55 Monologe für Männer
9783894875640
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Anke Roeder <strong>55</strong><br />
MONOLOGE<br />
<strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />
Zum Vorsprechen, Studieren<br />
und Kennenlernen<br />
H E N S C H E L
<strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong>
<strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />
Zum Vorsprechen, Studieren<br />
und Kennenlernen<br />
Herausgegeben von Anke Roeder<br />
Unter Mitarbeit von Josef Bairlein, Franziska<br />
Betz, Katharina Denk, Matthias Hoffmann, Luisa<br />
Lazarovici und Hannah Schwegler<br />
HENSCHEL
www.henschel-verlag.de<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />
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beibehalten.<br />
ISBN 978-3-89487-564-0<br />
© 2007, 2024 Henschel Verlag<br />
in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig<br />
Umschlaggestaltung: Ingo Scheffler, Berlin<br />
Titelbild: Sven Lehmann in einer Szene aus König Ödipus, Regie: Hans<br />
Neuenfels, Deutsches Theater Berlin 2003, © ullstein – Will<br />
Lektorat: Nicole Gronemeyer, Josef Bairlein<br />
Gestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Berlin<br />
Druck und Bindung: MultiPrint Ltd.<br />
Printed in the EU
5<br />
Inhalt<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Antike<br />
Aischylos · Die Orestie · Orestes . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
Sophokles · Aias · Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Euripides · Alkestis · Herakles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
Aristophanes · Der Friede · Trygaios . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
Elisabethanisches Zeitalter<br />
Christopher Marlowe · Eduard der Zweite · Gaveston . . . . . . . . 25<br />
William Shakespeare · Ein Sommernachtstraum · Zettel . . . . . . 27<br />
William Shakespeare · Macbeth · Macbeth . . . . . . . . . . . . 29<br />
Barock<br />
Pedro Calderón de la Barca · Das Leben ist ein Traum · Sigismund . . 31<br />
Pierre Corneille · Der Cid · Don Rodrigo . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
Molière · Don Juan · Pierrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
Jean Racine · Iphigenie in Aulis · Agamemnon . . . . . . . . . . . 37<br />
Pierre Augustin Caron de Beaumarchais · Der tolle Tag · Figaro . . . 39<br />
Ausgehendes 18. und 19. Jahrhundert<br />
Friedrich Schiller · Die Räuber · Franz . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
Friedrich Schiller · Die Piccolomini · Max . . . . . . . . . . . . . 42<br />
Friedrich Hölderlin · Der Tod des Empedokles · Empedokles . . . . . 43<br />
Clemens von Brentano · Ponce de Leon · Ponce . . . . . . . . . . . 45<br />
Johann Wolfgang von Goethe · Faust. Der Tragödie erster Teil · Faust 46<br />
Johann Wolfgang von Goethe · Faust. Der Tragödie zweiter Teil ·<br />
Mephistopheles 48<br />
Heinrich Heine · Almansor · Almansor . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />
Alfred de Musset · Lorenzaccio · Lorenzo . . . . . . . . . . . . . 52<br />
Johann Nestroy · Judith und Holofernes · Joab . . . . . . . . . . . 53
6<br />
Jahrhundertwende bis 1950<br />
Henrik Ibsen · Peer Gynt · Peer Gynt . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
Hugo von Hofmannsthal · Alkestis · Admet . . . . . . . . . . . . 58<br />
Anton Tschechow · Die Möwe · Konstantín . . . . . . . . . . . . 60<br />
Edmond Rostand · Cyrano von Bergerac · Cyrano . . . . . . . . . 61<br />
Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg · Im weißen Rößl · Leopold 63<br />
Robert Walser · Die »Felix«-Szenen · Felix . . . . . . . . . . . . . 64<br />
Ab 1950<br />
Frankreich<br />
Eugène Ionesco · Die Nashörner · Behringer . . . . . . . . . . . . 66<br />
Bernard-Marie Koltès · Sallinger · Leslie . . . . . . . . . . . . . . 68<br />
Jean-Luc Lagarce · Die Reise nach Den Haag . . . . . . . . . . . 69<br />
Belgien<br />
Tom Lanoye und Luk Perceval · SCHLACHTEN! · Dirty Rich . . . . . 71<br />
Serbien<br />
Biljana Sbrljanović · God save America · Daniel . . . . . . . . . . 73<br />
Schweden<br />
Lars Norén · Kälte · Anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
Großbritannien<br />
Martin Crimp · Angriffe auf Anne . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Enda Walsh · Bedbound · Papa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
Dennis Kelly · Schutt · Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />
Simon Stephens · Motortown · Danny . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
Nordamerika<br />
George F. Walker · Loretta! · Michael . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />
Deutschsprachiger Raum<br />
Rainer Werner Fassbinder · Tropfen auf heiße Steine · Franz . . . . . 91<br />
Heiner Müller · Der Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />
Tankred Dorst · Ich, Feuerbach · Feuerbach . . . . . . . . . . . . 96<br />
Peter Handke · Das Spiel vom Fragen · Parzival . . . . . . . . . . 98<br />
Botho Strauß · Das Gleichgewicht · Markus Groth . . . . . . . . . . 100<br />
Elfriede Jelinek · Ein Sportstück · Andi . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
Martin Heckmanns · Finnisch · Ein Junger Mann . . . . . . . . . . . 103
7<br />
Thomas Jonigk · Täter · Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />
Rainald Goetz · Jeff Koons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
Maxim Biller · Kühltransport · Khai . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
Falk Richter · Electronic City · Tom . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />
Claudius Lünstedt · Vaterlos · Felix . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />
Dea Loher · Das Leben auf der Praça Roosevelt · Aurora . . . . . . 115<br />
Ulrike Syha · Fremdenzimmer I-III · Hugo . . . . . . . . . . . . . 117<br />
Andres Veiel und Gesine Schmidt · Der Kick · Heiko G. . . . . . . . 120<br />
Nuran David Calis · Dogland · Memo . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />
Marius von Mayenburg · Der Häßliche · Lette . . . . . . . . . . . 123<br />
Lukas Bärfuss · Die Probe · Franzeck . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
Weitere Rollenvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />
Inhaltsverzeichnis nach Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />
Über die Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144<br />
Die <strong>Monologe</strong> sind innerhalb der einzelnen Kapitel nach Entstehungs- bzw.<br />
Uraufführungsdatum geordnet.
9<br />
Vorwort<br />
<strong>Männer</strong><br />
<strong>Männer</strong>, richtige <strong>Männer</strong>, das sind solche, die etwas ›machen‹, anpacken,<br />
schaffen, die stark sind, tüchtig, mutig, stolz, die kämpfen, verteidigen,<br />
beschützen, die etwas wagen, ihr Leben riskieren, unbedingt<br />
sind – <strong>Männer</strong>, das sind Helden. In diesem Sinne geistern die Bilder<br />
durch viele Köpfe von <strong>Männer</strong>n und Frauen, dargestellt in der theoretischen<br />
und belletristischen Literatur. »Der Mann entfernt sich immer<br />
weiter, dorthin, wo die größte Macht sein könnte«, schreibt die an Jacques<br />
Lacan geschulte französische Feministin Luce Irigaray in ihrem<br />
Buch Speculum, er »wird so zur ›Sonne‹, als ob er es wäre, um den sich<br />
die Dinge drehen.« Und dieses Bild sieht die Autorin Gisela von Wysocki<br />
konkret dargestellt in Leni Riefenstahls Olympia-Film, wenn aus den<br />
steinernen Tempeln der Akropolis, »aus dem Körper des weiß belichteten<br />
Gottes« in einer Überblendung »sich der Olympia-Kämpfer löst« 1 .<br />
Leni Riefenstahls Bilder, fährt die Autorin fort, »gehörten nicht dem<br />
eigenen Geschlecht; nicht der eigenen Geschichte brachten sie Licht. Ihr<br />
Standort war der vor der Olympia-Rampe des männlichen Kampfes. Sie<br />
stellte sich ihm gegenüber, hängte ihm Spiegel hin, deutete sein Geschehen<br />
und machte es zu ihrem Selbst.« 2<br />
Die Bilder sind präsent und setzen sich in der Phantasie fort. Rollenbilder,<br />
männliche und weibliche, tragen wir länger mit uns herum als unsere<br />
eigene Biographie, sagt Gisela von Wysocki in einem Gespräch. Sie<br />
prägen unser Leben als gelebtes Leben. Dieses »Spiel der Mythisierungen«<br />
3 müssen wir durchlaufen, um frei zu werden. Durch Erkenntnis<br />
kann man sich von den Bildern lösen, »um Platz zu schaffen <strong>für</strong> eine<br />
andere Wahrnehmung, ein anderes Schauen, <strong>für</strong> den Entwurf eines<br />
anderen Selbstbildes« 4 . Das gilt <strong>für</strong> Frauen und <strong>Männer</strong>.<br />
Dagegen setzte Elfriede Jelinek in ihrem ersten Stück Krankheit oder<br />
Moderne Frauen, das sie berühmt machte, karikierend Figuren, indem<br />
sie mit diesem <strong>Männer</strong>bild spielt und den Protagonisten Benno Hundekoffer<br />
sagen lässt: »Ich zahle.« »Ich spreche.« »Ich bin Ich.« »Ich bin
10<br />
Vorwort<br />
das Maß. Ich bin das Muß.« »Bei mir ist die Frau Patientin und sonst<br />
nichts.« Zum Schluss lässt sie den Mann röchelnd, hechelnd, keuchend<br />
mit dem Gewehr durch die Heide kriechen. 5 Selbst in ihrem neuen Stück,<br />
dem ›Königinnendrama‹ Ulrike Maria Stuart, in dem die Frauen zu Protagonistinnen<br />
und Handlungsmächtigen geworden sind, kreisen sie<br />
inmitten des politischen Kampfes um den Einen, den Mann und Geliebten.<br />
»Bei de wolln wir einen von den Räubern küssen, aber nur einer<br />
nimmt den Kuß entgegen. Andreas.« Wieder steht im Zentrum ein<br />
Mann, den die Autorin als »Baby«-Helden karikiert, und die Autoren,<br />
denen Elfriede Jelinek Worte oder Sätze entlehnt, nennt sie parodistisch<br />
»Die Götter: Schiller, Shakespeare, Büchner, Marx«.<br />
Götter, Helden und Heroen<br />
Wir gingen auf die Suche nach den großen <strong>Männer</strong>n. In den Stücken der<br />
Antike und französischen Klassik fanden wir sie, die Götter und Helden:<br />
Agamemnon, Heerführer der Griechen im Krieg gegen Troja; Aias, ein<br />
großer Kämpfer im trojanischen Krieg; Orest, der den Mord an seinem<br />
Vater Agamemnon rächt; und Herakles, Sohn von Zeus, der Riesen und<br />
Drachen überwältigt und ein Halbgott ist, der zwölf Taten vollbringt,<br />
die die menschliche Kraft übersteigen und Prometheus von den Fesseln<br />
am Felsen löst. Doch wie fanden wir den Halbgott vor? Trunken, hedonistisch,<br />
torkelnd. Und die anderen? Reflektierend, zerrissen, vom Wahn<br />
befallen, sich ins Schwert stürzend oder auf der Flucht. Ist es unsere neue<br />
Sicht, die uns die Texte anders lesen lässt? Oder haben bereits die alten<br />
Dichter mehr Abgründigkeiten in den männlichen Personen versteckt, als<br />
wir glaubten und erst jetzt entdecken? Sind unsere Bilder von männlichen<br />
Helden falsch? Haben sich im Laufe der Jahrhunderte Klischees über ihre<br />
wahre Personen gelegt, so dass wir nur die markig-markanten Tugenden<br />
in ihnen sahen? Ist vielleicht der komische Trygaios, ein griechischer<br />
Bauer, der auf einem Käfer sitzt und in den Himmel fliegt, der eigentlich<br />
wahre Held, der mutig Eirene sucht, den Frieden, von dem die Menschen<br />
glaubten, dass es ihn gar nicht mehr gäbe? Lehrt der dramatische Kritiker<br />
Aristophanes uns diesen Blick? Müssen wir künftig neu schauen?<br />
Mit der englischen und deutschen Klassik erging es uns ähnlich. Shakespeares<br />
Macbeth ist zweifellos ein Machtmensch, aber gleichzeitig eine<br />
Todesfigur voll innerer Leere, den der Tod seiner Frau Lady Macbeth<br />
nicht mehr berührt, der voll Angst und Furcht zittert, dass sich die Prophezeiungen<br />
der Hexen negativ erfüllen, wenn der Wald von Dunsinan
Vorwort<br />
11<br />
auf ihn zukommt. Richard III. bei Shakespeare will zum Schluss nur<br />
noch ein Pferd <strong>für</strong> sein Reich, auf dem er fliehen kann. Wie die Belgier<br />
Tom Lanoye und Luk Perceval diese Figur in die Moderne, die Dramenreihe<br />
SCHLACHTEN! transponierten und ihn in einer Mixtur aus hilflosen<br />
Sprachfetzen als gescheiterten Checker darstellen, ist konsequent,<br />
grotesk und niederschmetternd.<br />
Friedrich Schillers berühmte Heldengestalten tauchen auf, auf der<br />
Bühne und in unserem Buch. Hinter der glühenden Kampfansage eines<br />
idealistischen Max Piccolomini aber lässt sich der Sturz der Welt erahnen,<br />
und Franz’ Monolog, der logisch argumentativ das absolute Recht<br />
der Natur befragt, ist so voll Hass, dass seine Intelligenz umschlägt und<br />
sich am Ende gegen sich selbst richtet. In seinem Aufruhr steckt Verzweiflung.<br />
Er ist ein von innen Zerfressener.<br />
Goethes Faust, der Geistesheld: Zeigt nicht der hier vorgestellte Monolog<br />
die Ahnung, dass er nicht vollkommen ist, nicht aus eigener Kraft<br />
lebt, sondern abhängig von seinem Gefährten Mephistopheles sich<br />
selbst erniedrigt? Wird nicht hinter den hoch sich türmenden Gedanken<br />
der Abgrund, das »Nichts« sichtbar? Ist Goethes Faustgestalt wirklich<br />
autonom? Ist er ein Selbstmächtiger?<br />
Es sind verzweifelte, zerrissene Heldengestalten, die wir gefunden ha -<br />
ben – gerade in der deutschen Klassik. Kann es sein, dass die Männlichkeitsideale<br />
dieser ›männlichen‹ Dichter eher in den Frauenfiguren zu finden<br />
sind, in einer Johanna von Orleans, einer Penthesilea als kämpferischer<br />
Amazone, einer Kriemhild als Burgundenkönigin? Ist es denkbar,<br />
dass das Männlichkeitsbild auf die Frauen projiziert und verschoben<br />
wurde, 6 so dass das ›Männliche‹, das Unbedingte, Stolze, Wagemutige,<br />
in der weiblichen Figuren umso ›reiner‹ hervortrat? Jedenfalls ist nicht<br />
zu übersehen, dass in der Hochromantik das dominante <strong>Männer</strong>bild<br />
nicht mehr so stark in den Vordergrund rückte, eher spielerisch leicht<br />
und wunderlich gesehen wurde wie zum Beispiel im Ponce de Leon von<br />
Clemens von Brentano. Bei Heinrich Heine setzt die Figur des Almansor<br />
ihr eigenes Heldenbild der Parodie aus, wenn er, vom Kampfesrausch<br />
besessen, seines Freundes Hand ergreift, um mit seinem Säbel »Spanierschädel«<br />
zu »spalten« und im Liebeswahn brüllt: »Ich bin der Tiger, der<br />
sie [die Geliebte] wild umkrallt / Und wollustbrüllend ihren Leib zerfleischt.«<br />
Da scheint der Ernst einer Rächerfigur ironisch gebrochen, das<br />
Männlichkeitsbild total in Frage gestellt.
12<br />
Vorwort<br />
Täter<br />
In den Parodien, Überzeichnungen, Verwerfungen, Grotesken oder<br />
Zynismen bleiben dennoch Spuren der alten Bilder enthalten. Diese Spuren<br />
haben wir weiter verfolgt und uns wagemutig in die Gegenwart der<br />
zeitgenössischen dramatischen Texte gestürzt. Wir fanden – zu unserem<br />
eigenen Erstaunen – in jungen <strong>Männer</strong>figuren wieder Götterbilder und<br />
Heldensehnsüchte:<br />
Andi, der österreichische Bodybuilder und Bergsteiger in Elfriede Jelineks<br />
Sportstück eifert seinem Vorbild Arnie (Arnold Schwarzenegger)<br />
nach, den er einen »Gott« nennt, einen »Blitz, der durch die eigene Stirn<br />
geht, der äußerste Rand, von dem ein Mann noch abspringen kann«.<br />
Andi selbst aber ist eine traurig-komische Figur, ein »männliches Sterntalermädchen«<br />
7 , wie er sich selbst nennt, der kein Glück bei Frauen hat.<br />
Danny, der englische Irakkrieger in Simon Stephens Motortown, der in<br />
seiner Heimat alles kleinbürgerlich spießig findet, träumt sich hinein in<br />
die Filmheroen und sagt von sich: »Ich bin ein Held! Ich bin ein verdammter<br />
Actionheld! Ich bin John Wayne! Ich bin Sylvester Stallone!<br />
Scheiße, ich bin James Bond!« 8 Er möchte die Welt erlösen und ›erlöst‹<br />
doch nur sich selbst, indem er den Macho spielt und jämmerlich ein<br />
Mädchen tötet.<br />
Stark gibt sich der Soldat Memo, der in Nuran David Calis’ Stück Dogland<br />
als Krieger in der Fremdenlegion war, in seine Heimat zurückkehrt,<br />
seine Freunde aufmischt und seinen Schwiegervater umbringt. Mit dem<br />
Skelett seines toten Vaters zieht er einsam von dannen ins Ungewisse.<br />
Helden sind sie »draußen vor der Tür«, vom Krieg Versehrte, Verletzte,<br />
in der Seele Verwundete. Keine Täter, sondern Gezeichnete. So misslingt<br />
es den jungen männlichen Figuren auch, ihr Heldendasein, von dem sie<br />
träumen, in die Wirklichkeit umzusetzen wie Felix in dem Stück Vaterlos<br />
des jungen Autors Claudius Lünstedt, der aus Wahnsinn und Verzweiflung<br />
ein Feuerleger wird. Träumen tun sie dennoch von einer<br />
Größe, die es nur in den Mythen oder Filmen gibt. In der Wirklichkeit<br />
sind sie »Erniedrigte und Beleidigte«, Opfer von Tätern wie in Thomas<br />
Jonigks gleichnamigem Stück Täter, Missbrauchte, die in ihrem Leben<br />
nicht zurechtkommen und verkrümmt sind. Die Wirklichkeit in diesen<br />
Stücken ist schäbig, die Träume der jungen <strong>Männer</strong>figuren sind heldisch
Vorwort<br />
13<br />
wie die des Heiko G. in Andres Veiels Stück Der Kick, der von dem<br />
Glauben an ein gesäubertes, rein arisches Reich beseelt ist. Es zeichnen<br />
sich, vor allem in den Stücken junger männlicher Autoren, Phantasien<br />
ab, die sich an den alten Geschichten orientieren. Ihre Figuren sind<br />
Extreme – Helden, Krieger, Terroristen oder ›Würmlinge‹, Gebrochene<br />
oder Penner, Ich-Besessene und Gespaltene.<br />
Der schöne Mann<br />
Der Autor Marius von Mayenburg hat ein Stück geschrieben über einen<br />
jungen Elektroingenieur, den die anderen so hässlich finden, dass er sich<br />
umoperieren lässt und eine bewunderte Schönheit wird. Da tun es ihm<br />
die anderen gleich, und nun sehen sie alle aus wie er. Er wundert sich,<br />
wenn er den anderen begegnet, die keine anderen mehr sind, sondern<br />
ihm gleichen. Er stellt die Existenzfrage, die einst Sosias in dem Stück<br />
Amphitryon von Kleist zerrüttete: Wer bin ich? »Diese paranoide Fantasie«,<br />
sagt der Autor Marius von Mayenburg, »hat eine eigenartige Faszination.«<br />
»Die Schönen gleichen sich, die Hässlichen sind speziell, sind<br />
individuell. […] Schönheit ist nichts besonders Individuelles. Wenn man<br />
sich die Fotos von Models ansieht […] sind sie alle ähnlich. Was ist das<br />
Individuelle? Ist es das, was wir außen tragen, oder was wir in uns<br />
haben?« 9 Zum Schluss des Stückes will »der Häßliche« sein Gesicht<br />
zurück, weil alle sein schönes neues Gesicht haben, und komisch verzweifelt<br />
schaut er sein Gesicht im anderen an, streichelt sein Haar, fühlt<br />
seine Haut, erfährt sein Ich: »So fühlt sich das an: Ich«, und die Beidgleichen<br />
sagen zu sich im anderen: »Wie ich dufte«. »Wie ich«. »Und<br />
ich«. »Und ich«. »Und ich«. »Und ich«. »Ich liebe mich«. »Wollen wir<br />
nicht langsam ins Bett gehen«, sagt die Geliebte, »jetzt wo wir reich und<br />
schön sind?« 10 Das ist eine Satire auf die schöne neue Welt, eine Parodie<br />
des schönen neuen Mannes. Narziß, seit Ovid in der abendländischen<br />
Literatur bekannt, der die Jünglinge und Mädchen gleichermaßen verschmäht<br />
und nur sich liebt, gespiegelt in seiner Verdoppelung, geht<br />
gefangen im eigenen Bild in den Tod. In der Moderne erlebt er seit Oscar<br />
Wilde eine poetische Neugestaltung, in der zeitgenössischen Gegenwart<br />
widerfährt ihm eine plastisch-chirurgische Auferstehung als komisch<br />
abgründige Männlichkeitsfigur: »Ich hab mich so gesehnt nach mir […]<br />
Ich kann nicht leben ohne mich […] Ich müsste sterben ohne mich.« Das<br />
ist die Liebe des Menschen/Mannes als unmögliche Liebe. 11
14 Vorwort<br />
Das wahre Geschlecht<br />
Sind sie alle unglücklich, die neuen jungen <strong>Männer</strong> oder liegt der Grund<br />
in dem Bild von dem e i n e n Geschlecht, das das »w a h r e Geschlecht«<br />
sein soll? »Mit einer Beharrlichkeit«, schreibt Michel Foucault, »die an<br />
Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht.<br />
Hartnäckig haben sie diese Frage nach dem ›wahren Geschlecht‹ in einer<br />
Ordnung der Dinge ins Spiel gebracht«. 12 An der Geschichte des Hermaphroditen<br />
Hercules Barbin oder Alexina Barbin zeigt Foucault auf,<br />
wie dieses Wesen an seiner Doppelgeschlechtlichkeit litt, das als Mädchen<br />
aufwuchs und am Ende als »wahrer« Junge erkannt wurde. Das<br />
war zu einer Zeit zwischen 1860 und 1870 »in einer jener Epochen, in<br />
der man die Suche nach der Identität in der Ordnung der Sexualität sehr<br />
intensiv betrieb […] kurz, das Problem von Individuum und Gattung in<br />
der Ordnung der sexuellen Anomalien.« 13<br />
Witzig und komisch hat Johann Nestroy zu dieser Zeit, 1859, eine Theaterfigur<br />
entworfen, in der ein Mann, Joab, als Judith auftritt und dem<br />
Bramarbas Holofernes den Hals abschneidet. Der Kopf des hyperbolischen<br />
männlichen Ungetüms war aus Pappe. Sicher – das Stück ist eine<br />
Komödie, eine Parodie auf Hebbels tragisch-dramatisches Gedicht<br />
Judith. Aber gerade in der Travestie wird der im 19. Jahrhundert naturgesetzlich<br />
begründete und als wesenhaft unüberbrückbar geglaubte<br />
Geschlechterdualismus in Frage gestellt. In Knittelversen wird diese<br />
unumstößliche Gewissheit dem Gelächter preisgegeben.<br />
Anderthalb Jahrhunderte später tritt eine männliche Figur auf der<br />
argentinischen Praça Roosevelt in Buenos Aires in Frauenkleidern auf<br />
und erzählt ihre Geschichte der eigenwilligen Geschlechtsumwandlung<br />
– freimütig und mutig in die Zukunft blickend. Sie erscheint in dem<br />
Stück von Dea Loher, das nach dem berühmten Platz benannt ist. Sie<br />
heißt Aurora. Aurora ist die Morgenröte. Vielleicht verkündet sie von<br />
einem Morgen, in dem sich Foucaults kritische Frage erübrigt: »Brauchen<br />
wir wirklich ein wahres Geschlecht« 14 , in dem die »ganze Wahrheit<br />
über uns selbst« enthalten ist, »die heimlich in ihm wacht«? 15<br />
Vielleicht vermag es das Theaterspiel der jungen Darsteller, diese scheinbar<br />
ungetrübten, unumstößlichen »Wahrheiten« ins Spiel zu bringen,<br />
ihnen ein irisierendes Flair zu geben. Vielleicht eröffnen die neuen <strong>Männer</strong>bilder<br />
Denk- und Ge fühlsräume, die es den Schauspielern ermög-
Vorwort<br />
15<br />
lichen, sie differenziert, nuanciert, ge fühlsbetont und auch<br />
lustig umzusetzen. Sie sind nicht nur negativ aufzufassen, sondern<br />
eröffnen, dessen sind wir gewiss, neue Freiheiten und<br />
Spielmöglichkeiten.<br />
Wie den weiblichen Kolleginnen, den Schauspielerinnen, wünschen<br />
wir den männlichen Darstellern Mut und Glück und<br />
sagen toi toi toi.<br />
Anke Roeder<br />
und das Team<br />
1 Gisela von Wysocki: Die Berge und die Patriarchen. Leni Riefenstahl. In: Dies.: Die Fröste<br />
der Freiheit. Aufbruchphantasien. Frankfurt am Main: Syndikat 1980, S. 70 f.<br />
2 Ebd. S. 71 f.<br />
3 Anke Roeder (Hg.): Autorinnen. Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main:<br />
Suhrkamp 1989, S. 138 (es 1673)<br />
4 Ebd. S. 136<br />
5 Elfriede Jelinek: Krankheit oder Moderne Frauen. Köln: Prometh Verlag 1987<br />
6 Siehe Vorwort zu: Anke Roeder (Hg.): <strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> Frauen. Berlin: Henschel Verlag<br />
2006, S. 12<br />
7 Vgl. Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 89 und S.<br />
91<br />
8 In: Theater heute 1/07, S. 56<br />
9 Die japanische Lösung. Marius von Mayenburg über sein neues Stück »Der Häßliche« in<br />
einem Gespräch mit Franz Wille. In: Theater heute 4/07, S. 48<br />
10 Ebd. S. 57<br />
11 Vgl. Julia Kristeva: Narziß. Die neue Dementia. In: Dies.: Geschichten von der Liebe. Aus<br />
dem Französischen von Dieter Hornig und Wolfram Bayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />
1989 (es 1482), S. 102–133<br />
12 Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Herausgegeben von Wolfgang<br />
Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (es 1733), S. 7<br />
13 Ebd. S. 12<br />
14 Ebd. S. 7<br />
15 Ebd. S. 11
<strong>55</strong><br />
<strong>Monologe</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Männer</strong>
18 Antike<br />
Aischylos (525/4–456 v. Chr.)<br />
Die Orestie<br />
Uraufführung: 458 v. Chr.<br />
1 Orestes<br />
Szene: 2. Teil der Trilogie: Choephoren<br />
Ort: Vor dem Königspalast in Mykene<br />
Ein Fluch lastet auf dem Herrscherhaus von Mykene. Die Orestie erzählt von seinen verheerenden<br />
Auswirkungen. Das Werk des Aischylos ist die einzige erhaltene Trilogie der griechischen<br />
Antike. Die drei Stücke – Agamemnon, Choephoren und Eumeniden – wurden an einem Tag im<br />
Rahmen der Dionysien zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt; den Abschluss bildete das<br />
(nicht überlieferte) Satyrspiel Proteus.<br />
König Agamemnon kehrt im ersten Teil aus dem Trojanischen Krieg zurück. Seine Gattin Klytaimestra<br />
empfängt ihn aber nicht mit offenen Armen, denn Agamemnon hat die gemeinsame<br />
Tochter Iphigenie auf dem Altar Artemis geopfert, um mit der griechischen Flotte nach<br />
Troja überzusetzen und dort auf Zeus’ Geheiß zu kämpfen. Zusammen mit ihrem Liebhaber<br />
Aigisthos tötet Klytaimestra den Feldherrn. Aber das vergossene Blut des Königs fordert das<br />
Blut Klytaimestras.<br />
Den Vater zu rächen, die Mutter zu morden kommt Orestes in die Heimat. Erynien, Rachegöttinnen,<br />
treiben ihn zum Muttermord, sowie der Gott Apollon (Loxias), der mit furchtbaren<br />
Krankheiten droht, sollte er seiner Pflicht nicht nachkommen. Er ist zum Mord gezwungen, wie<br />
auch sein Vater die Tochter töten musste, die Mutter den Gatten. Auch er macht sich schuldig.<br />
Das Blut Klytaimestras schreit nach Rache.<br />
Im dritten Teil der Orestie flüchtet Orestes nach Delphi zu Apollon und weiter nach Athen.<br />
Dort fleht er zur Göttin der Stadt. Athene beruft ein Gericht ein, das über Orestes urteilen soll.<br />
Fünf Bürger entscheiden sich <strong>für</strong>, fünf gegen Orestes. Die entscheidende elfte Stimme gebührt<br />
Athene selbst. Sie votiert <strong>für</strong> den Angeklagten. Das System der Blutrache ist durch das Rechtssystem<br />
Athens ersetzt. Die Erynien bekommen eine neue Aufgabe; als Eumeniden, Schutzgöttinnen,<br />
behüten sie die Polis.<br />
Eindringlich legt Orestes am Ende des zweiten Teils die Notwendigkeit seiner Tat dar; er<br />
rechtfertigt den Mord und ist sich gleichzeitig seiner Schuld bewusst. Nahe am Wahnsinn<br />
sieht Orestes Erynien. Sie jagen den Muttermörder.<br />
ORESTES<br />
Jetzt steh ich hier,<br />
jetzt lob ich mich,<br />
jetzt jammere ich,<br />
[…]<br />
bedaure ich die Tat,<br />
das Leiden und mein ganzes Geschlecht,<br />
denn nicht beneidenswert<br />
ist die Befleckung,<br />
die ich durch diesen Sieg erlitt.<br />
[…]<br />
Doch hört und wißt –
Antike<br />
19<br />
denn ich weiß nicht,<br />
wo das noch enden wird.<br />
Wie zügellose Rosse<br />
rennen die Gedanken aus der Bahn<br />
und schleifen mich Besiegten<br />
unbändig mit sich fort.<br />
Vor meinem Herzen hockt die Furcht<br />
und singt ein böses Lied,<br />
mein Herz will danach tanzen.<br />
Solange ich noch bei Sinnen bin,<br />
verkünde ich all meinen Freunden laut<br />
und sage:<br />
Nicht ohne Recht<br />
schlug ich die Mutter tot,<br />
die mir den Vater tötete,<br />
die Befleckung,<br />
den Abscheu und den Haß der Götter!<br />
Aufgereizt und bezaubert<br />
hat mir den Mut dazu<br />
vor allem Loxias und sein Seherspruch,<br />
der mir verhieß, ich bliebe frei von Schuld,<br />
wenn ich dies hier verbrächte;<br />
doch wenn nicht –<br />
die Strafe will ich gar nicht nennen,<br />
kein Pfeil erreicht die Höhe dieser Qualen.<br />
Und so seht mich jetzt an:<br />
Ich bin bereit,<br />
mit diesem wollumwundenen Ölzweig<br />
nach Delphi zu ziehen, zum Erdennabel,<br />
zum Heiligtum und Sitz Apollons,<br />
zum Licht des Feuers,<br />
das, wie es heißt, niemals erlischt,<br />
als Flüchtling<br />
vor dem Blut der Blutsverwandten.<br />
Zu keinem Herd darf ich mich wenden,<br />
so hat es Loxias befohlen.<br />
Allen Argivern trage ich auf,<br />
nicht zu vergessen,<br />
wie dies Unheil hier geschah,<br />
und <strong>für</strong> mich Zeugnis abzulegen,
20 Antike<br />
wenn Menelaos einst nach Hause kommt.<br />
Ich aber irre umher,<br />
verbannt aus diesem Land,<br />
und bleibe im Leben und im Tod verrufen.<br />
[…]<br />
Ach, ach,<br />
was sind das <strong>für</strong> Frauen,<br />
seht, wie Gorgonen,<br />
da, da –<br />
in schwärzlichen Gewändern,<br />
dicht von Schlangen umringelt –<br />
ich kann nicht länger bleiben.<br />
[…]<br />
Herrscher Apollon hilf –<br />
da, es werden immer mehr!<br />
Aus ihren Augen tropft verhaßtes Blut!<br />
[…]<br />
Ihr seht sie nicht, doch ich sehe sie.<br />
Es jagt mich fort,<br />
ich kann nicht länger bleiben.<br />
2 Aias<br />
Sophokles (496–406 v. Chr.)<br />
Aias<br />
Uraufführung: ca. 450 v. Chr.<br />
Szene: Monodie des Aias (V. 815–865)<br />
Ort: Einsame Gegend am Strand<br />
Aias ist wahrscheinlich die erste der uns erhaltenen Tragödien des Sophokles. Sie handelt vom<br />
Schicksal des griechischen Kämpfers Aias im trojanischen Krieg und berichtet von seiner<br />
Wahnsinnstat.<br />
Nach dem Tod des Achill begann ein Streit um seine Waffen. Aias als starker Krieger und Verwandter<br />
des Achill beansprucht sie <strong>für</strong> sich, die beiden Heerführer Agamemnon und Menelaos<br />
jedoch sprechen sie Odysseus zu. Daraufhin sinnt Aias auf Rache. Er, der ein »Riese an Kraft«<br />
ist (V. 205), will die griechischen Heerführer ermorden. Die Göttin Athene, die Beschützerin des<br />
Odysseus, verhindert jedoch das Blutbad, indem sie Aias mit Wahnsinn schlägt und einen<br />
Schleier um seine Augen legt. Anstelle der griechischen Helden erschlägt er das Herdenvieh.<br />
Aias »schlachtete drin sie teils an der Erd’ / oder spaltete ihnen die Rippen durch, / griff zwei<br />
weißfüßige Widder heraus, / schnitt einem das Haupt und die Zunge ab / und schleudert sie<br />
weg, den andern knüpft / er am Pfosten empor / und nimmt einen ledernen Zügel vom Pferd,<br />
/ schlägt zu mit dem Knall des doppelten Riems / und höhnt mit Schmähungen, die ein Gott /<br />
ihm eingab, keiner der Menschen.« (V. 235–244) Nach langsamem Erwachen packt Aias <strong>für</strong>ch-
Antike<br />
21<br />
terliche Verzweiflung über seine Tat, und unter dem Vorwand, sich an einem abgelegenen Ort<br />
reinigen zu wollen, geht er mit dem Schwert ans Meer.<br />
In seinem letzten bewegenden Monolog bittet er Zeus, sein Halbbruder Teukros möge seinen<br />
Körper bewahren, dass er nicht den Vögeln zum Fraß vorgeworfen werde. Er weiß nicht,<br />
dass nach seinem Tod – im zweiten Teil der Tragödie – Odysseus dem Begräbnis seiner Leiche<br />
zustimmen wird. In höchster Not ruft Aias die Himmels- und Totengötter an. Die Monodie des<br />
Aias, die – ganz ungewöhnlich in der griechischen Tragödie – den Protagonisten einsam ohne<br />
Chor in der Orchestra zeigt, ist einer der berührendsten Klagegesänge der Antike mit dem<br />
unwiderruflichen Ende des Todes.<br />
AIAS<br />
befestigt hinter einem Busch sein Schwert mit dem Griff im Erdboden.<br />
Da steht der Mörder so, dass er aufs sicherste<br />
mich trifft, – sofern man Muße, drauf zu achten, hat –,<br />
Geschenk des Mannes Hektor, des verhaßtesten<br />
unter den Fremden mir, zuwider meinem Blick.<br />
Fest steckt er in der Troas hier, im Feindesland,<br />
am Wetzstein frisch geschliffen, der das Eisen schärft.<br />
Gut hergerichtet hab’ ich ihn und eingebohrt;<br />
so hilft er bestens diesem Mann zum raschen Tod.<br />
Nun sind wir wohlbereitet. Stehe du nunmehr,<br />
o Zeus, vor allen, wie es billig ist, mir bei!<br />
Doch fleh’ ich dich um keine große Gnade an.<br />
Schick’ mit der schlimmen Nachricht einen Boten doch<br />
an Teukros, daß er mich als erster hebt empor,<br />
wenn ich nun falle durch dies blutbenetzte Schwert,<br />
daß keiner von den Feinden vorher mich erspäht,<br />
mich Hunden oder Vögeln wirft zum Fraße vor.<br />
Um dies laß mich dich anflehn, Zeus; doch ruf’ ich auch<br />
den Totenführer Hermes, daß er Frieden mir<br />
gewährt, wenn ich entschlossen und mit raschem Sprung<br />
durchbohre meinen Leib mit dieser Klinge hier.<br />
Um Beistand ruf’ ich auch die ewigen Jungfraun an,<br />
die immer alles Leid der Sterblichen erspähn,<br />
die hehren, weit ausschreitenden Erinyen, daß<br />
sie sehn, wie ich durch die Atriden untergeh’.<br />
Ihr raschen Rächerinnen, ihr Erinyen, kommt,<br />
ersättigt euch am ganzen Heer und schont es nicht!<br />
Doch du, der hoch am Himmel hin im Wagen fährt,<br />
Helios, wenn du meiner Heimat Erde schaust,<br />
so ziehe deinen goldgezierten Zügel an<br />
und tue meine Greuel, meinen Untergang
22 Antike<br />
dem alten Vater, der unseligen Mutter kund!<br />
Die arme Frau, sobald sie diese Nachricht hört,<br />
erfüllt mit lautem Jammer wohl die ganze Stadt.<br />
Doch dies vergebens zu beklagen hilft ja nichts;<br />
vielmehr zu handeln gilt es so, daß es gelingt.<br />
O Tod, o Tod, nun komm, wirf einen Blick auf mich!<br />
Doch erst, wenn ich dort unten bin, begrüß’ ich dich.<br />
Dich aber, lichter Tagesglanz, der heut erstrahlt,<br />
und Helios, den Wagenlenker, ruf’ ich an<br />
zum allerletzten Mal und künftig niemals mehr.<br />
O Licht! O heimatlichen Bodens heilig Land<br />
Salamis, Wohnsitz du des väterlichen Herds!<br />
Athen, ruhmreiches, mit dem stammverwandten Volk!<br />
Ihr Quellen und ihr Flüsse hier, du, troisches<br />
Gefild! Euch ruf’ ich zu: lebt wohl! Aias, den ihr<br />
umhegtet, nährtet, sagt euch jetzt sein letztes Wort.<br />
Das andre sag’ ich denen dort in Hades’ Reich.<br />
Er stürzt sich im Gebüsch in das aufgestellte Schwert.<br />
Euripides (485–406 v. Chr.)<br />
Alkestis<br />
Uraufführung: 438 v. Chr.<br />
3 Herakles<br />
Szene: 4. Epeisodion (V. 773–802)<br />
Ort: Palast des Königs Admetos in Thessalien<br />
Alkestis wurde 438 v. Chr. aufgeführt – an der Stelle eines Satyrspiels, das üblicherweise die Trilogie<br />
der Tragödien als komisch-groteskes Nachspiel beendet. Das mag darin begründet sein,<br />
dass das mit einem Schicksalsschlag einsetzende euripideische Drama glücklich endet – die<br />
Liebenden werden wieder vereint. Das mag auch an dem burlesken Auftritt der Figur des trunkenen<br />
Herakles liegen.<br />
Das Stück beginnt an dem Tag, an dem Alkestis sterben soll. Sie hat sich bereit erklärt, <strong>für</strong><br />
ihren geliebten Gatten Admetos, dessen Tod die Schicksalsgöttinnen beschlossen hatten, ihr<br />
Leben zu opfern. Die Dienerin berichtet von den letzten Handlungen der Königin, bevor sie<br />
selbst auf der Skene erscheint und sterbend von ihren Kindern und ihrem Gemahl Abschied<br />
nimmt. Die Bürger stimmen eine ergreifende Totenklage an.<br />
Da torkelt Herakles herein. Er weiß nicht, dass Alkestis zu Grabe getragen wird, sondern vermutet,<br />
es sei eine fremde Frau. Das Gastrecht, das Admetos heilig hält, gebietet, jeden, sei er<br />
Fremder oder Freund, trotz der Trauerfeierlichkeiten aufzunehmen. Klageton und Weinseligkeit<br />
stoßen in dieser Szene prall aufeinander. Ein Diener berichtet empört, wie der Gast unmäßig<br />
isst, den Epheukelch umfasst, Wein trinkt, das Haupt mit Myrtenzweigen bedeckt und Lieder<br />
singt, nein »brüllt«! Der Empörung des Dieners entgegnet Herakles gebieterisch-trunken,
Antike<br />
23<br />
heiter-ernst mit einer Rede, die das Leben im Jetzt preist, da das Leben als Ganzes dem Menschen<br />
nicht gehört und ihm jederzeit entrissen werden kann.<br />
Die hier abgedruckte Passage, in der das Leben freudig besungen wird, ist ein humoresker<br />
Kontrapunkt zum tragischen Geschehen. So liegt es in der Poetologie des Dramas begründet,<br />
dass Herakles, als er den wahren Grund der Trauer erfährt, Alkestis den Armen des Thanatos<br />
entreißt, die Sterbende dem Leben zurückgibt und Admetos beglückt. Nur er, der selbst ein<br />
Halbgott ist, weiß, daß »die Götter vollenden, was keiner geahnt. / Wovon wir geträumt, das<br />
verwirklicht sich nicht. / Was unmöglich uns schien, das ist möglich <strong>für</strong> Gott« (V. 1160–1163)<br />
Euripides’ Drama ist ein Theaterwunder des Unwahrscheinlichen.<br />
HERAKLES<br />
kommt trunken aus dem Gastgemach, bekränzt, einen Becher in der Hand<br />
Was soll die ernste, sorgenvolle Miene?<br />
Nicht mürrisch soll die Dienerschaft den Gästen<br />
Begegnen, sondern freundlich sie empfangen.<br />
Du aber zeigst dem Freunde deines Herrn<br />
Ein saures Antlitz mit verkniff’nen Brauen<br />
Und scheinst um jenes fremde Weib zu trauern.<br />
Komm einmal her! Ich will dich Weisheit lehren.<br />
Hast du dem Menschenlos je nachgesonnen?<br />
Wahrscheinlich nicht. Wie solltest du? drum höre:<br />
Kein Mensch auf Erden kann dem Tod entrinnen<br />
Und keinen gibt es, welcher sicher weiß,<br />
Ob er am nächsten Tag am Leben bleibt.<br />
Des Zufalls Wege sind uns unbekannt,<br />
Sie zu berechnen lehrt uns keine Kunst.<br />
Drum, wenn du recht begreifst, was ich dich lehre,<br />
Genieße, zeche; wisse: nur das Heute<br />
Ist dein, sonst alles Zufalls Habe.<br />
Am meisten Freude bringt den Sterblichen<br />
Der Kypris Dienst. Die meint es gut mit uns.<br />
Sonst kümmre dich um nichts und tu, wie ich<br />
Gesagt. Du siehst ja selbst, ich habe Recht.<br />
Nicht wahr? Fort mit dem Übermaß des Kummers!<br />
Zeche mit mir, dem Mißgeschick zum Trotz,<br />
Bekränzten Hauptes! Und ich bin gewiß,<br />
Daß von dem finstern und versunk’nen Wesen<br />
Des Bechers Kreisen dich kurieren wird.<br />
Wer sterblich ist, soll auch sich sterblich fühlen.<br />
Denn wer versucht, das Leben ernst zu nehmen,<br />
Für den ist es, wenn du mir glauben willst,<br />
Mehr Sorg’ und Kümmernis, als wahres Leben.
Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />
141<br />
Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />
Autor Stück Rolle Seite<br />
Aischylos Die Orestie Orestes 18<br />
Aristophanes Der Friede Trygaios 24<br />
Bärfuss, Lukas Die Probe Franzeck 126<br />
Beaumarchais, Pierre<br />
Augustin Caron de Der tolle Tag Figaro 39<br />
Biller, Maxim Kühltransport Khai 110<br />
Blumenthal, Oskar;<br />
Kadelburg, Gustav Im weißen Rößl Leopold 36<br />
Brentano, Clemens von Ponce de Leon Ponce 45<br />
Calis, Nuran David Dogland Memo 122<br />
Crimp, Martin Angriffe auf Anne 77<br />
Dorst, Tankred Ich, Feuerbach Feuerbach 96<br />
Euripides Alkestis Herakles 22<br />
Fassbinder, Rainer Werner Tropfen auf heiße Steine Franz 91<br />
Goethe, Johann Wolfgang von Faust. Der Tragödie erster Teil Faust 46<br />
Goethe, Johann Wolfgang von Faust. Der Tragödie zweiter Teil Mephistopheles 48<br />
Goetz, Rainald Jeff Koons 109<br />
Handke, Peter Das Spiel vom Fragen Parzival 98<br />
Heckmanns, Martin Finnisch Ein Junger Mann 103<br />
Heine, Heinrich Almansor Almansor 50<br />
Hofmannsthal, Hugo von Alkestis Admet 58<br />
Hölderlin, Friedrich Der Tod des Empedokles Empedokles 43<br />
Ibsen, Henrik Peer Gynt Peer Gynt 56<br />
Ionesco, Eugène Die Nashörner Behringer 66<br />
Jelinek, Elfriede Ein Sportstück Andi 101
142<br />
Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />
Autor Stück Rolle Seite<br />
Jonigk, Thomas Täter Paul 107<br />
Kelly, Dennis Schutt Michael 82<br />
Koltès, Bernard-Marie Sallinger Leslie 68<br />
Lagarce, Jean-Luc Die Reise nach Den Haag 69<br />
Lanoye, Tom; Perceval, Luk SCHLACHTEN! Dirty Rich 71<br />
Loher, Dea Das Leben auf der Praça Roosevelt Aurora 115<br />
Lünstedt, Claudius Vaterlos Felix 114<br />
Marlowe, Christopher Eduard der Zweite Gaveston 25<br />
Mayenburg, Marius von Der Häßliche Lette 123<br />
Molière Don Juan Pierrot 36<br />
Müller, Heiner Der Auftrag 92<br />
Musset, Alfred de Lorenzaccio Lorenzo 52<br />
Nestroy, Johann Judith und Holofernes Joab 53<br />
Norén, Lars Kälte Anders 75<br />
Racine, Jean Iphigenie in Aulis Agamemnon 37<br />
Richter, Falk Electronic City Tom 112<br />
Rostand, Edmond Cyrano von Bergerac Cyrano 61<br />
Sbrljanović, Biljana God save America Daniel 73<br />
Schiller, Friedrich Die Räuber Franz 40<br />
Schiller, Friedrich Die Piccolomini Max 42<br />
Shakespeare, William Ein Sommernachtstraum Zettel 27<br />
Shakespeare, William Macbeth Macbeth 29<br />
Sophokles Aias Aias 20<br />
Stephens, Simon Motortown Danny 85<br />
Strauß, Botho Das Gleichgewicht Markus Groth 100<br />
Syha, Ulrike Fremdenzimmer I-III Hugo 117
Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />
143<br />
Autor Stück Rolle Seite<br />
Tschechow, Anton Die Möwe Konstantín 60<br />
Veiel, Andres; Schmidt, Gesine Der Kick Heiko G. 120<br />
Walker, George F. Loretta! Michael 88<br />
Walser, Robert Die »Felix«-Szenen Felix 64<br />
Walsh, Enda Bedbound Papa 80
144<br />
Über die Herausgeberin<br />
Anke Roeder<br />
Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin. Professorin <strong>für</strong> Dramaturgie an der<br />
Ludwig-Maximilians-Universität und der Bayerischen Theaterakademie.<br />
Veröffentlichungen: Die Gebärde im Drama des Mittelalters, München:<br />
C. H. Beck 1974, Autorinnen. Herausforderungen an das Theater, Frankfurt am<br />
Main: Suhrkamp 1989 (st 1673); gemeinsam mit Sven Ricklefs: Junge Regis seure,<br />
Frankfurt am Main: Fischer 1994 (Regie im Theater); gemeinsam mit C. Bernd<br />
Sucher: Radikal jung, Regisseure, Berlin: Theater der Zeit 2005 (Recherchen 25),<br />
(Hg.) <strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> Frauen. Zum Vorsprechen, Studieren und Kennenlernen.<br />
Berlin: Henschel 2006.<br />
Beiträge und Essays in Fachzeitschriften und Büchern über zeitgenössische Autorinnen<br />
und Autoren und über neue Theaterästhetiken.
Von Aischylos bis Bärfuss – <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />
<strong>für</strong> Rollenarbeit, Aufnahmeprüfung und Vorsprechen<br />
<strong>55</strong> ausgewählte Texte <strong>für</strong> junge Schauspieler<br />
Mit einleitenden Kommentaren zur schnellen<br />
Orientierung über Stück und Situation<br />
Mit einem umfangreichen Verzeichnis weiterer<br />
Rollenvorschläge<br />
»Ob der Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt,<br />
das ist Zufall.« Georg Büchner, Dantons Tod<br />
ISBN 978-3-89487-564-0<br />
www.henschel-verlag.de