. Doch versuchte Charlotte<br />

Kestner mit bewundernswerter Energie ihre Tage positiv<br />

zu gestalten, trotz Verzicht auf Ausbildung und Heirat.<br />

Das gilt vor allem auch für ihre Zeit in Basel, denn hier<br />

besuchte sie Veranstaltungen über Kunst, Musik, Literatur<br />

und veranstaltete selbst Gesprächszirkel und Hauskonzerte.<br />

Ihr Leben, das sie hauptsächlich ihrem Bruder<br />

Carl und seinen beiden Kindern gewidmet hatte, war in<br />

Basel kein Thema. Man nahm ihre Persönlichkeit vor<br />

allem als «Charlotte Kestner, die Tochter von Goethes<br />

Lotte» zur Kenntnis. Sie selbst schreibt im hohen Alter<br />

in einem Brief:<br />

«Es fehlte mir nicht an Empfänglichkeit für alles Gross e<br />

und Gute, aber was die Zeit bot, ward mir doch nur von<br />

Ferne gezeigt.»<br />

<br />

Helen Liebendörfer<br />

7


Basel, 1848<br />

Das stattliche Haus zum Kirschgarten erstrahlte im<br />

Kerzenlicht. Die Besucherinnen, sorgfältig frisiert,<br />

mit Hut und in Krinolinen gekleidet, schritten die<br />

breite, schwungvoll gestaltete Treppe graziös empor,<br />

jeweils von ihren Herren am Arm geführt. Zwischen<br />

den mächtigen Säulen im ersten Stock standen Caroline<br />

und ihr Ehegatte Johann Bischoff, begrüssten die<br />

Gäste und reichten sie zu Tante Charlotte Kestner<br />

weiter, welche am Durchgang zum Blauen Salon<br />

stand, dem eigentlichen Empfangsraum. Charlotte<br />

stützte sich leicht auf ihren schwarzen <strong>Regenschirm</strong>,<br />

um die Rückenschmerzen etwas zu lindern, und<br />

lächelte ergeben, wenn ein unbekannter Gast auf sie<br />

zutrat. Sie kannte die Reaktion der Leute, wenn sie<br />

sich vorstellte.<br />

«Charlotte Kestner? Doch nicht etwa Goethes Lotte?»,<br />

entfuhr es den Spontanen. Am heutigen Empfang<br />

äusserten sich die Gäste jedoch zurückhaltender, denn<br />

es hatte sich längst in der Stadt herumgesprochen, wer<br />

Charlotte war. Goethes Roman Die Leiden des jungen<br />

Werther war auch siebzig Jahre nach seinem Erscheinen<br />

überall bekannt, alle hatten ihn gelesen und man wusste<br />

in Basel, dass Charlotte Kestner im Kirschgarten die<br />

Tochter von Goethes «Lotte» war, in die er sich einst<br />

unglücklich verliebt hatte. Deshalb murmelten sie bei<br />

8


der Begrüssung freundlich: «Ihr Name erinnert mich<br />

an Goethe», manchmal auch «Sie tragen einen berühmten<br />

Namen» oder etwas in der Art. Charlotte wusste, es<br />

half nichts, sich dagegen aufzulehnen. Seit sie sich in<br />

der Gesellschaft bewegte, wurde sie darauf angesprochen,<br />

obwohl die Sätze eigentlich ihrer Mutter galten.<br />

Sie selbst bildete nur so etwas wie einen fernen Abglanz<br />

der berühmten Liebesgeschichte. Ihre ganze Persönlichkeit<br />

umwob ein Hauch einer vergangenen, grossen<br />

Zeit und eines der grössten Namen Deutschlands. Die<br />

Leute der weit verbreiteten Goethegemeinde nahten<br />

sich ihr mit wahrer Ehrfurcht, was ihr stets überaus<br />

peinlich war.<br />

Äusserlich glich Charlotte ihrer Mutter. Ihre kleine,<br />

zierliche Gestalt, ihre träumerisch blickenden Augen<br />

und das weiche kastanienbraune Haar vermittelten<br />

einen Schimmer von Vornehmheit, ganz so, wie die<br />

Leute es erwarteten. Wie hätte sich der grosse Goethe<br />

sonst in «Lotte» verlieben können? Unterdessen war sie<br />

allerdings älter geworden, aber immer noch mit braunen<br />

Haaren und strahlend blickenden Augen. Während<br />

sie Konversation machte und Begrüssungsfloskeln<br />

austauschte, versuchte Charlotte, ihre Rückenschmerzen<br />

zu ignorieren. In ihrer Kindheit hatte sie sich bei<br />

einem Unfall eine Rückenverkrümmung zugezogen.<br />

Mit zunehmendem Alter machten sich nun Schmerzen<br />

bemerkbar. Ein <strong>Regenschirm</strong> war ihr ständiger Begleiter.<br />

Sie stützte sich mit ihrer linken Hand, an welchem<br />

9


ein Brillantring steckte, darauf. In Gedanken lächelte<br />

sie über sich. Eine verehrte Person der Goethegemeinde,<br />

die sich auf einen <strong>Regenschirm</strong> stützen musste,<br />

passte schlecht zusammen. Von aller Welt ihr Leben<br />

lang Tante genannt, war sie längst zur «Tante mit dem<br />

<strong>Regenschirm</strong>» avanciert.<br />

Sie begrüsste höflich den nächsten Gast und bekräftigte<br />

einmal mehr, dass das Wetter in diesem Jahr<br />

besonders garstig sei, aber wenigstens scheine die Sonne<br />

hin und wieder mit wohltuender Wärme. Damit<br />

traten die Gäste über die Schwelle zum Blauen Salon,<br />

murmelten «I bi so frei» und mischten sich unter die<br />

Leute. Mit blauer Seide überzogene Sitzgelegenheiten<br />

standen den Wänden entlang, welche mit korinthischen<br />

Pilastern verziert waren, einige Ölgemälde von<br />

Landschaften und Vorfahren zierten die Wände, ein<br />

schlichter, weisser Kachelofen spendete wohltuende<br />

Wärme und an der Decke prangte ein Leuchter aus<br />

Murano. Die Vorhänge an den hohen Fenstern liessen<br />

nur wenig Licht herein, und zwischen den Fenstern<br />

waren Spiegel angebracht in Rahmen mit rankenartig<br />

vergoldeten Schnitzereien. Die unaufdringliche Eleganz<br />

des Raumes bildete den perfekten Rahmen für<br />

die Kleider der Damen, welche, wie es sich für Basel<br />

gehörte, schlicht, aber aus erlesenen Stoffen qualitätvoll<br />

angefertigt waren.<br />

Als auch die letzten Gäste die Schwelle überschritten<br />

hatten, mischte sich Charlotte unter die Leute. Es<br />

10


war eine illustre Gesellschaft; die Herren waren Bankiers<br />

und Kaufleute, darunter waren aber auch Geisteswissenschaftler.<br />

Die Damen schienen ihr alle aus<br />

dem gleichen Holz geschnitzt, sie vermittelten einen<br />

charakterfesten und grundsoliden Eindruck und<br />

strömten etwas Ehrfurchtgebietendes aus in ihren<br />

dunklen Seidenroben. Charlotte lauschte hier und<br />

nickte da und trat schliesslich zum jungen Musikdirektor<br />

Ernst Reiter und seiner Frau, der Sängerin Josephine<br />

Bildstein. Sie kannte Josephine schon von früher<br />

her, weil sie einmal ihr Gast gewesen war. Reiters<br />

Anzug zeigte keinerlei Eleganz; er war sauber, aber<br />

durchaus nicht modern, doch Reiters Gesicht mit der<br />

hohen Stirn, der edlen Nase, dem schmalen Bart und<br />

dem leicht spöttischen Mund lenkte davon ab. Er<br />

musste etwas über dreissig Jahre alt sein. Vor ein paar<br />

Jahren aus dem Grossherzogtum Baden via Strassburg<br />

nach Basel gekommen, war er nun Konzertmeister der<br />

Basler Konzertgesellschaft und seit Kurzem Dirigent<br />

des Gesangvereins. Im Gespräch mit Professor<br />

Bachofen, in das er verwickelt war, wurde jedoch nicht<br />

über Musik geredet, wie Charlotte gleich feststellte,<br />

sondern über Rom, die Stadt, die Johann Jakob<br />

Bachofen vor allem am Herzen lag. Eifrig gesellte sie<br />

sich dazu. Rom war für sie eine Herzensangelegenheit,<br />

lebte doch ihr besonders geliebter Bruder August dort.<br />

Sie selbst hatte die Stadt unter seiner Führung kennenund<br />

lieben gelernt.<br />

11


Der blaue Salon, Empfangsraum im Haus zum Kirschgarten<br />

12


«Schön, dass Sie zu uns stossen, Jungfer 1 Kestner, ich<br />

erzähle Herrn Reiter und seiner Gemahlin gerade von<br />

der antiken Gräberwelt und deren Symbolik. Sie ist<br />

äusserst faszinierend», erklärte Bachofen begeistert und<br />

beschrieb sie in wortreichen Farben. Reiter nutzte eine<br />

Pause im Redefluss und meinte zu Charlotte gewandt<br />

erklärend:<br />

«Sie müssen wissen, Herr Professor Bachofen gilt als<br />

einer der kenntnisreichsten Führer der Stadt Rom.»<br />

Charlotte hatte aufmerksam zugehört.<br />

«Mein Bruder August lebt in Rom. Ich war schon bei<br />

ihm zu Besuch und er hat mir viel gezeigt von der<br />

grossartigen Stadt, aber an Gräber kann ich mich nicht<br />

erinnern.»<br />

«Ja, die Gräber und ihre Symbolik werden leider viel<br />

zu wenig beachtet. Darf ich fragen, was Ihr Bruder in<br />

Rom macht?»<br />

«Er ist Gesandter von Hannover beim Heiligen Stuhl.»<br />

«Oh, das ist beeindruckend. Dann hat er sicher jede<br />

Möglichkeit, Rom und seine Schätze zu erkunden.»<br />

«Ja, es war sein grösster Wunsch, in Rom zu leben.<br />

Schon als Kind hatte er hauptsächlich Interesse an der<br />

Antike. Er ist ein grosser Sammler.»<br />

1<br />

Eine Altbasler Sitte, eine ledige Frau mit «Jumpfere»<br />

anzureden<br />

13


«Dann weiss ich, von wem Sie sprechen, natürlich,<br />

der Name Kestner wurde mir schon öfters genannt<br />

wegen seiner grossartigen Sammlung», rief Bachofen<br />

aus.<br />

«Das kann gut sein, viele Romreisende besuchen ihn<br />

deswegen. Er ist elf Jahre älter als ich. Aber wir haben<br />

zu Hause in der Bodenkammer zusammen die antiken<br />

Autoren gelesen, auch sonst viel Literatur. Ich hatte das<br />

Glück, dass er mich miteinbezog, üblicherweise kommt<br />

ein Mädchen ja selten zu guter Lektüre. Nach Shakespeares<br />

Sturm haben wir uns gegenseitig die Namen Ariel<br />

und Prospero zugelegt.» Charlotte hielt erschrocken<br />

inne. Wie kam sie dazu, so etwas zu erzählen? Sie fühlte,<br />

wie sie rot wurde. Ihre Spontanität machte ihr immer<br />

wieder einen Strich durch das gute Benehmen. Bachofen<br />

schmunzelte und gab sich ganz ungezwungen.<br />

«Ariel und Prospero – was man doch in jungen Jahren<br />

für köstliche Spielchen treibt!» Charlotte umklammerte<br />

den Knauf ihres <strong>Regenschirm</strong>s und fuhr mit<br />

blitzenden Augen fort:<br />

«Wir nennen uns jetzt noch hin und wieder bei diesen<br />

Namen. Es gibt uns eine besondere Art von Verbundenheit.<br />

Mein Bruder berichtet mir in seinen Briefen<br />

stets von Dingen, die er in Rom gesehen und entdeckt<br />

hat.» Sie wandte sich an Reiter. «Kürzlich<br />

schwärmte er mir von einem besonderen Musikstück,<br />

das er in der Sixtinischen Kapelle gehört habe, ein<br />

Miserere von Allegri, das jeweils in der Karwoche auf-<br />

14


geführt wird. Er habe danach kaum schlafen können,<br />

so sehr habe es ihn beeindruckt.»<br />

«O ja, man erzählt sich, dass der vierzehnjährige<br />

Mozart das Stück bei einem Romaufenthalt gehört und<br />

später aus dem Gedächtnis korrekt aufgeschrieben<br />

habe», schmunzelte Reiter, «es wäre ein Stück für eines<br />

der Hauskränzchen, und Ihre Tochter Caroline könnte<br />

das Sopransolo singen, welches darin vorkommt.»<br />

Charlotte war einen Moment verwirrt. Schliesslich<br />

meinte sie mit leiser Stimme:<br />

«Caroline ist nicht meine Tochter, sie ist das Kind<br />

meines Bruders Carl. Ich habe sie zusammen mit ihrem<br />

jüngeren Bruder aufgezogen, seit sie sechs Jahre alt<br />

war.» Reiter schwieg einen Moment und wusste nicht,<br />

was er darauf antworten sollte.<br />

«Hätten Sie vielleicht Interesse daran, bei mir an der<br />

Augustinergasse meine Sammlung von antiken Vasen,<br />

Grablampen und Bronzen zu betrachten? Ich würde<br />

mich sehr über einen Besuch von Ihnen freuen», fragte<br />

Bachofen dazwischen. Charlotte nickte, sie war froh,<br />

das Thema nicht weiter ausführen zu müssen.<br />

«Mit dem grössten Vergnügen.»<br />

«Diese Einladung gilt natürlich auch Ihnen», wandte<br />

sich Bachofen an Ernst Reiter und seine Frau, «ich freue<br />

mich immer, wenn ich jemandem meine Sammlung<br />

zeigen kann.»<br />

Charlotte genoss als Tochter von Goethes «Lotte»<br />

auch Vorteile, sie wurde in jeden illustren Kreis wohl-<br />

15


wollend aufgenommen. Sie war erst vor Kurzem aus<br />

dem elsässischen Thann nach Basel gekommen und in<br />

den Kirschgarten gezogen, es war einer der ersten Empfänge,<br />

die sie mitmachte. Deshalb freute sie sich über<br />

diese Einladung. Trotzdem wünschte sie sich auch heute<br />

wieder, von den Leuten mit weniger Voreingenommenheit<br />

wahrgenommen zu werden. Sie wollte nicht<br />

die Tochter von Goethes Lotte sein, sondern sie selbst.<br />

Es war anders gekommen, wie so vieles in ihrem<br />

Leben …<br />

16


Hannover, 1800<br />

Es war noch recht früh am Morgen. Die zwölfjährige<br />

Charlotte erwachte nach einer unruhigen Nacht und<br />

fragte sich, ob das, was um sie herum vorging, Wirklichkeit<br />

war oder immer noch verworrene Träume. Die<br />

Lichtstrahlen, welche durch die Fensterläden fielen,<br />

trugen dazu bei, sie tauchten den Raum in ein schales<br />

Licht. Es lastete eine unheimliche Stille im herrschaftlichen<br />

Haus, in welchem sonst fröhliches Kinderlachen<br />

vorherrschte. Sie erschien Charlotte beängstigend,<br />

genauso wie die Nachricht, die sie am Tag zuvor vernommen<br />

hatte. Die Erinnerung an die Worte ihrer<br />

Mutter überfiel sie mit Wucht.<br />

«Dieser Brief ist heute von eurem grossen Bruder<br />

Georg gekommen, der Vater auf der Geschäftsreise<br />

nach Lüneburg begleitet», hatte die Mutter beim Mittagessen<br />

allen mit brüchiger Stimme eröffnet, während<br />

sie sichtlich mit den Tränen kämpfte und einen Brief in<br />

den zitternden Händen hielt. «Ihr wisst, dass Vater oft<br />

von Schmerzen geplagt wurde. Nun schreibt uns<br />

Georg, dass Vater – dass er auf seiner Reise plötzlich<br />

und ganz unerwartet gestorben ist, für immer eingeschlafen.»<br />

Während alle sprachlos und sichtlich schockiert<br />

dagesessen waren, hatte der kleine, erst fünfjährige<br />

Fritz verwirrt in die Runde geschaut.<br />

«Kommt Vater jetzt nicht mehr zurück?»<br />

17


«Nein, Fritzchen, er ist nun im Himmel. Euer Bruder<br />

Georg hat dafür gesorgt, dass Vater ein würdiges Begräbnis<br />

erhielt. Wir können nichts weiter tun, als zusammenhalten<br />

und um ihn trauern.» Die neunjährige Luise hatte<br />

laut zu weinen begonnen, worauf die siebenjährige<br />

Clara miteinstimmte. Die Mutter hatte sich rasch erhoben,<br />

um die Kleinen tröstend in die Arme zu nehmen,<br />

während der vierzehnjährige Hermann polternd aufgestanden<br />

und zusammen mit dem zwei Jahre älteren Eduard<br />

mit gesenktem Blick wortlos hinausgegangen war.<br />

«Ich will aber, dass er wiederkommt!», hatte Fritzchen<br />

protestiert, worauf ihn Charlotte bei der Hand<br />

genommen und hinausgeführt hatte, besser hinauszerren<br />

musste. Sie war selbst erfüllt gewesen von finsterer<br />

Verzweiflung, hatte keinen klaren Gedanken fassen<br />

können, ihre Reaktion war eine zwangsläufige Handlung<br />

gewesen, als ob ausserhalb der Stube die Mitteilung<br />

keine Gültigkeit mehr hätte. Fieberhaft hatte sie<br />

überlegt, wie sie es dem Kleinen leichter machen könnte,<br />

aber es war ihr nichts eingefallen.<br />

Und nun am hellen Morgen kam ihr immer noch<br />

alles unwirklich vor, fast gespenstisch. Charlotte starrte<br />

an die Decke. Wie würde es weitergehen, ganz <strong>ohne</strong><br />

Vater? Es lag noch immer eine drückende Stille im ganzen<br />

Haus. Sie kleidete sich an und schlich hinunter<br />

zum Frühstück, wo sie alle schweigend um den Tisch<br />

sitzend vorfand. Niemand ass viel, und sobald jemand<br />

satt war, floh er aus dem Zimmer. Schliesslich sassen<br />

18


nur noch Fritzchen und Charlotte am Tisch. Die Mutter<br />

nahm den Buben auf den Schoss und ihre feingliedrigen<br />

Hände strichen über seine Haare. Gleichzeitig<br />

berichtete sie von ihren Plänen, die für ihn eine grosse<br />

Umstellung bedeuten würden. Mit zweiundvierzig Jahren<br />

hatte sie den kleinen Fritz noch bekommen, die<br />

Geburt dieses Kindes hatte sie viel Kraft gekostet, nun<br />

war sie mit siebenundvierzig Jahren Witwe geworden<br />

und hatte allein für ihre vielen Kinder zu sorgen. Die<br />

Verantwortung lastete schwer auf ihr. Doch es war ein<br />

vertrautes Gefühl, wie sie feststellte, denn nach dem<br />

frühen Tod ihrer Mutter hatte sie einst ihre jüngeren<br />

Geschwister liebevoll versorgt und den väterlichen<br />

Haushalt geführt. Es lag zwar weit zurück, aber es war<br />

eine nicht zu unterschätzende Erfahrung. Nun würde<br />

sie für ihre acht Söhne und drei Mädchen wiederum<br />

alles tun, um sie möglichst unbeschadet durch die<br />

schwere Zeit zu führen.<br />

«Du darfst nun aufs Land, Fritzchen, das wird dir<br />

gefallen», murmelte sie und Tränen glitzerten in ihren<br />

blauen Augen, «es geht mir sehr nah, aber es ist zu deinem<br />

Besten. Ein gescheiter, munterer Knabe bei einer<br />

Mutter, die so viel zu tun hat wie ich, das geht nicht.»<br />

Die zwölfjährige Charlotte hörte zu und konnte es<br />

nicht fassen.<br />

«Aber warum denn? Ich kann doch nach Fritzchen<br />

sehen, wie bis anhin auch», erwiderte sie mit verzweifeltem<br />

Ernst.<br />

19


«Das ist lieb von dir. Aber es muss ein väterliches<br />

Vorbild her, um ihn zu einem wackeren Knaben und<br />

zuverlässigen jungen Mann heranwachsen zu lassen.<br />

Nur so wird er sich später in der Gesellschaft bewähren<br />

können.» Charlotte suchte fieberhaft nach einer Lösung,<br />

doch diesem Argument konnte sie nichts entgegensetzen.<br />

Die Mutter zögerte einen Moment, strich sich über<br />

das braune Haar und fuhr entschlossen fort: «Auch bei<br />

uns wird sich viel ändern, Lotte. Die Ausbildung deiner<br />

acht Brüder kostet viel und bereitet mir Sorgen. Zum<br />

Glück sind einige schon erwachsen. Georg als Ältester<br />

wird die Hauptlast tragen und wohl die Kosten für das<br />

Studium von August übernehmen müssen, ebenso den<br />

Unterhaltszuschuss für Wilhelm, der auch die Beamtenlaufbahn<br />

einschlagen wird. Carl in Strassburg muss<br />

sich für Eduard einsetzen, der eine kaufmännische<br />

Karriere anstrebt. Für Theodors Fortkommen im Medizinstudium<br />

könnte ich an Goethe schreiben und um<br />

Empfehlung bitten, wenn es nötig wird.»<br />

«Warum an Goethe?», unterbrach sie Charlotte, «ich<br />

meine, Vater hätte ihn nicht sonderlich geschätzt.» Die<br />

Mutter schüttelte den Kopf. «Es ist etwas komplizierter.<br />

Als wir jung waren, hat sich Goethe bei einem Aufenthalt<br />

in unserem Ort in mich verliebt. Er war gerade<br />

dreiundzwanzig Jahre alt. Doch ich war schon mit<br />

Vater verlobt. Das führte dazu, dass Goethe seine vergebliche<br />

Liebe im Roman ‹Die Leiden des jungen<br />

Werther› verarbeitete. Das Werk wurde berühmt in<br />

20


Unverheiratete Frauen im 19. Jahrhundert<br />

mussten überall in der Familie einspringen,<br />

wo es nötig war, sei es als Ersatzmutter<br />

oder als Krankenpflegerin. Oft gerieten sie<br />

in Situationen, aus denen sie nicht mehr<br />

he raus kamen. Sie waren zwar «versorgt»<br />

und «sinnvoll beschäftigt», doch viele<br />

fühlten sich um ihr eigenes Leben betrogen.<br />

Charlotte Kestner, Tochter von Goethes<br />

Lotte («Die Leiden des jungen Werther»),<br />

wurde in Hannover geboren, kam mit<br />

zwanzig Jahren nach Thann im Elsass zu<br />

ihrem verwitweten Bruder Carl, dem sie<br />

über vierzig Jahre den Haushalt führte und<br />

dessen Kindern sie die Mutter ersetzte.<br />

Später lebte sie in Basel, wo sie noch<br />

während rund dreissig Jahren im Haus<br />

zum Kirschgarten wohnte.<br />

ISBN 978-3-7245-2726-8

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