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kiosk leseprobe

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Fotografie: Lino Kalt<br />

Illustration: YG5


KIOSKLEBEN<br />

Morgen- / Abenddämmerung Fotografie: Lino Kalt 1 / 200<br />

Illustration: YG5<br />

Quellenstrasse Cindy Ziegler 13<br />

Fotografie: Julia Haupt<br />

Kleine Weltgeschichte des Kiosks Norma Eggenberger, Karolina Sarre 21<br />

Illustration: Stella Jarvis<br />

Lieblinge Fotografie: Patrick Heegewald 33<br />

Top of Europe Janica Irina Madjar 67<br />

In der Badi Leila Alder, Susanna Bosch 107<br />

Fotografie: Kim Pham<br />

Auslage Fotografie: Fabienne Watzke 142<br />

Röschibachplatz Susanna Bosch, Leila Alder 151<br />

Glückskonsum als Alltagsritual Katrin Kalt 161<br />

Kleine Weltreise des Kiosks Norma Eggenberger, Karolina Sarre 189<br />

Illustration: Stella Jarvis<br />

KIOSKWISSEN<br />

Kioske für das Zürcher Stadtbild Nele Rickmann 43<br />

Kiosk und die Idee der Urbanität Jocelyne Iten 51<br />

Tauschrituale Basil Rogger 81<br />

V wie Valora Karolina Sarre 87<br />

Kiösk in Züri Marie Duchêne 91<br />

Gestaltung: Frederic Zander<br />

KIOSKFIKTION<br />

Drei Meter Arzije Asani 27<br />

Kiosk der Tiere Dominic Oppliger 59<br />

Aus dem 13. Stock Anja Jeitner 117<br />

Fieser Spruch & Mundgeruch Marie Duchêne, Anja Jeitner, 125<br />

Karolina Sarre<br />

Sandsteinwellen Janica Irina Madjar 135<br />

Ein Abschied Jayrôme C. Robinet 157<br />

Kino<strong>kiosk</strong> Norma Eggenberger 167<br />

Täglich vor meinem Fenster Julia Weber 181<br />

Memohandel Norma Eggenberger 193


Die vorliegende Publikation ist die Nr. 13 von Korrespondenzen,<br />

einer Publikationsreihe der Plattform Kultur publizistik und des<br />

Master Kultur publizistik der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)<br />

und das zweite Buch in Kooperation mit dem Limmat Verlag.<br />

«Kiosk» wurde von Studierenden des Master Kulturpublizistik<br />

entwickelt und umgesetzt. Begleitet wurden sie dabei von<br />

Basil Rogger, Ruedi Widmer und Peter Kuntner.<br />

Herausgeber*innen: Plattform Kulturpublizistik der Zürcher<br />

Hoch schule der Künste, Limmat Verlag<br />

Die Herausgeber*innen danken dem Departement Kultur analysen<br />

und Ver mittlung der ZHdK für die Unter stützung.<br />

Konzept: Leila Alder, Susanna Bosch, Marie Duchêne, Norma<br />

Eggenberger, Anja Jeitner, Janica Irina Madjar, Karolina Sarre,<br />

Cindy Ziegler, Basil Rogger<br />

Redaktion: Leila Alder, Susanna Bosch, Marie Duchêne,<br />

Karolina Sarre, Ruedi Widmer<br />

Art Direction: Jonas Wandeler, Norma Eggenberger, Anja Jeitner,<br />

Janica Irina Madjar, Cindy Ziegler<br />

Gestaltung und Layout: Jonas Wandeler, Janica Irina Madjar<br />

Auftaktbilder Kioskfiktion: Janica Irina Madjar, ausser S. 193:<br />

Syd Mead, «Blade Runner», 1982<br />

Google-Rezensionen: Janica Irina Madjar<br />

Kioskgespräche: Susanna Bosch, Leila Alder<br />

Schlagzeilensammlung: Leila Alder<br />

Lektorat und Korrektorat ZHdK: Marie Duchêne, Ruedi Widmer<br />

Korrektorat: Günther Fässler<br />

Lithografie: Marjeta Morinc<br />

Druck und Bindung: Gugler, Melk/Donau (A)<br />

ISBN 978-3-03926-082-9<br />

© 2024 by Limmat Verlag, Zürich, und ZHdK<br />

Der Limmat Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem<br />

Struktur beitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.<br />

www.limmatverlag.ch<br />

Kein Teil des Werks darf in irgend einer Form (durch Foto grafie<br />

oder andere optische oder elektronische Verfahren) ohne ausdrückliche<br />

Genehmigung reproduziert, ver arbeitet, vervielfältigt<br />

oder verbreitet werden.


Cindy Ziegler<br />

13<br />

Quellenstrasse<br />

Fotografie: Julia Haupt


14 Die zwei grossen Kühlschränke surren. Der eine ist bis obenhin<br />

gefüllt mit verschiedenfarbigen Getränkeflaschen, der<br />

andere mit Snacks und Sandwiches. Und ein dritter, der Gefrierschrank,<br />

wartet mit Tiefkühlkost und lokal hergestellten<br />

Ravioli auf. Eine Glocke bimmelt, als ein grosser Mann mit<br />

grauem Haar und ebenso grauem T-Shirt durch die Türe tritt.<br />

Wie selbstverständlich steht er vor dem ersten der beiden<br />

grossen Kühlschränke, nimmt sich zielsicher eine Flasche<br />

Flauder und setzt sich an den Hochtisch am Fenster, nachdem<br />

er das Getränk an der Kasse bezahlt hat. Das Münz klimpert,<br />

als der Kioskbesitzer es in die Kasse legt. Dann setzt sich<br />

der Mann mit den breiten Schultern und dem breiten Lachen,<br />

er heisst Joe Bürli, zum grossen Mann – zu Markus Moor,<br />

seinem treusten Kunden. Sie sprechen über dies und das. Über<br />

die Arbeit, die Familie, die Weltlage. Um 16 Uhr ist es schon<br />

das dritte Mal heute, dass sie das tun. Immer wieder ertönt<br />

die Türglocke, piepst der Scanner und klimpert das Münz.<br />

Während Joe Bürli einkassiert, sitzt Markus Moor am Fenster<br />

und blickt auf das Treiben der Strasse. Mit dem permanenten<br />

Geräuschteppich von Kiosk und Stadt in den Ohren.<br />

Markus Moor kommt jeden Tag zum Znüni, zum Zmittag<br />

und zum Zvieri in den Kiosk. Und manchmal auch zwischendurch.<br />

Seit über vier Jahren, fünf Tage die Woche. Kiosk-Besitzer<br />

Joe Bürli veranstaltete damals ein Fest, und Markus<br />

Moor, der gegenüber in einem grossen Häuserkomplex als<br />

Hauswart tätig ist, wurde von einem Kollegen zum Fest<br />

mitgenommen. «Das war eine herzige Veranstaltung. Mit<br />

vielen bunten Menschen. Das hat mir so gefallen, dass ich<br />

mir sagte, ich gehe ab jetzt zu diesem Herrn Bürli für die<br />

Mittagspause», sagt Markus Moor und lacht. Aus Herrn Bürli<br />

wurde schnell Joe. Und aus Herrn Moor Markus. «Mit der<br />

Zeit wurde Markus nicht nur mein bester Kunde, sondern<br />

auch ein guter Freund von meinem Partner und mir», ergänzt<br />

Joe Bürli. Markus nickt zustimmend. Er trägt eine schwarze<br />

Arbeitshose und ein schlichtes Shirt. Dazu eine kastige<br />

Brille und ein ehrliches Lachen. Der Kiosk an der Quellenstrasse<br />

ist für ihn Pausenraum. Ruheort. Ritual. Er kommt<br />

wegen des Flauders, des Weggli, der Salami, des Emmentalers<br />

und des hartgekochten Eis.


Jeden Tag isst Markus Moor dasselbe zum Zmittag. Dazu<br />

noch Kaffee und einen Spitzbub oder einen Mandelgipfel.<br />

Immer legt er sich auf den schmalen Tisch am Fenster zwei<br />

Servietten. Die eine, um die Sachen darauf zu legen, und die<br />

andere für die Brösmeli. Der Hauswart bezeichnet sich selbst<br />

als Kontrollfreak und benennt seine Marotten unverblümt<br />

als Putzfimmel. Zu Hause und im Kiosk mag es der 55-Jährige<br />

ordentlich. «In dieser Hinsicht bin ich unheimlich langweilig.<br />

Ein Gewohnheitstier», erklärt er. Das sei schon immer<br />

so gewesen. Als er das zehnte Schuljahr im Werkjahr verbrachte,<br />

gab es immer Schnipo zum Zmittag. Und heute eben<br />

Weggli mit Wurst und Käse im Kiosk.<br />

Ganz anders sieht Markus Moors Alltag aus, wenn er<br />

den Kiosk wieder verlässt. Als Hauswart ist er für eine Einheit<br />

von 24 Eigentümer*innen, 53 Mietparteien, Geschäften<br />

und über 200 Garagenplätze verantwortlich. Zu tun gibt es<br />

immer viel. Gefordert ist Markus Moors Spontaneität. «Ich<br />

will immer allen helfen. Wahrscheinlich arbeite ich darum<br />

so viel. Joe lacht manchmal über mich, weil ich hier so ein<br />

Bünzli bin.»<br />

Markus Moor schweift im Gespräch gerne mal ab. Versinkt<br />

in Erinnerungen und verstrickt sich in gesellschaftlichen<br />

Fragen. Eine Unterhaltung darüber, dass er gerne das<br />

Kleingewerbe unterstützt, verliert sich dann auch schnell<br />

in einer Diskussion über Egoismus. Dabei geht es ihm vor<br />

allem um die Qualität, die er im Kiosk findet. Die Qualität<br />

der Begegnung. Hier ist er nicht «der Nächste bitte», sondern<br />

eben Markus. Paradoxerweise findet er hier, wo immer Trubel<br />

ist, innere Ruhe. Es sei immer etwas los, berichtet er.<br />

Bei Joe treffe er nicht nur auf den Kiosk-Besitzer als Freund,<br />

sondern auch auf Menschen aus der Vergangenheit. Viele<br />

von ihnen sind Süchtige vom Platzspitz oder vom Letten.<br />

Markus Moor wird nachdenklich, als er von ihnen erzählt.<br />

Viele Kolleg*innen habe er verloren. Habe er nicht retten<br />

können. Ehemalige Arbeitskollegen, mit denen er in den<br />

90er-Jahren als Security in einer Disco arbeitete, trifft er<br />

heute auf ihrem Weg in die Therapie. Der Grat zum «Überegheie»<br />

sei eben schon sehr schmal. Und er ist froh, dass er<br />

nicht den einen Whiskey zu viel getrunken hat.<br />

15


16 «Hast du den schon versucht? Der schmeckt nach Himbeere<br />

und Minze. Ruby heisst der. Ist ganz neu», erklärt Joe Bürli<br />

dem jungen Mann mit dem langen Haar und zeigt auf das<br />

Regal mit dem Liquid für E-Zigaretten. Als die Tür aufgeht,<br />

klingelt die Glocke. Ein neuer Kunde. Zigaretten hier. Ein<br />

Heftli da. Der Kiosk ist innen rostrot gestrichen, auf der<br />

Theke stehen frische Sonnenblumen. «Mein Kiosk ist eine<br />

Anlaufstelle für verschiedene Arten von Leuten», meint der<br />

Kiosk-Mann. Es gebe viele einsame Menschen, die den<br />

Kiosk als Begegnungsstätte verstehen. Hier komme man<br />

schneller in Kontakt. Und Joe Bürli weiss, wie wichtig es ist,<br />

die Menschen zusammenzubringen. Das Bedürfnis nach<br />

Ware kann andernorts günstiger befriedigt werden. Die<br />

Währung im Kiosk an der Quellenstrasse ist eine andere.<br />

Joe Bürli arbeitete zuerst als Barmann, bevor er Mitte<br />

der 90er-Jahre Geschäftsführer des Quellen-Kiosks wurde.<br />

Der damalige Besitzer des Kiosks baute, als der CD-Boom<br />

kam, nebenbei einen CD-Laden auf. Schnell lief das Geschäft<br />

mit den CDs und die Zeit für den Kiosk fehlte. Joe Bürli hingegen<br />

blieb dem Kiosk treu und fand seine Berufung. Das<br />

Angebot, das Objekt zu kaufen, musste er damals schweren<br />

Herzens ausschlagen. Sein Partner und er hatten ein Haus<br />

gekauft und viel Renovierungsarbeit vor sich. «Man kann<br />

nicht gut auf zwei Hochzeiten tanzen», sagt Joe Bürli. Und<br />

so arbeitete er weiter im Kiosk – als Angestellter. 2007, als<br />

der Kiosk wieder zum Verkauf stand, musste er nicht zweimal<br />

überlegen. Besonders darum nicht, weil der Besitzer<br />

ihm den Kauf als Treuegeschenk vorfinanzierte.<br />

Seit bald dreissig Jahren steht der kleine Mann mit<br />

den breiten Schultern und der Glatze nun hinter der Theke.<br />

Verkauft Tabakwaren und Zeitungen. Schleckzeug und<br />

Snacks. «Man muss Menschen wahnsinnig gerne haben. Die<br />

Spinner. Die Säufer. Die Armen. Viele Menschen sind auch<br />

seelisch verarmt. Und dann gibt es ja auch noch die normalen.<br />

So wie Markus.»<br />

Viele Momente, die Markus in den vergangenen vier<br />

Jahren im Kiosk erlebte, haben ihn gerührt, andere machten<br />

ihn wütend. Beispielsweise als Joe aufgrund seiner<br />

Homosexualität übel beschimpft wurde. In Markus Moor


18<br />

brodelt es noch heute. Und noch heute ist er beeindruckt,<br />

mit welcher Souveränität der Kiosk-Besitzer mit solchen<br />

Situationen umgeht. «Joe und sein Partner sind so liebe<br />

Menschen», erklärt er. Viele der Begegnungen seien toll.<br />

Der 55-Jährige berichtet von Treffen mit Mike Müller vom<br />

«Bestatter» oder mit Komikerin Regula Esposito alias Helga<br />

Schneider. Von Dominik, dem Bahnchauffeur. Und von der<br />

alten Frau von gegenüber, der er immer den Stuhl an der<br />

Theke herunterlässt, wenn er wieder geht. So auch heute.<br />

Mit einem «Mach’s guet» verabschiedet er sich von Joe, seinem<br />

Freund. Als er schon fast wieder aus der Tür ist, äussert<br />

er noch einen Wunsch: «Ich wünsche mir, dass wir wieder<br />

höflicher miteinander sind. Da steht ein Mensch hinter der<br />

Theke. Joe ist keine Ware.»<br />

Auch Joe erinnert sich an Schönes und weniger Schönes.<br />

Einmal gewann eine Verkäuferin, die bei ihm im Kiosk arbeitete,<br />

im Lotto. 5,3 Millionen Franken. «Ich habe mich sehr<br />

für sie gefreut. Sie arbeitet jetzt nicht mehr hier», meint er<br />

und lacht laut. Er wurde aber auch einmal mit Losen betrogen<br />

und verlor 1000 Franken. Er habe daraus gelernt,<br />

meint er heute gelassen. Ebenso gelassen sagt er, dass ein<br />

Kiosk wie seiner ein Auslaufmodell sei. Zu gross der finanzielle<br />

Druck, zu klein die Marge. «Dafür habe ich keinen<br />

Konkurrenzdruck. Es gibt kein Ellebögle hier. Ich frage<br />

mich immer wieder, was es braucht, um glücklich zu sein.<br />

Ich habe ein schönes Dihei, ein gutes Umfeld, tolle Freunde.<br />

Darum fehlt mir nichts. Solange ich im Kiosk nicht drauflegen<br />

muss, stimmt es für mich.»<br />

Wenn Joe Bürli nicht im Kiosk ist, verbringt er die Zeit<br />

mit seinem Partner und den zwei Hunden Jimmy und Flynn.<br />

Das Haus in Höngg gibt Ruhe, und die braucht er in seiner<br />

Freizeit. Die Begegnungen im Kiosk sind fordernd. Und<br />

Joe musste lernen, sich abzugrenzen. Von den Geschichten<br />

der Menschen. Klarkommen damit, dass auch er nicht allen<br />

helfen kann. Trotzdem macht er sich mit 61 Jahren Gedanken<br />

darüber, wie das dann wohl sein wird ohne Kiosk<br />

in der Pension. «Der Kontakt wird mir schon sehr fehlen.<br />

Ich denke, erst wenn man älter wird, merkt man, dass es<br />

einen selbst treffen kann. Die Einsamkeit.»


Noch ist es aber nicht so weit. Die Arbeit im Kiosk gefällt<br />

Joe Bürli – er kann kreativ sein. Das Reden, das «Verchäuferle»,<br />

das «Händele». Und das Lesen. «In jedes Heftli schaue<br />

ich kurz rein. Das ist spannend. Würde ich das sonst irgendwo<br />

machen, würde man mich wohl irgendwann rausschmeissen.<br />

Aber so komme ich ins Gespräch mit Leuten und lerne<br />

ihre verschiedenen Interessen kennen. Diese Gespräche geben<br />

mir einen Weitblick.» Joe Bürli ist ein Mann, dem die Leute<br />

schnell vertrauen. «Manchmal weiss ich mehr über meine<br />

Stammkund*innen als der Mann oder die Frau zu Hause. Ich<br />

wäre eigentlich gerne Pfleger geworden. Aber mich von dem<br />

Elend abgrenzen, das wollte und konnte ich damals nicht.<br />

Jetzt bin ich im Kiosk und mache fast auch ein bisschen Betreuung»,<br />

sagt Joe Bürli. Das Lachen breit im Gesicht, auch<br />

als er sich wieder hinter die Theke stellt. «2.60 bitte.»<br />

19


Norma Eggenberger, Karolina Sarre<br />

21<br />

Kleine<br />

Weltgeschichte<br />

des<br />

Kiosks<br />

Illustration: Stella Jarvis

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