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55 Monologe für Männer

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Anke Roeder <strong>55</strong><br />

MONOLOGE<br />

<strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />

Zum Vorsprechen, Studieren<br />

und Kennenlernen<br />

H E N S C H E L


<strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong>


<strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />

Zum Vorsprechen, Studieren<br />

und Kennenlernen<br />

Herausgegeben von Anke Roeder<br />

Unter Mitarbeit von Josef Bairlein, Franziska<br />

Betz, Katharina Denk, Matthias Hoffmann, Luisa<br />

Lazarovici und Hannah Schwegler<br />

HENSCHEL


www.henschel-verlag.de<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies<br />

gilt auch <strong>für</strong> Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und <strong>für</strong> die Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Der Verlag behält sich das Text- und Data-Mining nach § 44bUrhG vor, was<br />

hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlages untersagt ist.<br />

Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. Die<br />

Originaltexte und Übersetzungen sind in der überlieferten Schreibweise<br />

beibehalten.<br />

ISBN 978-3-89487-564-0<br />

© 2007, 2024 Henschel Verlag<br />

in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig<br />

Umschlaggestaltung: Ingo Scheffler, Berlin<br />

Titelbild: Sven Lehmann in einer Szene aus König Ödipus, Regie: Hans<br />

Neuenfels, Deutsches Theater Berlin 2003, © ullstein – Will<br />

Lektorat: Nicole Gronemeyer, Josef Bairlein<br />

Gestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Berlin<br />

Druck und Bindung: MultiPrint Ltd.<br />

Printed in the EU


5<br />

Inhalt<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Antike<br />

Aischylos · Die Orestie · Orestes . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Sophokles · Aias · Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Euripides · Alkestis · Herakles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Aristophanes · Der Friede · Trygaios . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Elisabethanisches Zeitalter<br />

Christopher Marlowe · Eduard der Zweite · Gaveston . . . . . . . . 25<br />

William Shakespeare · Ein Sommernachtstraum · Zettel . . . . . . 27<br />

William Shakespeare · Macbeth · Macbeth . . . . . . . . . . . . 29<br />

Barock<br />

Pedro Calderón de la Barca · Das Leben ist ein Traum · Sigismund . . 31<br />

Pierre Corneille · Der Cid · Don Rodrigo . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

Molière · Don Juan · Pierrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />

Jean Racine · Iphigenie in Aulis · Agamemnon . . . . . . . . . . . 37<br />

Pierre Augustin Caron de Beaumarchais · Der tolle Tag · Figaro . . . 39<br />

Ausgehendes 18. und 19. Jahrhundert<br />

Friedrich Schiller · Die Räuber · Franz . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

Friedrich Schiller · Die Piccolomini · Max . . . . . . . . . . . . . 42<br />

Friedrich Hölderlin · Der Tod des Empedokles · Empedokles . . . . . 43<br />

Clemens von Brentano · Ponce de Leon · Ponce . . . . . . . . . . . 45<br />

Johann Wolfgang von Goethe · Faust. Der Tragödie erster Teil · Faust 46<br />

Johann Wolfgang von Goethe · Faust. Der Tragödie zweiter Teil ·<br />

Mephistopheles 48<br />

Heinrich Heine · Almansor · Almansor . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

Alfred de Musset · Lorenzaccio · Lorenzo . . . . . . . . . . . . . 52<br />

Johann Nestroy · Judith und Holofernes · Joab . . . . . . . . . . . 53


6<br />

Jahrhundertwende bis 1950<br />

Henrik Ibsen · Peer Gynt · Peer Gynt . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

Hugo von Hofmannsthal · Alkestis · Admet . . . . . . . . . . . . 58<br />

Anton Tschechow · Die Möwe · Konstantín . . . . . . . . . . . . 60<br />

Edmond Rostand · Cyrano von Bergerac · Cyrano . . . . . . . . . 61<br />

Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg · Im weißen Rößl · Leopold 63<br />

Robert Walser · Die »Felix«-Szenen · Felix . . . . . . . . . . . . . 64<br />

Ab 1950<br />

Frankreich<br />

Eugène Ionesco · Die Nashörner · Behringer . . . . . . . . . . . . 66<br />

Bernard-Marie Koltès · Sallinger · Leslie . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

Jean-Luc Lagarce · Die Reise nach Den Haag . . . . . . . . . . . 69<br />

Belgien<br />

Tom Lanoye und Luk Perceval · SCHLACHTEN! · Dirty Rich . . . . . 71<br />

Serbien<br />

Biljana Sbrljanović · God save America · Daniel . . . . . . . . . . 73<br />

Schweden<br />

Lars Norén · Kälte · Anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Großbritannien<br />

Martin Crimp · Angriffe auf Anne . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />

Enda Walsh · Bedbound · Papa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />

Dennis Kelly · Schutt · Michael . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />

Simon Stephens · Motortown · Danny . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

Nordamerika<br />

George F. Walker · Loretta! · Michael . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

Deutschsprachiger Raum<br />

Rainer Werner Fassbinder · Tropfen auf heiße Steine · Franz . . . . . 91<br />

Heiner Müller · Der Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

Tankred Dorst · Ich, Feuerbach · Feuerbach . . . . . . . . . . . . 96<br />

Peter Handke · Das Spiel vom Fragen · Parzival . . . . . . . . . . 98<br />

Botho Strauß · Das Gleichgewicht · Markus Groth . . . . . . . . . . 100<br />

Elfriede Jelinek · Ein Sportstück · Andi . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

Martin Heckmanns · Finnisch · Ein Junger Mann . . . . . . . . . . . 103


7<br />

Thomas Jonigk · Täter · Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

Rainald Goetz · Jeff Koons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

Maxim Biller · Kühltransport · Khai . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />

Falk Richter · Electronic City · Tom . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />

Claudius Lünstedt · Vaterlos · Felix . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />

Dea Loher · Das Leben auf der Praça Roosevelt · Aurora . . . . . . 115<br />

Ulrike Syha · Fremdenzimmer I-III · Hugo . . . . . . . . . . . . . 117<br />

Andres Veiel und Gesine Schmidt · Der Kick · Heiko G. . . . . . . . 120<br />

Nuran David Calis · Dogland · Memo . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />

Marius von Mayenburg · Der Häßliche · Lette . . . . . . . . . . . 123<br />

Lukas Bärfuss · Die Probe · Franzeck . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

Weitere Rollenvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

Inhaltsverzeichnis nach Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />

Über die Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144<br />

Die <strong>Monologe</strong> sind innerhalb der einzelnen Kapitel nach Entstehungs- bzw.<br />

Uraufführungsdatum geordnet.


9<br />

Vorwort<br />

<strong>Männer</strong><br />

<strong>Männer</strong>, richtige <strong>Männer</strong>, das sind solche, die etwas ›machen‹, anpacken,<br />

schaffen, die stark sind, tüchtig, mutig, stolz, die kämpfen, verteidigen,<br />

beschützen, die etwas wagen, ihr Leben riskieren, unbedingt<br />

sind – <strong>Männer</strong>, das sind Helden. In diesem Sinne geistern die Bilder<br />

durch viele Köpfe von <strong>Männer</strong>n und Frauen, dargestellt in der theoretischen<br />

und belletristischen Literatur. »Der Mann entfernt sich immer<br />

weiter, dorthin, wo die größte Macht sein könnte«, schreibt die an Jacques<br />

Lacan geschulte französische Feministin Luce Irigaray in ihrem<br />

Buch Speculum, er »wird so zur ›Sonne‹, als ob er es wäre, um den sich<br />

die Dinge drehen.« Und dieses Bild sieht die Autorin Gisela von Wysocki<br />

konkret dargestellt in Leni Riefenstahls Olympia-Film, wenn aus den<br />

steinernen Tempeln der Akropolis, »aus dem Körper des weiß belichteten<br />

Gottes« in einer Überblendung »sich der Olympia-Kämpfer löst« 1 .<br />

Leni Riefenstahls Bilder, fährt die Autorin fort, »gehörten nicht dem<br />

eigenen Geschlecht; nicht der eigenen Geschichte brachten sie Licht. Ihr<br />

Standort war der vor der Olympia-Rampe des männlichen Kampfes. Sie<br />

stellte sich ihm gegenüber, hängte ihm Spiegel hin, deutete sein Geschehen<br />

und machte es zu ihrem Selbst.« 2<br />

Die Bilder sind präsent und setzen sich in der Phantasie fort. Rollenbilder,<br />

männliche und weibliche, tragen wir länger mit uns herum als unsere<br />

eigene Biographie, sagt Gisela von Wysocki in einem Gespräch. Sie<br />

prägen unser Leben als gelebtes Leben. Dieses »Spiel der Mythisierungen«<br />

3 müssen wir durchlaufen, um frei zu werden. Durch Erkenntnis<br />

kann man sich von den Bildern lösen, »um Platz zu schaffen <strong>für</strong> eine<br />

andere Wahrnehmung, ein anderes Schauen, <strong>für</strong> den Entwurf eines<br />

anderen Selbstbildes« 4 . Das gilt <strong>für</strong> Frauen und <strong>Männer</strong>.<br />

Dagegen setzte Elfriede Jelinek in ihrem ersten Stück Krankheit oder<br />

Moderne Frauen, das sie berühmt machte, karikierend Figuren, indem<br />

sie mit diesem <strong>Männer</strong>bild spielt und den Protagonisten Benno Hundekoffer<br />

sagen lässt: »Ich zahle.« »Ich spreche.« »Ich bin Ich.« »Ich bin


10<br />

Vorwort<br />

das Maß. Ich bin das Muß.« »Bei mir ist die Frau Patientin und sonst<br />

nichts.« Zum Schluss lässt sie den Mann röchelnd, hechelnd, keuchend<br />

mit dem Gewehr durch die Heide kriechen. 5 Selbst in ihrem neuen Stück,<br />

dem ›Königinnendrama‹ Ulrike Maria Stuart, in dem die Frauen zu Protagonistinnen<br />

und Handlungsmächtigen geworden sind, kreisen sie<br />

inmitten des politischen Kampfes um den Einen, den Mann und Geliebten.<br />

»Bei de wolln wir einen von den Räubern küssen, aber nur einer<br />

nimmt den Kuß entgegen. Andreas.« Wieder steht im Zentrum ein<br />

Mann, den die Autorin als »Baby«-Helden karikiert, und die Autoren,<br />

denen Elfriede Jelinek Worte oder Sätze entlehnt, nennt sie parodistisch<br />

»Die Götter: Schiller, Shakespeare, Büchner, Marx«.<br />

Götter, Helden und Heroen<br />

Wir gingen auf die Suche nach den großen <strong>Männer</strong>n. In den Stücken der<br />

Antike und französischen Klassik fanden wir sie, die Götter und Helden:<br />

Agamemnon, Heerführer der Griechen im Krieg gegen Troja; Aias, ein<br />

großer Kämpfer im trojanischen Krieg; Orest, der den Mord an seinem<br />

Vater Agamemnon rächt; und Herakles, Sohn von Zeus, der Riesen und<br />

Drachen überwältigt und ein Halbgott ist, der zwölf Taten vollbringt,<br />

die die menschliche Kraft übersteigen und Prometheus von den Fesseln<br />

am Felsen löst. Doch wie fanden wir den Halbgott vor? Trunken, hedonistisch,<br />

torkelnd. Und die anderen? Reflektierend, zerrissen, vom Wahn<br />

befallen, sich ins Schwert stürzend oder auf der Flucht. Ist es unsere neue<br />

Sicht, die uns die Texte anders lesen lässt? Oder haben bereits die alten<br />

Dichter mehr Abgründigkeiten in den männlichen Personen versteckt, als<br />

wir glaubten und erst jetzt entdecken? Sind unsere Bilder von männlichen<br />

Helden falsch? Haben sich im Laufe der Jahrhunderte Klischees über ihre<br />

wahre Personen gelegt, so dass wir nur die markig-markanten Tugenden<br />

in ihnen sahen? Ist vielleicht der komische Trygaios, ein griechischer<br />

Bauer, der auf einem Käfer sitzt und in den Himmel fliegt, der eigentlich<br />

wahre Held, der mutig Eirene sucht, den Frieden, von dem die Menschen<br />

glaubten, dass es ihn gar nicht mehr gäbe? Lehrt der dramatische Kritiker<br />

Aristophanes uns diesen Blick? Müssen wir künftig neu schauen?<br />

Mit der englischen und deutschen Klassik erging es uns ähnlich. Shakespeares<br />

Macbeth ist zweifellos ein Machtmensch, aber gleichzeitig eine<br />

Todesfigur voll innerer Leere, den der Tod seiner Frau Lady Macbeth<br />

nicht mehr berührt, der voll Angst und Furcht zittert, dass sich die Prophezeiungen<br />

der Hexen negativ erfüllen, wenn der Wald von Dunsinan


Vorwort<br />

11<br />

auf ihn zukommt. Richard III. bei Shakespeare will zum Schluss nur<br />

noch ein Pferd <strong>für</strong> sein Reich, auf dem er fliehen kann. Wie die Belgier<br />

Tom Lanoye und Luk Perceval diese Figur in die Moderne, die Dramenreihe<br />

SCHLACHTEN! transponierten und ihn in einer Mixtur aus hilflosen<br />

Sprachfetzen als gescheiterten Checker darstellen, ist konsequent,<br />

grotesk und niederschmetternd.<br />

Friedrich Schillers berühmte Heldengestalten tauchen auf, auf der<br />

Bühne und in unserem Buch. Hinter der glühenden Kampfansage eines<br />

idealistischen Max Piccolomini aber lässt sich der Sturz der Welt erahnen,<br />

und Franz’ Monolog, der logisch argumentativ das absolute Recht<br />

der Natur befragt, ist so voll Hass, dass seine Intelligenz umschlägt und<br />

sich am Ende gegen sich selbst richtet. In seinem Aufruhr steckt Verzweiflung.<br />

Er ist ein von innen Zerfressener.<br />

Goethes Faust, der Geistesheld: Zeigt nicht der hier vorgestellte Monolog<br />

die Ahnung, dass er nicht vollkommen ist, nicht aus eigener Kraft<br />

lebt, sondern abhängig von seinem Gefährten Mephistopheles sich<br />

selbst erniedrigt? Wird nicht hinter den hoch sich türmenden Gedanken<br />

der Abgrund, das »Nichts« sichtbar? Ist Goethes Faustgestalt wirklich<br />

autonom? Ist er ein Selbstmächtiger?<br />

Es sind verzweifelte, zerrissene Heldengestalten, die wir gefunden ha -<br />

ben – gerade in der deutschen Klassik. Kann es sein, dass die Männlichkeitsideale<br />

dieser ›männlichen‹ Dichter eher in den Frauenfiguren zu finden<br />

sind, in einer Johanna von Orleans, einer Penthesilea als kämpferischer<br />

Amazone, einer Kriemhild als Burgundenkönigin? Ist es denkbar,<br />

dass das Männlichkeitsbild auf die Frauen projiziert und verschoben<br />

wurde, 6 so dass das ›Männliche‹, das Unbedingte, Stolze, Wagemutige,<br />

in der weiblichen Figuren umso ›reiner‹ hervortrat? Jedenfalls ist nicht<br />

zu übersehen, dass in der Hochromantik das dominante <strong>Männer</strong>bild<br />

nicht mehr so stark in den Vordergrund rückte, eher spielerisch leicht<br />

und wunderlich gesehen wurde wie zum Beispiel im Ponce de Leon von<br />

Clemens von Brentano. Bei Heinrich Heine setzt die Figur des Almansor<br />

ihr eigenes Heldenbild der Parodie aus, wenn er, vom Kampfesrausch<br />

besessen, seines Freundes Hand ergreift, um mit seinem Säbel »Spanierschädel«<br />

zu »spalten« und im Liebeswahn brüllt: »Ich bin der Tiger, der<br />

sie [die Geliebte] wild umkrallt / Und wollustbrüllend ihren Leib zerfleischt.«<br />

Da scheint der Ernst einer Rächerfigur ironisch gebrochen, das<br />

Männlichkeitsbild total in Frage gestellt.


12<br />

Vorwort<br />

Täter<br />

In den Parodien, Überzeichnungen, Verwerfungen, Grotesken oder<br />

Zynismen bleiben dennoch Spuren der alten Bilder enthalten. Diese Spuren<br />

haben wir weiter verfolgt und uns wagemutig in die Gegenwart der<br />

zeitgenössischen dramatischen Texte gestürzt. Wir fanden – zu unserem<br />

eigenen Erstaunen – in jungen <strong>Männer</strong>figuren wieder Götterbilder und<br />

Heldensehnsüchte:<br />

Andi, der österreichische Bodybuilder und Bergsteiger in Elfriede Jelineks<br />

Sportstück eifert seinem Vorbild Arnie (Arnold Schwarzenegger)<br />

nach, den er einen »Gott« nennt, einen »Blitz, der durch die eigene Stirn<br />

geht, der äußerste Rand, von dem ein Mann noch abspringen kann«.<br />

Andi selbst aber ist eine traurig-komische Figur, ein »männliches Sterntalermädchen«<br />

7 , wie er sich selbst nennt, der kein Glück bei Frauen hat.<br />

Danny, der englische Irakkrieger in Simon Stephens Motortown, der in<br />

seiner Heimat alles kleinbürgerlich spießig findet, träumt sich hinein in<br />

die Filmheroen und sagt von sich: »Ich bin ein Held! Ich bin ein verdammter<br />

Actionheld! Ich bin John Wayne! Ich bin Sylvester Stallone!<br />

Scheiße, ich bin James Bond!« 8 Er möchte die Welt erlösen und ›erlöst‹<br />

doch nur sich selbst, indem er den Macho spielt und jämmerlich ein<br />

Mädchen tötet.<br />

Stark gibt sich der Soldat Memo, der in Nuran David Calis’ Stück Dogland<br />

als Krieger in der Fremdenlegion war, in seine Heimat zurückkehrt,<br />

seine Freunde aufmischt und seinen Schwiegervater umbringt. Mit dem<br />

Skelett seines toten Vaters zieht er einsam von dannen ins Ungewisse.<br />

Helden sind sie »draußen vor der Tür«, vom Krieg Versehrte, Verletzte,<br />

in der Seele Verwundete. Keine Täter, sondern Gezeichnete. So misslingt<br />

es den jungen männlichen Figuren auch, ihr Heldendasein, von dem sie<br />

träumen, in die Wirklichkeit umzusetzen wie Felix in dem Stück Vaterlos<br />

des jungen Autors Claudius Lünstedt, der aus Wahnsinn und Verzweiflung<br />

ein Feuerleger wird. Träumen tun sie dennoch von einer<br />

Größe, die es nur in den Mythen oder Filmen gibt. In der Wirklichkeit<br />

sind sie »Erniedrigte und Beleidigte«, Opfer von Tätern wie in Thomas<br />

Jonigks gleichnamigem Stück Täter, Missbrauchte, die in ihrem Leben<br />

nicht zurechtkommen und verkrümmt sind. Die Wirklichkeit in diesen<br />

Stücken ist schäbig, die Träume der jungen <strong>Männer</strong>figuren sind heldisch


Vorwort<br />

13<br />

wie die des Heiko G. in Andres Veiels Stück Der Kick, der von dem<br />

Glauben an ein gesäubertes, rein arisches Reich beseelt ist. Es zeichnen<br />

sich, vor allem in den Stücken junger männlicher Autoren, Phantasien<br />

ab, die sich an den alten Geschichten orientieren. Ihre Figuren sind<br />

Extreme – Helden, Krieger, Terroristen oder ›Würmlinge‹, Gebrochene<br />

oder Penner, Ich-Besessene und Gespaltene.<br />

Der schöne Mann<br />

Der Autor Marius von Mayenburg hat ein Stück geschrieben über einen<br />

jungen Elektroingenieur, den die anderen so hässlich finden, dass er sich<br />

umoperieren lässt und eine bewunderte Schönheit wird. Da tun es ihm<br />

die anderen gleich, und nun sehen sie alle aus wie er. Er wundert sich,<br />

wenn er den anderen begegnet, die keine anderen mehr sind, sondern<br />

ihm gleichen. Er stellt die Existenzfrage, die einst Sosias in dem Stück<br />

Amphitryon von Kleist zerrüttete: Wer bin ich? »Diese paranoide Fantasie«,<br />

sagt der Autor Marius von Mayenburg, »hat eine eigenartige Faszination.«<br />

»Die Schönen gleichen sich, die Hässlichen sind speziell, sind<br />

individuell. […] Schönheit ist nichts besonders Individuelles. Wenn man<br />

sich die Fotos von Models ansieht […] sind sie alle ähnlich. Was ist das<br />

Individuelle? Ist es das, was wir außen tragen, oder was wir in uns<br />

haben?« 9 Zum Schluss des Stückes will »der Häßliche« sein Gesicht<br />

zurück, weil alle sein schönes neues Gesicht haben, und komisch verzweifelt<br />

schaut er sein Gesicht im anderen an, streichelt sein Haar, fühlt<br />

seine Haut, erfährt sein Ich: »So fühlt sich das an: Ich«, und die Beidgleichen<br />

sagen zu sich im anderen: »Wie ich dufte«. »Wie ich«. »Und<br />

ich«. »Und ich«. »Und ich«. »Und ich«. »Ich liebe mich«. »Wollen wir<br />

nicht langsam ins Bett gehen«, sagt die Geliebte, »jetzt wo wir reich und<br />

schön sind?« 10 Das ist eine Satire auf die schöne neue Welt, eine Parodie<br />

des schönen neuen Mannes. Narziß, seit Ovid in der abendländischen<br />

Literatur bekannt, der die Jünglinge und Mädchen gleichermaßen verschmäht<br />

und nur sich liebt, gespiegelt in seiner Verdoppelung, geht<br />

gefangen im eigenen Bild in den Tod. In der Moderne erlebt er seit Oscar<br />

Wilde eine poetische Neugestaltung, in der zeitgenössischen Gegenwart<br />

widerfährt ihm eine plastisch-chirurgische Auferstehung als komisch<br />

abgründige Männlichkeitsfigur: »Ich hab mich so gesehnt nach mir […]<br />

Ich kann nicht leben ohne mich […] Ich müsste sterben ohne mich.« Das<br />

ist die Liebe des Menschen/Mannes als unmögliche Liebe. 11


14 Vorwort<br />

Das wahre Geschlecht<br />

Sind sie alle unglücklich, die neuen jungen <strong>Männer</strong> oder liegt der Grund<br />

in dem Bild von dem e i n e n Geschlecht, das das »w a h r e Geschlecht«<br />

sein soll? »Mit einer Beharrlichkeit«, schreibt Michel Foucault, »die an<br />

Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht.<br />

Hartnäckig haben sie diese Frage nach dem ›wahren Geschlecht‹ in einer<br />

Ordnung der Dinge ins Spiel gebracht«. 12 An der Geschichte des Hermaphroditen<br />

Hercules Barbin oder Alexina Barbin zeigt Foucault auf,<br />

wie dieses Wesen an seiner Doppelgeschlechtlichkeit litt, das als Mädchen<br />

aufwuchs und am Ende als »wahrer« Junge erkannt wurde. Das<br />

war zu einer Zeit zwischen 1860 und 1870 »in einer jener Epochen, in<br />

der man die Suche nach der Identität in der Ordnung der Sexualität sehr<br />

intensiv betrieb […] kurz, das Problem von Individuum und Gattung in<br />

der Ordnung der sexuellen Anomalien.« 13<br />

Witzig und komisch hat Johann Nestroy zu dieser Zeit, 1859, eine Theaterfigur<br />

entworfen, in der ein Mann, Joab, als Judith auftritt und dem<br />

Bramarbas Holofernes den Hals abschneidet. Der Kopf des hyperbolischen<br />

männlichen Ungetüms war aus Pappe. Sicher – das Stück ist eine<br />

Komödie, eine Parodie auf Hebbels tragisch-dramatisches Gedicht<br />

Judith. Aber gerade in der Travestie wird der im 19. Jahrhundert naturgesetzlich<br />

begründete und als wesenhaft unüberbrückbar geglaubte<br />

Geschlechterdualismus in Frage gestellt. In Knittelversen wird diese<br />

unumstößliche Gewissheit dem Gelächter preisgegeben.<br />

Anderthalb Jahrhunderte später tritt eine männliche Figur auf der<br />

argentinischen Praça Roosevelt in Buenos Aires in Frauenkleidern auf<br />

und erzählt ihre Geschichte der eigenwilligen Geschlechtsumwandlung<br />

– freimütig und mutig in die Zukunft blickend. Sie erscheint in dem<br />

Stück von Dea Loher, das nach dem berühmten Platz benannt ist. Sie<br />

heißt Aurora. Aurora ist die Morgenröte. Vielleicht verkündet sie von<br />

einem Morgen, in dem sich Foucaults kritische Frage erübrigt: »Brauchen<br />

wir wirklich ein wahres Geschlecht« 14 , in dem die »ganze Wahrheit<br />

über uns selbst« enthalten ist, »die heimlich in ihm wacht«? 15<br />

Vielleicht vermag es das Theaterspiel der jungen Darsteller, diese scheinbar<br />

ungetrübten, unumstößlichen »Wahrheiten« ins Spiel zu bringen,<br />

ihnen ein irisierendes Flair zu geben. Vielleicht eröffnen die neuen <strong>Männer</strong>bilder<br />

Denk- und Ge fühlsräume, die es den Schauspielern ermög-


Vorwort<br />

15<br />

lichen, sie differenziert, nuanciert, ge fühlsbetont und auch<br />

lustig umzusetzen. Sie sind nicht nur negativ aufzufassen, sondern<br />

eröffnen, dessen sind wir gewiss, neue Freiheiten und<br />

Spielmöglichkeiten.<br />

Wie den weiblichen Kolleginnen, den Schauspielerinnen, wünschen<br />

wir den männlichen Darstellern Mut und Glück und<br />

sagen toi toi toi.<br />

Anke Roeder<br />

und das Team<br />

1 Gisela von Wysocki: Die Berge und die Patriarchen. Leni Riefenstahl. In: Dies.: Die Fröste<br />

der Freiheit. Aufbruchphantasien. Frankfurt am Main: Syndikat 1980, S. 70 f.<br />

2 Ebd. S. 71 f.<br />

3 Anke Roeder (Hg.): Autorinnen. Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp 1989, S. 138 (es 1673)<br />

4 Ebd. S. 136<br />

5 Elfriede Jelinek: Krankheit oder Moderne Frauen. Köln: Prometh Verlag 1987<br />

6 Siehe Vorwort zu: Anke Roeder (Hg.): <strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> Frauen. Berlin: Henschel Verlag<br />

2006, S. 12<br />

7 Vgl. Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 89 und S.<br />

91<br />

8 In: Theater heute 1/07, S. 56<br />

9 Die japanische Lösung. Marius von Mayenburg über sein neues Stück »Der Häßliche« in<br />

einem Gespräch mit Franz Wille. In: Theater heute 4/07, S. 48<br />

10 Ebd. S. 57<br />

11 Vgl. Julia Kristeva: Narziß. Die neue Dementia. In: Dies.: Geschichten von der Liebe. Aus<br />

dem Französischen von Dieter Hornig und Wolfram Bayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

1989 (es 1482), S. 102–133<br />

12 Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Herausgegeben von Wolfgang<br />

Schäffner und Joseph Vogl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (es 1733), S. 7<br />

13 Ebd. S. 12<br />

14 Ebd. S. 7<br />

15 Ebd. S. 11


<strong>55</strong><br />

<strong>Monologe</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Männer</strong>


18 Antike<br />

Aischylos (525/4–456 v. Chr.)<br />

Die Orestie<br />

Uraufführung: 458 v. Chr.<br />

1 Orestes<br />

Szene: 2. Teil der Trilogie: Choephoren<br />

Ort: Vor dem Königspalast in Mykene<br />

Ein Fluch lastet auf dem Herrscherhaus von Mykene. Die Orestie erzählt von seinen verheerenden<br />

Auswirkungen. Das Werk des Aischylos ist die einzige erhaltene Trilogie der griechischen<br />

Antike. Die drei Stücke – Agamemnon, Choephoren und Eumeniden – wurden an einem Tag im<br />

Rahmen der Dionysien zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt; den Abschluss bildete das<br />

(nicht überlieferte) Satyrspiel Proteus.<br />

König Agamemnon kehrt im ersten Teil aus dem Trojanischen Krieg zurück. Seine Gattin Klytaimestra<br />

empfängt ihn aber nicht mit offenen Armen, denn Agamemnon hat die gemeinsame<br />

Tochter Iphigenie auf dem Altar Artemis geopfert, um mit der griechischen Flotte nach<br />

Troja überzusetzen und dort auf Zeus’ Geheiß zu kämpfen. Zusammen mit ihrem Liebhaber<br />

Aigisthos tötet Klytaimestra den Feldherrn. Aber das vergossene Blut des Königs fordert das<br />

Blut Klytaimestras.<br />

Den Vater zu rächen, die Mutter zu morden kommt Orestes in die Heimat. Erynien, Rachegöttinnen,<br />

treiben ihn zum Muttermord, sowie der Gott Apollon (Loxias), der mit furchtbaren<br />

Krankheiten droht, sollte er seiner Pflicht nicht nachkommen. Er ist zum Mord gezwungen, wie<br />

auch sein Vater die Tochter töten musste, die Mutter den Gatten. Auch er macht sich schuldig.<br />

Das Blut Klytaimestras schreit nach Rache.<br />

Im dritten Teil der Orestie flüchtet Orestes nach Delphi zu Apollon und weiter nach Athen.<br />

Dort fleht er zur Göttin der Stadt. Athene beruft ein Gericht ein, das über Orestes urteilen soll.<br />

Fünf Bürger entscheiden sich <strong>für</strong>, fünf gegen Orestes. Die entscheidende elfte Stimme gebührt<br />

Athene selbst. Sie votiert <strong>für</strong> den Angeklagten. Das System der Blutrache ist durch das Rechtssystem<br />

Athens ersetzt. Die Erynien bekommen eine neue Aufgabe; als Eumeniden, Schutzgöttinnen,<br />

behüten sie die Polis.<br />

Eindringlich legt Orestes am Ende des zweiten Teils die Notwendigkeit seiner Tat dar; er<br />

rechtfertigt den Mord und ist sich gleichzeitig seiner Schuld bewusst. Nahe am Wahnsinn<br />

sieht Orestes Erynien. Sie jagen den Muttermörder.<br />

ORESTES<br />

Jetzt steh ich hier,<br />

jetzt lob ich mich,<br />

jetzt jammere ich,<br />

[…]<br />

bedaure ich die Tat,<br />

das Leiden und mein ganzes Geschlecht,<br />

denn nicht beneidenswert<br />

ist die Befleckung,<br />

die ich durch diesen Sieg erlitt.<br />

[…]<br />

Doch hört und wißt –


Antike<br />

19<br />

denn ich weiß nicht,<br />

wo das noch enden wird.<br />

Wie zügellose Rosse<br />

rennen die Gedanken aus der Bahn<br />

und schleifen mich Besiegten<br />

unbändig mit sich fort.<br />

Vor meinem Herzen hockt die Furcht<br />

und singt ein böses Lied,<br />

mein Herz will danach tanzen.<br />

Solange ich noch bei Sinnen bin,<br />

verkünde ich all meinen Freunden laut<br />

und sage:<br />

Nicht ohne Recht<br />

schlug ich die Mutter tot,<br />

die mir den Vater tötete,<br />

die Befleckung,<br />

den Abscheu und den Haß der Götter!<br />

Aufgereizt und bezaubert<br />

hat mir den Mut dazu<br />

vor allem Loxias und sein Seherspruch,<br />

der mir verhieß, ich bliebe frei von Schuld,<br />

wenn ich dies hier verbrächte;<br />

doch wenn nicht –<br />

die Strafe will ich gar nicht nennen,<br />

kein Pfeil erreicht die Höhe dieser Qualen.<br />

Und so seht mich jetzt an:<br />

Ich bin bereit,<br />

mit diesem wollumwundenen Ölzweig<br />

nach Delphi zu ziehen, zum Erdennabel,<br />

zum Heiligtum und Sitz Apollons,<br />

zum Licht des Feuers,<br />

das, wie es heißt, niemals erlischt,<br />

als Flüchtling<br />

vor dem Blut der Blutsverwandten.<br />

Zu keinem Herd darf ich mich wenden,<br />

so hat es Loxias befohlen.<br />

Allen Argivern trage ich auf,<br />

nicht zu vergessen,<br />

wie dies Unheil hier geschah,<br />

und <strong>für</strong> mich Zeugnis abzulegen,


20 Antike<br />

wenn Menelaos einst nach Hause kommt.<br />

Ich aber irre umher,<br />

verbannt aus diesem Land,<br />

und bleibe im Leben und im Tod verrufen.<br />

[…]<br />

Ach, ach,<br />

was sind das <strong>für</strong> Frauen,<br />

seht, wie Gorgonen,<br />

da, da –<br />

in schwärzlichen Gewändern,<br />

dicht von Schlangen umringelt –<br />

ich kann nicht länger bleiben.<br />

[…]<br />

Herrscher Apollon hilf –<br />

da, es werden immer mehr!<br />

Aus ihren Augen tropft verhaßtes Blut!<br />

[…]<br />

Ihr seht sie nicht, doch ich sehe sie.<br />

Es jagt mich fort,<br />

ich kann nicht länger bleiben.<br />

2 Aias<br />

Sophokles (496–406 v. Chr.)<br />

Aias<br />

Uraufführung: ca. 450 v. Chr.<br />

Szene: Monodie des Aias (V. 815–865)<br />

Ort: Einsame Gegend am Strand<br />

Aias ist wahrscheinlich die erste der uns erhaltenen Tragödien des Sophokles. Sie handelt vom<br />

Schicksal des griechischen Kämpfers Aias im trojanischen Krieg und berichtet von seiner<br />

Wahnsinnstat.<br />

Nach dem Tod des Achill begann ein Streit um seine Waffen. Aias als starker Krieger und Verwandter<br />

des Achill beansprucht sie <strong>für</strong> sich, die beiden Heerführer Agamemnon und Menelaos<br />

jedoch sprechen sie Odysseus zu. Daraufhin sinnt Aias auf Rache. Er, der ein »Riese an Kraft«<br />

ist (V. 205), will die griechischen Heerführer ermorden. Die Göttin Athene, die Beschützerin des<br />

Odysseus, verhindert jedoch das Blutbad, indem sie Aias mit Wahnsinn schlägt und einen<br />

Schleier um seine Augen legt. Anstelle der griechischen Helden erschlägt er das Herdenvieh.<br />

Aias »schlachtete drin sie teils an der Erd’ / oder spaltete ihnen die Rippen durch, / griff zwei<br />

weißfüßige Widder heraus, / schnitt einem das Haupt und die Zunge ab / und schleudert sie<br />

weg, den andern knüpft / er am Pfosten empor / und nimmt einen ledernen Zügel vom Pferd,<br />

/ schlägt zu mit dem Knall des doppelten Riems / und höhnt mit Schmähungen, die ein Gott /<br />

ihm eingab, keiner der Menschen.« (V. 235–244) Nach langsamem Erwachen packt Aias <strong>für</strong>ch-


Antike<br />

21<br />

terliche Verzweiflung über seine Tat, und unter dem Vorwand, sich an einem abgelegenen Ort<br />

reinigen zu wollen, geht er mit dem Schwert ans Meer.<br />

In seinem letzten bewegenden Monolog bittet er Zeus, sein Halbbruder Teukros möge seinen<br />

Körper bewahren, dass er nicht den Vögeln zum Fraß vorgeworfen werde. Er weiß nicht,<br />

dass nach seinem Tod – im zweiten Teil der Tragödie – Odysseus dem Begräbnis seiner Leiche<br />

zustimmen wird. In höchster Not ruft Aias die Himmels- und Totengötter an. Die Monodie des<br />

Aias, die – ganz ungewöhnlich in der griechischen Tragödie – den Protagonisten einsam ohne<br />

Chor in der Orchestra zeigt, ist einer der berührendsten Klagegesänge der Antike mit dem<br />

unwiderruflichen Ende des Todes.<br />

AIAS<br />

befestigt hinter einem Busch sein Schwert mit dem Griff im Erdboden.<br />

Da steht der Mörder so, dass er aufs sicherste<br />

mich trifft, – sofern man Muße, drauf zu achten, hat –,<br />

Geschenk des Mannes Hektor, des verhaßtesten<br />

unter den Fremden mir, zuwider meinem Blick.<br />

Fest steckt er in der Troas hier, im Feindesland,<br />

am Wetzstein frisch geschliffen, der das Eisen schärft.<br />

Gut hergerichtet hab’ ich ihn und eingebohrt;<br />

so hilft er bestens diesem Mann zum raschen Tod.<br />

Nun sind wir wohlbereitet. Stehe du nunmehr,<br />

o Zeus, vor allen, wie es billig ist, mir bei!<br />

Doch fleh’ ich dich um keine große Gnade an.<br />

Schick’ mit der schlimmen Nachricht einen Boten doch<br />

an Teukros, daß er mich als erster hebt empor,<br />

wenn ich nun falle durch dies blutbenetzte Schwert,<br />

daß keiner von den Feinden vorher mich erspäht,<br />

mich Hunden oder Vögeln wirft zum Fraße vor.<br />

Um dies laß mich dich anflehn, Zeus; doch ruf’ ich auch<br />

den Totenführer Hermes, daß er Frieden mir<br />

gewährt, wenn ich entschlossen und mit raschem Sprung<br />

durchbohre meinen Leib mit dieser Klinge hier.<br />

Um Beistand ruf’ ich auch die ewigen Jungfraun an,<br />

die immer alles Leid der Sterblichen erspähn,<br />

die hehren, weit ausschreitenden Erinyen, daß<br />

sie sehn, wie ich durch die Atriden untergeh’.<br />

Ihr raschen Rächerinnen, ihr Erinyen, kommt,<br />

ersättigt euch am ganzen Heer und schont es nicht!<br />

Doch du, der hoch am Himmel hin im Wagen fährt,<br />

Helios, wenn du meiner Heimat Erde schaust,<br />

so ziehe deinen goldgezierten Zügel an<br />

und tue meine Greuel, meinen Untergang


22 Antike<br />

dem alten Vater, der unseligen Mutter kund!<br />

Die arme Frau, sobald sie diese Nachricht hört,<br />

erfüllt mit lautem Jammer wohl die ganze Stadt.<br />

Doch dies vergebens zu beklagen hilft ja nichts;<br />

vielmehr zu handeln gilt es so, daß es gelingt.<br />

O Tod, o Tod, nun komm, wirf einen Blick auf mich!<br />

Doch erst, wenn ich dort unten bin, begrüß’ ich dich.<br />

Dich aber, lichter Tagesglanz, der heut erstrahlt,<br />

und Helios, den Wagenlenker, ruf’ ich an<br />

zum allerletzten Mal und künftig niemals mehr.<br />

O Licht! O heimatlichen Bodens heilig Land<br />

Salamis, Wohnsitz du des väterlichen Herds!<br />

Athen, ruhmreiches, mit dem stammverwandten Volk!<br />

Ihr Quellen und ihr Flüsse hier, du, troisches<br />

Gefild! Euch ruf’ ich zu: lebt wohl! Aias, den ihr<br />

umhegtet, nährtet, sagt euch jetzt sein letztes Wort.<br />

Das andre sag’ ich denen dort in Hades’ Reich.<br />

Er stürzt sich im Gebüsch in das aufgestellte Schwert.<br />

Euripides (485–406 v. Chr.)<br />

Alkestis<br />

Uraufführung: 438 v. Chr.<br />

3 Herakles<br />

Szene: 4. Epeisodion (V. 773–802)<br />

Ort: Palast des Königs Admetos in Thessalien<br />

Alkestis wurde 438 v. Chr. aufgeführt – an der Stelle eines Satyrspiels, das üblicherweise die Trilogie<br />

der Tragödien als komisch-groteskes Nachspiel beendet. Das mag darin begründet sein,<br />

dass das mit einem Schicksalsschlag einsetzende euripideische Drama glücklich endet – die<br />

Liebenden werden wieder vereint. Das mag auch an dem burlesken Auftritt der Figur des trunkenen<br />

Herakles liegen.<br />

Das Stück beginnt an dem Tag, an dem Alkestis sterben soll. Sie hat sich bereit erklärt, <strong>für</strong><br />

ihren geliebten Gatten Admetos, dessen Tod die Schicksalsgöttinnen beschlossen hatten, ihr<br />

Leben zu opfern. Die Dienerin berichtet von den letzten Handlungen der Königin, bevor sie<br />

selbst auf der Skene erscheint und sterbend von ihren Kindern und ihrem Gemahl Abschied<br />

nimmt. Die Bürger stimmen eine ergreifende Totenklage an.<br />

Da torkelt Herakles herein. Er weiß nicht, dass Alkestis zu Grabe getragen wird, sondern vermutet,<br />

es sei eine fremde Frau. Das Gastrecht, das Admetos heilig hält, gebietet, jeden, sei er<br />

Fremder oder Freund, trotz der Trauerfeierlichkeiten aufzunehmen. Klageton und Weinseligkeit<br />

stoßen in dieser Szene prall aufeinander. Ein Diener berichtet empört, wie der Gast unmäßig<br />

isst, den Epheukelch umfasst, Wein trinkt, das Haupt mit Myrtenzweigen bedeckt und Lieder<br />

singt, nein »brüllt«! Der Empörung des Dieners entgegnet Herakles gebieterisch-trunken,


Antike<br />

23<br />

heiter-ernst mit einer Rede, die das Leben im Jetzt preist, da das Leben als Ganzes dem Menschen<br />

nicht gehört und ihm jederzeit entrissen werden kann.<br />

Die hier abgedruckte Passage, in der das Leben freudig besungen wird, ist ein humoresker<br />

Kontrapunkt zum tragischen Geschehen. So liegt es in der Poetologie des Dramas begründet,<br />

dass Herakles, als er den wahren Grund der Trauer erfährt, Alkestis den Armen des Thanatos<br />

entreißt, die Sterbende dem Leben zurückgibt und Admetos beglückt. Nur er, der selbst ein<br />

Halbgott ist, weiß, daß »die Götter vollenden, was keiner geahnt. / Wovon wir geträumt, das<br />

verwirklicht sich nicht. / Was unmöglich uns schien, das ist möglich <strong>für</strong> Gott« (V. 1160–1163)<br />

Euripides’ Drama ist ein Theaterwunder des Unwahrscheinlichen.<br />

HERAKLES<br />

kommt trunken aus dem Gastgemach, bekränzt, einen Becher in der Hand<br />

Was soll die ernste, sorgenvolle Miene?<br />

Nicht mürrisch soll die Dienerschaft den Gästen<br />

Begegnen, sondern freundlich sie empfangen.<br />

Du aber zeigst dem Freunde deines Herrn<br />

Ein saures Antlitz mit verkniff’nen Brauen<br />

Und scheinst um jenes fremde Weib zu trauern.<br />

Komm einmal her! Ich will dich Weisheit lehren.<br />

Hast du dem Menschenlos je nachgesonnen?<br />

Wahrscheinlich nicht. Wie solltest du? drum höre:<br />

Kein Mensch auf Erden kann dem Tod entrinnen<br />

Und keinen gibt es, welcher sicher weiß,<br />

Ob er am nächsten Tag am Leben bleibt.<br />

Des Zufalls Wege sind uns unbekannt,<br />

Sie zu berechnen lehrt uns keine Kunst.<br />

Drum, wenn du recht begreifst, was ich dich lehre,<br />

Genieße, zeche; wisse: nur das Heute<br />

Ist dein, sonst alles Zufalls Habe.<br />

Am meisten Freude bringt den Sterblichen<br />

Der Kypris Dienst. Die meint es gut mit uns.<br />

Sonst kümmre dich um nichts und tu, wie ich<br />

Gesagt. Du siehst ja selbst, ich habe Recht.<br />

Nicht wahr? Fort mit dem Übermaß des Kummers!<br />

Zeche mit mir, dem Mißgeschick zum Trotz,<br />

Bekränzten Hauptes! Und ich bin gewiß,<br />

Daß von dem finstern und versunk’nen Wesen<br />

Des Bechers Kreisen dich kurieren wird.<br />

Wer sterblich ist, soll auch sich sterblich fühlen.<br />

Denn wer versucht, das Leben ernst zu nehmen,<br />

Für den ist es, wenn du mir glauben willst,<br />

Mehr Sorg’ und Kümmernis, als wahres Leben.


Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />

141<br />

Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />

Autor Stück Rolle Seite<br />

Aischylos Die Orestie Orestes 18<br />

Aristophanes Der Friede Trygaios 24<br />

Bärfuss, Lukas Die Probe Franzeck 126<br />

Beaumarchais, Pierre<br />

Augustin Caron de Der tolle Tag Figaro 39<br />

Biller, Maxim Kühltransport Khai 110<br />

Blumenthal, Oskar;<br />

Kadelburg, Gustav Im weißen Rößl Leopold 36<br />

Brentano, Clemens von Ponce de Leon Ponce 45<br />

Calis, Nuran David Dogland Memo 122<br />

Crimp, Martin Angriffe auf Anne 77<br />

Dorst, Tankred Ich, Feuerbach Feuerbach 96<br />

Euripides Alkestis Herakles 22<br />

Fassbinder, Rainer Werner Tropfen auf heiße Steine Franz 91<br />

Goethe, Johann Wolfgang von Faust. Der Tragödie erster Teil Faust 46<br />

Goethe, Johann Wolfgang von Faust. Der Tragödie zweiter Teil Mephistopheles 48<br />

Goetz, Rainald Jeff Koons 109<br />

Handke, Peter Das Spiel vom Fragen Parzival 98<br />

Heckmanns, Martin Finnisch Ein Junger Mann 103<br />

Heine, Heinrich Almansor Almansor 50<br />

Hofmannsthal, Hugo von Alkestis Admet 58<br />

Hölderlin, Friedrich Der Tod des Empedokles Empedokles 43<br />

Ibsen, Henrik Peer Gynt Peer Gynt 56<br />

Ionesco, Eugène Die Nashörner Behringer 66<br />

Jelinek, Elfriede Ein Sportstück Andi 101


142<br />

Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />

Autor Stück Rolle Seite<br />

Jonigk, Thomas Täter Paul 107<br />

Kelly, Dennis Schutt Michael 82<br />

Koltès, Bernard-Marie Sallinger Leslie 68<br />

Lagarce, Jean-Luc Die Reise nach Den Haag 69<br />

Lanoye, Tom; Perceval, Luk SCHLACHTEN! Dirty Rich 71<br />

Loher, Dea Das Leben auf der Praça Roosevelt Aurora 115<br />

Lünstedt, Claudius Vaterlos Felix 114<br />

Marlowe, Christopher Eduard der Zweite Gaveston 25<br />

Mayenburg, Marius von Der Häßliche Lette 123<br />

Molière Don Juan Pierrot 36<br />

Müller, Heiner Der Auftrag 92<br />

Musset, Alfred de Lorenzaccio Lorenzo 52<br />

Nestroy, Johann Judith und Holofernes Joab 53<br />

Norén, Lars Kälte Anders 75<br />

Racine, Jean Iphigenie in Aulis Agamemnon 37<br />

Richter, Falk Electronic City Tom 112<br />

Rostand, Edmond Cyrano von Bergerac Cyrano 61<br />

Sbrljanović, Biljana God save America Daniel 73<br />

Schiller, Friedrich Die Räuber Franz 40<br />

Schiller, Friedrich Die Piccolomini Max 42<br />

Shakespeare, William Ein Sommernachtstraum Zettel 27<br />

Shakespeare, William Macbeth Macbeth 29<br />

Sophokles Aias Aias 20<br />

Stephens, Simon Motortown Danny 85<br />

Strauß, Botho Das Gleichgewicht Markus Groth 100<br />

Syha, Ulrike Fremdenzimmer I-III Hugo 117


Inhaltsverzeichnis nach Autoren<br />

143<br />

Autor Stück Rolle Seite<br />

Tschechow, Anton Die Möwe Konstantín 60<br />

Veiel, Andres; Schmidt, Gesine Der Kick Heiko G. 120<br />

Walker, George F. Loretta! Michael 88<br />

Walser, Robert Die »Felix«-Szenen Felix 64<br />

Walsh, Enda Bedbound Papa 80


144<br />

Über die Herausgeberin<br />

Anke Roeder<br />

Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin. Professorin <strong>für</strong> Dramaturgie an der<br />

Ludwig-Maximilians-Universität und der Bayerischen Theaterakademie.<br />

Veröffentlichungen: Die Gebärde im Drama des Mittelalters, München:<br />

C. H. Beck 1974, Autorinnen. Herausforderungen an das Theater, Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp 1989 (st 1673); gemeinsam mit Sven Ricklefs: Junge Regis seure,<br />

Frankfurt am Main: Fischer 1994 (Regie im Theater); gemeinsam mit C. Bernd<br />

Sucher: Radikal jung, Regisseure, Berlin: Theater der Zeit 2005 (Recherchen 25),<br />

(Hg.) <strong>55</strong> <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> Frauen. Zum Vorsprechen, Studieren und Kennenlernen.<br />

Berlin: Henschel 2006.<br />

Beiträge und Essays in Fachzeitschriften und Büchern über zeitgenössische Autorinnen<br />

und Autoren und über neue Theaterästhetiken.


Von Aischylos bis Bärfuss – <strong>Monologe</strong> <strong>für</strong> <strong>Männer</strong><br />

<strong>für</strong> Rollenarbeit, Aufnahmeprüfung und Vorsprechen<br />

<strong>55</strong> ausgewählte Texte <strong>für</strong> junge Schauspieler<br />

Mit einleitenden Kommentaren zur schnellen<br />

Orientierung über Stück und Situation<br />

Mit einem umfangreichen Verzeichnis weiterer<br />

Rollenvorschläge<br />

»Ob der Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt,<br />

das ist Zufall.« Georg Büchner, Dantons Tod<br />

ISBN 978-3-89487-564-0<br />

www.henschel-verlag.de

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