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SÜDTIROLER KU LTURI N ST ITUT

GEFÖRDERT VOM LANDESASSESSORAT FÜR SCHULE UND KULTUR

Ein Kind unserer Zeit

Oratorium von Michael Tippett

Meran - Kursaal

Mittwoch, 6. November 1996, 20.30 Uhr

Bozen, Haus der Kultur »Walther von der Vogelweide«

Donnerstag, 7. November, 20.30 Uhr

Organisatorische Abwicklung: Norbert Bertignoll



Ausführende

Solisten:

Sabina von Walther

Sonia Malta

Gerhard Haller

Peter Neff

- Sopran

- Mezzosopran

- Tenor

- Bariton

Chor des Südtiroler Sängerbundes

Haydn-Orchester

Dirigent: Josef Scheidegger



Josef Scheidegger

Musikalische Ausbildung an der Akademie für Schul- und

Kirchenmusik in Luzern mit den Hauptfächern Orgel, Dirigieren

und Schulmusik. Mehrere Studienaufenthalte in

Salzburg (Mozarteum), 1990/91 in London GB. Studien am

Royal College of Music, am Trinity College of Music und an

der Guildhall School of Music and Drama. Praktische Chortätigkeit

unter der Leitung von Colin Davis (BBC-Choir) und

Simon Joly (BBC-Singers). Intensive Auseinandersetzung

mit der englischen Chorliteratur insbesondere Byrd, Purcell,

Britten, Tippett u.a.

Josef Scheidegger gründete und leitet heute das Vocalensemble

Rondo Cantando und den Konzertchor der Luzerner

Lehrer und Lehrerinnen, mit denen er regelmäßig große

Chor- und Orchesterwerke aufführt. Seit über 30 Jahren ist

er Kirchenmusiker an der Kirche Sankt Andreas Wolhusen.

Zu Gastdirigaten wurde er mit Haydns Schöpfung, der AS-

Dur Messe von Schubert, Sinfonien und Konzerten von

Beethoven, Mozart und Schubert nach Rumänien und

Deutschland eingeladen.

Er ist stellvertretender Direktor der Musikakademie Luzern

(Hochschule). Pädagogische Tätigkeit an der Musikhochschule,

in der Lehrerbildung und in Fortbildungskursen im

In- und Ausland. Seit 1991 in den Chorwochen und den

Chorleiterseminarien des Südtiroler Sängerbundes.



Sabina von Walther

Sopran. Geboren in Rom.

1988 Diplom in Querflöte

am Konservatorium »Claudio

Monteverdi« in Bozen.

1989 nimmt sie ihr Gesangsstudium

bei Prof.

Helena Lazarska am »Mozarteum«

in Salzburg auf

und setzt es 1991 an der

Hochschule für Musik und

darstellende Kunst in Wien

fort. Sie besucht zudem die

Liedklasse bei Kmsg. Walter

Berry und die Opernklasse

bei Prof. Dieter Bülter-

Marell. 1993 1. Preisträgerin beim Gesangswettbewerb

»Jugend musiziert« in Leoben sowie »Erik-Werba-Gedenkpreis«.

1995 wurde ihr in Wien das Stipendium der Yamaha­

Foundation zuerkannt. Konzerte in In- und Ausland (Stabat

Mater von Pergolesi, Magnificat, Weihnachtsoratorium und

Matthäus Passion von J. S. Bach; Messias von G. F. Händel;

Requiem von W. A. Mozart; Lazarus von F. Schubert

u. a.; Konzertarien von Mozart im Rahmen des »Klangbogen

Wien«, sowie Liederabende. 1995 »Pamina« in der »Zauberflöte«

von Mozart mit der Wiener Kammerphilharmonie.

Sonia Malta

Mezzosopran. Sonia Malta,

geboren in Belo Horizonte,

Brasilien, studierte am Konservatorium

in Belo Horizonte

Musik und an der Universität

Rio de Janeiro Gesang.

Ab 1990 Besuch der Musikhochschule

Karlsruhe und

der Opernschule Karlsruhe

sowie Meisterkurse bei

Ingrid Bjoner, Elisabeth

Schwarzkopf, Hilde Zadek,

Anna Reynolds, Ingeborg

Danz und Barbara Schlick

(Barockgesang). Gewinnerin

zahlreicher Preise: 1988 1. Preis beim Liederwettbewerb in

Rio de Janeiro, 1989 3. Preis beim Internationalen Gesangswettbewerb

in Rio de Janeiro, 1992 2. Preis beim Wettbewerb

des Freundeskreises der Hochschule Karlsruhe, 1993

Preis des Bürgermeisters der Stadt Karlsruhe. Engagements

für Liederabende, Oratorien, Messen, Kantaten und Opernrollen

in Brasilien, Spanien, Italien, in der Schweiz und in

Deutschland.



Gerhard Haller

Tenor. Architekturstudium

und danach freischaffender

Architekt in Bozen. War Mitglied

und Solist verschiedener

Chöre. Stimmschulung

bei Frau Prof. Bragato, Konservatorium

Bozen. Henny

von Walther, Bozen, und

Ada Zapperi, München.

Teilnahme an verschiedenen

Lied- und Opernseminaren

und Kursen im In- und

Ausland. Mitglied des »Cobochti-Ensembles«.

Mit diesem

Einspielung einer

Schallplatte und Aufnahmen für ORF und RAI.

Teilnahme bei den von Prof. Dr. Erik Werba geleiteten Liedinterpretationsseminaren

in Bozen und Preisträger im Jahre

1989.

Solist bei Lieder- und Opernabenden sowie bei geistlichen

Konzerten in Deutschland, Österreich, Oberitalien und Südtirol.

Rundfunkaufnahmen für die RAI.

Peter Neff

Bariton. Der Kanadier Peter

Neff kam nach einem Studium

der Philosophie in

Toronto an die Hamburger

Musikschule. Opern-Engagements

führten ihn dann

an die Wiener Staatsoper,

an die Städtischen Bühnen

Osnabrück, an das Staatstheater

Braunschweig, an

die Wuppertaler Bühnen

und an die Städtischen Bühnen

Augsburg, an denen er

zur Zeit Guglielmo (»Così

fan tutte«), Figaro (»Der Barbier

von Sevilla«) oder Danilo (»Die lustige Witwe«) verkörpert.

Sein Interesse gilt jedoch in gleicher Weise dem Liedund

Konzertgesang sowie der pädagogischen Tätigkeit.



Chor des Südtiroler Sängerbundes

Dieser Chor setzt sich aus Sängerinnen und Sängern zusammen,

die aus verschiedenen Chören unseres Landes

kommen. Das Oratorium «Ein Kind unserer Zeit« hat bei ihm

großes Interesse gefunden. In zwei Schulungswochen und

mehreren Wochenenden wurde intensiv geprobt; dabei ist

der Chor zu einer homogenen Gemeinschaft zusammengewachsen.

Die Arbeit am Oratorium war für die Sängerinnen und Sänger

anspruchsvoll, aber auch bereichernd. Es hat sich die

Erfahrung bestätigt, daß es in unserem Lande Sängerinnen

und Sänger gibt, die auch anspruchsvolle Werke bewältigen.

Einstudiert hat das Werk Josef Scheidegger, der auch dirigieren

wird. Mitarbeiter waren Othmar Trenner, Luis Mitterer,

Peter Hölzl, Otto Chizzali, Monika Schmid, Martina Müller-Jenni,

Rudi Chizzali, Klaus Reiferer und Josef Oberwälder.

Der Komponist Michael Tippett

Michael Tippett wurde am 2. Januar 1905 in London als

Sohn eines Rechtsanwalts und einer Schriftstellerin geboren.

Die Jahre seiner Kindheit verbrachte er sowohl in

Wetherden, einem kleinen Dorf in Suffolk, als auch in Cannes,

wo sein Vater ein Hotel besaß. Nachdem er zuvor bereits

einige Jahre Klavierunterricht erhalten hatte, weckte

1922 der Besuch eines Sinfoniekonzerts - Malcolm Sargent

dirigierte Ravels »Ma Mère l’Oye« - in ihm den Wunsch,

Komponist zu werden. Seine Eltern waren zuerst einigermaßen

ratlos, schickten ihn dann jedoch auf das Royal College

of Music in London. Dort erhielt Tippett Unterricht u.a.

von Charles Wood, Malcolm Sargent und Adrian Boult. 1928

verließ er das College und zog nach Oxted, um an der dortigen

Hazelwood School Französisch zu unterrichten. Zwischendurch

betätigte er sich in der Umgebung von Oxted

als Chordirigent und leitete Opernaufführungen am Barn

Theatre. Ein erstes Konzert mit eigenen Werken im Jahre

1930 bekam zwar gute Kritiken, verhalf Tippett indes zu der

Einsicht, daß seine Technik noch nicht ausgereift sei. Er

ging für zwei Jahre ans Royal College zurück und nahm Privatunterricht

bei R. 0. Morris. 1932 gab Tippett seinen Lehrerjob

auf. Für einige Jahre arbeitete er an verschiedenen

Stellen als Chorleiter und Musikerzieher, wobei er - zu einer

Zeit hoher Arbeitslosigkeit - seine Aufgabe insbesondere

darin sah, den sozial Schwachen und Unterprivilegierten zu

helfen; so leitete er am Morley College in London ein Orche-



ster arbeitsloser Musiker. Von 1940 bis 1952 war Tippett Direktor

des Morley College. Danach verfaßte er Musiksendungen

für die BBC. Seit einiger Zeit widmet sich Tippett

ausschließlich seinem Schaffen. 1966 wurde er geadelt. Den

Durchbruch als Komponist schaffte Tippett erst relativ spät

-1944 - mit der Uraufführung seines Oratoriums »A Child of

Our Time«. Seine Oeuvre umfaßt mittlerweile fünf Opern, jeweils

vier Sinfonien, Streichquartette und Klaviersonaten sowie

drei große Chorwerke. Im Alter von 86 Jahren ist Tippett

noch immer kompositorisch aktiv: eine Vertonung von

Yeat’s «Byzantinum« für Sopran und Orchester wurde im

April 1991 mit Jessye Norman in Chicago uraufgeführt, ein

5. Streichquartett ist in Arbeit. Im übrigen plant der Komponist

bereits voller Elan seinen 90. Geburtstag.



Sir Michael Tippett im Gespräch

(Gekürzte und redigierte Aufzeichnung eines Interviews mit

Sir Michael Tippett am 11. Juli 1988 in seinem Heim in Derry

Hill, England. Die Fragen stellten Walter Riethmann und Birgit

Littmann-Brunner)

BL: Sir Michael, als Sie »A child of our time« zwischen 1939

und 1941 komponierten, war der Auslöser ein politisches Ereignis...

MT: Politisch? Ja, es war ein politisches Ereignis, doch mich

interessierte viel mehr das humanistische Problem. Was

mich beschäftigte, war: was geschah damals in Europa, was

überall in der Welt? Die Frage nach den Unerlösten dieser

Welt stand für mich im Vordergrund. Was geschieht mit ihnen?

Darum nenne ich >>A child of our time« ein Versöhnungswerk.

Der politische Auslöser war die Reichs-Kristallnacht

in Deutschland. Was da geschah, war so unglaublich,

daß man es sich kaum vorstellen konnte. In England hatte

man kaum eine Ahnung davon. Ich interessierte mich außerordentlich

dafür, was in Rußland geschah und was in

Deutschland passierte. Daneben ist »A child of our time«

vom Text her ein prophetisches Werk. Ich habe vieles genau

vorausgesehen. Das Problem stellt sich ja heute nicht anders:

Was geschieht mit den ausgeschlossenen Menschen,

den Asylanten, den Unerwünschten?

WR: Man erlebt beim Einstudieren von >>A child of our time«

mit dem Chore einen stark intellektuellen Zug in Ihrer Komposition.

Aber gleichzeitig spürt man einen packenden emotionalen

Ausdruck. Was kommt für Sie zuerst? Ist es die intellektuelle

Idee oder die Emotionalität?

MT: Das ist schwer zu sagen. Es verändert sich auch. »A

child of our time« hat eine theatralische Seite, ist aber vorwiegend

meditativ. Es ist ein Oratorium, eine Passion. So

entstand es auch in meiner Vorstellung. Die Idee dazu war

durchaus emotional: Ich versuchte, den Passionsmenschen

darzustellen - nicht einen Gottmenschen, nicht den Helden

sondern den »Nicht-Helden«. Er ließ sich in jener Zeit viel

eher finden als in der modernen Welt der heutigen Zeit. Den

äußeren Anlaß dazu bot ein tragisches Ereignis in Mitteleuropa:

das Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst

von Rath 1938 in Paris. Der Schuß aus einer Pistole, und sofort

war für mich etwas da, ein erster Ton. Gandhi und Luther

King würden nachfolgen. Mit einem Schlag hatte sich die

ganze Politik verändert. Zwei Tage später folgte die Kristallnacht,

der zweite Weltkrieg stand unmittelbar bevor. Herschel

Grynszpan, der junge Attentäter, was für ein Mensch

war er, was für ein Charakter? Wie und warum schoß er von

Rath nieder? Nach und nach gewann ich ein Bild, meine Vorstellung

nahm eine emotionale Richtung. Gleichzeitig mußte

ich mir aber Gedanken machen über die musikalische Gestaltung.

Wie will ich die Komposition angehen? Ich mußte

mir überlegen, ob ich etwas ganz Neues machen wollte ohne

jegliches Muster. Und ich verneinte die Frage. Eine Passion

schien mir richtig. Ich orientierte mich an den Passionen lu-



theranischer Tradition. Interessanter noch schien mir Händel,

die drei Teile seines «Messias«. Beide musikalischen Quellen

sind in «A child of our time« da. Andere kamen nach und

nach dazu. Bevor ich mit Komponieren beginnen konnte,

galt es noch ein Problem zu lösen: die Choräle. Da gibt es

den lutheranischen Choral, in dem die Gemeinde in der Kirche

mitsingt - nicht katholisch, lutheranisch. Diese alten,

wunderbaren Choräle, die Luther geschaffen hat, sie konnten

mich nicht inspirieren, sie waren mir nicht breit genug. Eines

Tages hörte ich am Radio, ich glaube von einem

schwarzen Sänger gesungen, einen Spiritual: «The trumpet

sounds within-a my soul...«. Einfache, banale Töne, und

doch war sogleich etwas ganz besonderes da, ganz wie bei

den Chorälen. Ich schrieb daraufhin sofort nach Amerika und

bestellte dort ein Buch mit Spirituals - Spirituals, Chorälen,

wie sie schon Bach geschrieben hatte. Ich fand darin alle

Verse und sämtliche Choräle für »A child of our time«.

BL: Wir haben uns über den Begriff «weltliches Oratorium«

oder «kirchliches Oratorium« Gedanken gemacht. «A child

of our time« ist ja ein weltliches Oratorium, aber mit einem

religiösen Gehalt. Darf ich Sie fragen, wie Sie zur Religion

stehen?

MT: Ich sehe meine Aufgabe als Komponist darin, eine Metapher

für diese religiöse Seite der Humanität zu finden - eine

Metapher gegen diese Unsicherheit. «A child of our time«

sollte überall gespielt werden und seine Aussage vermitteln.

Da kommt mir eine Begebenheit in Zusammenhang mit einem

anderen meiner Werke in den Sinn: Ich führte 1944 in

Canterbury in der Kathedrale »Plebs angelica« auf, ein Chorwerk

in mittellateinischer Sprache. Die Gemeindemitglieder

und Chorsänger baten mich, als Christ Mitglied ihrer Gemeinde

zu werden. Ich antwortete: »Das kann ich nicht.

Denn da sind auch noch andere Menschen, die keine Christen

sind. Mein Platz ist außerhalb des Domes, auch außerhalb

der Moschee oder der Synagoge. Jeder muß seine

Aufgabe erfüllen, das ist die Hauptsache.« Das ist ein Teil einer

neuen Welt, einer neuen Weltanschauung - meiner

Weltanschauung. Sie findet sich in allen meinen Kompositionen

bis hin zu »A mask of time«, meinem letzten großen

Werk für Chor und Orchester.

BL: Der Begriff »Humanismus« ist ein ganz zentraler Begriff

in Ihrem Schaffen. Stehen Sie als Humanist alleine in der

Gesellschaft, oder fühlen Sie sich von Gleichgesinnten unterstützt?

MT: Ich bin allein. »Und die Erlösten des Herrn werden wieder

kommen, frohlocken, singen und kommen mit Jauchzen...«

- das ist wunderbar! Aber: was ist mit den Unerlösten?

Die sind immer da und können nicht so singen. Sie

sind allein und können sich nicht selbstgerecht verhalten.

Wer eine neue Gemeinschaft gründet, kann sofort wieder

selbstgerecht sein und sagen: »Die andern bleiben draußen

und existieren nicht für uns!« Das ist das große Problem unserer

Zeit, die Selbstgerechtigkeit. Was ist mit den Juden

und Arabern - was geschieht mit den Iranern? Das Problem



ist überall. Ich weiß, daß ich nicht immer alleine dastehe:

Während eines Konzerts erleben wir als Publikum oder als

Gemeinde etwas, das für uns alle da ist. Eine religiöse Vorstellung

schwingt mit.

»A child of our time« versucht etwas davon zu vermitteln. In

diesem Sinne ist das Werk ein Versöhnungsstück. Aber

nach dem Konzert gehen wir wieder zurück auf die Straßen,

wo das Leben eben nicht ideal ist. In einem absoluten Sinn

kann ich Religiosität nicht formulieren.

Ein Kind unserer Zeit

Oratorium von Michael Tippett für Soli, Chor und Orchester

Michael Tippett ist bei uns weniger bekannt, in England genießt

er großes Ansehen und ist als einer der Väter der

»Neuen Musik« hochgeschätzt. Dies nicht nur wegen seiner

Musik, sondern auch wegen seines mutigen humanitären

Engagements. Tippett bekannte sich stets offen zum Pazifismus

und plädierte »in Bildern aus der Tiefe der Phantasien,

Bildern üppiger, verschwenderischer und überquellender

Schönheit in einem Zeitalter von Mittelmaß und zerspringenden

Träumen für die Aussöhnung entzweiter Welten.«

Die Jahre unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg verliehen

Tippetts politischer Überzeugung Richtung und Stoßkraft.

Das Resultat war »A child of our time«, ein Oratorium mit einer

höchst eindrücklichen Mischung aus Trauer und Aufruhr,

aus Isolation und Protest, ein Werk, das in

Händel’scher Oratorientradition eine historische Begebenheit

zum Anlaß der Botschaft des Komponisten nimmt.

Historischer Hintergrund des Oratoriums ist das Attentat

des polnischen Juden Herschel Grynszpan 1938 auf den

Botschaftssekretär Ernst von Rath in Paris, was den Nazi als

Vorwand diente, mit der Reichs-Kristallnacht die Judenprogrome

einzuleiten. Das Oratorium schildert in expressivem

Stil die Passionsgeschichte des jungen Attentäters und stellt

sie in die jüdische Geschichte bis zurück zu Moses.

Das Werk ist aber heute aktueller denn je: denn das Problem

der Aussperrung, der Verachtung Andersdenkender,

Anderslebender, Andersglaubender ist bis heute noch nicht

verschwunden. An die Wachen und Verantwortungsbereiten

unter uns ist deshalb Tippetts »A child of our time« ein

Mahnruf, achtzugeben, daß - in welcher Variation auch immer

- sich nicht wiederholt, was in der ersten Jahrhunderthälfte

über zwölf Jahre grausige Wirklichkeit geworden

war.

Das Werk schafft eine grandiose und eindringliche Stimmung,

die sowohl dramatisch als auch meditativ ist. Gewaltige

Akkorde mit dominierendem Hornklang prägen »A child

of our time«. Wie ein Aufruf wirkt der schlichte Text. Für die

Eindringlichkeit sorgen vor allem die den Spirituals nachgebildeten

Choräle.



A child of öur time

Chorus

Alto Solo

PARTI

The world turns on its dark side.

It is winter.

THE ARGUMENT

Man has measured the heavens with a telescope,

driven the gods from their thrones.

But the soul, watching the chaotic mirror,

knows that the gods return.

Truly, the living god consumes within and

turns the flesh to cancer!

SCENA

Chorus & Alto Solo

Chorus:

Alto:

Chorus:

Is evil then good?

Is reason untrue?

Reason is true to itself;

But pity breaks open the heart.

We are lost.

We are as seed before the wind.

We are carried to a great slaughter.

Ein Kind unserer Zeit

Deutsche Übertragung von Walter Bergmann

Chor

Alt Solo

TEIL 1

Chor und Alt Solo

Chor

Alt

Chor

Die Welt neigt sich zum Dunklen,

es ist Winter.

DAS ARGUMENT

Menschen durchmaßen die Himmel mit dem

Teleskop, haben die Götter entthront.

Doch das Herz, suchend im dunklen Spiegel,

weiß, daß sie wiederkehren.

Wahrlich der lebende Gott verzehrt sich

selbst, verwandelt Fleisch in Fäulnis!

SZENE

Ist Böse Gut,

Vernunft Betrug?

Wahr ist Vernunft in sich selbst.

Doch Mitleid erschließt das Herz.

Wo ist Rettung? Wo ist Hoffnung?

Wir sind wie Saat im Wind.

Wir sind ausersehen zum Schlachtopfer.



The Narrator:

Baß Solo

Chorus of the Oppressed

Now in each nation there were some cast

out by authority and tormented,

made to suffer for the general wrong.

Pogroms in the east, lynching in the west;

Europe brooding on a war of starvation.

And a great cry went up from the people.

When shall the usures’ city cease,

And famine depart from the fruitful land?

Tenor Solo 1 have no money for my bread; 1 have no gift

for my love.

1 am caught between my desires and their

frustration as between the hammer and the

anvil.

How can 1 grow to a man’s stature?

Soprano Solo How can 1 cherish my man in such days, or

become a mother in a world of destruction?

How shall 1 feed my children on so small a

wage?

How can 1 comfort them when 1 am dead?

A SPIRITUAL

Chorus & Soli Steal away, steal away, steal away to Jesus;

Steal away, steal away home -

1 han’t got long to stay here.

Der Erzähler:

Baß Solo Einzelne Gruppen jedes Landes wurden verdächtigt

und verleumdet,

sie seien schuldig an der Not der Zeit.

Pogrom im Osten, Lynchen im Westen;

ganz Europa vor dem Krieg des Verschmachtens.

Und ein Schreien erhob sich im Volke.

Chor der Unterdrückten

Wann wird des Wucherers Stadt vergehn,

Und Hunger und Dürre verlassen das reiche

Land?

Tenor Solo Ich hab’ kein Geld für’s täglich’ Brot, und

keine Gabe für mein Lieb,

bin gefangen zwischen Begierde und Verneinung,

so wie zwischen Hammer und Amboß.

Wie kann ich reifen und ein Mann werden?

Sopran Solo Wie kann ich hegen den Mann meiner Wahl

oder Mutter sein in der Welt der Zerstörung?

Wie soll ich meine Kinder nähren bei solchem

Lohn, helfen wie, wenn ich tot?

SPIRITUAL

Chor und Soli Stiehl dich fort, stiehl dich fort zu Jesus;

Stiehl dich fort, stiehl dich heim,

wir sind nur kurze Zeit hier.



My Lord, He calls me, He calls me by the

thunder,

The trumpet sounds within-a my soul,

1 han’t got long to stay here.

Green trees a-bending, poor sinner stand a-

trembling,

The trumpet sounds within-a my soul,

1 han’t got long to stay here.

Steal away, steal away, steal away to Jesus;

Steal away, steal away home -

1 hàn’t got long to stay here.

Mein Gott, er ruft mich, er ruft mich in dem

Donner,

Trompetenschall die Seele durchbohrt.

Wir sind nur kurze Zeit hier.

0 Edens Garten, die Sünder zitternd warten.

Trompetenschall die Seele durchbohrt.

Wir sind nur kurze Zeit hier.

Stiehl dich fort, stiehl dich fort zu Jesus;

Stiehl dich fort, stiehl dich heim,

Wir sind nur kurze Zeit hier.

Chorus

PART II

A star rises in mid-winter.

Behold the man! The scape-goat!

The child of our time.

Chor

TEIL II

Ein Stern geht auf im Mittwinter.

Sieh da, ein Mensch? Das Opferlamm!

Das Kind unserer Zeit.

The Narrator:

Baß Solo

And a time came when in the continual

persecution one race stood for all.

Double Chorus of Persecutors and Persecuted

Away with them!

Curse them! Kill them!

They infect the state.

Where? How? Why?

We have no refuge.

Der Erzähler:

Baß Solo

Und die Zeit kam, da in einem pausenlosen

Terror ein Volk litt zu meist.

Doppelchor der Verfolger und Verfolgten

Verjagt sie!

Jagt sie! Schlagt sie,

sie verpesten uns!

Wohin? Wir sind schuldlos.

Wo find ich Zuflucht?



The Narrator:

Der Erzähler:

Baß Solo Where they could, they fled from the terror. Baß Solo Wo sie konnten, flohen sie vorm Terror.

And among them a boy escaped secretly,

Und mit ihnen entrann auch ein Knabe und

and was kept in hiding in a great city.

verbarg sich still in einer großen Stadt.

Chorus of the Self-righteous

We cannot have them in our Empire.

They shall not work, nor beg a dole.

Let them starve in No-Man’s-Land!

Chor der Selbstgerechten

Wir wollen sie nicht in unserem Lande.

Gebt keine Arbeit, keinen Lohn!

Laßt sie darben im Niemandsland!

The Narrator:

Der Erzähler:

Baß Solo And the boy’s mother wrote a letter, saying: Baß Solo Und des Knaben Mutter schrieb einen Brief.

SCENA

SZENE

Solo Quartet

Solo Quartett

Mutter 0 mein Sohn! Sie verfolgen mich,

Mother: 0 my son!

(Sopran) meiner Tage Ende ist nah.

(Soprano) In the dread terror they have brought me near

to death

Knabe Mutter!

(Tenor) Ob sie schon jagen mich wie ein wildes Tier,

Boy:

Mother! Mother!

ich helfe dir, ich trotze der Welt.

(Tenor) Though men hunt me like an animal, 1 will

Tante Gedulde dich,

defy the world to reach you.

(Alt) wirf nicht dein Leben fort aus schierem Opfer-

Aunt: Have patience. mut!

(Alto) Throw not your life away in futile sacrifice.

Onkel Du bist nur einer gegen alle,

Uncle: You are as one against all. (Baß) Beuge dich dem harten Zwange der Unmög-

(Baß) Accept the impotence of your humanity. lichkeit!

Boy: No! 1 must save her. Knabe Nein! Ich muß sie retten.



A SPIRITUAL

Chorus & Soli Nobody knows the trouble 1 see, Lord,

Nobody knows like Jesus.

0 brothers, pray for me,

0 brothers, pray for me,

And help me to drive Old Satan away.

0 mothers, pray for me,

0 mothers, pray for me,

And help me to drive Old Satan away.

Nobody knows the trouble 1 see, Lord,

Nobody knows like Jesus.

SPIRITUAL

Chor und Soli Wer kennt die Not, den Kummer als du, Herr?

Wer kennt die Not als Jesus?

0 Bruder, bitt’ für mich,

0 Bruder bitt’ und hilf mir

den Satan treiben von hier.

0 Mutter bitt’ für mich,

0 Mutter bitt’ und hilf mir

den Satan treiben von hier.

Wer kennt die Not, den Kummer als du, Herr?

Wer kennt die Not als Jesus?

SCENA

SZENE

Duet-Bass & Alto Soli

Duett-Baß und Alt Soli

Narrator: The boy becomes desperate in his agony. Erzähler: Der Knabe verzweifelt in seiner Ohnmacht.

Alto: A curse is born.

Alt:

Ein Fluch entsteht.

The dark forces threaten him.

Die dunklen Mächte zwingen ihn.

Narrator: He goes to authority. He is met with hostility. Erzähler: Er geht von Amt zu Amt,

doch er findet nur Ablehnung.

Alto:

His other self rises in him, demonic and destructive.

Alt:

Sein andres Selbst wächst in ihm, dämonisch

und vernichtend.

Narrator: He shoots the official- Erzähler: Er erschießt den Beamten.

Alto:

The Narrator:

But he shoots only his dark brother-

And see - he is dead.

Alt:

Der Erzähler:

Doch er trifft nur seinen Nächsten.

Und sieh: ... er ist tot.

Baß Solo They took a terrible vengeance. Baß Solo Sie nahmen furchtbare Rache.



THE TERROR

Chorus Bum down their houses! Beat in their heads!

Break them in pieces on the wheel!

The Narrator:

Baß Solo Men were ashamed of what was done.

There was bitterness and horror.

Der Erzähler:

DER TERROR GHOR

Brennt ihre Häuser! Schlagt sie zu Brei!

Brecht sie in Stücke auf dem Rad!

Baß Solo Man sah voll Scham, was man getan,

fühlte Bitterkeit und Abscheu.

A SPIRITUAL OF ANGER

Chorus & Baß Solo

Go down, Moses, 'way down in Egypt land;

Tell old Pharaoh, to let my people go.

When Israel was in Egypt’s land,

Let my people go,

Oppressed so hard they could not stand,

Let my people go,

»Thus spake the Lord«, bold Moses said,

Let my people go,

»If not, I’ll smite your first-born dead«,

Let my people go.

Go down, Moses, ’way down in Egypt land;

Tell old Pharaoh, to let my people go.

The boy sings in his Prison

Tenor Solo My dreams are all shattered in a ghastly reality.

SPIRITUAL

Chor und Baß Solo

Geh hin, Moses, geh nach Ägypten hin,

Sag dem Pharao: der Herr spricht: laß uns ziehn!

Als Israel in Ägypten war,

Gott spricht: laß uns ziehn,

Bedrückt und jeder Hilfe bar,

Gott spricht: laß uns ziehn,

Verkündet Moses Gottes Zorn,

Gott spricht: laß uns ziehn,

Wenn nicht, schlag ich die Erstgebor’n.

Gott spricht: laß uns ziehn.

Geh hin, Moses, geh nach Ägypten hin,

Sag dem Pharao: der Herr spricht: laß uns ziehn!

Der Knabe singt im Gefängnis

Tenor Solo Mein Traum ist zerbrochen vor der furchtbaren

Wirklichkeit.



The Mother:

The wild beating of my heart is stilled: day

by day.

Earth and sky are not for those in prison.

Mother! Mother!

Soprano Solo What have 1 done to you, my son?

What will become of us now?

The springs of hope are dried up.

My heart aches in unending pain.

Alt Solo

The dark forces rise like a flood.

Men’s hearts are heavy: they cry for peace.

Die Mutter:

Sopran Solo

Alt Solo

Das wildschlagende Herz 1st still, Tag für Tag.

Erde und Himmel sind nicht für die im Kerker.

Mutter! Mutter!

Was hab ich dir getan, mein Sohn?

Was wird aus uns nun werden?

Der Hoffnungsquell ist versiegt.

Mein Herz schmerzt in unendlicher Pein.

Die dunklen Mächte steigen wie die Flut.

Das Herz wird schwer, es schreit nach Frieden.

A SPIRITUAL

Chorus & Soprano Solo

0, by and by, by and by,

I’m going to lay down my heavy load.

1 know my robe’s going to fit me well,

1 tried it on at the gates of hell.

0, hell is deep and a dark despair,

0, stop, poor sinner, and don’t go there!

0, by and by, by and by,

I’m going to lay down my heavy load.

A SPIRITUAL

Chorus & Soli Deep river, my home is over Jordan,

Deep river, Lord,

SPIRITUAL

Chor und Sopran Solo

0! für und für, für und für,

Werde ich ledig der schweren Last.

Ein schönes Kleid steht mir bevor.

Ich probt es an der Hölle Tor.

Die Hölle ist tief, voll Schreckenspein,

Halt, du Sünder, und geh nicht ein!

0! für und für, für und für,

Werde ich ledig der schweren Last.

SPIRITUAL

Chor und Soli Tiefes Wasser, mein Heim ist überm Jordan,

Nimm mich, Herr, zu dir in die ewigen Gründe.



Chorus

1 want to cross over into camp-ground. 0, Kinder,

0 chillun! 0, don’t you want to go,

Kommt zu dem Himmelsfest,

To that gospel feast,

gelobtem Land,

That promised land,

dem Land, da wo ist Frieden.

That land where all is peace?

Kommt in den Himmel und nehmt die Kron’

Walk into heaven, and take my seat,

und legt sie hin vor Jesus Thron.

And cast down my crown at Jesus’ feet.

Nimm mich, Herr, zu dir in die ew’gen Gründe.

Deep river, my home is over Jordan,

Herr!

1 want to cross over into camp-ground,

Lord!

TEIL III

PART III

The cold deepens.

The world descends into the icy waters

where lies the jewel of great price.

Alto Solo The soul of man is impassioned like a woman.

She is old as the earth, beyond good and evil,

the sensual garments.

Her face will be illumined like the sun.

Then is the time of his deliverance.

SCENA

Baß Solo & Chorus

Baß:

The words of wisdom are these:

Winter cold means inner warmth, the secret

nursery of the seed.

Chor

Der Frost wird bitter.

Die Welt versinkt tief in die eisigen Wasser.

Dort gleißt der Schatz von höchstem Wert.

Alt Solo Des Menschen Herz ist voll Leidenschaft wie

ein Weib.

Es ist alt wie die Erde, jenseits von Gut und

Böse, der Sinne Hüllen.

Ihr Licht wird leuchten wie die Sonne.

Das ist der Tag der Erlösung.

SZENE

Baß Solo und Chor

Baß:

Chor:

Der Weisheit Worte sind dies: Winterkälte heißt

innere Wärme, die stille Heimstätte der Saat.

Wie find ich Geduld für die Lösung des Mysteriums?

Wer wird uns trösten in dem Übergang?



Chorus:

Baß:

Chorus:

Baß:

Chorus:

Baß:

How shall we have patience for the consummation

of the mystery?

Who will comfort us in the going through?

Patience is born in the tension of loneliness.

The garden lies beyond the desert.

Is the man of destiny master of us all?

Shall those cast out be unavenged?

The man of destiny is cut off from fellowship.

Healing springs from the womb of time.

The simple-hearted shall exult in the end.

What of the boy, then? What of him?

He, too, is outcast, his manhood broken in

the clash of powers.

God overpowered him - the child of our time.

Baß:

Chor:

Baß:

Chor:

Baß:

Geduld wird erzeugt in der Spannung der Einsamkeit,

Der Garten liegt am Ende der Wüsten.

Ist des Schicksals Günstling auch Herrscher

über uns?

Bleibt der Mord, bleibt das Opfer ungesühnt?

Des Schicksals Günstling ist verworfen, ausgestoßen.

Heilung quillt aus dem Schoß der Zeit.

Das schlichte Herz wird frohlocken am Ende.

Sprich von dem Knaben, sprich von ihm...

Auch er verworfen, sein Leib zerstückt in dem

Getriebe der Macht.

Gott zerbrach ihn, das Kind unserer Zeit.

Chorus & Soli

Tenor:

Baß:

Soprano:

Alto:

GENERAL ENSEMBLE

1 would know my shadow and my light,

so shall 1 at last be whole.

Then courage, brother, dare the grave passage.

Here is no final grieving, but an abiding hope.

The moving waters renew the earth.

It is spring.

Chorus repeats the words of the soloists.

Chor und Soli

Tenor:

Baß:

Sopran:

Alt:

FINALE

Zeig mir meinen Schatten und mein Licht,

so werd ich endlich ganz.

Faß Mut denn, Bruder, wage den schweren

Gang.

Hier ist nicht endlos Grämen, hier strahlt ein

heller Hoffnungsschein.

Die frischen Wasser erneuen die Welt,

Es ist Lenz.

Chor wiederholt die Worte der Solisten.



ferrari-auer bz



SÜDTIROLER KULTURI N ST ITUT

GEFÖRDERT VOM LANDESASSESSORAT FÜR SCHULE UND KULTUR

Ein Kind unserer Zeit

Oratorium von Michael Tippett

Meran - Kursaal

Mittwoch, 6. November 1996, 20.30 Uhr

Bozen, Haus der Kultur »Walther von der Vogelweide«

Donnerstag, 7. November, 20.30 Uhr

Organisatorische Abwicklung: Norbert Bertignoll

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£3/1-0

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