Leseprobe Libellenspiegel
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Yusuf Yeşilöz<br />
Der <strong>Libellenspiegel</strong><br />
Roman<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
Sahar stand vor dem Laden und warf einen scheuen Blick<br />
durch das blank geputzte Schaufenster der Änderungsschneiderei<br />
Messo.<br />
«Für den Kinderwagen gibt es in diesem winzigen Raum<br />
keinen Platz. Der ist ja nicht größer als drei Gräber», flüsterte<br />
sie vor sich hin. Sie hob den Vorhang aus dünnem<br />
weißem Tuch vom Kinderwagen weg. Ihre Tochter Amal<br />
schlief tief, sie lag auf der Seite, die kleine Handfläche auf<br />
ihrer runden Wange. Sahar lächelte, stellte den Wagen vor<br />
dem Laden ab und ging durch die knarrende blaue Tür<br />
hinein. Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie die junge<br />
Frau, die hinter einer Nähmaschine saß. Sahar begrüßte<br />
sie mit einem «Grüezi». Die Frau stand auf, hielt ihre<br />
Hand an den Rücken und stöhnte leise, dann streckte sie<br />
sich und flüsterte ein «Grüezi wohl».<br />
Sahar suchte die passende Formulierung in deutscher<br />
Sprache, um zu sagen, dass sie die Hose, die sie zum Kürzen<br />
hier abgegeben hatte, abholen und bezahlen wolle. Die<br />
Worte hatte sie auf dem Weg hierhin geübt, aber sie war<br />
noch unentschlossen, ob sie «mein Mann» oder «mein<br />
Freund» sagen sollte. Da meldete sich die Schneiderin,<br />
deren ovales Gesicht ein Nasenpiercing zierte.<br />
«Wie kann ich Ihnen helfen?»<br />
«Ein Mann hat hier eine Hose. Ich will sie abholen.»<br />
«Ein Mann? Wie heißt er?»<br />
«Michael.»<br />
Sie holte den grünen Abholzettel aus ihrer schwarzen<br />
ledernen Umhängetasche und reichte ihn der Schneiderin.<br />
Diese nahm ihn entgegen, studierte die Nummer und ging<br />
die Zettel durch, die an den Kleidern über ihrem Arbeitstisch<br />
steckten. Noch bevor sie fündig wurde, kam ein leicht<br />
5
untersetzter Mann mit einem grauen, breiten Schnauzbart<br />
aus dem hinteren Raum hervor, begrüßte die Kundin<br />
mit einem Kopfnicken und fragte die Schneiderin, worauf<br />
die werte junge Frau warte.<br />
«Eine Hose», gab sie knapp zur Antwort. Sie reichte ihm<br />
den grünen Zettel. Der Mann holte seine Lesebrille aus der<br />
Brusttasche des karierten Hemdes und betrachtete den<br />
Zettel genau, als würde er eine große Banknote auf Fälschung<br />
prüfen.<br />
«Das ist die Hose, bei der du ein Hosenbein kürzer als<br />
das andere gemacht hast», flüsterte er.<br />
«Was soll ich ihr jetzt sagen?»<br />
«Warte kurz, ich schaue sie mir nochmal an.»<br />
Der Mann warf einen missbilligenden Blick auf die<br />
Schneiderin und verschwand in den hinteren Raum. Als<br />
die Schneiderin Sahar bat, einen Moment zu warten, sagte<br />
sie, dass sie alles mitbekommen habe.<br />
Das hellbraune Gesicht der Schneiderin färbte sich rot.<br />
Sie entschuldigte sich für den Fehler. Sie habe die Hose<br />
falsch gekürzt, als der Meister Messo gestern Nachmittag<br />
weg gewesen sei, um mit Freunden Domino zu spielen.<br />
«Übrigens, ich bin Juana. Wie heißt du?»<br />
«Ich heiße Sahar. Michaels Mutter hat mich aber nach<br />
der Geburt meiner Tochter Amal Sara genannt, weil sie<br />
fand, dass Sahar zu fremd klinge. Du kannst mich nennen,<br />
wie du willst.»<br />
«Sahar gefällt mir. Das bedeutet Morgenröte oder Morgendämmerung.»<br />
Sahar machte große Augen und hätte fast ihre Zunge<br />
verschluckt vor Erstaunen darüber, dass diese Frau die Bedeutung<br />
ihres Namens auf Anhieb wusste.<br />
6
Juana, der Sahars perplexer Blick nicht entgangen war,<br />
erklärte, dass ihr Vater ihr immer wieder Lieder vorgesungen<br />
habe, in denen der Name vorgekommen sei. Die Morgendämmerung,<br />
der Beginn eines neuen Tages, sei der<br />
Inbegriff von Hoffnung, habe ihr Vater immer gesagt.<br />
«Du bist die zweite Juana, die ich in meinem Leben kennengelernt<br />
habe. Die Hebamme bei der Geburt meiner<br />
Tochter nannte sich auch Juana, und ihre Haare waren<br />
rötlich-blond wie eine Orange. Sie sagte aber, dass dies<br />
nicht ihr richtiger Name sei, als sie die Geburtsunterlagen<br />
unterschrieb.»<br />
«Ich heiße tatsächlich so, auch wenn dieser Name nicht<br />
zu meinem Aussehen passt. Er war der erste Kompromiss<br />
meiner eigensinnigen Eltern, die so unterschiedliche Charaktere<br />
hatten wie Tag und Nacht.»<br />
«Wie haben sie dann überhaupt zueinander gefunden?»<br />
«Die Liebe mache blind, sagten sie, wenn ich sie fragte.»<br />
Sahar nickte und sah sich im Laden um.<br />
«Und lernst du das Schneiderhandwerk neu?»<br />
Juana seufzte.<br />
«Ja, ich muss vorübergehend irgendetwas arbeiten. Ich<br />
warte darauf, dass meine drei Jahre Studium im Ausland<br />
anerkannt werden, damit ich hier weitermachen kann, ein<br />
ziemlich langer und aufwendiger Prozess. Ich bin seit drei<br />
Wochen hier und schon in der ersten Woche habe ich alles<br />
falsch gemacht. Messo muss seither viele böse Reklamationen<br />
entgegennehmen. Es steht nun in den Sternen, wie<br />
es mit meiner Arbeit hier weitergeht.»<br />
«Mach dir keine Sorge wegen Michaels Hose. Er trägt<br />
sie sowieso immer zu kurz, er wird dir sogar dankbar sein.»<br />
Juana lachte.<br />
7
«Jetzt erinnere ich mich an ihn. Als er hier war, fragte<br />
Messo im Scherz, ob der Hochwasserhosenmann einen<br />
Fluss überqueren wolle.»<br />
«Davon hat mir Michael erzählt. Aber ich möchte ihn<br />
jemandem von meiner Familie vorstellen und er versprach<br />
mir, dafür eine lange, gebügelte Hose zu tragen, die bis<br />
über die Knöchel reicht. Darum hat er sich diese Hose gekauft,<br />
aber sie war ihm zu lang.»<br />
«Du hast ein Kind mit ihm und deine Familie kennt ihn<br />
noch nicht?»<br />
«Das ist eine lange Geschichte, Schwester, so schnell<br />
kann ich dir das nicht erklären.»<br />
Juana betrachtete Sahar genau.<br />
«Deine Stimme ist weich wie Baumwolle, Sahar, und du<br />
bist so schön wie der Mond. Tu nur das, was du selbst für<br />
richtig hältst, ich bin einfach ein neugieriger Mensch, wie<br />
alle anderen auch.»<br />
Messo kam aus dem hinteren Raum hervor. Er machte<br />
ein Regenwettergesicht.<br />
«Die Hose kann ich nicht retten. Sie können Ihrem<br />
Mann sagen …»<br />
Juana unterbrach ihn.<br />
«Nicht Ihrem Mann, dem Mann.»<br />
«Egal, sagen Sie ihm einfach, dass ich die Hose bezahlen<br />
werde. Seit dreiunddreißig Jahren führe ich dieses Geschäft<br />
und zum ersten Mal muss ich mich für meine Arbeit<br />
schämen. Und das nur dank dieser kleinen Lehrlingsfrau!»<br />
«Du kannst mich entlassen, Onkel Messo, und die Hose<br />
von meinem Lohn abziehen!»<br />
«Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Ich habe kein<br />
so hartes Herz, das dir, der Tochter meines besten Freun-<br />
8
des – möge er in Frieden ruhen und von Lichtern in allen<br />
Farben umgeben sein –, die Tür weisen könnte. Und wenn<br />
du von dir aus gehst, werde ich dich nicht aufhalten, aber<br />
traurig werde ich trotzdem sein. Ich habe dich ja nur angestellt,<br />
damit du mir den Faden durchs Nadelöhr führst.<br />
Mehr wollte ich nicht von dir.»<br />
Juana wandte sich der Arbeit zu, oder tat jedenfalls so,<br />
als würde sie zwei dunkelblaue Stoffstücke zusammennähen.<br />
Messo drehte sich zu Sahar.<br />
«Die Kleine hier hat im Ausland studiert, bevor sie abgebrochen<br />
hat und zurückgekehrt ist. Sie wollte Biologin<br />
werden und in einem Zoo arbeiten. Mädchen, wenn du<br />
nicht aufpasst, werden die Tiere dich jeden Tag beißen.<br />
Lerne zuerst, ordentlich mit der Nadel in den Stoff zu stechen,<br />
bevor du Löwen, Schlangen und Hühner impfst.»<br />
Juana sprach, ohne ihren Kopf zu heben.<br />
«Das wird wohl nie geschehen. Das Studium mache ich<br />
allerdings fertig, das habe ich meinem Vater versprochen.<br />
Sonst wird er sich im Grab umdrehen.»<br />
Sahar schaltete sich ein.<br />
«Wann und warum hast du ihm das versprochen?»<br />
«Ich muss dir die ganze Geschichte erzählen.»<br />
«Ich habe Zeit.»<br />
Sahar warf einen Kontrollblick auf den Kinderwagen<br />
vor der Schneiderei. Amal schien immer noch zu schlafen.<br />
«Und wenn dein Kind aufwacht?»<br />
«Dann hören wir auf zu reden.»<br />
«Diese Geschichte ist kompliziert und vielfältig wie die<br />
Farben einer Wildwiese.»<br />
«Jetzt mach es nicht so spannend!»<br />
«Bei uns pflegte man zu sagen: ‹Ein Irrer hat einen Stein<br />
9
in den Brunnen geworfen und vierzig Kluge sind damit<br />
beschäftigt, diesen herauszuholen.› Dieser Spruch passt<br />
zu meiner Lebensgeschichte.»<br />
Messo unterbrach die jungen Frauen, um aufzulisten,<br />
was Juana alles falsch gemacht habe. Vom dunkelblauen<br />
Sakko des pensionierten Richters Theodor Meilinger habe<br />
sie zwar die Ärmel richtig gekürzt, aber zum Nähen den<br />
Faden in einer unpassenden Farbe gewählt. Meilinger,<br />
weit über siebzig Jahre alt, achte sehr auf sein Aussehen.<br />
Er habe laut geschrien, dass er Richter gewesen sei, kein<br />
Kapitän. Messo arbeite noch daran, mit ihm eine Einigung<br />
zu finden, was sich schwierig gestalte. Und Cornelia Celans<br />
Bluse aus den Fünfzigerjahren, die sie von ihrer Mutter<br />
geerbt hatte, habe Juana enger gemacht, anstatt sie wie<br />
ge wünscht drei Zentimeter auszuweiten. Cornelia habe<br />
wie eine Furie herumgeschrien. Erst als Messo ihr sagte,<br />
das sei doch eine gute Gelegenheit, schlanker zu werden,<br />
habe sie sich beruhigt. Sie habe noch an diesem Tag im<br />
Fitness-Studio ein Jahresabo gelöst und Messo habe ihr<br />
den ersten Monat geschenkt.<br />
Juana sprach leise, dass ihr das alles sehr leidtue und<br />
dass sie sich noch in zwanzig Jahren dafür schämen werde.<br />
Messo holte aus dem hinteren Raum einen weißen<br />
Klappstuhl aus Plastik für Sahar und wies auf die Ecke bei<br />
der Tür. Er füllte ihr ein Glas Tee aus dem Samowar, der<br />
in der Ladenecke auf einem Holzstuhl stand, und öffnete<br />
eine Dose mit Keksen. Als er sie Sahar reichte, flüsterte er:<br />
«Selbst gebacken und mit Mandeln.»<br />
Sahar stand vor dem Fenster und warf einen Blick auf<br />
den Kinderwagen, der sich nicht bewegte. Die Tür stand<br />
einen Spalt weit offen, sodass sie die sirenenartige Stimme<br />
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ihrer Tochter sofort hören würde, wenn sie erwachte. Sie<br />
setzte sich auf den Stuhl und biss in den Keks, der nicht<br />
mehr ganz frisch war und dementsprechend hart. Sie hielt<br />
ihr Teeglas fest und rührte lange darin, bevor sie den Tee<br />
heiß schlürfte.<br />
«Ich habe dich hier in unserem Viertel noch nie gesehen»,<br />
nahm Messo das Gespräch wieder auf.<br />
«Du kennst nur die Leute, die in dein Geschäft kommen»,<br />
antwortete Juana, die Sahar liebevoll anschaute.<br />
«Sahar, wenn du etwas über dieses Viertel und seine Bewohner<br />
wissen willst, frag Messo. Er ist der Chronist. Er<br />
weiß noch genau, wer wann gestorben ist und wer ihm<br />
welche Kleider zur Änderung gebracht hat.»<br />
Messo erwiderte, Juana schmeichle ihm nur, um ihre<br />
Fehler in der Schneiderei wiedergutzumachen.<br />
«Kleider kann man ersetzen. Hauptsache ist, dass wir<br />
alle gesund und glücklich sind», sagte Sahar versöhnlich.<br />
«Das ist das Wichtigste.»<br />
Messo verabschiedete sich, um weiterzuarbeiten. Er<br />
drehte sich zu Sahar um.<br />
«Ich werde die Hose morgen bereitstellen, dann kann<br />
er sie anprobieren. Wenn sie ihm nicht gefällt, dann erstatte<br />
ich ihm den Kaufpreis.»<br />
«Okay. Wann soll ich sie abholen?»<br />
Messo sah auf die Uhr, die er aus der Tasche seiner Lederweste<br />
hervorholte.<br />
«Um die gleiche Zeit wie heute, etwa 16 Uhr.»<br />
Sahar bedankte sich für den Tee und das Gebäck. Juana<br />
schaute von ihrer Näharbeit auf.<br />
«Kam das wirklich von Herzen? Niemand hat sich bisher<br />
für Messos harte Kekse bedankt.»<br />
11
Dann wandte sie sich lächelnd zu Messo.<br />
«Auch wenn er der einzige mir bekannte Mann ist, der<br />
bäckt.»<br />
«Mädchen, du salbst mich mit Öl, du schmeichelst mir<br />
wohl, damit ich dich schon jetzt in den Feierabend schicke!<br />
Du kannst für heute die Arbeit beenden.»<br />
*<br />
«Ich habe noch nie einen Kinderwagen geschoben. Noch<br />
dazu einen so schönen alten wie diesen.»<br />
Juana bestaunte den blassblauen Wagen mit den dünnen<br />
Stangen, den kleinen Rädern und dem schwanenförmigen<br />
Korpus.<br />
«Darin wurde schon Michael und vor ihm sogar seine<br />
Mutter Lydia herumgeschoben. Er ist aus den Fünfzigerjahren,<br />
Lydia hatte ihn damals von ihren Großeltern geschenkt<br />
bekommen und ihn bis heute behalten. Amal wird<br />
als Lydias erste Enkelin diesen Wagen erben, in dem vorher<br />
schon fünf andere Kinder der Verwandtschaft spazieren<br />
geführt wurden.»<br />
Als Juana den Wagen unvorsichtig über den von Wurzeln<br />
gewellten Asphalt des Gehsteigs schob, erwachte<br />
Amal. Sie schrie laut los und übertönte alle Geräusche auf<br />
der Straße, die der Krähen, der Spatzen und auch den<br />
Autolärm. Sahar nahm sie aus dem Wagen, küsste sie auf<br />
die runde Wange, die von Tränen schon nass war, und<br />
drückte sie an sich. Die kleine Amal wollte sich nicht beruhigen<br />
lassen.<br />
Mit schnellen Schritten liefen die beiden Frauen weiter<br />
nebeneinander her, nervös wegen Amals lautem Ge-<br />
12
schrei, und bogen dann in einen Schulhof ein. Sahar setzte<br />
sich eilig auf die Holzbank vor einer stämmigen Linde,<br />
schob verstohlen ihre dunkelblaue Bluse hoch, machte<br />
ihre linke Brust frei, hielt den Kopf ihrer Tochter und<br />
führte ihren Mund an die Brust. Kaum kam Amal mit der<br />
Brust in Berührung, hörte sie auf zu schreien – wie auf<br />
Befehl.<br />
Sahar stöhnte hörbar.<br />
«Dieses Mädchen ist wie meine Großmutter. Auch sie<br />
hatte keine Geduld. Einmal hat sie so lange geschrien,<br />
bis ich ihr zum siebten Mal an diesem Tag Tee zubereitet<br />
habe. Sie warte schon seit drei Tagen auf den Tee, schrie<br />
sie. Danach hat sie sich die Zunge verbrannt, weil sie keine<br />
Geduld hatte, zu warten, bis der Tee abgekühlt war.»<br />
«An deiner Milch wird Amal ihre Zunge nicht verbrennen,<br />
die ist von Natur aus temperiert. Wie alt ist deine<br />
Tochter?»<br />
«Heute sind es fünf Monate und sieben Tage.»<br />
«Ein Wunschkind?»<br />
«Ein Stern hat sie mir geschenkt!»<br />
«Wie denn? Schenken Sterne so schöne Mädchen?»<br />
«Du musst nur den richtigen finden. Von all diesen Millionen<br />
von Sternen schenkt nur einer dir ein Kind.»<br />
«Schwester, wie werde ich den richtigen finden?»<br />
«Einfacher ist, der Stern findet dich. Ich konnte Michaels<br />
Liebe, die wie eine Flut über mich kam, nicht widerstehen.<br />
Und Amal ist das Resultat.»<br />
«Ohne dass ihr verheiratet wart! Wie hat Michael auf<br />
die Schwangerschaft reagiert?»<br />
«Zuerst war er schockiert. Dann aber, nachdem er lange<br />
mit seinen Eltern telefoniert und einen Spaziergang allein<br />
13
im Regen gemacht hatte, versprach er mir in einer Nachricht,<br />
dass er zu mir und unserem Kind stehen würde.»<br />
«Hat er dich nicht unter Druck gesetzt, abzutreiben?»<br />
Sahar warf ihr einen fragenden Blick zu.<br />
«Nein, er war nur sprachlos, als er es hörte. Warum<br />
stellst du mir diese Frage?»<br />
«Einfach so. Warum heiratest du ihn nicht?»<br />
«Ich bin auf dem Papier noch mit einem anderen Mann<br />
verheiratet.»<br />
Sie strich über die spärlichen Haare am Hinterkopf<br />
ihrer Tochter, die leise schmatzende Geräusche von sich<br />
gab. «Meine Amal ist eben ein Bastard.»<br />
Sahar lachte so laut, dass Amal den Kopf von der Brust<br />
hob und sie anschaute.<br />
«Das darfst du doch nicht sagen, Sahar! Mit wem bist<br />
du denn verheiratet?»<br />
«Mit Beyto, dem Prinzen unseres Dorfes.»<br />
«Du erzählst mir Märchen, Schwester, aber deine Stimme<br />
hat sich verändert. Ist deine Geschichte traurig?»<br />
«Mein magischer Spiegel hat mir gesagt, dass es im<br />
Leben weder traurige noch fröhliche Geschichten gebe.<br />
Entscheidend sei, ob die Geschichte traurig oder fröhlich<br />
erzählt werde.»<br />
«Das ist sehr philosophisch.»<br />
Sahar versteckte die linke Brust unter ihrer Bluse und<br />
führte ihre Tochter an die rechte. Amal schmatzte genüsslich.<br />
«Und warum kennt Michael noch keine deiner Verwandten?»<br />
«Du willst schon jetzt alles über mich wissen, Juana!<br />
Narin, die Mutter des Prinzen aus dem Dorf, ist bereit, als<br />
14
erste Person meiner Familie Amals Vater kennenzulernen.<br />
Mein Problem ist nur, dass Michael keine anständigen<br />
Kleider anziehen will.»<br />
«Hat Narin ihre Trauer darüber überwunden, dass du<br />
nicht mehr mit ihrem Sohn zusammen bist?»<br />
Sahar sprach leise vor sich hin.<br />
«Du solltest lieber fragen, ob sie ihre Wut überwunden<br />
hat!»<br />
«Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst,<br />
Sahar.»<br />
«Es ist eine lange Geschichte, so lang wie ein Fluss, der<br />
zu einem fernen Meer fließt. Narin ist eine Cousine meiner<br />
Mutter. Sie pflegten zu sagen, sie seien sich so nah gewesen,<br />
dass nur das Gegessene verschiedene Wege ging.<br />
Nachdem meine Ehe mit Beyto in die Brüche gegangen<br />
war, bekriegten sich die Cousinen ziemlich übel und konnten<br />
einander nicht genug beleidigen. Narin konnte aber<br />
nicht zusehen, wie ich drei Monate lang mit einem kranken<br />
Baby allein im Krankenhaus lag. Sie überwand ihren<br />
Stolz und besuchte mich dort.»<br />
«Und ich Idiotin habe die Hose von Michael vermasselt!»<br />
«Vielleicht war es Intuition, oder er hat dich heimlich<br />
beauftragt, seine Hose kürzer zu schneiden.»<br />
Beide lachten.<br />
«Willst du mit Michael noch eine Hochzeit feiern?»,<br />
fragte Juana. «Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass er zu<br />
meiner Hochzeit dreihundert Verwandte einladen würde.<br />
Ich habe aber nicht geheiratet, als er noch lebte.»<br />
«Nicht mehr auf diese Art und Weise. Bei der Heirat<br />
mit Beyto haben die Eltern im Dorf ein großes Fest veran-<br />
15
staltet. Doch dann, als ich vom Dorf hierherkam, um bei<br />
meinem Ehemann und seinen Eltern zu leben, holte Beyto<br />
mich nicht einmal vom Flughafen ab.»<br />
«Das war bestimmt eine große Kränkung für dich!»<br />
«Es war wie ein Messer in der Brust.»<br />
«Warum ließ er dich einfach am Flughafen sitzen?»<br />
«Lange Geschichte, Schwester, eine sehr lange Geschichte<br />
…»<br />
«In dem Fall liebte er eine andere …»<br />
«Einen anderen!»<br />
«Oh, jetzt wird es aber kompliziert. Wusste er bei der<br />
Heirat nicht, dass er einen Mann liebt?»<br />
«Das wusste er schon vor unserer teuren Hochzeit,<br />
aber unsere Eltern nicht. Sie hatten meinem verstorbenen<br />
Großvater versprochen, dass mein Cousin Beyto und<br />
ich den Kopf auf dasselbe Kissen legen würden, sobald<br />
wir ins Heiratsalter kämen. Und bis zum Tod würden wir<br />
auf demselben Kissen schlafen. Es kam aber anders. Ob<br />
sich unser Großvater in seinem Grab umdreht, weiß ich<br />
nicht. Heute ist mir auch egal, was der Großvater denkt.<br />
Ich wünsche mir nur, dass Beyto in die Scheidung einwilligt<br />
und bereit ist, seine Vaterschaft aufzuheben.<br />
Rechtlich gesehen ist Amal Beytos Tochter. Wenn es so<br />
weit ist, soll Michael die Vaterschaft anerkennen und wir<br />
könnten standesamtlich heiraten. Aber wie ich die beiden<br />
kenne, sind diese Wünsche nicht so schnell erfüllbar.»<br />
«Ist dann deine Aufenthaltsgenehmigung nicht gefährdet,<br />
wenn du dich scheiden lässt?»<br />
Sahar schaute sie perplex an.<br />
«Michaels Mutter hat sich bei einem Juristen in ihrem<br />
16
Bekanntenkreis informiert. Dieser meinte, weil ich lange<br />
genug hier sei und ein Kind mit einem einheimischen<br />
Mann habe, könnten die Behörden mich nicht zurückschicken.»<br />
Amal hörte auf zu trinken, schaute ihre Mutter treuherzig<br />
und zufrieden an, rieb sich das rechte Auge, streckte<br />
die Zunge heraus und leckte sich die Lippen. Dann warf<br />
sie einen verstohlenen Blick auf Juana und versteckte ihr<br />
Gesicht wieder an der Brust der Mutter. Sahar sah Juana<br />
an, die Tränen in den Augen hatte.<br />
«Warum weinst du?»<br />
«Weil ich gerührt bin.»<br />
Sie schauten einander einen Moment lang in die Augen,<br />
keine wandte den Blick von der anderen ab.<br />
«Ich will dich nicht länger aufhalten, Schwester, wenn<br />
du zu tun hast», sagte Sahar schließlich. «Ich wohne in der<br />
Nähe, und du?»<br />
«Auf der anderen Seite der Limmat, zwanzig Minuten<br />
zu Fuß. Mit dem Bus weniger als fünf Minuten.»<br />
Sahar drückte Juana ihre Tochter in die Arme, die sofort<br />
laut zu weinen begann. Sie ließ sich nicht davon beeindrucken<br />
und brachte ihre Bluse wieder in Ordnung. Dann<br />
setzte sie Amal in den Kinderwagen. Das Kind schaute mit<br />
wachen Augen um sich, während sie weitergingen. Juana<br />
schob den Wagen.<br />
«Messo hat erzählt, dass du dein Studium abgebrochen<br />
hast. Warum? Ein Studium ist etwas Wichtiges. Ich selbst<br />
hatte diese Chance leider nicht», nahm Sahar das Gespräch<br />
wieder auf.<br />
«Es gibt einen wichtigen Grund, warum ich aufgehört<br />
habe. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich mich Hals<br />
17
über Kopf entschieden, nach Italien zu gehen, um ein<br />
neues Leben zu beginnen. Ich schrieb mich für ein Biologiestudium<br />
ein und arbeitete auf einem Bauernhof, wo<br />
ich Tiere pflegte und im Sommer Touristen und ihre Kinder<br />
auf Pferden, Eseln und Ponys herumführte. Alle meine<br />
Freunde fragten, ob ich durchgedreht sei. Aber die<br />
Hofbesitzerin Marcella bestärkte mich, sie sagte, ich hätte<br />
richtig gehandelt, indem ich auf mein Herz gehört<br />
habe.»<br />
Juana wechselte abrupt das Thema.<br />
«Du bist meine erste Bekannte hier, die so jung ein<br />
Kind hat.»<br />
«Und du bist meine erste Bekannte, die einen Nasenring<br />
trägt!»<br />
«Bist du neu in diesem Viertel?»<br />
«Ich bin ein paar Wochen vor Amals Geburt hierhergezogen,<br />
war dann aber viel weg mit ihr. Sie war fast drei<br />
Monate in einer Klinik, weil sie, ungeduldig, wie sie ist,<br />
vier Wochen vor dem Geburtstermin kam. Sie musste mit<br />
einem Kaiserschnitt geholt werden und war sehr schwach,<br />
dann hatte sie ein Problem mit dem Nierenbecken. Jetzt<br />
geht es ihr besser, Gott sei Dank.»<br />
«Hast du Unterstützung?»<br />
«Ja und nein. Michaels Mutter steht mir zur Seite, wenn<br />
sie kann. Aber sie arbeitet mehr als fünf Tage in der Woche.<br />
Und meine Tante Narin …» Sahar unterbrach sich.<br />
«Meine Tante und ehemalige Schwiegermutter kann nicht<br />
zu mir kommen. Im Krankenhaus besuchte sie mich einmal<br />
pro Woche, aber zu mir nach Hause möchte sie nicht,<br />
weil sie Michael nicht begegnen will. Das wird sich hoffentlich<br />
bald ändern.»<br />
18
Nach einer Pause fügte sie hinzu: «Meine einzigen Freunde<br />
sind meine Amal und meine Mutter am Telefon.»<br />
«Wie hat deine Familie darauf reagiert, dass du eine<br />
Tochter hast mit Michael, noch dazu unverheiratet?»<br />
«Das ist eine lange Geschichte. Kennst du den Spruch:<br />
‹Wenn du zu schnell und zu tief bohrst, kommt nur<br />
Schlamm raus›?»<br />
Juana blieb stehen und schaute Sahar in die Augen.<br />
«Schlamm wollen wir nicht …»<br />
«Meine Mutter sagte immer, wenn ich wieder einmal<br />
eigensinnig war und nicht das machte, was sie wollte, dass<br />
sie sich diesen Mittagsschlaf mit meinem Vater, bei dem<br />
ich entstanden bin, doch besser erspart hätte. Ich würde<br />
mir noch meinen Dickschädel brechen.»<br />
Sie standen an der Straßenecke an der Mündung einer<br />
Einbahnstraße. Sahar zeigte auf die Siedlung mit grauen<br />
Backsteinhäusern, rund hundert Meter entfernt.<br />
«Hier wohne ich.»<br />
Juana übergab ihr den Kinderwagen. Zum Abschied<br />
küssten und umarmten sie einander innig, als wären sie<br />
alte Freundinnen.<br />
Bevor sie ging, hakte Juana nach.<br />
«Sahar, ist die Geschichte mit deiner Heirat wirklich<br />
wahr?»<br />
«Wie kannst du denken, dass ich sie erfunden habe?»<br />
«Einfach so. Weil Menschen einander immer wieder<br />
Geschichten auftischen.»<br />
«Diese ist so wahr, wie morgens die Sonne aufgeht.»<br />
«Wir sehen uns morgen um 16 Uhr. Küsse Amal von mir,<br />
wenn du sie ins Bett bringst. Ich werde heute von ihr träumen.»<br />
19
«Ich sehe, dass du Kinder liebst. Lass dir vom richtigen<br />
Stern eins schenken!»<br />
*<br />
Juana lächelte. Sie ging gemächlichen Schrittes zur Haltestelle<br />
und blickte einmal kurz zurück. Sahar war stehen<br />
geblieben und telefonierte. Sie winkte.<br />
Sie schaute auf den Fahrplan, der nächste Bus fuhr erst<br />
in neun Minuten. Sie entschied sich, der zur Abendstunde<br />
dicht befahrenen Straße entlangzulaufen. Nach einem<br />
langen Arbeitstag mit dem Rattern der Nähmaschine, der<br />
quietschenden Eingangstür und Messos lauter, melancholischer<br />
Musik aus seiner Heimat, die aus einem Kassettenrecorder<br />
aus dem letzten Jahrtausend tönte, störte sie der<br />
Verkehrslärm nicht.<br />
«Lass dir vom richtigen Stern ein Kind schenken!» Sahars<br />
weiche Stimme klang in ihrem Ohr wie eine sanfte<br />
Trommel.<br />
«Das alles ist schon Geschichte», war Gabrieles Kommentar<br />
gewesen, als er sie am Tag nach der Operation im Krankenhaus<br />
besucht hatte, mit einem riesigen Blumenstrauß<br />
in der Hand. Davor hatte sie von ihm nie ein solches Zeichen<br />
der Zuneigung bekommen. Er trug an diesem Tag<br />
nur ein schwarzes Leibchen, obwohl es draußen kühl war.<br />
Er roch nach Rauch und Schweiß, sah nervös und ungepflegt<br />
aus.<br />
«Du musst darüber hinwegkommen, du hast noch ein<br />
langes Leben vor dir», sagte er im Jargon eines Psychologen.<br />
Er beichtete ihr, dass er schon Erfahrungen gemacht<br />
20
habe mit Frauen, die abtreiben mussten. Nach wenigen<br />
Wochen hätten sie sich erholt, als sei nichts passiert. Er<br />
sprach so locker, als würde er etwas ganz Belangloses erzählen.<br />
«Warst du mit diesen Frauen zusammen?»<br />
«Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie sich nicht<br />
unterkriegen ließen. Sie waren stärker als du.»<br />
«Hattest du sie geschwängert, Gabriele?»<br />
«Das geht dich nichts an!»<br />
Drei Tage lag Juana im Krankenhaus. Am ersten Tag<br />
kam Gabriele mit Blumen in der Hand, am zweiten mit<br />
einer Schachtel Schokolade, am dritten meldete er sich mit<br />
einer Nachricht, er sei verhindert. Sie schrieb ihm nicht<br />
mehr zurück, sie hatte sich innerlich bereits für immer von<br />
ihm verabschiedet. Drei Monate später schrieb er ihr eine<br />
Nachricht und fragte, ob sie sich erholt habe. Er würde sich<br />
freuen, sie wiederzusehen, er trauere ihrer Beziehung<br />
nach, sie hätten es doch schön gehabt miteinander.<br />
Sie hatte Gabriele im ersten Monat ihres Studiums in<br />
der Toskana kennengelernt. Auch er studierte Biologie.<br />
Als ihr klar wurde, dass sie schwanger war, lud sie ihn zum<br />
Essen ein. In der Küche des Bauernhofs hatte sie für ihn<br />
gekocht und schön aufgetischt, sie hatte Kerzen angezündet.<br />
Gabriele, Einzelkind einer Familie, die eine stadt bekannte<br />
Weinhandlung betrieb, hatte den besten Wein<br />
seines Vaters mitgebracht. Er glaubte, sie würden einen<br />
schönen Abend miteinander verbringen, und ahnte nicht,<br />
dass sie ihm etwas eröffnen wollte.<br />
«Nein, das ist bestimmt nicht mein Kind!»<br />
«Doch, Gabriele, niemand weiß besser als ich, dass ich<br />
keinen anderen Mann berührt habe.»<br />
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