Das Liebling Haus
ISBN 978-3-98612-022-1
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Sharon Golan<br />
Ellen Kugler<br />
Shira Levy Benyemini<br />
(Hg.)<br />
DAS<br />
LIEBLING<br />
HAUS
Sharon Golan<br />
Ellen Kugler<br />
Shira Levy Benyemini<br />
(Hg.)<br />
DAS<br />
LIEBLING<br />
Redaktion:<br />
Florian Heilmeyer<br />
Katrin Voermanek<br />
HAUS
HEUTE<br />
GESTERN<br />
MORGEN
36<br />
70<br />
150
Hallo <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong><br />
Fotoessay von Yael Schmidt<br />
Vorworte<br />
Sören Bartol, Udi Carmely, Ellen Kugler<br />
1<br />
28<br />
DAS LIEBLING HAUS HEUTE<br />
„Wir wollen immer eine Verbindung zu heutigen Themen herstellen.“<br />
Interview mit Shira Levy Benyemini und Sharon Golan<br />
„Wir brauchen das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> nicht, um Antworten zu geben,<br />
sondern um Fragen stellen zu können.“<br />
Interview mit Jeremie Hoffmann<br />
„Open for Renovation“: Die Baustelle als Lehr-, Lern- und Begegnungsort<br />
Sabrina Cegla<br />
„School of the City“: Inspiriert vom Bauhaus<br />
Shira Levy Benyemini<br />
38<br />
46<br />
53<br />
61<br />
DAS LIEBLING HAUS GESTERN<br />
Nur Bauhaus? Zur Moderne in Tel Aviv<br />
Sharon Golan<br />
Zur Geschichte des <strong>Haus</strong>es, seiner Bewohnerinnen und Bewohner<br />
Kurztexte von Florian Heilmeyer<br />
<strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong><br />
Der Architekt: Dov Karmi<br />
Die Bauherrin und der Bauherr: Tony und Max <strong>Liebling</strong><br />
Im Erdgeschoss: Familie Meyer<br />
Im ersten Stock: Familie Asherman<br />
Im zweiten Stock: Familie Scheuer<br />
„Tritt man nahe ans Gebäude, dann sieht man die Spuren<br />
der Geschichte. <strong>Das</strong> war uns sehr wichtig.“<br />
Interview mit Winfried Brenne<br />
„Wir wollten für das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> den Eindruck eines<br />
bauarchäologischen Präparats vermeiden.“<br />
Interview mit Jörg Haspel<br />
Details<br />
Fotoessay von Yael Schmidt<br />
Kurztexte von Florian Heilmeyer<br />
72<br />
91<br />
92<br />
98<br />
103<br />
105<br />
107<br />
110<br />
114<br />
120<br />
127
DAS LIEBLING HAUS MORGEN<br />
„<strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> muss ein dynamischer Ort bleiben.<br />
Es wird, es soll nie fertig sein.“<br />
Interview mit Shira Levy Benyemini und Sharon Golan<br />
Voices<br />
… und übermorgen!<br />
Shira Levy Benyemini<br />
152<br />
158<br />
168<br />
Autorinnen und Autoren<br />
Projektbeteiligte<br />
Bildnachweis<br />
Impressum<br />
172<br />
176<br />
179<br />
180
DAS<br />
36<br />
LIEBLING<br />
HAUS
HEUTE<br />
37<br />
Was ist das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> in Tel Aviv? Wie wurde aus dem<br />
ehemaligen Wohnhaus ein Kulturzentrum für Forschung,<br />
Ausstellungen und Tagungen zu den Themen Städtebau,<br />
Architektur und Denkmalschutz? Was hat Deutschland<br />
damit zu tun? Was kann man von der Vergangenheit noch<br />
sehen und spüren? Was kann man in den Räumen des<br />
<strong>Haus</strong>es noch über die Stadt lernen und wie findet Lernen<br />
in einem Zentrum statt, das immer auf der Suche nach<br />
Erfahrungen und Erkenntnissen ist?
„WIR WOLLEN IMMER<br />
EINE VERBINDUNG ZU<br />
HEUTIGEN THEMEN<br />
HERSTELLEN.“<br />
38<br />
Arbeiten Hand in Hand:<br />
Shira Levy Benyemini (links)<br />
und Sharon Golan
Im Gespräch mit Katrin Voermanek erzählen Shira Levy<br />
Benyemini, Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin<br />
des <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong>, und Sharon Golan, Initiatorin und<br />
Mitgründerin des Zentrums und Direktorin des <strong>Liebling</strong> Lab,<br />
von den Ursprüngen des Projekts und den thematischen<br />
Schwerpunkten, die sie mit ihrem Programm verfolgen.<br />
39<br />
Was ist das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> heute? Und wie<br />
viel hat das mit Ihnen persönlich und Ihrem<br />
professionellen Hintergrund zu tun?<br />
Shira Levy Benyemini: Eigentlich geht unser<br />
Programm, gehen all die Inhalte und Formate<br />
auf unsere Zeit im <strong>Haus</strong> zurück, als es<br />
noch leer stand. Sharon und ich haben unsere<br />
Arbeitsplätze eingerichtet und angefangen,<br />
das Konzept für ein Besucherzentrum<br />
zu entwickeln. Am Anfang bat man uns um<br />
ein ganz klassisches Informationszentrum.<br />
Aber während wir hier waren – als temporäre<br />
Nutzende quasi –, haben wir das <strong>Haus</strong> immer<br />
besser verstanden und gemerkt, dass es auch<br />
etwas ganz anderes sein kann. Wir haben Hila<br />
Cohen-Schneiderman dazu eingeladen, mit<br />
uns an einem Residenzprogramm für zehn<br />
Kunstschaffende zu arbeiten, es entstand so etwas<br />
wie ein Thinktank. Wir haben gemeinsam<br />
mit Leuten aus allen möglichen Disziplinen<br />
überlegt, wie wir mithilfe dieses <strong>Haus</strong>es die Geschichte<br />
der Weißen Stadt erzählen könnten.<br />
Shira, Sie haben zur temporären Nutzung<br />
von Gebäuden geforscht, richtig?<br />
SLB: Ja. Ich hatte davor keine Erfahrung als<br />
Direktorin oder Kenntnisse darüber, wie man<br />
einen solchen Ort leitet. Aber ich hatte intensiv<br />
untersucht, wie man leer stehende Gebäude<br />
durch temporäre Nutzung aktivieren kann:<br />
alte öffentliche Bauten, Synagogen, Industriegebäude.<br />
Ich studierte die Orte und überlegte<br />
mir dann eine passende Nutzung für sie. Zuerst<br />
habe ich das aus eigener Initiative gemacht,<br />
später für die Stadtverwaltung, gemeinsam<br />
mit einem beratenden Team und in Zusammenarbeit<br />
mit der Kulturbehörde. Zu jener Zeit<br />
gab es fast 250 leere Gebäude in städtischem<br />
Besitz in Tel Aviv. Heute gibt es im Kulturamt<br />
eine eigene Abteilung mit Mitarbeitenden nur<br />
für dieses Thema. Für mich war das <strong>Liebling</strong><br />
<strong>Haus</strong> eine ideale Gelegenheit, unter günstigen<br />
Rahmenbedingungen zu erforschen, wie sich<br />
ein Wohnhaus in ein öffentliches Gebäude<br />
umwandeln lässt, indem theoretische Konzepte<br />
in die Praxis umgesetzt werden. Aufgrund<br />
meiner Erfahrung mit Instandhaltungsprogrammen<br />
und dem Umgang mit Konflikten<br />
im Bereich Urbanismus wurde mir klar, dass<br />
eine temporäre Nutzung des <strong>Haus</strong>es dabei helfen<br />
kann, Verständnis für die tatsächlichen<br />
Bedürfnisse der Umgebung zu erlangen und<br />
eine passende Entwicklungsstrategie für den<br />
Ort zu entwerfen.
40<br />
Sharon Golan: Meine Geschichte fängt ein bisschen<br />
anders an. Ich bin in Deutschland geboren,<br />
aber in Tel Aviv aufgewachsen, und habe<br />
am IIT in Chicago, das von Mies van der Rohe<br />
nach seiner Auswanderung aus Deutschland<br />
während des Krieges entworfen wurde, Architektur<br />
studiert. Anschließend ging ich zum<br />
Studium nach Berlin und bin dann nach Tel<br />
Aviv zurückgekehrt. In gewisser Weise dreht<br />
sich mein Schicksal um den Geist des Bauhaus.<br />
Vor meinem Studium war mir nicht so<br />
bewusst, wie speziell und gut durchdacht die<br />
Stadt Tel Aviv geplant ist und wie viel gute<br />
Architektur, wie viele ortstypische moderne<br />
Bauten es hier gibt. Also habe ich mein Studium<br />
mit dem Schwerpunkt Denkmalpflege<br />
fortgesetzt, um die örtlichen Bedingungen der<br />
Stadt, für die ich einmal arbeiten würde, besser<br />
zu verstehen. Bald darauf habe ich begonnen,<br />
in der städtischen Denkmalschutzbehörde zu<br />
arbeiten, und habe dort viele Sanierungs- und<br />
Umbauprojekte begleitet.<br />
Als die Idee entstand, ein Denkmalschutzzentrum<br />
zu gründen, begegnete ich bei den<br />
Recherchen für einen geeigneten Ort zum<br />
ersten Mal dem <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong>. Mein deutschisraelischer<br />
Hintergrund hat mir geholfen,<br />
den bilateralen Aspekt dieses gemeinsamen<br />
Erbes zu begreifen, und so führte der Weg über<br />
die Deutsch-Israelische Gesellschaft zu einem<br />
Kontakt mit der Bundesregierung und dem<br />
damaligen Staatssekretär Gunther Adler. Auf<br />
diese Weise entstand die israelisch-deutsche<br />
Kooperation, die das <strong>Haus</strong> heute trägt.<br />
Für mich war der ganze Renovierungsprozess<br />
extrem wichtig, besonders die ethische<br />
Dimension, dass wir im Zuge des Konservierungsprozesses<br />
die Geschichte des <strong>Haus</strong>es und<br />
seiner Bewohnerinnen und Bewohner erzählen<br />
konnten. Was bauen wir um, was müssen<br />
wir reparieren, wie legen wir die historischen<br />
Schichten frei und was machen wir sichtbar,<br />
damit dieses <strong>Haus</strong> ein Best-Practice-Projekt<br />
für vorbildliche Sanierung wird? <strong>Das</strong> mussten<br />
wir bei vielen Details immer wieder neu diskutieren<br />
und entscheiden. Parallel haben wir<br />
mit Unterstützung der Stadt und unserem Beirat<br />
Stück für Stück das inhaltliche Programm<br />
entwickelt. Dank meiner Kollegin Shira stand<br />
die Community bei dem Projekt von Anfang<br />
an im Fokus.<br />
SLB: Dabei hatten wir immer Tony <strong>Liebling</strong> im<br />
Hinterkopf. Sie wollte, dass dieses <strong>Haus</strong>, das sie<br />
mit ihrem Mann Max zusammen hatte bauen<br />
lassen, der Kultur und der Bildung gewidmet<br />
wird. <strong>Das</strong> war unser wichtigstes Ziel.<br />
Am Anfang haben wir konventionell mit<br />
Raumprogrammen gearbeitet: 100 Quadratmeter<br />
für eine Bibliothek, 100 Quadratmeter<br />
für ein Café … Aber das führte zu nichts, was<br />
uns inhaltlich überzeugt hätte. Umso mehr<br />
hat der Prozess der temporären Nutzung den<br />
ganzen „Spirit“ verändert. Uns wurde klar, dass<br />
hier ein Community Center für verschiedene<br />
Teile der Gesellschaft entstehen muss – ein Ort,<br />
an dem die Nachbarschaft ebenso zusammenkommen<br />
kann wie unterschiedliche Disziplinen<br />
rund um Kunst, Design und Architektur.<br />
Wir haben mit Leuten aus den Hochschulen<br />
gesprochen, ebenso mit praktizierenden Architektinnen<br />
und Architekten, und alle haben uns<br />
gesagt, dass es einen solchen Ort in Tel Aviv<br />
und in ganz Israel nicht gibt. Es wurden immer<br />
mal thematische Ausstellungen in einem der<br />
Museen gezeigt – aber ein Zentrum, an dem<br />
sich ein offener Diskurs entwickeln kann, das<br />
hat gefehlt. Wir haben beschlossen, dass das<br />
<strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> dieser Ort werden soll.<br />
Damit war klar, dass die Weiße Stadt eine
41<br />
Rolle spielen würde, auch die Architektur des<br />
Internationalen Stils, der Einfluss des Bauhaus<br />
und die vielen Bezüge zu Deutschland im Allgemeinen.<br />
Aber das ist längst nicht alles. Wir<br />
wollten einen Ort schaffen, an dem zu historischen<br />
und aktuellen Themen der ganzen<br />
Stadt geforscht wird und Strategien entwickelt<br />
werden, einen Ort, der auch für Hochschulen<br />
relevant ist. Heute ist das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> ein<br />
offenes <strong>Haus</strong> für Diskussionen zu ganz unterschiedlichen<br />
Themen der Architektur und des<br />
Urbanismus. Deswegen heißen wir auch nur<br />
noch im Untertitel White City Center. Es gibt<br />
so viele Gegenden in der Stadt, die in demografischer<br />
wie geografischer Hinsicht nicht zur<br />
Weißen Stadt gehören, die wollten wir nicht<br />
von vornherein ausklammern.<br />
Wie haben Sie Ihre Themen gefunden?<br />
SLB: Wir haben begriffen, dass wesentliche<br />
Dinge, über die wir forschen und die wir ausstellen<br />
sollten, zunächst einmal hier im <strong>Haus</strong><br />
zu finden sind. Als Erstes entstand die Idee für<br />
das Programm „Open for Renovation“, das mit<br />
der Zeit immer umfangreicher wurde (siehe<br />
S. 53 ff.) und den gesamten Renovierungsprozess<br />
öffentlich wahrnehmbar gemacht hat. Ich<br />
sah darin eine großartige Gelegenheit, die Herausforderungen<br />
der Renovierung als Hauptthema<br />
des Jahres aufzuarbeiten. In diesem<br />
Rahmen haben wir auch begonnen, das <strong>Liebling</strong><br />
<strong>Haus</strong> und seine Materialien zu erforschen,<br />
und sind zum Beispiel über die Fliesen im Treppenhaus<br />
auf Themen wie das Transferabkommen<br />
gestoßen (siehe S. 81 ff.). Zunächst war<br />
es eigentlich eher eine künstlerische als eine<br />
wissenschaftliche Untersuchung, die wir zusammen<br />
mit der Stiftung Bauhaus Dessau und<br />
den Künstlerinnen und Künstlern aus unserem<br />
Residenzprogramm durchgeführt haben. Aber<br />
sie hat in der Fachdiskussion über dieses Abkommen<br />
im Nachgang ganz viel angestoßen.<br />
SG: Uns wurde noch etwas klar, was hier wichtig<br />
sein würde. <strong>Das</strong> hatten wir schon während<br />
unserer Arbeit für die Denkmalbehörde<br />
gelernt – und wir sind ja so etwas wie der verlängerte<br />
Arm der Stadtverwaltung. Wir wollten<br />
ein besseres Verständnis dafür herstellen,<br />
was Denkmalschutz bedeutet, außerdem mehr<br />
Wertschätzung und ein Bewusstsein, wie man<br />
mit dem wertvollen Gebäudebestand und der<br />
Stadtstruktur umgeht, wie man mit dem arbeitet,<br />
was da ist, anstatt Teile zu ersetzen. Wir<br />
wollten die Schönheit des historischen Gebäudes<br />
zeigen – und zwar nicht nur auswärtigen<br />
Gästen, sondern vor allem den Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern von Tel Aviv selbst. Also<br />
sollte Bildung einen Platz bekommen, und<br />
zwar eine solche, die schon bei Kindern und<br />
der nachbarschaftlichen Community anfängt.<br />
Daraus sind dann die wesentlichen Bausteine<br />
entstanden, die das <strong>Haus</strong> heute prägen: Ausstellungen,<br />
Forschung und Bildung ebenso<br />
wie das Verschmelzen der Denkmalpflege mit<br />
einem ganzheitlichen Ansatz zur nachhaltigen<br />
Stadtplanung.<br />
SLB: Weil das Erbe der modernen Architektur<br />
trotz allem die Grundlage des Zentrums ist,<br />
beschlossen wir, die Dauerausstellung Exceptional:<br />
The White City – An Everyday Heritage zu<br />
entwickeln, die sich aus dieser Perspektive<br />
mit der Geschichte der Stadt auseinandersetzt.<br />
Ergänzend zur von Sabrina Cegla und Hadas<br />
Zemer Ben-Ari kuratierten Ausstellung haben<br />
wir einen Audioguide mit vielen Stationen<br />
in der Stadt entwickelt (kuratiert und geleitet<br />
von Lia Kohavi) und einen Stadtplan auf<br />
der Dachterrasse platziert. Es gibt auch einen
„OPEN FOR<br />
RENOVATION“:<br />
53<br />
DIE BAUSTELLE ALS<br />
LEHR-, LERN- UND<br />
BEGEGNUNGSORT
Die Architektin, Ausstellungsdesignerin und Kuratorin<br />
Sabrina Cegla gehört seit 2015 zum Gründungsteam des<br />
<strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> und gestaltete dessen Vision und Werte<br />
wesentlich mit. Als leitende Kuratorin des <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong><br />
initiierte und kuratierte sie zahlreiche Projekte, darunter<br />
die Dauerausstellung. Hier beschreibt sie das von ihr<br />
gemeinsam mit Sharon Golan konzipierte und geleitete<br />
Programm „Open for Renovation“. Basierend auf Ceglas<br />
kuratorischem Konzept und Projektdesign verwandelte<br />
sich das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> in eine performativ-pädagogische<br />
Baustelle, die zu Besuch und Diskussion einlud – noch vor<br />
der offiziellen Eröffnung.<br />
54<br />
Wenn sich ein Gebäude im Umbau befindet, ist es normalerweise<br />
wegen Renovierung geschlossen, abgeriegelt,<br />
von seiner natürlichen Umgebung getrennt, bis es als neue<br />
Version seiner selbst wiedergeboren wird. Oft verursachen<br />
Bauarbeiten Lärm und Staub und sorgen damit bei den<br />
Menschen in der Nachbarschaft für Ärger. <strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong><br />
<strong>Haus</strong> wollte der Community von Anfang an die Hand reichen<br />
und sie einladen, an der Baustelle teilzuhaben. Deshalb<br />
beschlossen wir, die nach innen gekehrte Renovierung<br />
umzukrempeln und in einen nach außen gerichteten<br />
Prozess zu verwandeln. Im Rahmen des multidisziplinären<br />
Projekts „Open for Renovation“, das von 2017 bis 2019 lief<br />
und sich dem Erhalt und der Sanierung des <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong><br />
verschrieben hatte, wurde das Gebäude zu einer offenen,<br />
urbanen Stätte der kollektiven Produktion, des Wissensaustauschs<br />
und der Begegnung.<br />
Ziel von „Open for Renovation“ war es, den Prozess als<br />
architektonische Live-Performance und die Baustelle
↑ Schülerinnen und Schüler der Berliner Knobelsdorff-Schule, während eines Fensterworkshops,<br />
geleitet von zukunftsgeraeusche<br />
↓ Ein Abend mit Serenaden und Begegnungen zum Thema Balkon im Rahmen von „Open for<br />
Renovation“<br />
55
↑ Helme für die Open-for-Renovation-Führungen<br />
↓ Installation der Künstlerin Naama Bar-Or in einem <strong>Liebling</strong>-<strong>Haus</strong>-Badezimmer<br />
56
als Lernort zu gestalten. Sowohl Fachleute als auch die<br />
interessierte Öffentlichkeit wurden eingeladen, sich zu<br />
beteiligen, vor Ort umzusehen und Aspekte des Instandsetzens,<br />
Konservierens und Reparierens zu diskutieren,<br />
während sie die Baustelle hautnah erleben konnten. In<br />
erster Linie wurde das Gebäude zu einer „Bildungsstätte“,<br />
einer Bauhütte für deutsche und israelische Meisterinnen<br />
und Meister sowie Auszubildende, die dem gemeinsamen<br />
traditionellen Bauhandwerk neues Leben einhauchen<br />
und die Handwerkskunst fördern wollten. Ein wichtiger<br />
Teil der modernen Bautradition kam aus dem Deutschland<br />
der 1930er Jahre nach Israel, doch viel Wissen war<br />
über die Jahre aus unterschiedlichen Gründen verloren<br />
gegangen – zum Beispiel deshalb, weil es in Israel keine<br />
staatlichen Handwerksschulen gibt. Dank der Begegnungen<br />
junger Auszubildender aus demselben Metier konnte<br />
ein breiter kultureller Austausch stattfinden.<br />
57<br />
Die Workshops vor Ort konzentrierten sich nicht auf das<br />
Ersetzen einzelner Bauelemente, sondern auf Restaurierung<br />
und Instandsetzung. So konnten sich die Teilnehmenden<br />
am eigentlichen Restaurierungsprozess beteiligen und<br />
gleichzeitig praktische Erhaltungskonzepte aushandeln,<br />
die für die lokale Sanierungsplanung von Bedeutung waren.<br />
Am Projekt beteiligte Architektinnen und Architekten,<br />
Designerinnen und Designer, Handwerkerinnen und Handwerker<br />
sowie Ingenieurinnen und Ingenieure leiteten Führungen<br />
auf der Baustelle. Dabei lernten die Teilnehmenden<br />
verschiedene praktische und ethische Aspekte des Konservierungsprozesses<br />
kennen. Es wurde über den Unterschied<br />
zwischen Renovierung und Instandhaltung diskutiert und<br />
kenntlich gemacht, was erhalten, was repariert und was<br />
ersetzt werden sollte. Expertinnen und Experten aus Geschichte,<br />
Soziologie, Architektur und Kunst hielten Vorträge<br />
über die verschiedenen Räume des Gebäudes und<br />
erörterten Alltagsfragen und kulturelle Werte, die in die
physische Gestaltung von Bauwerken einfließen. Begleitet<br />
wurden die Vorträge von Performances, Filmvorführungen,<br />
ortspezifischen Kunstinstallationen und Interventionen.<br />
Indem das Bauwerk während seiner physischen, räumlichen,<br />
funktionalen und programmatischen Transformation<br />
vom Wohnbau zum öffentlichen Gebäude offen zur Schau<br />
gestellt wurde, konnten die Besucherinnen und Besucher<br />
erkunden, auf welche Weise die moderne Architektur<br />
unsere Wohnräume und Umgebungen bis zum heutigen<br />
Tag beeinflusst und formt.<br />
58<br />
„Open for Renovation“ war ein israelisch-deutsches<br />
bilaterales Projekt zur Wiederbelebung eines gemeinsamen<br />
materiellen Kulturerbes. Die Erfahrungen, die vor Ort<br />
aus erster Hand gesammelt werden konnten, eröffneten<br />
neue Perspektiven auf die moderne Architektur. Gleichzeitig<br />
bot das Projekt die Möglichkeit, die Essenz des<br />
Internationalen Stils in Tel Aviv auf eine Weise zu erforschen,<br />
die über rein ästhetische Werte hinausging und<br />
Geschichte, Technologie, Identität und Kultur mit einbezog.<br />
Konventionelle Instandhaltungsmethoden wurden<br />
infrage gestellt, der Vorschlag, Denkmalschutz neu zu<br />
verstehen, wurde unterbreitet: als Gelegenheit für gemeinsames<br />
Lernen, Experimentieren und als Wissensaustausch<br />
über die Grenzen rein fachlicher Expertise hinaus.<br />
Im Jahr 2018 wurde „Open for Renovation“ zur Teilnahme<br />
an einer Leipziger Messe für Denkmalpflege und Restaurierung<br />
eingeladen. Da das wesentliche Objekt – nämlich das<br />
Gebäude selbst – nicht vor Ort präsent sein konnte, bot die<br />
Ausstellung einen fragmentarischen Einblick in das Projekt.<br />
Der Schwerpunkt lag auf der Materialität des Bauwerks, auf<br />
der Handwerkskunst, auf einzelnen Bauelementen und auf<br />
den Veranstaltungen während der Renovierung, die an eine<br />
vergessene gemeinsame Baukultur erinnerten. Die Ausstellung<br />
offenbarte die Komplexität des architektonischen Akts
und die unterschiedlichen Kräfte, die auf ihn einwirken.<br />
<strong>Das</strong> Programm rückte die Bedeutung von Handwerk, Zusammenarbeit<br />
und gesellschaftlichem Engagement beim<br />
Prozess der Sanierung des Gebäudes in den Fokus. Somit<br />
war es möglich, einen neuen Ansatz für die Bewahrung<br />
und Vermittlung von Architektur herauszuarbeiten. „Open<br />
for Renovation“ führte das Gebäude wieder mit seinem<br />
städtischen Erbe und dem aktuellen Stadtleben zusammen.<br />
Gleichzeitig legte es den Grundstein für eine nachhaltige<br />
Zukunft, indem Instandsetzen, Konservieren und<br />
Reparieren neu gedacht wurden – als alltägliche soziale,<br />
kulturelle und ökologische Praktiken.<br />
59<br />
Unsere Partner für dieses Projekt kamen sowohl aus dem<br />
akademischen als auch aus dem professionellen Bereich:<br />
die Knobelsdorff-Schule und die Max-Bill-Schule in Berlin,<br />
die Handwerkskammer Berlin, das Projekt zukunftsgeraeusche<br />
an der TU Berlin, die Sto-Stiftung, Keimfarben,<br />
Arco, Brenne Architekten, das Shenkar College, die<br />
Bauhaus-Universität Weimar, Etz Ladat und andere.<br />
Die Sto-Stiftung beteiligte sich in besonderer Weise am Projekt „Open for Renovation“ und<br />
leistete großzügige finanzielle Unterstützung. Dadurch erhielten junge deutsche Auszubildende<br />
aus dem Stuckateur- und Malerhandwerk die Möglichkeit, jeweils eine Woche in Tel<br />
Aviv zu verbringen, wo sie ihr handwerkliches Können unter israelisch-deutscher Anleitung<br />
und im Austausch mit jungen ansässigen Kolleginnen und Kollegen auf der Baustelle des<br />
<strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> erproben konnten. Am Ende des Austauschs konnten sie ihr Gastland im<br />
Rahmen eines dreitägigen Kulturprogramms bereisen und näher kennenlernen. Die Sto-<br />
Stiftung berichtete in den Medien über das Projekt und stellte eine ausführliche Dokumentation<br />
auf ihrer Website bereit.<br />
Der QR-Code führt direkt zur Webseite der Sto-Stiftung.
DAS<br />
70<br />
LIEBLING<br />
HAUS
GESTERN<br />
71<br />
Was war das <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> früher? Wer hat es erbauen<br />
lassen und wer hat es entworfen? Wer hat hier früher<br />
einmal gewohnt? Was ist das Besondere an seiner<br />
Sanierung? Wieso wurden Spuren von Um- und Anbauten<br />
sichtbar gemacht? Ist die spezielle Art der Sanierung auf<br />
andere Häuser übertragbar? Warum interessieren sich<br />
auch internationale Expertinnen und Experten für diese<br />
Sanierung? Wieso kamen viele der Baumaterialien 1936 aus<br />
dem Deutschen Reich? Warum und inwiefern unterscheidet<br />
sich das Bauhaus in Tel Aviv von dem in Deutschland?
NUR BAUHAUS?<br />
ZUR MODERNE IN<br />
TEL AVIV<br />
72<br />
Eine Stadt, die sich aus den Dünen vor Jaffa erhob,<br />
die niemals schläft, die sich ständig verändert; eine<br />
Architektur, in der sich internationale und lokale Einflüsse<br />
zu einer ganz eigenen Form der Moderne vereint haben –<br />
Sharon Golan fasst die kurze und bewegte Geschichte Tel<br />
Avivs zusammen, stellt prägende Akteurinnen und Akteure<br />
vor und erzählt von einem Zufallsfund im <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong>, der<br />
eine ganz neue Perspektive darauf eröffnete, wie intensiv<br />
nicht nur der Transfer von Ideen und Menschen zwischen<br />
Europa und dem britischen Mandatsgebiet Palästina<br />
war, sondern auch der Transfer von Baumaterialien und<br />
Produkten aus dem Deutschen Reich.
Bei der Fahrt auf dem Ayalon Highway ins Zentrum von Tel Aviv<br />
fallen einem sofort die vielen neuen Wolkenkratzer auf, die sich<br />
aus einem Wald aus Kränen zum Himmel recken. Dieser Ring<br />
aus Türmen umschließt die historische Altstadt wie eine Art<br />
riesiger Badewannenrand. Aber auch die Weiße Stadt, das zehn<br />
Hektar umfassende UNESCO-Weltkulturerbe in der Stadtmitte,<br />
droht vom aktuellen Bauwahn verschlungen zu werden.<br />
73<br />
Tel Aviv rühmt sich, eine globale Stadt zu sein, eine Stadt, die<br />
niemals schläft. Wie andere Städte des „Westens“ ist auch Tel<br />
Aviv geprägt vom Kontrast zwischen dem historischen Stadtkern<br />
und den sich fortwährend weiterentwickelnden Randgebieten,<br />
vom Konflikt zwischen Fortschrittsgläubigen und<br />
Traditionalisten. Die Herausforderungen einer wachsenden<br />
Stadt, eines klimagerechten Stadtumbaus und die Frage, wie<br />
mit dem historischen Erbe der Moderne umzugehen ist, prallen<br />
unvermittelt aufeinander – im buchstäblichen Sinne. Denn seit<br />
einigen Jahren fördert die Stadt den Erhalt der dreigeschossigen<br />
Altbauten der Moderne, indem sie privaten Besitzerinnen<br />
und Besitzern im Gegenzug erlaubt, zwei oder drei zusätzliche<br />
Etagen auf die Gebäude zu setzen. Dies erzeugt gegenwärtig<br />
eine sehr spezifische, auf eine Nachverdichtung der Innenstadt<br />
zielende Bebauungsform, fast schon eine zweite Stadtebene<br />
und de facto eine Schichtung von neuen Konstruktionen auf<br />
den historischen Häusern. Dieses Konzept resultiert aus dem<br />
Spannungsverhältnis, wichtige kulturelle Merkmale der Stadt<br />
erhalten zu wollen und gleichzeitig dringend benötigten Wohnraum<br />
schaffen zu müssen. Es stellt also einen ökonomischen<br />
Kompromiss zwischen Erhalt und Nachverdichtung dar. Bei<br />
alldem ist die 115 Jahre alte Stadt bestrebt, sich dem hektischen<br />
Lifestyle Israels als „Start-up-Nation“ anzupassen.<br />
Auch wenn Tel Aviv seit Langem als Bauhaus-Stadt gilt: Aus<br />
wissenschaftlicher Sicht ist die Architektur der Weißen Stadt<br />
dem Internationalen Stil zuzurechnen, ein Begriff, der 1932<br />
vom Architekturtheoretiker Henry-Russell Hitchcock und dem<br />
Architekten Philip C. Johnson eingeführt wurde. Er bezeichnet<br />
einen damals zeitgemäßen Gestaltungsansatz und steht für<br />
funktionelles, schnörkelloses Design. Der Internationale Stil<br />
prägte die moderne europäische Architektur ab den 1920er<br />
Jahren und verbreitete sich von dort aus weltweit. Auf Tel Aviv<br />
bezogen brachte er das Verlangen der damals jungen Stadt<br />
zum Ausdruck, so modern wie möglich zu erscheinen. Zugleich
wollte man ganz bewusst ein neues architektonisches Umfeld<br />
schaffen. Es sollte einen Kontrapunkt setzen sowohl zu den<br />
Bautraditionen in den Herkunftsländern der zahlreichen Eingewanderten<br />
wie auch zum lokalen Architekturstil der Levante.<br />
74<br />
Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich „Bauhaus“ als Synonym<br />
für den Internationalen Stil in Tel Aviv durchgesetzt –<br />
nicht zuletzt, weil damit eine aussagekräftige Werbebotschaft<br />
transportiert wird, mit der sich auch der Glanz einer realisierten<br />
Sozialutopie verbindet. Die Architektur der Stadt ist jedoch zu<br />
komplex, als dass sie schlichtweg als Bauhaus-Stil bezeichnet<br />
werden könnte. Sie vereint zahlreiche Theorien und Einflüsse<br />
unterschiedlicher Protagonistinnen und Protagonisten<br />
der Moderne in sich. Zu den prominentesten und im Stadtbild<br />
sichtbarsten Einflüssen zählen sicherlich Erich Mendelsohns<br />
dynamisch geschwungener Funktionalismus, Le Corbusiers<br />
fünf Gestaltungsprinzipien einer modernen Architektur und<br />
die gemäßigte Moderne etwa eines Henry van de Velde, des<br />
Mitgründers des Werkbundes. Seine Ideen erreichten das junge<br />
Israel über Architekten wie Dov Karmi, der bei van de Velde in<br />
Belgien studiert hatte. Aus all diesen Einflüssen entwickelte<br />
sich in Tel Aviv ein eigener „glokaler“ architektonischer Ausdruck:<br />
geprägt von den europäischen Impulsen, aber angepasst<br />
an die gegebenen klimatischen und kulturellen Bedingungen.<br />
Anfänge<br />
Der Ursprung der Weißen Stadt liegt im sogenannten Geddes-<br />
Plan: 1925 beauftragten die Briten, unter deren Mandat die<br />
Region seit 1920 verwaltet wurde, den schottischen Stadtplaner<br />
Sir Patrick Geddes damit, neue stadtplanerische Ideen<br />
im britischen Mandatsgebiet Palästina umzusetzen. Geddes,<br />
ursprünglich Botaniker und Geologe, war ein fortschrittlicher<br />
Stadtplaner und Stadtökologe und mit den örtlichen Gegebenheiten<br />
vertraut; bereits 1919 hatte er den Auftrag erhalten,<br />
einen Masterplan für die Hebräische Universität in Jerusalem<br />
zu entwickeln. Auch wenn der Entwurf nicht umgesetzt wurde,<br />
hatte er großen Einfluss auf die zukünftige Stadtplanung.<br />
Er schlug vor, Tel Aviv in eine Gartenstadt nach den Ideen des<br />
britischen Stadtplaners Ebenezer Howard zu verwandeln.<br />
Basierend auf diesem ökologischen Ansatz und kombiniert mit<br />
Geddes’ Definition der Stadt als sich fortwährend verändernder
Allenbystraße, Blick auf das Mittelmeer, 1924<br />
Der neu angelegte Rothschild-Boulevard auf einer Postkarte aus den 1920er Jahren. Blick auf die Kreuzung mit der Herzlstraße,<br />
im Hintergrund das Mittelmeer, am linken Bildrand die Altstadt von Jaffa
DAS LIEBLING HAUS<br />
92<br />
Baujahr: 1936/37<br />
Entwurf: Architekt Dov Karmi und Ingenieur Zvi Barak<br />
Bauherrin und Bauherr: Tony und Max <strong>Liebling</strong> / Max <strong>Liebling</strong> Ltd.<br />
Adresse: Idelsonstraße 29, Tel Aviv<br />
<strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> entstand im Auftrag des Ehepaars Tony<br />
und Max <strong>Liebling</strong>. Sie hatten das Grundstück an der Idelsonstraße<br />
Anfang 1936 erworben, zu einer Zeit, als sich die Gegend<br />
um den Bialikplatz bereits als ruhige, gehobene Wohngegend<br />
etabliert hatte. Ein älteres, eklektizistisches <strong>Haus</strong> auf<br />
dem Grundstück ließen sie abreißen, um sich vom Architekten<br />
Dov Karmi und dem Ingenieur Zvi Barak ein dreigeschossiges<br />
Sechsparteienhaus entwerfen zu lassen. Mit einer progressiven,<br />
europäisch-bürgerlichen Gestaltung und Grundrissaufteilung<br />
sollte das <strong>Haus</strong> die gebildete, gutsituierte Kundschaft der aus<br />
Europa Einwandernden anlocken. <strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> kann als<br />
Paradebeispiel für die modernen Wohnhäuser gelten, die in den<br />
1930er Jahren in Tel Aviv errichtet wurden.<br />
Der frei stehende Baukörper ist auf dem Grundstück so<br />
platziert, dass die frische Meeresluft von Westen durch<br />
Wohnräume und Garten zirkulieren kann. Karmi strukturierte<br />
das <strong>Haus</strong> mit zwei Gebäudeflügeln, die auf dem asymmetrischen<br />
Grundstück gegeneinander verschoben sind, wodurch<br />
ein verschatteter Eingang entsteht. Gleichzeitig erhöht diese<br />
Aufteilung die Zahl der Eckzimmer und verbessert die Durchlüftung<br />
aller Wohnungen. <strong>Das</strong> gesamte Gebäude ist perfekt<br />
nach dem Meer, der Luft und der Sonne, also den natürlichen<br />
Bedingungen Tel Avivs, ausgerichtet und setzt damit<br />
die Prinzipien des städtebaulichen Entwicklungsplans von<br />
Patrick Geddes beispielhaft um. Der Seitenflügel ist dem Meer
Ausschnitt aus einer Luftbildkarte der Allenbystraße, 1949. Gut zu erkennen ist der runde<br />
Bialikplatz, von dem die Idelsonstraße abgeht. <strong>Das</strong> <strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong> ist orange markiert.<br />
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<strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong>, Straßenfassade, kurz nach der Fertigstellung 1937<br />
<strong>Liebling</strong> <strong>Haus</strong>, Isometrie (links) und perspektivische Ansicht von der Straße (rechts), gezeichnet von Dov Karmi, um 1936
zugewandt, um die Westbrise maximal zu nutzen. Jede Wohnung<br />
verfügt über einen oder zwei Balkone: Im vorderen Flügel<br />
sind dies lange Loggien zur Straße, die Wohnungen im hinteren<br />
Bauteil haben je zwei kleinere Loggien am südlichen bzw.<br />
nördlichen Ende des Gebäudekörpers. Die Innenräume sind<br />
mit vergleichsweise kleinen Fenstern vor der Hitze geschützt.<br />
Die von Le Corbusier und der europäischen Moderne vorgegebenen<br />
Bandfenster ersetzt Karmi durch Straßenbalkone,<br />
die lange, horizontale Linien bilden und wie selbstverständlich<br />
übereck geführt werden – das könnte eine Referenz an das große<br />
Vorbild jener Jahre sein, die berühmte „gläserne Ecke“ des<br />
Bauhaus-Gebäudes in Dessau. <strong>Das</strong> große Rechteck wiederum,<br />
das als Relief im Putz der Straßenfassade hervortritt und die<br />
drei Loggien umfasst, basiert in seinen Proportionen auf dem<br />
Goldenen Schnitt und verweist so auf eine der ältesten und beständigsten<br />
Proportionslehren der Architektur.<br />
95<br />
Bei der Grundrissgestaltung orientierte sich Karmi an großbürgerlichen<br />
Wohnungen in Europa. In den Kern des Gebäudes<br />
legte er das Treppenhaus, die kompakten Küchen und Badezimmer.<br />
Die Dachterrasse und der Keller wurden gemeinsam<br />
von allen Bewohnerinnen und Bewohnern genutzt. Der Eingang<br />
liegt an der Südwestecke und wird durch eine begrünte<br />
Pergola betont, ein kleines Wasserbecken sorgte seinerzeit<br />
für zusätzliche Kühlung. <strong>Das</strong> gesamte Gebäude ist von einem<br />
Grünraum umgeben. Im rückseitigen Innenwinkel des <strong>Haus</strong>es<br />
gab es zudem auf jeder Etage einen Nutzbalkon, der von beiden<br />
dort gelegenen Wohnungen aus zugänglich war. <strong>Das</strong>s das <strong>Haus</strong><br />
mit dieser Ausstattung als gehobene Residenz angenommen<br />
wurde, zeigt sich unter anderem daran, dass zwei Stockwerke<br />
gleich zu Beginn von zwei prominenten, aus Mitteleuropa<br />
emigrierten Arztfamilien bezogen wurden. Die <strong>Liebling</strong>s als Besitzer<br />
begnügten sich mit der rückseitigen Wohnung im obersten<br />
Stockwerk.
IMPRESSUM<br />
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Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston<br />
<strong>Das</strong> Copyright für die Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren.<br />
<strong>Das</strong> Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotografinnen<br />
und Fotografen / Inhaberinnen und Inhabern der Bildrechte.<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Redaktion und Interviews: Florian Heilmeyer, Katrin Voermanek<br />
Fotos (wenn nicht anders angegeben): Yael Schmidt<br />
Übersetzung: Katharina Freisinger (aus dem Englischen, S. 1–22, 30–31, 53–68, 158–166,<br />
176–178), Doron Oberhand (aus dem Hebräischen, S. 168–170)<br />
Lektorat: Maike Kleihauer<br />
Korrektorat: Jutta Ziegler<br />
Projektmanagement jovis: Theresa Hartherz<br />
Herstellung jovis: Susanne Rösler<br />
Design und Satz: Avi Bohbot, Gila Kaplan<br />
Lithografie: Bild1Druck<br />
Druck und Bindung: Graspo<br />
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