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nahbeidir leseprobe

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Bis kurz vor ihrem Tod berichtet Adelheid Duvanel der befreundeten<br />

Autorin Maja Beutler fast in Echtzeit aus ihrem Leben,<br />

monatlich, manchmal täglich. Parallel dazu ihre Korrespondenz<br />

mit dem Lektor Klaus Siblewski, der sie bis an ihr Lebensende<br />

begleitet, in Krisen zum Weiterschreiben ermutigt, ihr hilft,<br />

Werkbeiträge und Stipendien zu erhalten.<br />

Lakonisch bis selbstironisch, manchmal aber auch verzweifelt<br />

erzählt Adelheid Duvanel aus ihrem schwierigen Alltag, von den<br />

Aufenthalten in der Klinik, von der desaströsen Beziehung mit<br />

ihrem Mann Joe, von der Drogensucht und Aidserkrankung der<br />

Tochter.<br />

Aber auch vom Schreiben und Lesen handeln die Briefe, der<br />

Figurenkreis der Erzählungen taucht auf, manche Szenen sind<br />

sogar wörtlich in die Texte eingegangen.<br />

«Nah bei Dir» ist eine Art Tagebuch in Briefform, ein nüchternes<br />

Protokoll über ein schweres, manchmal unerträgliches Leben<br />

und das erschütternde Selbst porträt einer Autorin, die den widrigs<br />

ten Umständen lange standhält und ihnen grosse Kunst abringt.


Adelheid Duvanel<br />

Nah<br />

bei Dir<br />

Briefe 1978–1996<br />

Herausgegeben und mit einem Nachwort<br />

von Angelica Baum<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Zu den erwähnten Personen gibt ein Namenregister auf<br />

Seite 879 Auskunft. Ein Register der erwähnten Erzählungen<br />

auf Seite 890 verweist auf die Seitenzahlen in diesem Band<br />

sowie in der Werkausgabe «Fern von hier».


Vorab<br />

Diese Briefausgabe setzt 1978 ein. Einerseits sind frühere<br />

Briefe weitgehend verloren gegangen, anderseits ergibt sich<br />

durch den Beginn der Korrespondenz mit dem Luchterhand<br />

Verlag – vor allem mit ihrem Lektor Klaus Siblewski – und<br />

einer (Brief­)Freundschaft mit der Berner Autorin Maja Beutler<br />

– wie Duvanel 1936 geboren – darin eine fortlaufende Erzählung<br />

von Duvanels Lebens von 1978 bis kurz vor ihrem<br />

Tod 1996. Von den Briefen an Duvanel sind die meisten verloren<br />

gegangen.<br />

1978 bahnen sich mehrere Umbrüche in Duvanels Leben<br />

an. Im September liest der ehemalige Leiter des Luchterhand<br />

Verlags, Otto F. Walter, in der Zeitung eine Kurzgeschichte<br />

von Adelheid Duvanel. Er ruft sie an und fragt nach weiteren<br />

Erzählungen. Im Sommer 1979 empfiehlt sie Walter dem<br />

Luchterhand Verlag.<br />

Adelheid Duvanel hält sich zu der Zeit mit ihrer Tochter<br />

in der Casa Pantrovà im Tessin auf, einem Künstlergästehaus.<br />

Die Tochter war in einem Schul­ und Asthmatherapieheim<br />

in Davos tablettensüchtig geworden und ein Verhältnis mit<br />

dem Theater­ und Musiklehrer eingegangen. Sie wurde aus<br />

dem Heim verwiesen, der Vater reagierte mit Wut, Duvanel<br />

versucht, ihn von Carona aus umzustimmen.<br />

Joseph (Joe) Duvanel war ein Basler Maler und Teil einer<br />

Bohemeszene. Sie hatten 1962 geheiratet, 1964 kam ihre gemeinsame<br />

Tochter Adelheid zur Welt. Spätestens ab 1967<br />

hatte Joe Duvanel eine Geliebte, Lilianne Balloux, und 1969<br />

mit ihr zusammen einen Sohn (François), sie lebten zeitweise<br />

gemeinsam im selben Haus. Geld war kaum vorhanden, Adel­<br />

5


heid Duvanel verdiente etwas mit Kolumnen für Basler Zeitungen,<br />

oft musste sie in Büros arbeiten und die Tochter zu<br />

den Eltern oder ihrer Schwester Therese geben. Das häusliche<br />

Leben war konfliktreich und geprägt vom despotischen<br />

Ehemann, den Duvanel liebte bis zur Abhängigkeit.<br />

Ende 1979 beginnt die Tochter schließlich, harte Drogen<br />

zu nehmen, ihr Vater wirft die Fünfzehnjährige aus der Wohnung,<br />

im Februar 1980 erleidet Duvanel einen Zusammenbruch<br />

und lebt die nächsten drei Jahre in der Psychiatrischen<br />

Universitätsklinik Basel. Ende Februar 1980 erscheint ihr<br />

erstes Buch im Luchterhand Verlag, 1982 wird die Ehe geschieden.


20. 10. 78<br />

Sehr geehrter Herr Walter,<br />

bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen mitteilen, 1 dass das<br />

Buch «Merkwürdige Geschichten aus Basel» 2 jetzt im Buchhandel<br />

erhältlich ist; von mir enthält es acht Geschichten, die<br />

ich Ihnen als «besetzt» gemeldet habe. – Im Sommer 79 wird<br />

jetzt tatsächlich von mir ein Buch im GS­Verlag 3 (gute Schriften<br />

hiess das früher) veröffentlicht; ausgelesen wurden «Aufbruch<br />

mit drei Plüschaffen», «Wie ein Tropfen Tinte» sowie<br />

zwei neue Erzählungen, die ich Ihnen nicht geschickt habe:<br />

«Jan» und «Das unheimliche Geschehen in jener Nacht». –<br />

Die Ausstellung wird übrigens wunderbar; das Fernsehen<br />

wird am 3. November voraussichtlich eine Sendung darüber<br />

bringen, und in der Basler Zeitung erscheint im Magazin, so<br />

wurde geplant, eine farbige Doppelseite.<br />

Mit freundlichen Grüssen!<br />

Adelheid Duvanel.<br />

1 Otto F. Walter hatte Adelheid<br />

Duvanel am 15. September 1978<br />

telefonisch kontaktiert.<br />

2 Felix Feigenwinter und Gunild<br />

Regine Winter (Hrsg.): Merkwürdige<br />

Geschichten aus<br />

Basel, Mond­Buch Verlag, Basel<br />

1978.<br />

3 Wände, dünn wie Haut,<br />

GS­Verlag, Basel 1979.<br />

*<br />

23. November 78<br />

Sehr geehrter Herr Walter,<br />

der Vollständigkeit halber sende ich Ihnen meine neuen<br />

Arbeiten, die ich am Autorenabend in der Galerie zur Löwenschmiede<br />

in Basel vorgelesen habe. Eben jetzt sitze ich in der<br />

Galerie, um die Ausstellung meines Mannes zu hüten. Die<br />

7


«Symbiose», wie Martin Roda Becher treffend schrieb, von<br />

Texten und Bildern ist wirklich geglückt. Dieses Wochenende<br />

sollte in der BaZ über die Ausstellung eine Doppelseite<br />

erscheinen – so wenigstens ist es geplant. 1 Ich weiss nicht, ob<br />

Sie die Einladungen für die Ausstellung und Lesung beachtet<br />

haben. Auch das Fernsehen hat eine Sendung darüber gebastelt.<br />

Die Gedichte habe ich übrigens extra für meinen<br />

Mann geschrieben – ich bin sonst «prosaisch», gedenke bei<br />

meinen «Leisten» zu bleiben.<br />

Mit freundlichen Grüssen!<br />

Adelheid Duvanel.<br />

1 Basler Magazin, 25. November<br />

1978, Bilder von Joseph E.<br />

Duvanel, kurze Texte von Martin<br />

Roda Becher, Rainer Brambach,<br />

Dieter Fringeli, Mattyas Jenny,<br />

Tadeus Pfeifer.<br />

*<br />

7. März 1979<br />

Sehr geehrter Herr Walter,<br />

letztes Jahr, am 15. September, habe ich Ihnen – weil Sie mich<br />

telefonisch darum gebeten hatten – 35 Texte zugesandt. Ich<br />

bin nun mit der Zeit neugierig geworden; ich wüsste gern,<br />

ob meine Arbeiten Ihnen zusagen. Das Buch «Merkwürdige<br />

Geschichten aus Basel» ist unterdessen im Mond­Buch Verlag<br />

erschienen; wie Sie sehen, haben die Herausgeber auch «Der<br />

Vogel», «Das Ungeborene» und «Der Brief» in die Sammlung<br />

genommen. Im Juli dieses Jahres kommt im GS­Verlag ein<br />

Buch «Wände, dünn wie Haut» heraus, das nur Erzählungen<br />

von mir enthält; ausser den in meinem letzten Brief erwähnten<br />

«Jan», «Wie ein Tröpfchen Tinte» und «Aufbruch<br />

8


mit drei Plüschaffen» hat es noch eine Geschichte mit dem<br />

Titel «Das unheimliche Geschehen in jener Nacht». Tadeus<br />

Pfeifer schreibt voraussichtlich das Vorwort, Frank Geerk<br />

hat sich jetzt schon gemeldet, er wolle in der BaZ eine Rezension<br />

bringen, und mein Mann (der in Zürich vom 19. bis<br />

31. März in der Galerie Trittligasse eine Ausstellung hat)<br />

schuf zu den Texten acht eindrückliche Illustrationen.<br />

Der Vollständigkeit halber sende ich Ihnen die neuen Arbeiten<br />

«Bedrängnisse» 1 und «Die Zeichnung». Von «Tag im Wind»<br />

schicke ich eine Neufassung;die alte hat mich nicht überzeugt.<br />

Haben Sie «Neid» und die beiden Gedichte (die man 1. März<br />

zusammen mit einem weiteren Gedicht von mir am Poesie­<br />

Telefon von Matthyas Jenny hören konnte) erhalten? Höre<br />

(oder lese) ich bald von Ihnen, und erhalte ich meine Texte<br />

zurück?<br />

Mit freundlichen Grüssen<br />

Adelheid Duvanel.<br />

Beilagen: «Bedrängnisse», «Die Zeichnung», «Tag im Wind»<br />

und «Merkwürdige Geschichten aus Basel».<br />

1 «Bedrängnisse» findet sich nicht<br />

unter diesem Titel im Druck.<br />

*<br />

16. 3. 79<br />

Sehr geehrte Frau Duvanel,<br />

Sie haben recht, mich zu mahnen. Bei mir ist in den letzten<br />

Monaten ziemlich viel drunter und drüber gegangen. Auch<br />

sitze ich da, umlagert von Manuskriptbergen, die mir dauernd<br />

mehr Zeit abfordern, als ich mir eigentlich dafür leisten darf.<br />

9


Ihre Texte gefallen mir, mal summarisch gesagt, nach wie<br />

vor. Intensiv poetisch beschwören sie Verhältnisse und Verkehrsformen<br />

zwischen Menschen, zwischen Menschen und<br />

Dingen in einer Sprache, die den Übergang zwischen, nein,<br />

zur sinnlich nicht fassbaren Wirklichkeit in uns und um uns<br />

metaphernwütig freilegt. Mehr wohl «poésie en prose» als<br />

Story.<br />

Ein wenig verwirrte mich, von Ihnen gelegentlich von<br />

dieser und jener Veröffentlichung zu hören. Ich habe nun den<br />

Überblick verloren. Ein sauberes, klar überblickbares Manuskript<br />

zusammenzustellen, über das dann zwischen dem<br />

Luchterhand­Verlag, Ihnen und mir zu diskutieren wäre,<br />

dazu fehlt mir die Zeit. Ich bin lediglich Berater des Verlags,<br />

kann also bestenfalls in einem Begleitschreiben begründen,<br />

warum ich für eine Veröffentlichung wäre. Ich bin dafür,<br />

wobei ich an einen Band von vielleicht sechzig relativ gross<br />

gesetzten Druckseiten denke. Wäre Ihnen möglich, die Texte<br />

nun, mit Inhaltsverzeichnis, mit Nummerierung zusammenzustellen,<br />

zu heften, sogar wenn möglich [zu binden?], die<br />

Sie sich in einem solchen kleinen Band vorstellen und wünschen;<br />

Überschneidungen mit dem Buch im GS­Verlag würden<br />

grundsätzlich nicht stören, sofern es jenen Verlag nicht<br />

stört.<br />

Bitte, geben Sie mir Nachricht.<br />

Mit den besten Wünschen für Ihre Arbeit bin ich<br />

Ihr Otto F. Walter<br />

*<br />

10


Carona, 8. Juli 79<br />

Lieber Robombo! 1<br />

Was machst Du wohl gerade jetzt, da ich diesen Brief an Dich<br />

schreibe? Es ist Sonntag halb 3 Uhr nachmittags; ich sitze im<br />

Grünen, alle Blätter rundum flattern im Wind, der Himmel<br />

streichelt die Wälder mit milchigweissen Händen; blaue Hortensien<br />

leuchten unten im Garten und Rosen knistern wie<br />

Feuerchen am Weg.<br />

Ich glaube, ich kann hier gut arbeiten. Ich habe schon<br />

1 ½ Seiten geschrieben, eine Biografie von Flaubert zu lesen<br />

begonnen (deshalb habe ich heute Nacht geträumt, ich<br />

schriebe eine Arbeit über Martin Bechers «Werk» – als ob er<br />

schon ein «Werk» verfasst hätte!–; natürlich geisterten sein<br />

Gedicht «Flauberts Todestag» und Dein Bild durch meinen<br />

Traum …), zwei Erzählungen von Virginia Woolf gelesen (in<br />

einer alten «Neuen Rundschau»), über einem Fotoband mit<br />

interessanten, maskenähnlichen Portraits meditiert und um<br />

Mitternacht die Geister von Lisa Tetzner und Kurt Held 2<br />

erwartet, die aber nicht erschienen sind.<br />

Eben jetzt geht leise ein grauer, getigerter Kater vorbei,<br />

hält kurz an, schnuppert an einem zitternden Grashalm und<br />

setzt seinen Weg fort; er verschwindet im Haus, zieht sich<br />

zurück in den Schatten, wo eine graue Kätzin wohnt, die<br />

einen ganz sanft beisst, wenn man sie am Rücken streichelt,<br />

weil sie dort wahrscheinlich weh hat; am Morgen gaben wir<br />

ihr Milch zu trinken, weil sie darum bat.<br />

Wir haben heute den Botanischen Park besucht; von oben<br />

ist das Panorama wie ein wunderschöner Traum – blau und<br />

ganz verschwommen, und Insekten, Samen und Schmetterlinge<br />

leuchten in der Luft.<br />

Du weisst, dass ich nicht gut zeichnen kann; ich versuche<br />

11


jetzt trotzdem das Haus zu skizzieren, damit du es Dir vorstellen<br />

kannst: Die Farbe des Hauses: rosa.<br />

Der Wind schlägt die Fenster und Türen zu; alle Bäume<br />

rauschen und wogen durcheinander.<br />

Ich glaube, der Flügel ist nur eine Dekoration; Notenblätter<br />

habe ich keine gefunden. Jä­Jä 3 sagte, es habe Schallplatten<br />

von Schweizer Komponisten; vielleicht hören wir uns<br />

die eine oder andere an (z.B. Honegger und Frank Martin).<br />

Gell, lieber Grolo, Du bist nicht zu traurig. Ich stelle mir<br />

vor, dass Dir auf dem neuen Klavierbänklein die schönsten,<br />

heftigsten, wehmütigsten Melodien einfallen.<br />

Die Haushälterin, die Olga heisst, hat uns gestern einen<br />

wunderschönen Strauss Margriten auf den Esszimmertisch<br />

gestellt; sie hat sie selber gesucht. Ist das nicht lieb?<br />

Ich hoffe, dass du meine Schrift lesen kannst; jetzt ist ja<br />

keine Adä zu Hause, die Dir die Briefe vorliest …<br />

Wenn ich Jä­Jä nicht hätte, würde ich hier ganz tief in<br />

einen goldenen Traum fallen, in dem nie gelacht wird. Vielleicht<br />

würde ich verhungern? Es ist gut, dass Jä­Jä bei mir ist.<br />

Sind die Vögel froh, und führt der Gobi ein glückliches<br />

Leben? Ich denke viel an Dich und habe Zeit, über alles nachzudenken,<br />

was Du mir in der letzten Zeit gesagt hast. Ich<br />

glaube, das ist für uns sehr gut – für alle Drei. Ich bin mit<br />

meinen Gedanken erst am Anfang – ist es noch zu früh, um<br />

Dir mehr über meine Beobachtungen und Überlegungen zu<br />

berichten.<br />

Ich umarme dich in grosser Liebe:<br />

Deine Solbä.<br />

1 Robombo, Grolo, Gombo,<br />

Gobi u.ä. sind Kosenamen für<br />

Joe Duvanel.<br />

2 Duvanel hielt sich zwei Wochen<br />

in der Casa Pantrovà in Carona<br />

auf, einem Gästehaus für<br />

12


Literaten und Künstler, das<br />

Lisa Tetzner und Kurt<br />

Kläber / Held der Pro Helvetia<br />

vermacht hatten.<br />

3 Jä­Jä ist der Kosename für die<br />

Tochter Adelheid Cécile, auch<br />

Juju, Bölleli und Gigi.<br />

*<br />

Otto F. Walter, Oberbipp, 9. 7. 79<br />

Lieber Thomas, 1<br />

Du erinnerst Dich, ich habe als möglichen Titel für 1979 –<br />

vermutlich Frühjahr – die Geschichten von Adelheid Duvanel,<br />

Basel, angekündigt. Ich bin auf die vermutlich etwa<br />

40­jährige Autorin (ich kenne sie persönlich nach wie vor<br />

nicht) aufmerksam geworden durch den Abdruck einer Geschichte<br />

in der Basler Zeitung.<br />

Ich halte diese Arbeiten für ausserordentlich. Sie sind es<br />

in einem gewissermassen engen Rahmen – dem des winzigen<br />

Alltags von zumeist Frauen und Kindern in abbruchreifen<br />

Mietshäusern – hier jedoch von einer mich beeindruckenden,<br />

lakonischen Poesie, die den Tag und die finstere Dämmerung<br />

dieser Existenzen in irre aufblühenden Metaphern aufreisst:<br />

«Es ist so still, als ob ein Würger umginge.» – «Die Nacht<br />

umarmte wie ein Ungeheuer den hohen Kleiderkasten …»,<br />

«Da es Winter war, hatte sich die Sonne zu einer Knospe<br />

geschlossen; sie sandte einen perlenden, gleichmütigen Gesang<br />

durch die Wolkendecke» – Bilder, die etwas Geisterhaftes<br />

hinter dem Alltag sichtbar machen und ganz von fern<br />

mich an die gewagten exzessiven Sprachblumen Isaak Babels<br />

erinnern, auch hier erstehen sie immer präzise aus der Situation<br />

heraus.<br />

Es handelt sich um (zunächst) 26 Geschichten (von 2 bis<br />

13


etwa 7 Seiten), einige davon in der vom staatlichen Literaturkredit<br />

der Stadt Basel herausgegebenen Reihe «Basler Texte»<br />

veröffentlicht (neuerdings). Die Autorin hat noch mehr Geschichten,<br />

auch schreibt sie natürlich weiter.<br />

Ich rate Dir und dem Verlag zur Publikation. Es ginge jetzt<br />

darum, dass Du die Sachen mal liest und Dein Votum abgibst.<br />

Mich sollte freuen, wenn wir auch hier übereinstimmten. Ein<br />

Erstling, der übrigens auch Vertrauen zulässt in die Fähigkeit<br />

der Autorin, einen längeren Zusammenhang zu bewältigen.<br />

Wäre Dir möglich, mir bei der Programmkonferenz Ende<br />

August Deine Einschätzung zu sagen? Ich bitte Dich, Herrn<br />

Dr. Altenhein 2 eine Kopie dieser Zeilen zur Information zu<br />

übermitteln.<br />

Dir Bestes!<br />

Mit meinem besten Gruss bin ich<br />

Dein Otto F.<br />

1 Thomas Scheuffelen, Lektor<br />

beim Luchterhand Verlag.<br />

2 Hans Altenhein, Verlagsleiter<br />

von Luchterhand.<br />

*<br />

9. 7. 79<br />

Liebe Frau Duvanel,<br />

wie recht Sie haben, mich zu mahnen! Hier jedenfalls dieser<br />

Kurzbericht über den «Stand der Dinge».<br />

Ich habe Ihr Projekt in die Mai­Programmkonferenz bei<br />

Luchterhand eingebracht, wo die möglichen Titel für 80 diskutiert<br />

wurden. Es steht jetzt auf dem provisorischen Programm.<br />

Die Texte sind mit einem Bericht von mir an den<br />

Lektor Dr. Thomas Scheuffelen in Darmstadt an den Verlag<br />

14


gegangen. Ende August findet die nächste Konferenz in<br />

Darmstadt statt; sofern auch Scheuffelen von Ihren Arbeiten<br />

so angetan ist wie ich (als «Berater» des Verlags), so dürfte die<br />

Veröffentlichung im nächsten Jahr – Frühjahr, evt. Herbst –<br />

gesichert sein. Die endgültige Entscheidung der Verlagslei tung<br />

dürfte dann nicht lange auf sich warten lassen. – So einfach,<br />

so kompliziert, so langwierig halt läuft das heute in (grösseren)<br />

Verlagen.<br />

Ob ich Sie um etwas Geduld noch bitten darf? Ich habe<br />

mich gefreut zu sehen, dass die erneute Lektüre der Texte mir<br />

ermöglicht hat, nochmal klar für die Publikation zu plädieren.<br />

Endgültige Auswahl, Umfang des Buchs, allenfalls Korrekturen<br />

wären dann zwischen Ihnen und dem Lektor zu<br />

beraten. Hier sehe ich keine Sonderprobleme.<br />

Ihnen viel Gutes, auch für Ihr persönliches Wohlergehen.<br />

Empfangen Sie meinen besten Gruss!<br />

Ihr Otto F. Walter<br />

P. S. Ich bin vom nächsten Wochenende an bis gegen Augustende<br />

im Süden.<br />

Mein lieber Grolo!<br />

Heute haben Jä­Jä und ich einen sehr schönen Tag verbracht<br />

(zuerst wollte ich «verlebt» schreiben, aber das finde ich<br />

grässlich; als ob man ein Stück seines Lebens tot getreten<br />

hätte …); wir bewegen uns immer sicherer im Haus und im<br />

Dorf, kennen alles schon besser: die Haushälterin Olga, die<br />

uns heute einen Kopfsalat aus dem Garten schenkte; das<br />

Kätzchen «Mitschana» und dessen Sohn, der einen breitbeinigen<br />

Gang hat (wäre er ein Mensch, dächte man, er sei<br />

Matrose …); einige Menschen, denen wir immer wieder be­<br />

15


gegnen und all die schönen Winkel, Gässchen, Blumen und<br />

sogar Hunde. Wir sind mit dem Schiff gefahren, waren in<br />

Lugano, haben ein vierblättriges Kleeblatt gefunden, haben<br />

einander viel erzählt und viel gelacht, haben zwei Foteli gemacht,<br />

gelesen, geschrieben, im winzigen Coop­Laden im<br />

Dorf eingekauft, zusammen ein Znacht zubereitet, uns geärgert,<br />

weil das Wasser im Badezimmer plötzlich nicht mehr<br />

fliesst, einen Schriftsteller aus Zürich begrüsst, der mich<br />

sofort kannte, dessen Namen ich aber nicht verstanden habe<br />

(was ich mir aber nicht anmerken liess, denn Schriftsteller<br />

sind eitel; dieser hat eine Stimme, die durchs ganze Haus<br />

schallert – wahrscheinlich hört er sich gerne reden; er bleibt<br />

übrigens nur für eine Nacht hier), und einen Abendspaziergang<br />

gemacht. Mitten im Wald haben wir eine alte, zerfallende<br />

Kirche entdeckt; Jä­Jä war ganz begeistert, sagte,<br />

hier wolle es heiraten, fand den Kreuzweg dramatisch und<br />

spielte «Königin», die mitten auf dem mit Gras bewachsenen<br />

Weg zum Kirchenportal schreitet. Leider war das Portal verschlossen;<br />

wir hätten dieses merkwürdige Gotteshaus, das<br />

schrecklich verlassen wirkt, gerne betreten; innen muss es<br />

ganz dunkel und kühl sein.<br />

Wie geht es Dir, Grol? Warst Du mit Scherler im Elsass?<br />

Hattest Du am Sonntag Besuch von Hélène und Ernesto? Du<br />

musst nicht zuviel allein bleiben, sonst wirst Du vielleicht<br />

ganz schwermütig – mir geht es auch so, wenn ich allein bin.<br />

Zum Glück habe ich Jä­Jä hier; ich hoffe, dass es mit ihm<br />

weiterhin so gut geht wie bis jetzt; es ist relativ ausgeglichen,<br />

hilft mir ganz herzig, erzählt viel, gibt sich manchmal etwas<br />

zu selbstsicher, was man aber mit dem Alter entschuldigen<br />

kann, und wechselt ab mit dem Ausplaudern von ganz spinnigen<br />

und ganz vernünftigen Ideen, was aber auch sehr ver­<br />

16


ständlich und oft drollig ist. Es kann sich leidenschaftlich für<br />

oder gegen etwas ereifern – alles ist ja noch in Gärung, doch<br />

ich glaube, schlussendlich kommt dann alles gut heraus, findet<br />

es sich und seinen Platz; sicher auf Umwegen – aber wer<br />

macht die nicht, ausser ganz langweiligen Menschen? Dich<br />

hat es nach wie vor sehr gern, das spüre ich; Du bist für seine<br />

Entwicklung wichtig, in jedem Sinne – viel wichtiger als ich.<br />

Doch auch Castelmont 1 ist wichtig mit allen positiven und<br />

vielleicht weniger positiven Erfahrungen; wer kann jeweils<br />

im Voraus bestimmen, was einem jungen Menschen weiterhilft<br />

und was ihn nachhaltig verunsichert? Eigentlich spürt<br />

dies nur der Betreffende selber, und zwar erst viel später,<br />

wenn er die schwierigen Jahre der Entwicklung hinter sich<br />

hat und gereift ist. So jedenfalls sehe ich es, habe ich es auch<br />

bei mir selber erlebt.<br />

So, Bombo, ich gehe jetzt schlafen – morgen will ich Dir<br />

noch ein wenig weiterschreiben. Bölleli ist schon am Einschlafen.<br />

Jetzt ist morgens 7 Uhr. Die Welt strahlt! Ich hatte, als ich<br />

erwacht war, eine sonderbare Gehörhalluzination: Die ersten<br />

Takte einer gewaltigen Kirchenmusik mit Gesang schwollen<br />

immer wieder an, und dazwischen tönte das herzzerreissende<br />

Miauen einer Katze – dies mehrmals, immer gleich. Es war<br />

faszinierend, aber auch unheimlich.<br />

Jä­Jä, das heute Nacht noch bei mir geschlafen hat, weil das<br />

andere Zimmer bis jetzt für den Herrn aus Zürich reserviert<br />

war, hat schlecht geschlafen: es redete oft im Traum, manchmal<br />

in Worten, die ich verstand, doch aus den Sätzen konnte<br />

ich keinen Zusammenhang herstellen. Es erwachte auch oft<br />

und hat nun Angst, es schlafe von nun an hier oben so schlecht<br />

17


wie in Davos, doch da es die ersten zwei Nächte sehr gut geschlafen<br />

hat, glaube ich, es war nur der Vollmond, der ihm<br />

diesen Streich gespielt hat; er schwamm wie eine märchenhaft<br />

glänzende Seerose hinter unserem Fenster vorbei.<br />

Gell, Du bist mir nicht böse, dass ich Dir nie telefoniert<br />

habe; weisst Du, ich muss mit dem Geld sehr sparsam umgehen,<br />

sonst können wir nicht drei Wochen bleiben. Vielleicht<br />

reicht es auch so nicht ganz.<br />

Ich hätte jetzt noch eine Bitte: Könnten Lila 2 oder Du, falls<br />

Ihr uns einmal schreibt, die Adresse von Manno beilegen? 3<br />

Wir würden ihm sehr gern einmal eine Karte schicken; sicher<br />

hätte er Freude.<br />

Ich schicke Dir die liebsten Küsseli der Welt und denke<br />

ganz fest an Dich!!!<br />

Adä.<br />

1 Das Basler Sanatorium Castelmont<br />

(1896–1985) war die erste<br />

Volksheilstätte für unbemittelte<br />

Tuberkulosekranke im Luftkurort<br />

Davos. Tochter Adelheid<br />

wohnte im Schulheim für<br />

asthmakranke Kinder, sie litt<br />

an schwerem Asthma, der Arzt<br />

und Onkel Andrea Gartmann­<br />

Duvanel hatte sie mehrmals<br />

nach Davos geschickt.<br />

2 Spitzname von Lilianne Balloux,<br />

Joe Duvanels Freundin.<br />

3 Manno war der Kosename für<br />

den Sohn François von Joe und<br />

Lilianne.<br />

*<br />

18


Carona, 10. Juli 1979<br />

Lieber Rollboll!<br />

Heute waren wir schwimmen; jetzt sind wir auf eine gesunde<br />

Art «abgekämpft». Jä­Jä liest – was läge hier näher? –<br />

wieder einmal Kurt Helds «Rote Zora», 1 und ich habe an<br />

meiner Novelle, 2 auf dem Liegestuhl im grossen Garten sitzend,<br />

geschrieben. Der Herr aus Zürich, der heute abgereist<br />

ist und der anscheinend bei der PRO HELVETIA eine Rolle<br />

spielt (er gleicht, so finde ich, ein wenig Charles Ottiker), hat<br />

mich in ein Gespräch verwickelt. Er fragte mich, ob Du mit<br />

dem Dokumentarfilmer Charles Duvanel, den er gut kennt<br />

oder kannte (ist er gestorben?), verwandt seist. Als ich bejahte,<br />

ergänzte er nur eine lustige Episode über Charles Duvanel,<br />

der einen Film über einen Waadtländer Vigneron, der<br />

zufällig auch Charles Duvanel hiess, gedreht hat.<br />

Heute sah ich, als ich die Durchschläge der für die hiesige<br />

Polizei ausgefüllten Formulare betrachtete (die Anmeldung<br />

betreffend), wer schon alles hier war, um zu arbeiten: Schriftsteller,<br />

Journalisten, Regisseure und Musiker. Es ist eigentlich<br />

schade, dass es im Haus kein Gästebuch gibt; es wäre<br />

interessant und amüsant, zu lesen, was jeder über seinen Aufenthalt<br />

in Carona berichtete. Ich sah, dass Hansjörg Schneider<br />

mit Frau und Kindern da war; auch Guido Bachmann,<br />

Dieter Fringeli und andere «Grössen» (hmmmm …) haben<br />

sich pflichtschuldigst angemeldet.<br />

Jä­Jä und ich reden manchmal in einer Sprache, die wir<br />

selber «erfunden» haben – falls man da von «Erfindung» sprechen<br />

kann; sie ist ein wenig blöd, sozusagen «sonnenstichig»<br />

– obwohl wir natürlich keinen Sonnenstich haben (dies zu<br />

deiner Beruhigung!).<br />

Ich musste eben für Jä­Jä im Lexikon heraussuchen, was<br />

19


«Kroaten» sind; leider stammt das Lexikon aus dem Jahre<br />

1888, also ist Kroatien ein «ungarisches Kronland» …<br />

Jetzt noch etwas ganz anderes: Weisst du, wie es meiner<br />

Mutter geht? Sie hat sich ja bei der ganzen Aufregung prachtvoll<br />

verhalten, doch bei ihrer Krankheit sind ihr solche «jugendlich­ungestüme»<br />

Erlebnisse nicht mehr zuzumuten. Ich<br />

mache mir Sorgen, weil sie sagte, sie rufe mich vor unserer<br />

Abreise noch an; sonst hält sie immer Wort. Ich habe meinen<br />

Eltern eine Karte geschickt. Du würdest es mir doch mitteilen,<br />

wenn Du erführest, dass es ihr schlecht geht? Dann<br />

würde ich selbstverständlich telefonieren.<br />

Was macht Dein neues «Albtraum­Bild»? Hast Du weiter<br />

gemalt? Jä­Jä ist vom Baumfäller­Bild so beeindruckt; es kam<br />

sicher dreimal darauf zu sprechen und sagte, das Bild habe es<br />

eigenartig berührt und erschreckt; alle Bilder, die Du während<br />

seiner Abwesenheit gemalt hast, findet es sehr, sehr gut. Gigi<br />

und ich sind da (ausnahmsweise!) einer Meinung: Du bist der<br />

beste Maler, der heute lebt. Sonst haben wir natürlich hie und<br />

da Meinungsverschiedenheiten; Jä­Jä hat nicht eben einen<br />

«leichten» Charakter, und vielleicht ermüde ich manchmal zu<br />

schnell. Wenn ich auch ein solch unbe herrschtes, heftiges<br />

Temperament hätte, gerieten wir manchmal einander fast in<br />

die Haare … so aber verraucht jeweils seine Wut rasch. Nachtragend<br />

ist es auf jeden Fall nicht, nur sehr unbesonnen,<br />

emotionsgeladen und sehr oft halt unvernünftig. Seine Nerven<br />

sind nicht aus Stahlseilen gemacht – und meine auch nicht<br />

… Aber meistens unterhalten wir uns friedlich; gut ist auch,<br />

dass wir oft über die gleichen Sachen lachen können. Ohne<br />

Humor wäre die Welt ja wirklich nicht zu ertragen!! Und die<br />

Ironie pflegen wir natürlich auch; Jä­Jä hat richtig Sinn für<br />

Komik – mich dünkt, in dieser Beziehung gleicht Manno sei­<br />

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ner Schwester, wenn er auch viel beson nener ist. Jä­Jä übersprudelt<br />

manchmal nur so von witzigen Einfällen; Manno ist<br />

da weniger intuitiv; seine Einfälle basieren auf seiner scharfen<br />

Beobachtungsgabe. Er nimmt mehr mit dem Intellekt auf<br />

– Jä­Jä mit dem Gefühl. Es besteht ja nur aus Leidenschaft!<br />

Hab ich Dir schon geschrieben, dass ich ein vierblättriges<br />

Kleeblatt nach dem anderen finde? Die ersten zwei habe ich<br />

gepresst; jetzt sammle ich sie schon gar nicht mehr. Als ich ein<br />

fünf­blättriges fand, schrie Jä­Jä: «Wirf es weg – das bringt<br />

Unglück!» Ich warf es natürlich weg, denn ich will wirklich<br />

kein Unglück … Um das Glück zu beschwören, zeich ne ich<br />

jetzt eine ganze Reihe vierblättrige Kleeblätter.<br />

Da habe ich mir aber sehr Mühe gegeben, um uns allen<br />

Glück zu wünschen!! Wir hätten Glück so nötig. Ob es kommt,<br />

wenn man daran glaubt?<br />

Auf etwas möchte ich noch zu sprechen kommen: weisst<br />

du, Jä­Jä ist gar nicht so bewusst raffniert, wie Du glaubst –<br />

dazu fehlt ihm der Intellekt. Es ist katzenhaft, verspielt, grausam,<br />

aber auch schmeichelnd und lieb, je nach Laune; von<br />

Überlegung ist da keine Spur; was manchmal wie Berechnung<br />

aussieht, ist ein instinktives Verhalten wie bei einem Tier. Du<br />

musst Jä­Jä nicht überschätzen: es hat viel Phantasie, viel<br />

Angst, viel Wildheit – aber sozusagen keine Fähigkeit zur<br />

Überlegung: alles, was Plan ist, Konstruktion, ist ihm fremd<br />

und unverständlich. Deshalb bewundert es vielleicht auch im<br />

Moment «coole» Männer, wie Du sagtest. Es ist in Wirklichkeit<br />

labil, wankelmütig, überhaupt nicht im Gleichgewicht. Und<br />

wenn Du glaubst, sein Interesse für Musik und Theater sei<br />

nicht echt, dann täuschst Du Dich; da bin ich ganz sicher, dass<br />

es Musik und Theater liebt. Und natürlich möchte es manchmal<br />

auch sorglos, fröhlich, übermütig sein; es lacht sehr gern,<br />

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