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Der Monika H. Sommerland Sammelband (Leseprobe)

Der Monika H. Sommerland Sammelband (Leseprobe) Alle drei Liebesromane in einem Band Sammelband der Liebesromane von Monika H. Sommerland Taschenbuch: 342 Seiten, Euro (D) 14.99, ISBN 978-3-911352-14-7 E-Book: Euro (D) 4.99, ISBN 978-3-911352-08-6 1. Drei Freundinnen im Liebeschaos Sandra, Laetitia und Martha sind beste Freundinnen und arbeiten in der internationalen Werbeagentur Wincox & Atherton. Sie genießen ihre Unabhängigkeit, Partys und das Großstadtleben. Wären da nicht der Millionenauftrag, der alles gehörig durcheinanderbringt, und der unsympathische, aber verdammt gutaussehende Sohn des neuen Großkunden! Da ist auch noch der nette Kerl von der geplatzten Party und natürlich der Chef der Agentur. 2. Reisegefährten der Liebe Mitten in den schottischen Highlands rettet Ron Liliane das Leben. Sie bleiben als ›Reisegefährten‹ zusammen. Schließlich führt sie ihr Weg nach London. Dort, inmitten der Freunde, findet Liane endlich neuen Lebensmut. Aber Rons und Lianes junge Liebe muss noch einige Bewährungsproben bestehen, bis sie endgültig zueinander finden. 3. Magdalenas Liebesmelodie Ihre Begegnung in einem Zugtunnel führt die ehemalige Internatsschülerin Magdalena und den irischen Sänger David zusammen – die fortan nicht mehr voneinander lassen können. Ihre große Liebe ist jedoch mit einigen Hindernissen verbunden, die von den Familien der beiden ausgehen. So führt sie ihr Weg auf eine aufregende Reise durch einige Stationen Europas, bis die beiden endlich den Ort ihres zukünftigen Liebesnestes gefunden haben. »Monika H. Sommerlands Geschichten bewahren – trotz aller Verwicklungen – immer eine Leichtigkeit und optimistische Grundstimmung.« Erhältlich als Taschenbuch & E-Book

Der Monika H. Sommerland Sammelband (Leseprobe)
Alle drei Liebesromane in einem Band
Sammelband der Liebesromane von Monika H. Sommerland
Taschenbuch: 342 Seiten, Euro (D) 14.99, ISBN 978-3-911352-14-7
E-Book: Euro (D) 4.99, ISBN 978-3-911352-08-6

1. Drei Freundinnen im Liebeschaos

Sandra, Laetitia und Martha sind beste Freundinnen und arbeiten in der internationalen Werbeagentur Wincox & Atherton. Sie genießen ihre Unabhängigkeit, Partys und das Großstadtleben.

Wären da nicht der Millionenauftrag, der alles gehörig durcheinanderbringt, und der unsympathische, aber verdammt gutaussehende Sohn des neuen Großkunden! Da ist auch noch der nette Kerl von der geplatzten Party und natürlich der Chef der Agentur.

2. Reisegefährten der Liebe

Mitten in den schottischen Highlands rettet Ron Liliane das Leben. Sie bleiben als ›Reisegefährten‹ zusammen. Schließlich führt sie ihr Weg nach London.

Dort, inmitten der Freunde, findet Liane endlich neuen Lebensmut.

Aber Rons und Lianes junge Liebe muss noch einige Bewährungsproben bestehen, bis sie endgültig zueinander finden.

3. Magdalenas Liebesmelodie

Ihre Begegnung in einem Zugtunnel führt die ehemalige Internatsschülerin Magdalena und den irischen Sänger David zusammen – die fortan nicht mehr voneinander lassen können.

Ihre große Liebe ist jedoch mit einigen Hindernissen verbunden, die von den Familien der beiden ausgehen.

So führt sie ihr Weg auf eine aufregende Reise durch einige Stationen Europas, bis die beiden endlich den Ort ihres zukünftigen Liebesnestes gefunden haben.

»Monika H. Sommerlands Geschichten bewahren – trotz aller Verwicklungen – immer eine Leichtigkeit und optimistische Grundstimmung.«

Erhältlich als Taschenbuch & E-Book

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Die Liebesgeschichten in diesem Buch sind anspruchsvoller,

als es auf den ersten Blick scheint.

Deshalb folgende Hinweise:

Die Leserin bzw. der Leser sollte die Fähigkeit besitzen, Ironie und

(schwarzen) Humor zu verstehen, und nicht alles, was in den Geschichten

steht, allzu ernst zu nehmen.

Drei Freundinnen im Liebeschaos

Hier wird viel geraucht, getrunken und jemand wird von einem Cain

Terrier gebissen.

Reisegefährten der Liebe

Themen wie Drogensucht und Selbstmord kommen hier zur Sprache.

Falls jemand eine Katzenallergie hat – im Roman kommt eine Maine

Coon Katze vor.

Magdalenas Liebesmelodie

Eigentlich recht harmlos – für Erwachsene – es sei denn, chaotische

und schwierige Familienverhältnisse sind eine ›Trigger-Warnung‹ wert …


Monika H. Sommerland

Der

Monika H. Sommerland

Sammelband

Alle drei Liebesromane in einem Band


Dieses Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung,

des Vortrags, des Nachdrucks, der Wiedergabe auf fotomechanischem

oder ähnlichem Wege und der Speicherung in elektronischen Medien.

Die Personen und die Handlung sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder

lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Copyright © 2024 by Monika H. Sommerland

Copyright © 2024 by:

Everweard Media & Publishing

Frédéric R. Bürthel

Friedrich-Naumann-Allee 29, 19288 Ludwigslust

www.everweard-publishing.com

kontakt@everweard.com

Everweard Publishing ist ein Imprint

von Everweard Media & Publishing

Satz, Layout, Umschlaggestaltung: FRB

Umschlagabbildung iStock/Kharkhan Oleg

Printed in Europe

ISBN: 978-3-911352-14-7

1. Auflage


Drei Freundinnen im Liebeschaos 7

Reisegefährten der Liebe 123

Magdalenas Liebesmelodie 233


Monika H. Sommerland steht für anspruchsvolle romantische Liebesgeschichten.

Sommerlands Romane sind voller Charaktere, die den Leser sofort in

ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen.

Ihre Geschichten bewahren – trotz aller Verwicklungen – immer eine

Leichtigkeit und optimistische Grundstimmung.

Hier finden Sie unser Verlagsprogramm:

www.everweard.com


Monika H. Sommerland

Drei Freundinnen

im

Liebeschaos

Roman

7


Sandra, Laetitia und Martha sind beste Freundinnen und arbeiten in

der internationalen Werbeagentur Wincox & Atherton. Sie genießen

ihre Unabhängigkeit, Partys und das Großstadtleben.

Wären da nicht der Millionenauftrag, der alles gehörig durcheinanderbringt,

und der unsympathische, aber verdammt gutaussehende

Sohn des neuen Großkunden! Da ist auch noch der nette Kerl von der

geplatzten Party und natürlich der Chef der Agentur.

Drei Freundinnen im Liebeschaos

Erschienen 2024 als E-Book

E-Book-ISBN: 978-3-911352-01-7

8


Der Pianist spielte ›As Time Goes By‹, ›Night and Day‹

und lauter so alten Kram – schön gefühlvoll wie die

musikalische Begleitung zu einer alten Stummfilmromanze.

Das Lokal war auch entsprechend abgedunkelt. Auf jedem

Tisch standen Kerzen und Kristallkaraffen mit Wasser. Die

Kellner in schwarzem Frack und glänzend pomadisiertem Haar

standen aufgereiht vor einem langen Büfett, als wollten sie jeden

Augenblick anfangen, Operette zu singen.

Laetitia wurde nervös. Ihre Neugierde hatte sie wieder einmal

dazu getrieben, viel zu früh zu einem Treffen zu kommen.

Welche tolle Neuigkeit hatte Martha dazu veranlasst, sie und

Sandra zu einem exklusiven Abendessen einzuladen? Konnte

man das nicht zu Hause erledigen, bequem im Sessel, die Beine

hochgelegt ohne diese Schuhe, die wieder vorne und hinten

drückten? Schließlich wohnten sie alle zusammen und sahen

sich jeden Tag.

Eine Zigarette! Ich brauche jetzt eine Zigarette. Sie wühlte in

ihrer Tasche. Ganz unten war noch eine angebrochene Schachtel.

Sie wollte sich gerade eine Zigarette in den Mund stecken, da

kam auch schon ein Kellner auf sie losgestürzt.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau! In unserem Restaurant besteht

Rauchverbot. Bitte nehmen Sie darauf Rücksicht. Außerdem ist

Nikotin …«

»Noch ein Wort …«

»Ah, da bist du ja!« Sandra ließ sich auf den Stuhl neben ihr

fallen. Ihr Kostüm war zu eng, es drückte um die Hüfte. »Ich

glaube, ich habe schon wieder zugenommen. Was Martha auch

vorhat, ich werde auf keinen Fall etwas essen! Du siehst natürlich

wieder scharf aus. Bei deiner Figur brauchst du dir auch

keine Gedanken ums Essen zu machen. Ich …«

»Liebe Sandra, sei still! Ich will diesen Kellner mit der Gabel

erstechen und dem Pianisten jeden Finger einzeln brechen.

Und dann will ich mir eine Zigarette anzünden, damit Feuer an

den Gardinen legen, damit es hier endlich etwas hell wird.

9


Dann möchte ich dieses Messer schleifen, um es Martha in die

Gedärme zu stoßen, weil sie mir dies alles zugemutet hat!«

Sandra seufzte.

»Du hast ganz recht! Ich kann auf gar keinen Fall ein großes

Menü verzehren. Aber vielleicht gibt es hier einen guten Salat.

Saison Salat nennen die das, glaube ich. Und Mineralwasser!

Das ist aber das Äußerste, was ich heute Abend zu mir nehmen

kann. Wenn man essen geht, dann gerät alles außer Kontrolle.

Zu Hause weiß ich genau, wie viele Kalorien und Brennwerte

und so weiter alles hat. Aber in einem fremden Restaurant, na

weißt du!«

»Liebe Sandra, ich bin in einer MORDSstimmung! Deshalb

sag ich dir’s ins Gesicht. Du spinnst! An deiner Figur ist überhaupt

nichts auszusetzen. Du hast kein Pfund zu viel, eher zu

wenig. Wenn du Kleider in deiner Größe anziehen würdest,

dann könnte es sogar dir dämmern, dass mit deiner Figur alles

in bester Ordnung ist.«

Ein Kellner trat an den Tisch.

»Kann ich der jungen Dame die Karte bringen oder möchten

Sie vorweg etwas trinken?«

Laetitia spielte mit der Gabel. Lichtreflexe wurden von der

Kerze auf ihr rotes Haar geworfen. Es sah aus, als würde es jeden

Augenblick anfangen zu brennen.

Sandra legte ihre Hand auf Laetitias Arm und sagte zu dem

Kellner:

»Bringen Sie mir bitte ein Tafelwasser ohne Kohlensäure.

Mit der Karte warten wir noch, bis unsere Gastgeberin eingetroffen

ist. Danke!«

Sandra war eine richtige Schönheit, hellbraunes Haar, braune

Augen, ein Profil wie eine griechische Göttin und eine Aura

von Unerschütterlichkeit, die sie überall zum Mittelpunkt

machte, um den sich alles abspielte.

Laetitia dagegen war eine ständige Bedrohung jeder Konvention.

Rote Haare und weiße Haut, übersät mit Sommerspros-

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sen, ließen sie aussehen, als habe sie ständig Sonnenbrand. Sie

konnte nicht längere Zeit ruhig dasitzen, immer musste sie etwas

tun, wie jetzt – mit der Gabel auf den Tisch zu klopfen.

»Ist es nicht schön, dass wir einmal aus unserem Trott herauskommen?«,

sagte Sandra in beruhigendem Tonfall. »Wie

lange waren wir schon nicht mehr zusammen ausgegangen!«

»Sandra, ich halt’s nicht mehr aus!«

Der Pianist hieb auf die Tasten, die Tonleiter hinauf und hinunter,

immer lauter und lauter, dann brach er abrupt ab.

In der plötzlichen Stille trat Martha an den Tisch. Sie strahlte.

»Hallo, Mädels! Wir haben es geschafft!«

Martha trug ihr dunkelblaues Chanel Kostüm und diese teuren

Schuhe mit den hohen Absätzen, die sie sich ja gar nicht

leisten konnte.

»Herr Ober, bringen Sie uns doch gleich die Karte!« Sie setzte

sich. »Ein Festessen, meine Lieben, das wir uns verdient haben!«

»Aber Martha, du weißt doch, mein Gewicht …«

»Papperlapapp, Sandra, Ausnahmesituationen erfordern außerordentliche

Maßnahmen. Da gibt es kein Kneifen!«

Laetitia war nun wirklich am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

Ihre Augenbrauen zuckten. Ohne jede Betonung sagte sie:

»Martha, was zum Teufel ist los?«

»Wir wollen jetzt erst einmal in aller Ruhe dinieren und das

alles so richtig genießen …«

»Martha, wenn du die nächsten Sekunden noch erleben

willst, sagst du sofort, was los ist!«

Jetzt erst fiel Martha auf, unter welcher Anspannung Laetitia

stand. Und auch Sandra sah nicht besonders festlich gestimmt aus.

Ein Kellner brachte Sandra das bestellte Wasser und gab jeder

eine Speise- und Getränkekarte.

»Na gut, dann will ich gleich berichten. Zuerst muss ich aber

etwas trinken. Ah ja!« Mit einem Zug leerte sie Sandras Mineralwasser.

»Jetzt geht’s!«

Triumphierend schaute sie ihre beiden Freundinnen an.

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»Wir sind jetzt ein Team!«

»Das waren wir doch schon immer«, sagte Sandra. »Was ist

daran neu?«

»Wir sind jetzt das Super-Spitzen-Team bei Wincox & Atherton!

Wir drei machen den Echternach Auftrag!«

»Seit wann weißt du das?«, fragte Laetitia.

»Seit heute Nachmittag. Ich habe euch sofort angerufen, damit

wir gebührend feiern können. Nun, was sagt ihr dazu?«

Laetitia zündete sich eine Zigarette an.

Sandra öffnete einen Seitenknopf am Rock ihres Kostüms und

sagte lässig: »Ja, wir haben es geschafft! Andererseits sind wir

ja auch die Besten und es ist nicht mehr als gerecht. Martha, my

dear, dann wollen wir ein richtiges Festmenu bestellen.«

* * *

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Am nächsten Morgen saß Martha in einem kleinen Café

am alten Marktplatz und wartete. Die Sonne überlegte

noch, ob sie sich wirklich die Mühe machen sollte, diese

traurige Ansammlung dilettantisch zusammengezimmerter

Verkaufsstände und die mürrischen Gesichter der Händler eines

bedeutungslosen Flohmarkts in helles Tageslicht zu rücken. Außerdem

nieselte es.

Der Kaffee war bitter und trotz drei Löffel Zucker nicht zu

genießen. Heiß war er auch nicht, aber teuer.

Ein junger Mann kam herein. Er trug einen langen, schwarzen

Ledermantel und einen breitrandigen Filzhut, Cowboystiefel,

ohne Sporen – die musste er sich wohl erst noch verdienen

– und einen langen, knallroten Wollschal, den er sich umgelegt

hatte wie eine Schärpe. Sein Blick aus hellblauen Augen

fiel auf Martha, die der einzige Gast in dem Lokal war. Sie zuckte

unwillkürlich zusammen. Es war, als wolle jemand Besitz

von ihrer Seele ergreifen. Ärgerlich schüttete sie noch einen

Beutel Zucker in den inzwischen eiskalten Kaffee.

Der junge Mann nahm am anderen Ende des Raumes Platz,

nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Oberfläche des Stuhles

der Kehrseite seines Körpers würdig war.

»Gibt es hier eine Bedienung?«, rief er.

Geschirrklappern im Nebenraum, dann kam die Bedienung

hinter einer Klapptür hervor. Sie trocknete sich noch die Hände

an ihrer Schürze ab, blickte auf den neuen Gast, hielt kurz

inne, dann trat sie entschlossen an seinen Tisch.

»Frühstück?«, fragte sie mit belegter Stimme. Sie war noch

sehr jung, ein Lehrmädchen vielleicht oder Tochter der Besitzer.

Die Haare waren kurzgeschnitten. In ihrem rundlich rosigen

Gesicht gingen die kleinen Augen ängstlich hin und her.

Der junge Mann sah sie an wie der böse Wolf das Rotkäppchen,

so, als wolle er sie gleich auffressen. Aber zuerst wollte

er seine Vorspeise. Er bestellte Toast, Butter und Ei, halbweich,

und – das geschah im recht – ein Kännchen Kaffee.

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Das musste natürlich alles zubereitet werden.

»Wo bleibt mein Frühstück? Was ist das nur für ein Saftladen!«,

rief er schon nach wenigen Minuten.

Es kam keine Antwort. Dafür wurde das Radio eingeschaltet.

Fröhliche Volksmusik lustiger Musikanten ertönte.

»Kann man nicht einmal am frühen Morgen seine Ruhe haben!

Schalten Sie sofort dieses primitive Gedudel ab! Und wo

bleibt mein Kaffee?«

Die Musik verstummte. Die Klapptür wurde aufgestoßen.

Das Frühstück kam auf einem Plastiktablett in leicht zitternden

Händen. Mit einem »Guten Appetit!« landete es mit etwas zu

viel Schwung auf dem Tisch. Der Eierbecher kippte um, das

Kaffeekännchen legte sich nach einiger Überlegung ebenfalls

zur Seite. Braune Brühe ergoss sich über Toast und Ei.

Der junge Mann sagte kein Wort. Sein Blick hätte eine Legion

römischer Söldner zur Umkehr gezwungen. Die junge Dame,

die gerade die Funktion einer Kellnerin ausübte, nahm das überflutete

Tablett und trug es vorsichtig zur Küche. Dabei versuchte

sie, ein Grinsen zu unterdrücken. Dieser Anblick versöhnte

Martha ein wenig. Vielleicht wird es doch noch ein unterhaltsamer

Tag, dachte sie.

Der junge Mann war wohl total ausgehungert. Er schlug mit

der Hand auf den Tisch.

»Wo bleibt mein Frühstück?«

Jetzt fiel ihm ein, dass da noch ein Gast im Lokal war. Zum

Gruß klopfte er mit den Fingerspitzen an den Rand seines Hutes.

Bin ich nicht ein gutaussehender, fescher Kerl, sollte diese

Geste wohl bedeuten. Martha hatte wirklich genug. Das war

der Augenblick, in dem sie am liebsten aufgesprungen wäre,

um nach Hause zu gehen und unter die Bettdecke zu schlüpfen.

Es war gestern doch etwas spät geworden. Aber sie hatte

Marianne ein Versprechen gegeben. Es half nichts, sie musste

warten.

Die Klapptür klapperte. Ein Frühstück schwebte herein und

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wurde behutsam abgestellt. Diesmal gab es keine Katastrophe,

aber auch kein »Guten Appetit!«.

Nachdem er das Besteck gründlich untersucht hatte, bestrich

der junge Mann eine Toastscheibe mit Butter. Entweder war er

sehr geübt oder der Toast nicht knusprig genug, auf jeden Fall

zerbröckelte das Brot nicht. Mit Messer und Gabel zerlegte er

die Scheibe in neun kleine Quadrate. Dann spießte er ein Quadrat

auf und führte es zum Mund. Das macht der alles nur, um

vor mir anzugeben, dachte Martha angewidert. Das Brotstückchen

war kaum im Mund angekommen, da wurde es schon

wieder herausgenommen.

»Bedienung! Das ist doch wirklich die Höhe! Die Butter ist

ranzig!«

Der junge Mann nahm nun einen kräftigen Schluck Kaffee.

Jetzt konnte Martha wahres Entsetzen auf seinem Gesicht sehen.

Es war ein wunderschöner Anblick.

»Bedienung! Gift! Wollen Sie mich vergiften?«

Vorwurfsvoll starrte er Martha an, als sei sie Teil einer Verschwörung

gegen die körperliche Unversehrtheit von Herrn

Wohlgeboren.

Aus der Küche kam kein Laut. Die Klapptür klapperte nicht.

»Mir reicht’s!«

Der junge Mann stand auf und verließ das Lokal. Die Tür ließ

er sperrangelweit offenstehen. Draußen hämmerten seine Stiefel

auf dem Kopfsteinpflaster. Den roten Schal hatte er jetzt um

den Hals geschwungen. Welch ein aufgeblasener Gockel, dachte

Martha, ein Gockel mit rotem, geschwollenem Kamm!

* * *

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Dann kam endlich Marianne. Mit einem lauten Seufzer

ließ sie sich auf den Stuhl neben Martha fallen.

»Das wird ein einziger Reinfall! Ich spüre das. Schön,

dass du gekommen bist, Martha, aber das wird nichts. Wie

konnte ich mich auch nur auf so etwas einlassen!«

Rosaroter Regenmantel, roter Regenhut, rote Gummistiefel,

Marianne war für die Sintflut gerüstet.

»Gehen wir!«, sagte Martha und stand auf. Etwas zu unternehmen,

war die einzige Möglichkeit, nicht dem Trübsal zu verfallen.

Marianne zog sie wieder zurück auf den Stuhl.

»Ich habe noch keinen Kaffee gehabt. Ohne Kaffee bin ich zu

nichts zu gebrauchen!«

»Diesen Kaffee willst du bestimmt nicht.«

Aber Marianne hatte schon die Bedienung herbeigewunken,

die zaghaft den Kopf die Tür herausgestreckt hatte.

»Bringen Sie mir bitte ein Kännchen Kaffee, schwarz und

ohne Zucker. Danke!«

Wenn ich es recht bedenke, dachte Martha, so gut kann ich

Marianne auch wieder nicht leiden. Schließlich habe ich es ihr

zu verdanken, dass ich jetzt hier sitze, statt in meinem warmen

Bett zu liegen.

»Wo hast du deine Sachen?«

»Es ist noch alles im Kofferraum meines Bienchens.« Bienchen

war Mariannes Auto und gelb gestrichen mit weißen

Streifen. »Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können.

Das muss ich mir doch gar nicht antun, Martha! Ich lasse alles

im Auto. Wir trinken gemütlich einen Kaffee. Dann gehen wir

wieder nach Hause. So machen wir’s! Jetzt bin ich wirklich erleichtert.«

Der Kaffee kam. Marianne schenkte sich eine Tasse ein. Sie

schaute hinaus auf den Marktplatz. Bewegungen waren zu sehen,

schemenhaft wie ein Schattenspiel hinter einem grauen

Schleier. Der Kaffee war heiß. Sie merkte nicht, wie ihr Magen

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sich zusammenzog, so sehr war sie in Gedanken versunken. Ich

bin die Chefsekretärin von Wincox & Atherton. Ich habe hier

überhaupt nichts verloren. Das ist nicht meine Welt.

»Ich bewundere dich,« sagte Martha, »wie du dieses ekelhafte

Zeug vertragen kannst!«

In diesem Augenblick kam die Botschaft ihres Magens in Mariannes

Gehirn an. Sie wurde blass.

»Entschuldige mich einen Augenblick!«, murmelte sie. Dann

eilte sie zur Toilette.

Martha stand auf und ging zur Küche. Sie öffnete die Klapptür.

Die junge Bedienung saß an einem kleinen Tisch, eine Zigarette

im Mund und las die Horoskopseite der Tageszeitung.

»Ich möchte Sie nicht stören …« Die junge Dame zuckte zusammen.

»Ich bin halt etwas neugierig. Sagen Sie mir, wie bringen

Sie es fertig, einen solchen Kaffee zu produzieren?«

»Er schmeckt nicht!« Die Bedienung drückte ihre Zigarette

aus. »Ich weiß! Aber was soll ich machen? Ich verabscheue

Kaffee. Ich trinke nur Tee. Da kenne ich mich aus. Ist es wirklich

so schlimm?«

Martha setzte sich auf einen Stuhl. Die junge Dame war keine

Schönheit, hatte aber eine gewinnende Ausstrahlung. Sie war

der mütterliche Typ, den manche Männer so sehr mochten, und

höchstens achtzehn.

»Wie heißen Sie? Ich bin Martha!«

»Ich heiße Giovanna! Meine Eltern hatten dieses Lokal vor

zwei Jahren übernommen. Ich gehe aufs Gymnasium. Das ist

der ganze Stolz meiner Eltern. Deshalb heißt es immer nur Lernen

und Lernen. Ich soll es einmal besser haben. Im Lokal wollten

sie mich nie sehen. Aber nun ist eine Schwester meiner

Mutter gestorben. Da müssen sie zur Beerdigung nach Bergamo.

Das Café wollten sie nicht schließen, soviel verdienen sie

ja auch nicht. Da bin ich in die Bresche gesprungen. Das ist mir

auf jeden Fall lieber, als auf eine Beerdigung zu gehen.«

Marianne erschien in der Tür.

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»Ah, da bist du!«

»Marianne, komm her! Darf ich dir Giovanna vorstellen?

Giovanna, das ist Marianne.«

Marianne nickte.

»Marianne,« sagte Martha, »wie wär’s, wenn du dieser jungen

Dame zeigst, wie man einen richtigen Kaffee macht? Im

Kaffeekochen bin ich eine Dilettantin im Vergleich zu dir.«

»Nach diesem Schock bleibt mir gar nichts anderes übrig.

Das wäre ja unterlassene Hilfeleistung und strafbar, wenn ich

das nicht täte! Also, junge Verbrecherin, wo sind die Tatwaffen?«

Giovanna starrte die beiden verblüfft an, dann strahlte sie.

»Kommen Sie, Marianne! Ich zeige Ihnen alles.«

Marianne begutachtete die Gastronomie Kaffeemaschine

und die Kaffeesorten.

»Sie haben hier alle Voraussetzungen für einen exzellenten

Gaumengenuss, junge Dame. Ich frage mich, wie kann das schiefgehen?

Führen Sie mir einmal vor, wie Sie Kaffee machen.«

Giovanna nahm eine Packung gemahlenen Kaffee und schüttete

ihn in den Filterbehälter der Kaffeemaschine. Dann goss sie

Wasser darüber und schaltete die Maschine an.

»Stop! Sofort ausschalten!« Marianne war entsetzt.

Giovanna erschrak. Man sah ihr an, dass sie nur mühsam die

Tränen zurückhielt.

»Kindchen, Kindchen! Das kann man doch alles lernen. Also,

das ist der Filter, da kommt pro Tasse ein Messlöffel gemahlenen

Kaffee hinein. Das hier ist der Messlöffel. Hier ist die Kanne,

da füllen Sie Wasser hinein. An diesen Markierungen können

Sie ablesen, wieviel Wasser Sie für wie viele Tassen brauchen.

Alles klar? Dann machen Sie einmal drei Tassen Kaffee!«

Giovanna holte den alten Filter mit aufgequollenem Kaffee

heraus. Sie legte eine frische Filtertüte in den Filterbehälter,

schüttete drei Messlöffel Kaffee hinein. Dann goss sie Wasser

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in die Maschine bis zur Markierung für drei Tassen. Nachdem

sie Marianne fragend angeschaut hatte, drückte sie auf den

Schalter.

Sie saßen zu dritt vor der Kaffeemaschine und schauten gebannt

zu, wie langsam brauner Kaffee in die Glaskaraffe

tropfte.

»Marianne kann nicht nur exquisiten Kaffee herstellen,«

sagte Martha, »sie ist auch die genialste Chefsekretärin, die ich

kenne, – und zudem eine begnadete Künstlerin!«

»Martha, lass das!«

»Jawohl, eine begnadete Künstlerin! Leider ist sie auch etwas

schüchtern.«

Giovanna schaute bewundernd von Martha zu Marianne.

Das waren zwei besondere Wesen. Solche Frauen kannte sie

nur aus Fernsehserien. Sie fühlte sich klein und hässlich. Aber

es war ein gutes Gefühl, mit ihnen zusammen in der Küche zu

sitzen und zu plaudern, so als gehöre sie dazu.

»Marianne gestaltet Vasen, Krüge, Tassen, Becher und Teller.

Alle in den herrlichsten Farben, richtig mediterran.«

»Wo kann man die sehen?«, fragte Giovanna.

»Eigentlich sollten sie heute Morgen ihre Premiere haben.

Marianne hat einen Stand gemietet, da draußen. Ihr Wagen ist

bis zum Zerbersten mit den herrlichsten Kunstwerken gefüllt.

Aber jetzt hat die große Künstlerin Lampenfieber bekommen.

Das lag sicher an diesem misslungenen Kaffee. Ich glaube, Giovanna,

Sie können jetzt die Tassen füllen. Wenn der Kaffee gelungen

ist, vielleicht versöhnt dies die zarte Künstlerseele und

sie fasst neuen Mut.«

Giovanna goss die Tassen voll.

Marianne probierte zuerst.

»Ah ja, so muss er sein!«

Giovanna trank einen Schluck.

»Das schmeckt wirklich gut! Vielleicht trinke ich in Zukunft

auch Kaffee. Marianne, vielen Dank, dass sie unser Café vor

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dem Bankrott gerettet haben. Zum Dank schließe ich das Lokal

für eine Stunde und helfe, Ihren Stand aufzubauen!«

»Das ist eine Verschwörung! Jetzt kann ich keinen Rückzieher

mehr machen.«

* * *

20


Der Stand war aufgebaut. Auf weißer Seide standen Vasen,

Becher, Schüsseln und Schalen, alle bemalt in

leuchtendem Gelb, Rot und Blau. Ein bestimmtes, etwas

zerfranstes Blattmotiv war auf allen Objekten zu sehen. Es

zeugte entweder von mutiger Genialität oder von trauriger Unfähigkeit.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es. Das

Auge wurde hier sehr herausgefordert.

Giovanna hatte ihnen geholfen. An den Kunstwerken hatte sie

die Farben bewundert, war aber dann schnell wieder zu ihrem

Café zurückgekehrt.

Martha betrachtete die ausgestellte Ware.

»Marianne, wie bist du zum Töpfern gekommen?«

»Mein Therapeut …«

»Du hast einen Therapeuten?«

»Ich mag ja ein Ass als Chefsekretärin sein, aber sonst … da

hab’ ich so meine Probleme. Behalt’s für dich! Es geht ja niemanden

etwas an. Jedenfalls hat mich mein Therapeut dazu angeregt.

Er meinte, ich müsste etwas mit meinen eigenen Händen

gestalten. Das würde mir die innere Seelenruhe bringen,

die ich brauche, um mit dem Alltagsleben zurecht zu kommen.

Das ist alles etwas verzwickt. Ich schäme mich ein bisschen. Er

hat mir einen Schubs gegeben, damit ich ins Wasser springe.

Nun bin ich hier!«

Martha drückte Marianne spontan an sich.

»Das hast du ganz prima gemacht! Wirst sehen, es war nicht

nur eine gute Therapie, im Handumdrehen wirst du noch berühmt

und stinkereich!«

Marianne lachte.

»Martha, dir sieht man an, dass du eine besondere Klasse von

Frau bist. Ich dagegen bin nur die brave, hart arbeitende Marianne,

der man alles zumuten kann. Und dass ich hier sitze und

darauf warte, dass wildfremde Menschen ein Urteil über meine

Werke fällen, so wie bei einer Schulprüfung, das liegt mir noch

schwerer im Magen als dieses Gebräu! Martha, mein Magen

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brennt, mein Hals ist trocken, mir fällt alles aus der Hand. Ich

habe eine Scheißangst!«

Da saß sie, Marianne, Chefsekretärin in einer der größten

Werbeagenturen der Welt, inmitten leuchtend bunter Gegenstände

in einem rosaroten Regenmantel, bleich und verängstigt

wie ein kleines Mädchen, das nicht gesehen werden will, aber

mitten im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit steht.

»Ich bin bei dir!«, sagte Martha. »Außerdem haben wir nur

zwei Stunden, dann müssen wir sowieso ins Büro. Heute Mittag

kommt dieser wichtige Kunde!«

Der Nieselregen hörte nicht auf. Auf dem Markt war wirklich

alles grau. Die einzigen leuchtenden Farben gab es an Mariannes

Stand. Trotzdem gingen alle Passanten nach einem kurzen

Blick weiter. Niemand blieb stehen. Marianne war erleichtert.

Die Zeit ging vorbei. Bald würde sie alles wieder einpacken –

und niemals wiederkommen.

Ein langer, schwarzer Ledermantel, Cowboystiefel ohne Sporen,

ein breitrandiger Filzhut und ein roter Wollschal – da stand

er, der junge Mann aus dem Café. Er nahm eine Tasse in die

Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Er stellte sie wieder

zurück. Sie wackelte ein wenig. Er nahm einen Becher und

drehte ihn nach allen Seiten.

Marianne stand auf.

»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«

Der junge Mann hielt ihr abwehrend die Hand entgegen. Ich

will nicht angesprochen werden, hieß diese Geste. Er blickte

Martha kurz an mit einem Blick, der sagte, wie können Sie mir

das nur antun!

Jetzt nahm er eine Schüssel. Mit beiden Händen drehte er sie

ins Licht. Dann stellte er sie wieder zurück.

»Haben Sie ein Brett?«, fragte er.

»Ein Brett?«, sagte Marianne verwirrt.

Der junge Mann drehte sich um und ging an einen Stand ge-

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genüber. Er kam zurück mit einem glatten Holzbrett. Das legte

er auf einen Stuhl. Dann nahm er eine Tasse und stellte sie auf

das Brett. Das heißt, er versuchte es. Die Tasse blieb nicht stehen.

Wie auch immer sie aufgesetzt wurde, kippte sie zur Seite.

Der junge Mann schaute Marianne eindringlich an und dann

triumphierend Martha.

Als nächstes holte er einen Becher. Dasselbe Spiel, der Becher

blieb nicht gerade stehen. Die Schüsseln wackelten, die Vasen

neigten sich zur Seite. Eine Tasse blieb stehen, dafür bildete ihre

Öffnung eine schiefe Kante.

Er nahm einen Krug, den mit der gelben Sonnenblume, und

befeuchtete einen Finger mit der Zunge. Dann rieb er darüber.

Die Farbe schmierte. Vorsichtig stellte er die Vase wieder zurück.

Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und verschwand

in der Menge.

Marianne saß in der Ecke, leichenblass. Ihre Hände zitterten.

Es sah aus, als ob sie jeden Augenblick losheulen würde.

»Jetzt hast du das Abscheulichste überstanden, was es an

menschlichen Kreaturen gibt. Der Rest kann nicht mehr so

schlimm werden!«

Da musste sogar Marianne lachen.

»Martha, ich bin froh, dass du bei mir bist! Komm, wir packen

alles wieder ein.« Dann fügte sie unerwartet trotzig hinzu.

»Und das nächste Mal wird niemand mehr etwas daran herumzumäkeln

haben!«

* * *

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Monika H. Sommerland

Reisegefährten

der Liebe

Roman

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Mitten in den schottischen Highlands rettet Ron Liliane das Leben.

Sie bleiben als ›Reisegefährten‹ zusammen. Schließlich führt sie ihr

Weg nach London.

Dort, inmitten der Freunde, findet Liane endlich neuen Lebensmut.

Aber Rons und Lianes junge Liebe muss noch einige Bewährungsproben

bestehen, bis sie endgültig zueinander finden.

Reisegefährten der Liebe

Erschienen 2024 als E-Book

E-Book-ISBN: 978-3-911352-03-1

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Der See war regungslos. Steile Felswände und eine

dunkelgraue Wolkendecke hielt er gefangen wie ein

Foto hinter Glas. Es ging kein Windhauch. Es sangen

keine Vögel.

Das Boot rührte sich nicht. Ohne Ruder sah es aus wie ein

Leichnam, der im Wasser trieb.

Im Boot lag eine junge Frau, die Arme ausgestreckt, als wäre

sie ein Engel, der vom Himmel gefallen war und jetzt gelähmt

auf dem Rücken lag. Sie war nackt. Sie war bleich. Ihre Augen

waren offen, sahen aber nichts. In ihnen waren die endlose

Leere des Himmels und die lähmende Angst, dem Lockruf des

Sees zu folgen.

Sie konnte sich nicht rühren.

Sie konnte nicht weinen.

Sie konnte nicht schreien.

Ihre Seele trieb zusammengekauert wie ein Fötus im Leib einer

Toten.

Ron saß an dem Lagerfeuer, das er mit dürren Zweigen fütterte.

Ein Kreis verwitterter Steine schützte die Glut. Die Flammen

warfen flackernde Reflexe auf das rote Biwakzelt. Es war nicht

viel Feuer. Der Wind fehlte, es in Gang zu halten. Als das Wasser

im Aluminiumbehälter einigermaßen warm war, goss er es

in eine Tasse. Er rührte löslichen Kaffee hinein und trank widerstrebend

das bittere Gebräu.

Er hatte die Einsamkeit gesucht hier im Schottischen Hochland.

Das milde Wetter hatte gehalten. Es gab nur Sonnenschein,

kein einziges Mal Regen. Seine Augen konnten sich

nicht satt sehen an den grünen Hängen, den steilen Hügeln mit

ihren Felsgipfeln und den Bächen, die in gewundenen Pfaden

an den Wanderpfaden vorbeiplätscherten. Der Himmel war so

blau und so heiter – bis heute.

Am späten Nachmittag hatte er einen Hügel überschritten

und vor ihm lag Loch Cailleach, dunkel wie ein verwunschener

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See. Sehr schnell waren Wolken aufgezogen. Mit ihnen verschwand

die Wärme der Sonne. Am liebsten wäre er gleich

weitergegangen, weg von diesem Gewässer. Aber es war schon

spät. So hatte er sein Zelt aufgeschlagen, auch aus Trotz. Er

wollte sich nicht so einfach vertreiben lassen.

Das bisschen Kaffee war schnell getrunken. Ron stand auf

und blickte hinunter auf den See. Ein leichter Windstoß riss

kurz einen Spalt in die Wolkendecke. Dann sah er es: ein ruderloses

Boot mitten auf dem See. Darin lag ein Körper, regungslos.

Auf dem See gab es kein weiteres Boot, am Ufer keinen Menschen.

Es gab niemanden außer ihm.

Ron zog seine Kleider aus, bis auf seine Boxershorts. Bevor

die Kälte seine Entschlusskraft lähmen konnte, sprang er in das

Wasser. Ein einziger Schmerz ging durch seinen Körper bis in

die Zahnspitzen. Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm er

in Richtung des Bootes, ohne dass ihm wärmer wurde.

Das Boot war weit draußen, viel weiter, als es vom Ufer aus

schien. Die fortwährende Kälte in allen Gliedern, die Stille

ringsumher und das allmähliche Verblassen des Tageslichtes

begannen, seine Sinne abzustumpfen. Er ertappte sich dabei,

wie er an Schlaf dachte, an einen Schlaf, der ihn in seine Arme

nahm, um ihn zu wärmen. Da hob er seinen Kopf aus dem Wasser

und schrie, so laut er konnte:

»Nein!«

Es gab kein Echo. Der Schrei wurde geschluckt, als hätte es

ihn nicht gegeben. Aber Rons Geist wurde befreit. Er sah, dass

er jetzt genau vor dem Boot war.

Er hielt sich ein paar Minuten daran fest. Dann zog er sich

mit verbissener Anstrengung über den Rand in das Boot.

Auf dem Boden des Kahns lag eine junge Frau. Sie war nackt.

Ihre Arme waren weit ausgestreckt. Ihre Haut war gleichmäßig

weiß, unterlegt mit einem fein verzweigten Wurzelwerk blauer

Äderchen. Ihre Augen waren geschlossen.

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Ron fühlte ihren Puls. Sie lebte. Ihr Atem ging ruhig und

gleichmäßig. Das schmale blasse Gesicht strahlte Frieden aus

wie in einer tiefen Meditation.

Im Boot lag eine Decke, eine Handtasche und ein Rucksack.

Die Ruder fehlten. Ron nahm die Decke und legte sie über die

junge Frau.

»Hallo, wachen Sie auf!«, schüttelte er die junge Frau.

Sie reagierte nicht.

Er schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und tröpfelte es auf

ihr Gesicht. Sie reagierte nicht. Er nahm sie an den Schultern

und rüttelte und rüttelte. Der Körper bewegte sich wie eine

Stoffpuppe.

Sie ist in einer Art Koma oder steht unter schwerem Schock,

dachte Ron. Soll ich hier bei ihr bleiben bis zum Morgen, in der

Hoffnung, dass irgendeine Hilfe kommt? Wird sie bis dahin

überleben?

Er wickelte die junge Frau fest in die Decke ein.

Auf dem See lag eine Stille, die von den Felshängen herunterzudrücken

schien. Darüber spannte sich eine geschlossen

graue Wolkendecke. Das Ufer, der Strand, der steile Aufstieg,

das spärliche Gras, die wenigen Sträucher und moosbewachsenen

Steinblöcke hatten ihre Farbe verloren. Wie fahle Schemen

warteten sie darauf, in der Nacht zu verschwinden.

Ron öffnete die Handtasche der jungen Frau: Lippenstift,

Kosmetikset, Geldbörse, eine Packung Kaugummi, Tampons,

eine zusammengeknüllte Strumpfhose, ein Notizblock, ein

Mont Blanc Füllhalter, ein Adressbuch und ein Reisepass.

Sie hieß Liliane Brennoven und war 18 Jahre alt, wohnhaft in

Frankfurt am Main, Deutschland.

»Liliane! Wach auf! Liliane, sei ein gutes Mädchen, mach’s

mir nicht so schwer!«

Liliane blieb versteckt in diesem weißen Körper. Ron schaute

sie an. Sie ist ein Engel, der sich verirrt hat. Nichts sagte sie,

kein Zeichen gab sie ihm, dennoch ergriff sie sein Herz. Es setz-

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te einen Moment schmerzhaft aus. Er fühlte, dass er sein

Schicksal gefunden hatte.

In einer Kiste fand er ein Seil. Er verknotete es fest mit dem

Seil, das am Bug des Bodes befestigt war. Das andere Ende band

er sich um den Oberkörper.

Er ließ sich ins Wasser gleiten. Diesmal war er auf die Kälte vorbereitet.

Er schwamm sofort los. Mit einem leichten Ruck begann

sich das Boot zu bewegen. Langsam kam er vorwärts. Jeden Zentimeter

musste er dem See abtrotzen; nur widerwillig gab er seine

Beute frei.

Obwohl alle seine Glieder schmerzten und das Atmen immer

schwerer fiel, erschien ihm alles unwirklich. Es war, als befände

er sich in einem Traum, aus dem er vergeblich versuchte

aufzuwachen. Vergeblich, weil der Traum die Erinnerung an

eine andere Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Diese geheimnisvollen,

geschlossenen Augen, wie haben sie ihn gefunden über

alle Hindernisse, über alle Jahre hinweg? Er war in ihrem

Traum gefangen. Erst, wenn sie aufwachte, konnte er frei sein.

Plötzlich spürte er Sand unter den Füßen. Das Ufer war erreicht.

Er zog das Boot an Land. Das Seil band er um einen Felsblock.

Dann ging er zurück, nahm Liliane auf den Arm und

trug sie hinauf zu seinem kleinen Lager.

Er setzte sie gegen einen großen Stein. Er machte Feuer, erwärmte

Wasser und braute schwarzen Kaffee. Zuerst trank er

selbst eine Tasse.

»Liliane, dieser Kaffee wird dich wieder zu den Lebenden

bringen!«

Sie machte den Mund nicht auf, die Brühe floss ihr das Kinn

hinunter. Ron hielt ihr die Nase zu. Diesmal klappte es. Einige

Schluck Kaffee liefen ihre Kehle hinunter, bis sie anfing zu husten,

eine Reflexreaktion.

Ron trug Liliane in sein Einmannzelt. Er holte eine seiner Bo-

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xer-Shorts, ein T-Shirt, dicke Socken, eine Trainingshose und

eine Daunenjacke und zog alles Liliane an. Anschließend zog

er seine alten Sachen an. Dann steckte er Liliane in den Schlafsack.

Er ging hinunter zum Boot und holte Lilianes Handtasche und

Rucksack. Das Feuer war erloschen, als er zurückkam. Er kroch

in das Zelt und verschloss es.

Sachte schlüpfte er zu Liliane in den Schlafsack.

Wie kalt sie war!

Er drückte sie fest an sich, um sie zu wärmen. Ihr Herz pochte

gegen das seine – ein fernes Pochen, es war noch weit, weit weg.

* * *

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Jemand schrie.

Jemand schrie in seinem Kopf.

Ein wilder, animalischer Schrei, ein verzweifeltes Schreien.

Erschrocken riss er die Augen auf. Ein heftiger Sturm peitschte

Regen gegen das Zelt. Blitze zuckten. Donner auf Donner

rollte den Talkessel entlang. Zwei Augen starrten ihn an. Sie sahen

ihn nicht, sie sahen etwas in weiter, weiter Ferne oder etwas

tief im Innern. Dort war auch die Verzweiflung, die sie festhielt.

Ron öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks. Er klemmte

ein wenig. Langsam schlüpfte er hinaus. Er zog den Reißverschluss

wieder zu. Da drinnen war sicher der trockenste Ort in

diesem Unwetter.

»Liliane!«

Sie hatte aufgehört zu schreien.

»Liliane! Hab keine Angst! Alles wird gut!«

So spricht man mit Kindern. Man verspricht Dinge, deren Erfüllung

nicht in unserer Macht steht.

Sie schaute ihn an, ohne ihn anzusehen.

»Liliane! Komm zu dir! Lass dich nicht gehen!«

Er öffnete einen Spalt breit das Zelt.

Der See war zornig. Wellen schlugen gegen das Ufer und versuchten,

den Strand hochzuklettern. Der Wind heulte von Felsen

zu Felsen. Blitze machten für kurze Augenblicke eine Wasserfläche

sichtbar, die alles Licht in ihre schwarze Tiefe zog.

Das Boot hatte sich vom Strand gelöst und verschwand hinter

einer Regenwand.

Ron schloss wieder das Zelt. Er kauerte sich neben Liliane.

Der Rucksack war wie ein Kokon. Wann wird der Schmetterling

herausschlüpfen und seine bunten Flügel ausbreiten?

Der Regen prasselte auf das Zelt. Der Wind rüttelte an den

Wänden. Ihre Augen hatten ihn entdeckt. Sie sahen ihn an, als

sähen sie ihn nicht, sondern müssten ihn erschaffen.

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»Wir waren drei Brüder«, erzählte Ron. »Alexander war ein

Jahr jünger als ich, Markus drei Jahre jünger. Ich war der älteste,

worauf ich immer besonders stolz war, so als wäre es mein

Verdienst. Mein Name ist übrigens Ron. In meinem Pass steht

Ronald Freitag und da ist auch ein winziges Foto von mir. Ich

weiß nicht, wann ich je in meinem Leben so ausgesehen habe

wie auf diesem Passfoto. Du kannst es dir ruhig einmal anschauen,

Liliane!«

Er holte seinen Rucksack. Aus einer Innentasche zog er den

Pass hervor. Den schlug er auf und hielt ihn Liliane vor das Gesicht.

Sie schaute aber nicht auf den Pass. Ihre Blicke wichen

nicht von ihm.

»Wir wohnten am Rande der Stadt, in einer etwas heruntergekommenen

Villa mit einem großen Garten. Ringsherum gab

es eine Mauer mit Gitterpfählen, die mit Heckenrosen überwuchert

war. Der Garten war verwildert. In den Blumenbeeten gediehen

ganz prächtig der Löwenzahn und die Disteln. Morsche

Äste und eine dicke Schicht verwelkter Blätter lagen unter den

Bäumen. Fallobst lag auf dem Boden und faulte langsam vor

sich hin. Und Hasso scheuchte die Hühner ums Haus und die

Tauben und alles, was sich bewegen konnte, uns drei eingeschlossen.

Hasso war eine Mischlingshündin, die uns Tante Veronika

an einem Ostersonntag gebracht hatte, in einem Korb

mit einer rotblau karierten flauschigen Decke. Meine Mutter

wollte keinen Hund. Der kommt mir nicht ins Haus, hatte sie

immer gesagt. Jetzt lag der Welpe da in seinem Körbchen und

schaute nur sie an. Ein kleines struppiges hässliches Etwas …

an einem Ostersonntag! Er war ja so hilflos. Da musste ein

Mutterherz weich werden.«

Lilianes Augen hingen an seinen Lippen. Sie waren nicht

mehr starr, vielleicht verfolgten sie einen Hund, der im Garten

tobte, oder betrachteten ein Weidekörbchen.

»Stell dir jetzt vor: drei Brüder. Der eine, fangen wir mit mir

an, ein Bücherwurm, saß am liebsten auf einer Bank, neben

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sich einen Krug Limonade und eine dicke Scheibe Brot, in der

Hand ein Buch, immer ein Schmöker mit mutigen Forschern,

wilden Stämmen, giftigen Spinnen, Tigern, Löwen, Panther

und Elefanten. Es konnten auch säbelschwingende Sarazenen,

blutrünstige Mongolen oder Indianer auf dem Kriegspfad sein.

Wie du siehst, wollte dieser Bursche nicht hinter einem Buch

sitzen, sondern in die Welt hinausziehen und viele Abenteuer

erleben.«

Der Regen prasselte unvermindert auf das Zelt.

»Der zweite, Alexander, der wollte nicht lesen. ›Alles Zeitverschwendung‹,

sagte er, wo es doch so viel zu erleben gibt.

Mit seinen abstehenden Ohren, seinen Sommersprossen und

seinen stets ungekämmten Haaren versetzte er alle Tantchen

und Onkelchen in größte Aufgeregtheit und moralische Entrüstung.

Was stellt er jetzt wieder an? Da wurden zum Beispiel

Gänse befreit oder Katzen ein Glöckchen an den Schwanz gebunden

oder Käfer eingesammelt und beim Sonntagsbraten

vorgeführt. Dieser Junge wollte, dass man von ihm spricht und

ihn bewundert. Ja, so war er, Alexander. Kein bisschen hat er

sich verändert. Du wirst ihn ja noch kennen lernen, Liliane!«

Liliane schaute ihn an, als wollte sie sagen, dass dies bestimmt

nicht ihr Wunsch sei.

Ron öffnete seinen Rucksack. Ah, ja, das hätte ich beinahe

vergessen! Eine metallene Flasche im Lederetui. Die Verschlussklappe

war zugleich ein Becher. Er füllte ihn mit dem

Whisky, den ihn dieser Münzen sammelnde Wirt verkauft

hatte. Vorsichtig setzte er ihn an Lilianes Lippen. Tropfen für

Tropfen trank sie den Becher leer. Beinahe hätte er geweint vor

Freude.

»Ron und Alexander, die kennst du jetzt. Kommen wir zum

dritten, Markus. Warum er diesen biblischen Namen bekam,

weiß ich nicht. Keiner meiner Eltern war fromm. In die Kirche

gingen wir nur an besonderen Feiertagen oder wenn Oma zu

Besuch war. Aber Markus war trotzdem der richtige Name für

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ihn. Er war ein ernstes Kind. Er weinte, wenn Alexander mit

Steinen nach den Hühnern warf. Er verstand es nicht, wenn

wir ihn neckten, stumm und vorwurfsvoll sah er uns dann an.

Am liebsten saß er in der Küche und half Mutter beim Kartoffelschälen

oder Geschirrspülen und solchen Sachen. Kurzum,

wir konnten nichts mit ihm anfangen. Was will man mit so

einem Bruder? Er hatte aber einen Schutzengel. Das war Hasso,

der ihn immer im Auge behielt und sofort zu seiner Verteidigung

bereit stand. Deshalb konnten wir ihn nicht einmal so ärgern,

wie wir das gern gemacht hätten. Das waren die drei Freitagsbrüder.

Jetzt kannst du sie dir vorstellen.«

Liliane nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.

»Es war ein kleines Paradies. Allerdings mit einer Mauer

drumherum. Die Straße hinunter, hinter einem kleinen Hügel,

da begann der Wald, der endlose, geheimnisvolle Wald. Da

mussten wir hin, den mussten wir erforschen, erobern. Es war

nämlich so: Es war uns verboten worden, dort allein hinzugehen.

Man konnte sich leicht darin verirren. Es gab böse Menschen,

die nur darauf lauerten, kleine Buben mit Haut und

Haaren zu fressen. Dann waren da noch Wildschweine, Hornissen,

tollwütige Füchse und natürlich der Große Böse Wolf.

Wenn das nicht ein Abenteuer versprach!«

Ein kleines Funkeln strahlte in Lilianes Augen.

»Alexander und ich, wir machten Schlachtpläne. Wenn es

galt, etwas Verbotenes zu tun, dann waren wir uns immer einig.

Sonst gingen wir uns aus dem Weg. Aber was war mit

Markus? Der musste schon deshalb mit, damit er uns nicht verraten

konnte. An einem Samstagnachmittag kam unsere Chance.

Mutter wollte plötzlich die ganze Wäsche waschen, die sich

im Laufe der Zeit angehäuft hatte. Sie hasste diese Arbeit und

schob sie immer wieder hinaus. Auf jeden Fall waren wir im

Weg. Damit wir auch nicht gleich alles wieder schmutzig

machten, wurden wir zu Tante Veronika geschickt. Lederhosen,

feste Schuhe, die wir selbst putzen mussten, wollene Knie-

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strümpfe, die juckten, und Hemden mit langem Ärmel, obwohl

es Sommer war – so wurden wir losgeschickt und ermahnt,

schön brav zu sein und ihr keine Schande zu machen. Wir

trotteten also brav die Straße hinunter, bis wir außer Sichtweite

waren. Mit einem kleinen Kopfnicken packten wir Markus und

rannten den Hügel hinauf und hinunter zum Wald. Da war ein

Bach, nicht tief, aber so breit, dass wir nicht drüberspringen

konnten. Das erste Abenteuer! Markus fing an zu weinen.«

Liliane bewegte sich. Ron bückte sich und half ihr, sich aufzurichten.

Ihre Augen waren dunkelgrün.

»Jetzt half mir meine Lektüre. Wir suchten große Steine. Die

warfen wir in den Bach. So konnten wir bequem den gefährlichen

Amazonas überqueren. Krokodile und Pirañas hielten

sich versteckt. Der Wald war schon etwas unheimlich. Bäume,

Sträucher, der Boden bedeckt mit Laub und Gestrüpp, Farne

und umgestürzte Baumstämme – man fühlte sich plötzlich ungeschützt.

Hinter jedem Schatten konnte eine Gefahr lauern.

Dazu kamen die ungewohnten Geräusche: der Wind in den

Baumwipfeln, das Klopfen eines Spechts, die Rufe von Vögeln

und ein merkwürdiges Rascheln, von dem man nicht wusste,

aus welcher Richtung es kam. Markus weinte immer noch. Da

mussten Alexander und ich beweisen, dass wir keine Angst

hatten. Wir suchten uns herabgefallene Äste und brachen die

kleinen Äste und Zweige ab. Jetzt hatten wir Stöcke. Sie wurden

unser Schwert, unsere Lanze oder unser Knüppel. Markus

bekam auch einen in die Hand gedrückt. Er umklammerte ihn,

als könne er ihn vor dem Ertrinken retten. Weiter ging’s!«

Ein lauter Donner ertönte, gefolgt von einem grellen Blitz.

Der Regen ließ nach. Der Sturm verebbte.

»Wir waren schlecht ausgerüstet. Das stellten wir gleich fest.

Wir hatten kein Hirschmesser dabei. Das braucht man auf jeden

Fall. Vor allem aber brauchten wir Pfeil und Bogen. Bei aller

Fantasie war solch ein plumpes Stück Holz doch etwas Primitives.

Das nächste Mal, ja da wollten wir mit einem ganzen

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Waffenarsenal anrücken. Dann standen wir plötzlich vor einem

Abgrund. Es war ein alter Steinbruch. Ein schmaler Pfad führte

die Felswand hinunter. In der Wand wuchsen hartnäckige Büsche

und knorrige Bäume. Also, da mussten wir runter. Ich

ging voraus, Markus kam danach, Alexander als letzter. Der

Abstieg ging langsam. Merkwürdigerweise machte Markus

keine Probleme. Nur ich, das muss ich gestehen, stellte fest,

dass ich nicht schwindelfrei war. Das sollte mir aber niemand

anmerken. Deshalb erkundigte ich besonders sorgfältig jeden

nächsten Schritt und hielt mich krampfhaft an jeder Ritze im

Felsen fest. Schließlich kamen wir unten an. Wir setzten uns

auf einen umgedrehten Schubkarren und starrten die Wände

hoch. Jeder dachte, wie kommen wir da wieder rauf, keiner

sagte etwas.«

Ron holte aus seinem Rucksack einen Schokoriegel. Er entfernte

das Papier und hielt ihn Liliane vor den Mund. Sie biss

hinein. Dann schüttelte sie ihre Schultern. Ron öffnete den

Reißverschluss des Schlafsacks. Sie griff sofort nach dem Schokoriegel

und schlang ihn in Sekundenschnelle hinunter.

»Hallo, Liliane!«

Sie sagte nichts. Sie wartete.

»Ich langweile dich sicher mit meinen Geschichten!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Da war eine Höhle. In sie führten verrostete Schienen. Der

Eingang war mit Brettern zugenagelt. Aber das Holz war so

morsch, dass einige Bretter lose herabhingen. Wir wollten gerade

in Richtung Höhle gehen, als ein Geräusch in der Felswand

uns erschreckte. Ein Tier schoss den Weg herunter, geradewegs

auf uns zu. Genauer gesagt, es rannte auf Markus zu.

Es war Hasso, der an uns hochsprang und begeistert bellte. So

gingen wir zu viert in die Höhle. Sie war dunkel und feucht.

Eigentlich wollte keiner von uns da wirklich hinein. Aber wer

wollte schon ein Feigling sein? Weit kamen wir nicht. Wir traten

auf eine Art Holzgerüst. Das brach plötzlich unter uns zu-

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sammen. Wir fielen. Ich bekam Alexanders Schuh ins Gesicht.

Meine Nase blutete. Eine Staubwolke ließ uns husten. Dann sahen

wir, wo wir waren: in einer Grube voller Geröll. Die Wände

waren glatt. Eine Möglichkeit hochzuklettern sahen wir

nicht. Wir waren verloren!«

Liliane ergriff seine Hand. Sie drückte sie fest und ließ sie

nicht mehr los.

»Von einem Augenblick zum andern waren aus den mutigen

Abenteurern wieder kleine Buben geworden. Es kam wie ein

Schock, plötzlich hilflos und verwundbar zu sein. Dazu kam die

Dunkelheit, nur der Grubenrand war zu sehen, oben, so weit

oben.«

Liliane drückte ihr Gesicht an seine Hand. Sie wurde feucht

von Tränen.

»Das Ende der Welt, das war es, die ewige Finsternis, die

gnadenlose Bestrafung für alle Missetaten. Markus starrte nach

oben, regungslos. Alexander hieb mit einem Stock gegen die

Wand. Ich war der älteste. Ich fühlte mich verantwortlich. Es

war nicht meine Schuld, nein, das nicht, es war Schicksal –

Pech. Ich überlegte. In allen meinen Büchern gab es immer einen

Ausweg. Wenn die Situation auch noch so aussichtslos

war, der Held hatte immer die geniale, rettende Idee. Ich musste

nur gründlich überlegen – und nicht in Panik kommen! Markus

fing an zu wimmern. Hasso leckte ihm wild das Gesicht.

Das brachte mich auf eine Idee. Ich stellte mich dicht an die

Wand. Alexander kletterte an mir hoch und stellte sich auf meine

Schulter. Markus gab mir Hasso, dann kletterte er an mir

hoch, dann an Alexander und stellte sich auf dessen Schulter.

Wir drückten uns alle fest gegen die Wand. Ich hob Hasso hoch

zu Alexander. Dieser gab ihn weiter an Markus. Markus nahm

ihn, streckte sich und schob ihn über den Grubenrand. Gleich

kletterten wir wieder herunter und warfen uns auf den Boden.

Alle Muskeln taten uns weh. Hasso schaute herunter und bellte.

Hasso, hol Hilfe, riefen wir. Schließlich verschwand er. Wür-

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de er uns sofort vergessen haben, wenn er draußen war und

Vögel jagen konnte und Mäuse? Darauf wollte ich mich nicht

verlassen. Es gab doch eine Menge Bretter, die unter uns zusammengebrochen

waren. Ich legte sie sorgfältig nebeneinander.

Im Dämmerlicht konnte ich wenig erkennen. Ich betastete

die Bretter. Sie waren alle morsch und zu nichts zu gebrauchen,

außer als Brennholz.«

Ron fasste Lilianes Hände. Er sah ihr fest in die Augen.

»In der tiefsten Grube, am Ende aller Hoffnungen, da, wo es

nicht mehr weitergeht, wo man nackt, hilflos und allein ist –

selbst da kann es Hoffnung geben und Rettung!«

Ihr Blick wurde mild. Sie kehrte zu sich selbst zurück. Ein

vorsichtiges Lächeln ging über ihr Gesicht.

»Wir warteten lange, sehr lange. Wir hielten uns in den Armen

und versprachen, immer zusammenzuhalten, sollten wir

je wieder gerettet werden. Ich bin nicht zur Verzweiflung geschaffen.

Ich begann, Geschichten zu erfinden. Alexander und

Markus teilte ich Rollen zu. In der Finsternis ritt unsere Fantasie

über Prärien oder fuhr über die Weltmeere. Dazu grölten

wir und schrien und sangen. Bis ein Bellen die Höhle erfüllte

und Stimmen. Mein Vater stand am Grubenrand und Onkel

Harald. Alles Weitere ging schnell. Schließlich standen wir vor

Mutter in der Waschküche. Die Wäsche war fertig, Feinwäsche

war in Plastikbehälter eingeweicht, die übrige Wäsche

hing an langen Leinen. Die Luft war feucht und roch nach

Waschpulver. Unsere Schuhe waren ruiniert, Kratzer, Nähte

eingerissen, die Lederhosen voller Schmutz und die Hemden

zerrissen. Wir hatten eine Schlacht gekämpft. Wenn ich heute

zurückblicke, wird mir erst klar, dass sie eine junge Frau war.

Sie war unerfahren und wusste nicht, wie sie die durchlittene

Angst und ihre Freude, uns wieder zu haben, ausdrücken sollte.

So kam es, dass wir mit drei Monaten Hausarrest bestraft

wurden. Das war ungerecht! Ich hatte ihr das lange Zeit nicht

verziehen.«

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Liliane legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihre Augen waren

geschlossen. Ein zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

Sie schmiegte sich noch einmal an ihn, dann schlief sie ein.

* * *

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Monika H. Sommerland

Magdalenas

Liebesmelodie

Roman

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Ihre Begegnung in einem Zugtunnel führt die ehemalige Internatsschülerin

Magdalena und den irischen Sänger David zusammen – die

fortan nicht mehr voneinander lassen können.

Ihre große Liebe ist jedoch mit einigen Hindernissen verbunden, die

von den Familien der beiden ausgehen.

So führt sie ihr Weg auf eine aufregende Reise durch einige Stationen

Europas, bis die beiden endlich den Ort ihres zukünftigen Liebesnestes

gefunden haben.

Magdalenas Liebesmelodie

Erschienen 2024 als E-Book

E-Book ISBN: 978-3-911352-02-4

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Der Tunnel war lang.

Im Eisenbahnabteil war es dunkel. Das Licht hatte

kurz geflackert und war dann ausgegangen. Magdalena

nahm die Finsternis wahr wie eine Bedrohung. Sie hielt das

Buch, das sie gelesen hatte, fest in den Händen, ein Halt in bodenloser

Leere. Die Leere kam aus ihrem Innern, das wurde ihr

schlagartig bewusst. All die verlorene Zeit!

So viele Jahre hatte sie in diesem verhassten Internat verbracht,

unter verbiesterten Jungfern, die ihre Unzufriedenheit

an ihren Schutzbefohlenen ausließen, unter Mitschülerinnen,

die ihre Verzweiflung einander spüren ließen durch Intrigen,

Bösartigkeiten und Quälereien, bei denen einige auf der Strecke

blieben.

Ich war mein ganzes Leben lang schon in diesem Tunnel

ohne Licht. Das ›Licht am Ende des Tunnels‹, das wusste sie

genau, das gab es nicht. Es gab die Illusion des Lichtes, eine

kurze Strecke der Selbsttäuschung, dann hieß es, zurück in den

Tunnel.

Aber diesmal war es anders, musste es anders sein, denn sie

hatte ihre Internatszeit abgeschlossen, das Abitur gemacht. Sie

war jetzt frei, wie man so schön sagt. Aber war es wirklich so?

Und außerdem, Freiheit, was bedeutet das?

Eine völlig unbegründete Angst vor der Dunkelheit und der

scheinbaren Endlosigkeit des Tunnels hatte sie erfasst. Sie war

wie gelähmt und nahm nur langsam etwas wahr, das sich in

ihrem Abteil formte. Musik! Eine leise, melancholische Melodie

drang allmählich in ihr Bewusstsein. Es war eine irische

Ballade, auf einer Gitarre gespielt. Sie durchdrang ihre Erstarrung,

löste die Fesseln, die sich um ihr Herz gelegt hatten, und

füllte sie mit Hoffnung.

Gerade als ein leichtes Lächeln die Finsternis aus ihren Gedanken

vertrieb, strömte helles Tageslicht herein und strahlte

zurück im blonden Haar eines jungen Mannes. Er saß ihr schräg

gegenüber und spielte auf einer Gitarre. Er war ganz versunken

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in sein Spiel. Magdalena, die ihr Leben lang vollgepfropft wurde

mit Fegefeuern und Jüngsten Gerichten, die sich Generationen

von abergläubischen Weibern ausgedacht hatten, musste an Orpheus

denken, an einen jungen Gott, an einen Heiligen. Bei dieser

Vorstellung musste sie laut lachen.

Der junge Mann hörte auf zu spielen und sah zu ihr herüber

und lächelte dabei, sodass sie sich kaum zurückhalten konnte

zu weinen.

»Hallo!«, sagte er.

Blaue Augen, so klar wie ein stiller Bergsee und so tief, ein

Lächeln, das ihr Herz erwärmte wie die Abendsonne, eine gerade

Nase, ein Grübchen am Kinn – ein Gesicht, das sie ihr Leben

lang kannte oder gesucht hatte. Schön war er – aber war

er auch wirklich?

»Ich dachte, ich wäre allein im Abteil«, sagte sie, um etwas zu

sagen.

»Ich bin vor dem Tunnel zugestiegen. Aber Sie haben mich

nicht bemerkt, so versunken waren Sie in Ihr Buch. Das ist eine

Gelehrte, dachte ich. Sie wirkten so ernst und dieser Welt entrückt.

Ich heiße David!«

Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie und drückte

sie ganz sacht. Die Hand war warm und fühlte sich an, als sei

sie ein Teil ihres eigenen Körpers. Schnell ließ sie sie wieder los.

»Ich heiße Magdalena! Spielen Sie doch bitte weiter! Wie

heißt das Stück, das Sie gerade spielten?«

»Es ist ein moderner irischer Song von Maura O’Connell mit

dem Titel ›The Scholar‹. Das musste ich spielen, als ich Sie so

sah.«

»Ich weiß nicht, ob ich zur Gelehrten tauge. Ehrlich gesagt,

weiß ich noch überhaupt nicht, was ich machen soll. Weißt

du …«, das Du war ihr so herausgerutscht, sie korrigierte sich

aber nicht. Das Du fühlte sich richtig an. »… Ich habe gerade

mein Abitur abgeschlossen und bin auf dem Weg nach Hause,

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um meinen Eltern das Stück Papier unter die Nase zu halten

und zu sagen: Jetzt bin ich frei!«

David spielte eine kleine luftige Melodie auf der Gitarre, dabei

zupften seine schlanken Finger die Saiten nur sacht an.

»Magdalena … Maria Magdalena … Magdalena Dolorosa …

ist das ein Name, eine Verheißung – oder ein Fluch?«

»Du darfst Maggie zu mir sagen, wenn ich dich Davie nennen

darf.«

»Maggie und Davie, das klingt gut!«

Davie legte die Gitarre weg. Er ergriff ihre Hände und beugte

sich zu ihr hinüber. Dabei hielt er sie gefangen mit einem

Blick, der so verheißungsvoll schien wie das Tor in eine andere

Welt. Lange sah er sie an. Sie wusste nicht, wie ihr geschah,

sie war plötzlich in dieser anderen Welt, in der es nur sie gab

und Davie, aber nicht als getrennte Wesen, sondern als ein

einziges. Sie schloss die Augen und spürte plötzlich seine Lippen

auf ihren. Nur ein kurzer Kuss wie ein elektrischer

Schlag. Dann waren sie wieder getrennt und zurück in der

Wirklichkeit.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Abteils. Der

Zug hatte auf einem kleinen Bahnhof gehalten. Eine Bäuerin

mit zwei vollgeladenen Körben kam herein. Sie hatte zwei Buben

dabei, die sich sofort um einen Fensterplatz stritten.

Davie setzte sich neben Maggie. Sie lehnte ihren Kopf an seine

Schulter. Er legte einen Arm um ihre Hüfte. So saßen sie,

ohne ein Wort zu sagen, viele Stationen lang. Leute stiegen ein

und Leute stiegen aus. Koffer wurden auf die Gepäckablage gehievt

und wieder heruntergeholt. All dies erschien Maggie so

weit weit weg und schemenhaft. Die einzige Wirklichkeit war

Davie, der sie fest in seinem Arm hielt wie ein Anker, der die

Zeit zum Stehen zwingt.

Aber die Zeit ist unerbittlich. Der Zug hielt. Endstation. Aussteigen.

Abschied nehmen. Wie soll es weitergehen? Was war

geschehen? War überhaupt etwas geschehen?

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Dann ging alles so schnell. Es war wie ein Überfall. Kaum

hatten sie den Zug verlassen, kam Franz auf sie losgestürzt.

Das war der Chauffeur ihrer Eltern. Er nahm ihre Koffer und

sagte: »Wir müssen uns beeilen! Willkommen daheim, Magdalena!

Ich steh’ im Halteverbot und der Zug hatte wieder einmal

Verspätung. Das kann Ihr Vater gar nicht leiden, wenn er Protokolle

bezahlen muss!«

»Leb wohl, Maggie!«, sagte Davie und verschwand in einer

japanischen Touristengruppe, die sich aus dem Zug drängte.

Dann saß sie schon in Vaters Limousine, die Fenster heruntergekurbelt

und versuchte vergeblich, Davie zu finden. Aber

es gab ein Volksfest in der Stadt. Der Bahnhofsplatz war festlich

geschmückt mit Girlanden, Kirmesbuden, langen Tischen,

an denen fröhliche Menschen saßen, die große Humpen Bier

tranken und sangen. Andere tanzten auf einer freien Fläche zu

der Musik einer Blaskapelle. Würstchenbuden, eine Schiffschaukel,

Schießbuden und dazwischen Menschen, Menschen,

aber nicht der eine Mensch.

Maggie war verzweifelt. ›Leb wohl‹, hatte er gesagt und

nicht ›auf Wiedersehen‹ oder ›Bis bald!‹ War alles nur in ihrer

Einbildung passiert? War es nur das kurze Tageslicht zwischen

zwei Tunneln?

»Wir müssen noch etwas abholen, Magdalena!«, riss Franz

sie aus ihren Gedanken. »Das dauert nicht lang.«

* * *

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Sie hielten vor ›Irmtrauds Blumenparadies‹. Franz stieg

aus und betrat den Laden.

Maggie betrachtete in der Scheibe des Wagenfensters

ihr bleiches Gesicht. Es sah aus, als sei es eine transparente

Schicht Glasmalerei, eine Folie, die vor die Welt da draußen

aufgetragen worden war.

»Magdalena, bist du das?«

Eine rundliche Frau im Overall, das Haar mit einem roten

Kopftuch zurückgebunden, klopfte an die Wagentür. Irmtraud,

natürlich, das war Irmtraud Sevenbruck. Sie kannten sich seit

dem Kindergarten. Da fanden sie es faszinierend, dass sie am

selben Tag geboren waren und so ganz anders aussahen. Das

war lange her. Sie waren jetzt beide neunzehn.

»Hallo, Irmtraud! Wie geht es dir?«

»Komm doch für einen Sprung rein. Es dauert noch einen

Augenblick, bis wir den Strauß zusammengestellt haben. Gut

siehst du aus! Du hast dich überhaupt nicht verändert, bist

höchstens noch hübscher geworden!«

Sie betraten den Blumenladen. An einem kleinen Tischchen

saßen zwei Mädchen, die eine mit einem violetten, die andere

mit einem rosa Haarband, sonst sah eine aus wie die andere. Sie

bemalten gemeinsam einen großen Bogen Papier. In der Mitte

war eine große Erdkugel. Im Kreis herum wurde sie, von zwei

Seiten gleichzeitig, angefüllt mit Bergen, Bäumen, Schiffen,

Flugzeugen, Autos und Menschen und Tieren.

»Das sind die Zwillinge meiner Schwester, Antonia und Hermine!

Sagt Tante Magdalena ›Guten Tag‹!«

»Guten Tag, Tante Magdalena!«, sagten sie wie aus einem

Munde, ohne aufzusehen, sie hatten Wichtigeres zu tun als

noch eine Tante zu begrüßen – alle Erwachsenen waren Tanten

oder Onkel.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Magdalena? Man hat

gar nichts mehr von dir gehört.« Dabei klopfte Irmtraud leicht

auf ihren Bauch. Ah, da war ein Kind unterwegs. Fast ein Kind,

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ein Blumenladen, vielleicht auch ein Mann, das alles in der Zeit,

in der ich zwar Latein und Mathematik einigermaßen in den Griff

bekam, aber keine Chance hatte, erwachsen zu werden.

Maggie seufzte.

»Irmtraud, ich hoffe, dein Baby wird so süß wie diese beiden.«

»Süß sind wir, jetzt hörst du’s, Tante Irmtraud!«

Waren sie auch in ihre Arbeit vertieft, entging ihnen dennoch

nichts, besonders, wenn es sie selbst betraf.

Magdalena hatte zwar ›süß‹ gesagt, sich aber dabei nichts

gedacht. Sie wusste nicht, was man von Kindern halten sollte.

War das süß, eigene Kinder zu haben?

»Ich war in einem Schweizer Internat. Mein Vater hat mich

da hingesteckt, damit aus mir was Passables wird. Die letzten

Jahre war ich nicht einmal zu Hause. In den Ferien musste oder

durfte ich auf Sommercamps in England, Irland oder Kanada,

der Sprache wegen. Jetzt bin ich mit der Schule fertig.«

»Ah, deshalb das große Blumengebinde! Das ist sicher für

dich! Oh, da gratuliere ich dir auch. Warte, ich glaube, ich habe

ein kleines Geschenk für dich.«

Irmtraud ging in einen Nebenraum.

»Was ist ein Schweizer Internat?«, fragte eines der Mädchen,

ohne von der Zeichnung aufzusehen.

»Das ist eine Schule in der Schweiz. In meiner Schule gab es

nur Mädchen. Wir hatten zusammen Unterricht und wohnten

in einem großen Haus mit vielen Klassenzimmern, Schlafsälen

und einem Gemeinschaftsraum. Da gab es noch einen Speisesaal,

da wurde gegessen, alle zur selben Uhrzeit, einen Turnsaal,

ein Musizierzimmer und natürlich Toiletten und Duschräume.

Um das Ganze herum gab es eine hohe, hohe Mauer

mit einem Tor, das bewacht wurde und durch das man nur mit

Genehmigung durfte.«

»Du warst im Gefängnis!«

»Da waren noch Lehrerinnen, strenge Lehrerinnen. Den ganzen

Tag gab es entweder Unterricht oder man machte Hausauf-

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gaben. Abends konnte man lesen, etwas musizieren oder Briefe

schreiben. Fernsehen gab es keins. Ab und zu wurden im Unterricht

Videos gezeigt. Am Wichtigsten waren die Prüfungen,

jede Woche ein Test oder eine Klassenarbeit, dann jedes halbe

Jahr Abschlussprüfungen.«

»Du musst eine Menge ausgefressen haben, dass sie dich da

hingeschickt haben!« Das Mädchen mit dem rosa Haarband

hatte einen Wachturm gemalt und drehte das Blatt weiter.

Franz erschien mit einem Riesenstrauß langstieliger Lilien

mit Farnzweigen, zusammengehalten von einem breiten lila

Band. Irmtraud hatte ein kleines Sträußchen Vergissmeinnicht.

Das gab sie Maggie schüchtern.

»Also, nochmals, Herzlichen Glückwunsch! Vielleicht kannst

du uns einmal besuchen, wenn du jetzt wieder zu Hause bist.

Meinen Fred kennst du vielleicht auch noch. Das war der mit

den Sommersprossen, der den Mädchen immer Hagebutten in

den Halskragen steckte. Jetzt ist er aber ganz friedlich und verkauft

Versicherungen.«

»Danke, Irmtraud! Ich werde bestimmt kommen. Macht’s

gut, ihr beiden Süßen.«

»Tschüss, Tante!«

* * *

241


Jetzt lag es vor ihr, ›ihr Zuhause‹, das schon lange aufgehört

hatte, ihre Heimat zu sein. ›Chateau Sander‹ stand über

dem großen schmiedeeisernen Torbogen.

Ein uniformierter Pförtner öffnete das Tor und schielte neugierig

in den Wagen.

»Fräulein Sander, willkommen!«, sagte er und lüftete seine

Mütze. Magdalena konnte sich an den Mann nicht erinnern,

deshalb nickte sie nur kurz.

Der Weg führte einen bewaldeten Hügel hinauf, vorbei an

Stallungen und einem eingezäunten Ziehbrunnen. Oben stand

ein mächtiges, dreigeschossiges Herrenhaus mit einer zweiflügeligen

Freitreppe. Es war einmal ein Schloss und das Land drumherum

eine Grafschaft, zu der noch Ländereien und Wälder gehörten.

Graf Sippern-Urzen konnte sich das alles nicht mehr leisten,

da keines seiner Kinder etwas mit Landwirtschaft oder

Forstwirtschaft zu tun haben wollte. Für Magdalenas Vater war

es ein Kinderspiel, den alten Grafen mit einer Leibrente und seine

Erben mit einer lächerlichen Summe abzuspeisen. Das war

ein Höhepunkt im Leben des Franz-Josef Sander, Alleinherrscher

über ein Geflecht von Investmentfirmen, Holdings, Baugesellschaften,

Brauereien und einer privaten Fluggesellschaft.

Der Chauffeur öffnete ihr die Wagentür, holte das Blumengebinde

und schritt vor ihr die Treppe hoch. Die Tür öffnete

sich und Roland, Papas Sekretär, trat auf wie ein Schauspieler,

der auf sein Stichwort gewartet hatte.

»Liebe Magdalena, willkommen zu Hause! Wir sind alle

mächtig stolz auf Sie!« Hinter seinem Rücken holte er ein Sträußchen

Orchideen hervor, das legte er in ihren Arm wie einen

Brautstrauß. Die Blumen rochen nach Rasierwasser. »Ihr Herr

Vater und Ihre Frau Tante warten im großen Salon. Darf ich Sie

dorthin geleiten?«

Magdalena konnte diesen Typ nicht ausstehen. Er war ihr zu

ölig. Sie nahm an, dass sie Teil eines detailliert ausgearbeiteten

Karriereplans war von Roland, Chefsekretär und demnächst

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vielleicht Schwiegersohn und Firmenerbe. Sie bekam eine Gänsehaut

bei diesem Gedanken.

Bevor sie reagieren konnte, hatte er sie untergefasst und

schritt mit ihr durch die hohe, lange Eingangshalle hinein in

den Empfangssalon. Er präsentierte Magdalena so, als sei es

sein persönliches Verdienst, dass sie jetzt hier war.

Franz-Josef Sander stand auf von seinem büffelledernen Ohrensessel.

Er war hochgewachsen. Auch wenn sie kein Kind

mehr war, sah er auf sie herab. Seine blond gefärbten Haare

machten ihn nicht jünger, denn die Augen in diesem grimmigen

Gesicht mit den herabgezogenen Mundwinkeln waren die Augen

eines Menschen, der nie jung gewesen war. Verachtung lag

in seinem Blick, Verachtung vor der ganzen Welt. Was sollte seinen

hohen Ansprüchen gerecht werden?

»Hallo, Vater!«

Magdalena war unter seinem Blick wieder zu einem kleinen

Mädchen geworden, das nie wusste, was sie wieder falsch gemacht

hatte, um die Missbilligung ihres Vaters zu verdienen.

»Franz, den Strauß!«

Der Chauffeur überreichte Herrn Sander das Blumengebinde

aus Irmtrauds Blumenparadies. Dieser gab es, ohne ein Lächeln,

weiter an seine Tochter.

»Hier als kleine Anerkennung, Magdalena! Ich habe noch

große Pläne vor mit dir. Aber davon reden wir später. Gib Tante

Rosel einen Kuss!«

Tante Rosel war seine Schwester. Das sah man sofort. Beide

hatten die verbiesterte Überheblichkeit von Menschen, die nur

an sich selbst dachten – und Erfolg damit hatten. Sie führte den

Haushalt auf Chateau Sander, sie war die Hauswirtschafterin,

die Marschallin. Magdalenas Mutter dagegen …

»Wo ist Mama?«

»Von deiner Mutter reden wir nicht mehr!« Franz-Josef Sander

wurde rot vor Zorn. »Kein Wort über diese Person!« Er

schrie. »Und wage nicht, nach ihr zu fragen!«

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Er drehte sich um und verließ erregt den Raum.

Magdalena spürte, wie ihr Magen brannte. Egal, was hier

passiert, immer gibt man mir das Gefühl, ich sei schuld. Jetzt

war ich solange weg und noch immer werde ich hineingezogen

in diese Schlangengrube mit dem Namen Familie Sander.

»Ich hatte ihn vor dieser Frau gewarnt!« Rosel grinste triumphierend.

In ihrem schwarzen Kleid mit der silberschwarzen

Stola und der schwarzen Haube sah sie aus wie die Anklägerin

in einem Hexenprozess. »Mehr sage ich nicht!«

Magdalena warf das Blumengebinde und Rolands Orchideensträußchen

auf den Tisch und rannte hinaus, die Treppen

hinauf durch lange, halbdunkle Flure, an Zimmern vorbei, in

denen niemand wohnte, ein enges Treppenhaus hinauf in ein

Turmzimmer, das einmal ihr zu Hause war.

Nichts war vorbereitet. Die Fenster waren geschlossen. Niemand

hatte gelüftet oder sauber gemacht. Es gab keine Blumen

noch den Krug Wasser, den ihr Mama immer auf die Kommode

stellte. Doch, eine Veränderung gab es. Das Bild ihrer Mutter in

dem bunten Jugenstilrahmen war weg. Das war zu viel. Weinend

warf sie sich aufs Bett. Aber niemand kam, sie zu trösten.

Schließlich fasste sie sich wieder. Sie öffnete weit alle Fenster

und ließ die milde Abendluft herein.

Wer sollte mich trösten?

Zwei blaue Augen tauchten aus ihrer Erinnerung auf. Sie lächelte,

heute war etwas passiert, was vielleicht ein Traum war,

aber einen Geschmack gab, wie das Leben sein könnte.

* * *

244


Das Abendessen verlief wortlos. Draußen wütete ein

Sturm. Das schien weit weg. In der Mitte des riesigen

Esszimmers saßen drei Personen an einer langen Tafel.

Selma, die Köchin, brachte Braten, Kartoffeln und Kopfsalat

und einen Schokoladenpudding mit Vanillesoße als Nachspeise.

Für kulinarische Extravaganzen hatte man auf Chateau Sander

kein Verständnis. Essen war eine biologische Notwendigkeit.

Es gab einen leicht säuerlichen Weißwein aus eigenem Anbau.

Wo genau er angebaut wurde, wusste Magdalena nicht.

Sie wusste überhaupt wenig von dem, was auf den Ländereien

vor sich ging, und noch weniger, wie ihr Vater soviel Geld verdiente.

Sie wusste nur, dass sie so etwas war wie ein Stück Land

oder eine Fabrik oder eine Aktie, etwas, das Gewinn bringen

musste, um seinen Wert zu beweisen.

Vater legte seine Serviette auf den Teller. Das war das Zeichen,

dass die Mahlzeit beendet war – für alle.

»Dein Zeugnis ist in Ordnung. Damit kann man etwas anfangen.

Hat mich ja auch eine Menge Geld gekostet!« Selbst all

diese Jahre der Entbehrung, der Schikanen und des Büffelns

waren nicht ihr Verdienst. »Dieses Kapital …« Dabei hielt er

seine Hände so, als habe er zwei Beutel Goldstücke in ihnen.

»… das muss man gut investieren, damit größtmöglicher Gewinn

herauskommt.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Ich habe mir das lange überlegt und meine Verbindungen

spielen lassen. Deine nächste Station ist Cambridge in England

– und zwar die Cambridge International Business School.

Das ist ein Elite-College. Da kommt nicht jeder rein. Aber das

muss dich nicht kümmern. Du bist angenommen! Deine Koffer

brauchst du erst gar nicht auszupacken. Morgen reist du wieder

ab. Roland wird dir morgen Früh die Tickets geben, ICE nach

Frankfurt-Flughafen, danach mit der Lufthansa nach London,

schließlich mit dem Schnellzug nach Cambridge.«

»Wo ist meine Mutter?«

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»Dem College ist ein boarding house, ein Internat, angegliedert.

Die warten dort bereits auf dich. Innerhalb von vier bis

sechs Jahren kannst du den Doktortitel erwerben, den ›Doctor

of Philosophy in International Economics and Finance‹. Sind

das nicht glänzende Aussichten? Ich wollte, ich hätte sie gehabt!

Dann kannst du in meine Firma eintreten. Schließlich

mache ich das alles nur für dich.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Das wär’s für heute. Du solltest jetzt schlafen gehen, denn

morgen musst du früh raus. Gute Nacht!«

Der Wind rüttelte an den Fenstern. Die Hunde bellten.

»Was ist da nur los? Dieses Gebell geht schon seit Stunden.«

»Da ist jemand auf unserem Land«, sagte Rosel. »Franz hat

ein paar Leute zusammengetrieben. Sie suchen alles systematisch

ab. Es wird wohl wieder so ein Herumtreiber sein, der

glaubt, er könne sich bei uns bereichern. Da hat er keine Chance.

Franz hat jedem einen kräftigen Stock gegeben. Außerdem

sind ja da auch noch die Hunde …«

»Gut gemacht, Rosel! Wir müssen uns schützen. Du bist noch

da, Magdalena?«

»Nein!«

Magdalena stand auf und verließ grußlos den Raum.

* * *

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