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MEINRAD<br />

INGLIN<br />

Erzählungen<br />

Nachwort von Beatrice von Matt<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Inhalt<br />

9 GÜLDRAMONT<br />

11 Die Furggel<br />

24 Die entzauberte Insel<br />

53 Güldramont<br />

142 Über den Wassern<br />

191 DIE LAWINE<br />

193 Die Lawine<br />

211 Drei Männer im Schneesturm<br />

234 Der schwarze Tanner<br />

272 Ein einfacher kleiner Schritt<br />

295 Das Unerträgliche<br />

308 Das Gespenst<br />

321 Fiebertraum eines Leutnants<br />

335 RETTENDER AUSWEG<br />

337 Sonderbares Gottvertrauen<br />

338 Unglück im Glück<br />

341 Liebe und Pflicht<br />

343 Ein Flüchtling<br />

350 Ein Rettender Ausweg


363<br />

VERHEXTE W ELT<br />

367 Unverhofftes Tauwetter<br />

377 Begräbnis eines Schirmflickers<br />

385 Ein Jäger erzählt<br />

394 Morgentraum eines heiteren Mannes<br />

401 Mißbrauch eines schlafenden Sängers<br />

404 Von einem Vater, der keine Zeit hatte<br />

407 Der Lebhag<br />

415 Rappenspalter<br />

422 Der Züslibutz<br />

435 Näzl und Wifeli<br />

441 Die goldenen Ringe<br />

452 Der verzauberte Berg<br />

494 Die verkehrte Welt<br />

497 Zwei hochmütige Seeforellen<br />

500 Unbedachter Wunsch einer Häsin<br />

503 Eine auserwählte Henne<br />

507 Drei Geschenke<br />

516 Hohrugg und die Zwerge<br />

537 Die Königin mit dem Staubwedel<br />

544 Der Schatz in den Bergen<br />

550 Der fleißige Viktor und der faule Gottlieb<br />

559 Meister Sebastian<br />

574 Die schwer verständliche Schöpfung


579<br />

BESUCH AUS DEM JENSEITS<br />

581 Vorspiel auf dem Berg<br />

613 Das Riedauer Paradies<br />

658 Der Ehrenplatz<br />

666 Der Herr von Birkenau<br />

683 Besuch aus dem Jenseits<br />

717 Wanderer auf dem Heimweg<br />

789 FRÜHE ERZÄHLUNGEN<br />

791 Getäuschte Hoffung<br />

795 Ein Weihnachtsabend<br />

799 Das Glück<br />

806 Trud<br />

829 Die junge Gret<br />

836 Nachtgefecht<br />

841 Onkel Melk und der glückhafte Fischfang<br />

853 Melchior Lob<br />

876 Schmuggel<br />

881 Gleichnis von zwei Brüdern<br />

885 Zwischen Leben und Tod<br />

893 Nachwort<br />

917 Editorischer Bericht


Güldramont<br />

Erzählungen


DIE FURGGEL<br />

Der Vater wanderte mit seinem zwölfjährigen Sohne im grauen<br />

Frühlicht eines Septembermorgens gegen Osten durch ein leicht<br />

ansteigendes Bergtal hinauf. Über dem Flüßchen, das hier zwischen<br />

Erlengebüschen und krautigen Wiesen noch breit und ruhig<br />

dahinzog, schwebte ein dünner Nebel, den die Wandernden<br />

als kühlen Hauch im Gesichte spürten, wenn der Weg sie in die<br />

Nähe des Wassers oder über eine Holzbrücke auf das andere Ufer<br />

führte. Die dunklen Waldhänge aber sah man auch durch den<br />

Nebel auf beiden Talseiten steil gegen den blaßblauen Morgenhimmel<br />

steigen.<br />

Der Knabe durfte den Vater zum erstenmal in eine Gegend<br />

begleiten, die nächstens für die Gemsjagd freigegeben wurde,<br />

und wartete mit froher Spannung auf alles, was ihm dieser lang<br />

ersehnte Tag bescheren würde. Er konnte mit dem großen stattlichen<br />

Manne noch nicht Schritt halten, doch hätte er niemals<br />

zugegeben, daß man deshalb auch nur um Fingersbreite mäßiger<br />

ausgeschritten wäre. Mühelos und freudig aufgeregt blieb er<br />

neben ihm, schaute mit dem klugen Gesicht, in dem sich schon<br />

die kräftig bestimmten väterlichen Züge abzeichneten, neugierig<br />

nach allen Seiten, hörte mit wachen Ohren auf jedes Wort<br />

und folgte mit raschem Blick jedem Hinweis. Auf einer kurzen<br />

ebenen Strecke pfiff der Vater einen Marsch und ging nun doch<br />

etwas kürzer, weil der Junge, weit ausholend, durchaus im Takte<br />

bleiben wollte. Als der Marsch bei der nächsten Steigung zu Ende<br />

war und jeder wieder in sein eigenes Schrittmaß fiel, blickten sie<br />

einander lachend an; sie waren gute Kameraden.<br />

Bald kamen sie an den Fuß eines bewaldeten Rückens, wo<br />

11


das Tal sich in zwei Täler gabelte, das Flüßchen in zwei Bäche, die<br />

Bergstraße in einen schmalen Fahrweg und einen Fußpfad. Während<br />

sie den Pfad einschlugen, der nach Südosten in das engere,<br />

steilere Tal hinaufführte, deutete der Vater in den Waldrand hinein<br />

auf einen mannshohen, von Efeu, Moos und Bärlapp überwachsenen<br />

Felsblock. «Von jener grünen Kanzel herab», sagte er,<br />

«hab’ ich den großen Fuchs geschossen, den jetzt die Mutter als<br />

Pelz trägt. Er wog achtzehn Pfund.»<br />

«Das ist viel, nicht?»<br />

«Ja, sehr viel. Gewöhnlich wiegen unsere Füchse hier etwa<br />

zwölf bis vierzehn Pfund, wenn sie ausgewachsen sind.»<br />

«Aber gelt, es kommt mehr darauf an, ob ein Fuchs in den<br />

Haaren gut ist als wieviel er wiegt?»<br />

«Richtig! Und dieser Bergfuchs war gut, er hatte schon das<br />

schöne lange Winterhaar, darum hat Mutter ihn auch bekommen.<br />

Am schönsten war er freilich, als er flüchtig aus dem dunklen<br />

Tannenwald herabkam, in raschem Trab, gespannt, lautlos,<br />

und dann da unten zwischen entlaubten Buchen in der Sonne<br />

auf einmal prächtig rotgelb aufleuchtete, oder als er überhaupt<br />

noch lebend in diesen Wäldern herumstrich.»<br />

«Ja, das glaub’ ich … Aber ich hätte ihn auch geschossen.»<br />

Der Vater lachte. «Da siehst du! Viele Menschen verstehen<br />

nicht, daß man an den wildlebenden Tieren die größte Freude<br />

haben und sie dennoch erlegen kann. Das sei ein Widerspruch.<br />

Kann sein, daß es einer ist, aber das Leben hat viele Widersprüche,<br />

man kann nicht alle lösen, und es ist trotzdem schön.»<br />

Indessen stiegen sie rüstig den steilen Weg hinan, blieben<br />

auf einer schmalen Brücke im frischen Luftzug, der den stiebenden<br />

Bach begleitete, eine Weile stehen und schauten in die Tiefe<br />

des Haupttales hinaus, wo das Flüßchen unter den längst hinter<br />

ihnen zurückgebliebenen dünnen Nebelschwaden in vielen<br />

Windungen westwärts zog. Es war ihr letzter Blick ins Tal, der<br />

Weg führte sie gleich darauf schattenhalb einer Berglehne entlang,<br />

die wenig Aussicht mehr bot. Manchmal aber sahen sie zwischen<br />

Tannenwipfeln hindurch im Hintergrund einen langen,<br />

12


gegen Süden aufsteigenden Felsriegel, der Vater wies darauf hin<br />

und sagte: «Wenn wir dort oben sind, sehen wir die Alp und<br />

hinter ihr den Furggelgrat, wo wir hinauf wollen.»<br />

«Warum heißt er so?»<br />

«Wegen seiner Form. Furggel, oder auch Furkel, Furka, Forke,<br />

ist ein altes Wort für Gabel; in den Bergen bedeutet es einfach<br />

Gabelung …»<br />

Er brach ab und blickte aufmerksam den Weg entlang. Sie<br />

hörten durch das Rauschen des Baches Hundegebell, Viehglocken<br />

und das «hoi, hoi» des Hirten, der eine Herde von der abgeweideten<br />

Alp zu Tale trieb. Ein junges Mädchen kam voraus, das<br />

ging scheu an ihnen vorbei, ihm folgten hintereinander etwa<br />

dreißig Rinder und Jährlinge, von denen manche mit einem<br />

neugierigen Blick auf die beiseite getretenen Wanderer stehenblieben.<br />

Der Vater trat auf ein Rind zu, strich ihm mit den Fingern<br />

vom einen Horn über die krause Stirn hinweg zum andern und<br />

erklärte: «Das hier ist auch eine Furggel, das ist die Form.»<br />

Das Rind wurde vom nächsten weitergedrängt; das übernächste<br />

wich mutwillig trabend aus der Reihe und begann dann<br />

Kräuter zu rupfen, als ob es allein wäre, aber schon rannte der<br />

schwarzweiße Treibhund von hinten her und hetzte es bellend<br />

auf den Weg zurück. Zuletzt kam der bärtige Hirt, eine Traggabel<br />

auf dem Rücken, eine silberbeschlagene Pfeife im Mundwinkel,<br />

von einem Älpler oder Holzer begleitet, der ein Gewehr<br />

umgehängt hatte.<br />

«Der mit dem Gewehr ist der Wildhüter», erklärte der Vater<br />

dem Knaben noch rasch, dann begrüßte er die beiden, die ihn<br />

kannten und heiteren Angesichtes stehenblieben. Der Hirt wußte,<br />

warum dieser Mann da unterwegs war, und begann unaufgefordert<br />

von den Gemsen zu reden, die während des Sommers<br />

bald auf der Furggel, bald weiter hinten im Stotzigen Band oder<br />

auf der Karrenweid gewesen seien. Auf Fragen nach ihrer ungefähren<br />

Anzahl, ihren Böcken, ihrem Erscheinen bei einer gewissen<br />

Salzlecke und nach dem vermutlichen Stand und Wechsel<br />

13


eines anderen Rudels gab er Auskunft, soviel er eben wollte oder<br />

konnte. Der Vater fragte darauf den Wildhüter, der schweigend<br />

zugehört hatte, ob er ihm für die bevorstehende Jagd einen Träger<br />

wisse, und sagte dann, da der Mann nachdachte: «Vielleicht<br />

fällt Euch einer ein; ich komme nachmittags auf dem Rückweg<br />

deswegen bei Euch vorbei, es liegt mir ja am Weg. Zählt darauf!»<br />

Der Hirt und der Wildhüter nahmen mit einem Händedruck<br />

Abschied und liefen eilig der Herde nach, der Vater stieg<br />

mit dem Sohne weiter bergauf und erreichte bald die Waldgrenze.<br />

Hier oben lief der Weg unter einem wolkenlosen blauen Himmel<br />

zwischen steinigen Höckern hin und bog dann in eine kurze<br />

felsige Enge, die sich unvermutet gegen Osten öffnete und den<br />

Blick auf die lichterfüllte, von höheren Bergen rings umgebene<br />

grüne Alp freigab. Vater und Sohn blieben schweigend stehen.<br />

Die Sonne blitzte ihnen entgegen. Es war ganz still.<br />

Der Knabe blickte mit freudigem Staunen in diese mächtige,<br />

heitere Hochwelt hinein, er sah den Vater an, der ihm froh<br />

bewegt zunickte, er schaute von neuem und atmete tief und<br />

glücklich auf.<br />

Nach einer Weile, als sie auf die ebene Alpweide hinausschritten,<br />

sagte der Vater: «Der Bergsattel dort hinten ist die<br />

Furggel, wo der Rinderhirt Gemsen gesehen hat.»<br />

«Meinst du, werden wir sie auch sehen?»<br />

«Möglich, wenn sie noch dort sind. Aber ein Hirt weiß<br />

nicht immer so genau Bescheid. Der Wildhüter hätte schon mehr<br />

erzählen können.»<br />

«Warum hast du ihn nicht gefragt?»<br />

Weil er der Wildhüter ist, der die Gemsen hier das ganze<br />

Jahr beobachtet und vor Frevlern bewacht, der sie kennt und<br />

gern hat; ich hätte ihn um Auskunft bitten können und wahrscheinlich<br />

manches erfahren, er ist ein aufrichtiger Mann, und<br />

wir kommen gut miteinander aus. Aber das will ich ihm ersparen,<br />

er soll mir seine Schützlinge nicht verraten müssen. In den<br />

Revieren ist es anders, dort wird der Wildhüter von den Jägern<br />

angestellt und sagt ihnen, was er weiß, aber hier haben wir noch<br />

14


die freie Jagd, hier muß der Jäger rechtzeitig die Augen und Ohren<br />

selber auftun, wenn er nachher ein Tier antreffen will.»<br />

Sie durchwanderten die verlassene Alp und stiegen der östlichen<br />

Berglehne entlang gegen die Furggel hinauf. Manchmal<br />

blieben sie stehen, und der Vater suchte mit dem Fernglas Hänge<br />

und Felsbänder ab. Als sie die Furggel erreichten, einen breiten<br />

Gratsattel zwischen zwei Bergkuppen, krochen sie auf Händen<br />

und Füßen über das schieferige lose Gestein und die spärlichen<br />

Rasenplätze leise zum jenseitigen Grathang vor. Hier blieben sie<br />

spähend liegen, und die Augen des Knaben funkelten vor Spannung,<br />

doch sahen sie keine Gemsen.<br />

Sie standen auf, und erst jetzt sah der Knabe erstaunt, daß<br />

hier gegen Osten schon wieder eine andere Bergwelt vor ihnen<br />

lag, von der sie auf dem ganzen Wege nichts bemerkt hatten. Der<br />

Vater erklärte, daß eben dies auch ein Merkmal der Furggeln sei.<br />

«Es gibt in unseren Alpen viele Furggeln, die so oder ähnlich<br />

heißen. Manchmal fallen sie mit einer Grenze zusammen, und<br />

fast immer sind es Paßübergänge, oft auch Wasserscheiden; die<br />

bekannteste und eine der größten ist die Furkapaßhöhe. Den<br />

Bergsteigern sind die Furggeln so bekannt wie die Gipfel. Man<br />

wandert und steigt und schwitzt, dann steht man belohnt auf<br />

der Paßhöhe, man hat einen wichtigen Abschnitt hinter sich und<br />

schaut in eine neue Welt hinein. Das kommt auch im menschlichen<br />

Leben vor. Das Leben ist wie eine Wanderung, und ein paarmal<br />

steht man auch auf so einer Furggel, die zwei Abschnitte<br />

trennt, zum Beispiel an wichtigen Examenstagen, an einem<br />

Hochzeits- oder einem Todestag … Aber komm, jetzt wollen wir<br />

etwas essen!»<br />

Sie suchten einen bequemen Platz und setzten sich hinter<br />

die Rucksäcke. Während sie Brot und Käse aßen, nannte der Vater<br />

noch die Namen der Berge, die von hier aus zu sehen waren, und<br />

sagte dann: «Hier mußt du nun auf mich warten. Es wird da hinten<br />

etwas schwieriger, man muß stellenweise klettern, und ich<br />

habe der Mutter versprochen, dich nicht an solche Orte mitzunehmen.<br />

Du würdest zwar schon durchkommen, du bist ge-<br />

15


wandt genug und auch schwindelfrei, aber ich habe es versprochen.<br />

Es ist auch mir selber recht, daß du dableibst, ich möchte<br />

nämlich gern wissen, ob auf dem breiten Band dort links oben<br />

Gemsen hinüberwechseln. Das kann aber noch zwei, drei Stunden<br />

dauern, bis sie allenfalls kommen, je nach dem Standort, wo ich<br />

sie antreffe, und du brauchst nicht besonders darauf zu achten;<br />

nur wenn du etwa Steinchen von dort herabrieseln hörst, dann<br />

bleib ganz still und paß auf. Sonst aber treib dich hier herum, wie<br />

es dich gelüstet. Du kannst zum Beispiel da vorn rechts auf den<br />

Hang hinüber, nur darfst du nicht zu weit in die Karren hinein;<br />

und gib acht auf die Kanten, manche sind messerscharf. Oder du<br />

kannst da nach links zurück an den Sonnenhang, vielleicht siehst<br />

du Munggen, sie haben ein paar Baue dort. Und wenn ich um<br />

Mittag noch nicht zurück bin, dann iß etwas! Ich nehme auch etwas<br />

zu essen mit, für alle Fälle, aber den Rucksack lasse ich da.»<br />

Er nickte dem Knaben zu wie einem Freunde, der mit unseren<br />

Gedanken und Absichten ganz vertraut ist, und ging auf dem<br />

Grate bis zum schroff ansteigenden Fuß der nördlichen Kuppe.<br />

Dort hielt er mehr rechts und stieg über eine abschüssige Geröllhalde<br />

in ein Rasenband ein, das sich am steilen Osthang der<br />

Kuppe gegen Norden hinzog. Er wandte sich nach dem Sohne<br />

um, der ihm bis zur Geröllhalde gefolgt war und ihn nun gleich<br />

aus dem Blick verlieren mußte, nickte ihm noch einmal zu und<br />

schritt dann aufrecht wie auf einer sicheren Brücke dem Abgrund<br />

entlang. Hier war noch gemäht, doch weiter hinten, wo das Band<br />

eine immer stärkere Neigung bekam und der Wildheuer beim<br />

Sensenschwung wohl keinen richtigen Stand mehr gefunden<br />

hatte, lag das lange Gras dicht und glatt auf den schrägen Planken<br />

und hing wie ungeschorene Pferdemähnen noch über den Rand<br />

ins Leere hinaus.<br />

Der Mann ging vorsichtig darüber hin, indem er zu seinem<br />

Halt mit beiden Händen Büschel um Büschel packte, bis er den<br />

breiten alten Geröllkegel sah, den er zum Abstieg erreichen wollte,<br />

und auf seinem grün überwachsenen mittleren Buckel Gemsen<br />

entdeckte. Er kauerte sich an den Hang und griff zum Fern-<br />

16


glas, wie der Jäger es ohne weitere Überlegung zu tun gewohnt<br />

ist, rutschte dabei aber sofort wuchtig ab und stürzte, ausgerissenes<br />

Gras in den Fäusten, lautlos in die Tiefe.<br />

Der Knabe stand indessen auf dem Furggelgrat und schaute<br />

bald die nahe, bald die fernere Umwelt an, hochgestimmt wie<br />

ein junger Erbprinz, der das väterliche Reich übernommen hat<br />

und vom einsamen Throne aus davon Besitz ergreift. Gegen Osten<br />

fiel die Furggel mit einem schiefergrauen, bröckelnden Hang<br />

in eine weite, von grobem Schutt erfüllte Mulde hinab, an die<br />

Mulde schloß sich eine mannigfach gestaffelte hellgrüne Alpweide,<br />

die hinten zu dunkelgrünen Hügeln anstieg, und über diesen<br />

Hügeln hob ein Gebirgszug gleißende Sättel und Schneegipfel in<br />

den blauen Himmel hinein. Die lange Alpweide wurde rechts<br />

vom weißgrau schimmernden nackten Rücken der Karrenwüste<br />

begrenzt, links fiel sie zur Waldgrenze hinab; über den obersten<br />

Saum der dunklen Tannenwipfel hinweg aber stürzte der Blick<br />

haltlos in die gähnende Tiefe eines Tales, um sich jenseits an<br />

steilen Waldhängen wieder aufzurichten, hinauf zu bräunlichen<br />

Wildheuplanken und zu einer Kette von Weidebergen, die auf<br />

gleicher Höhe wie die Furggel grün in der leuchtenden Bläue<br />

standen.<br />

Der Knabe schaute dies alles an, ließ unersättlich den Blick<br />

auch immer wieder in die Runde kreisen und fand es über alle<br />

Worte großartig, einsam da oben mitten in dieser gewaltigen<br />

Welt zu stehen und sie anzuschauen, als ob sie ihm allein gehörte.<br />

Er schritt den Grat nach beiden Seiten ab, ging dann auf den<br />

Sonnenhang zurück und fand dort wirklich ein Munggenloch,<br />

den offenen Eingang zur unterirdischen Wohnung von Murmeltieren.<br />

Nachdem er ihn untersucht hatte, legte er sich hinter<br />

einen Höcker und wartete mit großer Geduld, ob nicht so ein<br />

nußbrauner Pelzknäuel aus dem Loch schliefen wollte. Als ihm<br />

dies verleidete, ging er über den Grat hinweg gegen die Karrenwüste<br />

hinaus und betrachtete verwundert den nackten Felsboden,<br />

den das Eis der Urzeit zerpflügt, glatt geschliffen und messerscharf<br />

gezackt hatte.<br />

17


Um Mittag kehrte er auf den Grat zurück, aß etwas und<br />

legte sich hin, um das breite Band an der Ostkuppe zu beobachten,<br />

denn jetzt war es wohl so weit, daß dort oben Gemsen hinüberwechseln<br />

konnten. Er beobachtete es aufmerksam und lange,<br />

um sich nichts entgehen zu lassen, und wurde am Ende<br />

schläfrig. Manchmal schloß er die Augen, doch hielt er die Ohren<br />

offen und meinte, daß er es hören müßte, wenn Steinchen aus<br />

dem Band herabrieselten.<br />

Halbwach und träumerisch fühlte er, wie die Sonne immer<br />

weiter gegen Westen wanderte und das Licht auf Stein und Rasen<br />

wärmer, goldener wurde, er schlief ein wenig ein und sah im<br />

Traum den Vater über die Geröllhalde zurückkehren, er wachte<br />

wieder halbwegs auf und merkte, daß er geträumt hatte.<br />

Plötzlich aber hob er den Kopf und blickte verwundert um<br />

sich. Das warme Licht war erloschen, die Welt sah anders aus. Er<br />

stand auf, rieb sich die Augen und schaute herum. Die Sonne<br />

war untergegangen. Unsagbar still und klar standen ringsum alle<br />

Berge im ruhigeren Blau des Abendhimmels, doch die nahen Felshänge,<br />

Karren und Matten waren schon ohne Glanz und Farbe<br />

wie von dunklen Schatten überhaucht.<br />

Er blieb lange stehen und regte sich kaum, dann begann er<br />

zu warten; das hatte er bis jetzt nicht, oder nicht nur getan, jetzt<br />

tat er nur noch das, er wartete auf den Vater und wollte von nichts<br />

anderem mehr wissen.<br />

Der Abend rückte vor, das Licht wich aus der Himmelsbläue,<br />

die Alpweiden versanken da unten in der Dämmerung. Es<br />

wurde auf einmal kühl, die Tageswärme war wie weggeblasen.<br />

Die Dunkelheit nahm rasch zu, die Nacht brach an, im ungeheueren<br />

schwarzblauen Gewölbe begann es zu glitzern.<br />

Der Knabe ging zur Geröllhalde und spähte, horchend und<br />

wartend, unablässig darüber hin. Ihm schien, die Stille werde<br />

immer noch stiller, der Himmel über ihm immer weiter, die Erde<br />

immer unscheinbarer. So großartig ihm bei Tag zumute gewesen<br />

war, so klein und verlassen fühlte er sich jetzt.<br />

Es wurde kalt und kälter, je weiter die Nacht fortschritt, es<br />

18


war September, und auf dieser Höhe konnte es schon beim<br />

nächsten Wetterumsturz schneien wie im Winter. Der Knabe war<br />

nicht allzu warm gekleidet, er hätte ja mit dem Vater am Abend<br />

rechtzeitig daheim sein sollen, er fror und begann auf dem Grate<br />

hin und her zu laufen, um sich zu erwärmen. Einmal blieb er<br />

mitten im Laufe stehen und starrte auf die Geröllhalde hinüber,<br />

sein Herz klopfte rascher, und die Erwartung verschlug ihm den<br />

Atem. Auf der Halde bewegte sich etwas, eine kleine graue Gestalt<br />

kam eilig daher und wuchs zu Mannesgröße auf und – und<br />

blähte sich und war der verwehende Kopf einer dicken grauen<br />

Nebelschlange. Grausam betrogen sah er zu und wurde zornig,<br />

nicht auf den Nebel, so töricht war er nicht, sondern einfach darüber,<br />

daß er in seiner furchtbar ernsten und dringenden Erwartung<br />

genarrt werden durfte. Mit düsterer Miene wandte er sich<br />

ab, und da entdeckte er noch eine Nebelzunge, die aus der finsteren<br />

Tiefe des Tales da draußen hoch in die Dämmerung hinaufleckte.<br />

Während er dorthin schaute, stieg es nah vor ihm wie<br />

dichter Rauch empor und hüllte ihn rasch und lautlos ein. Er<br />

stand in schwarzgrauer Dunkelheit und sah nichts mehr, und da<br />

er wußte, wie leicht man im Nebel sich schon nach kurzen Gängen<br />

verirren oder doch in der Himmelsrichtung täuschen kann,<br />

blieb er stehen. Von Zeit zu Zeit rief er, eher zuversichtlich als<br />

ängstlich, so wie man etwa im Walde einem Begleiter ruft, den<br />

man eben noch gesehen hat: «Halloh!» Er besaß eine helle, kräftige,<br />

noch ungebrochene Stimme, doch ihm schien, die Finsternis<br />

schlucke ihm den Ruf vom Munde weg, und so rief er lauter.<br />

Nach einer unbestimmten Frist wehte der Nebel auf einmal<br />

in Schleiern auseinander und gab den Blick zum besternten<br />

Himmel frei, dann quoll er wieder heran, blieb für eine Weile<br />

und wich abermals. Das war im Herbst nichts Ungewöhnliches,<br />

es geschah bei Tag und Nacht in den Bergen häufig, doch dies<br />

andauernd gleichgültige und gespensterhaft ergebnislose Huschen<br />

und Verwehen rührte dem einsam Wartenden mit kalten<br />

Schauern an die Seele. Als aber nach einer weiteren unbestimmten<br />

Frist die Nebel unter einem geheimen Druck wieder talwärts<br />

19


wichen, begann ihn auch die klare Gebirgsnacht selber zu ängstigen.<br />

Das bleiche Schimmern der Karrenwüste, das geisterhaft in<br />

der Dämmerung schwebende Weiß der Schneeberge, die dunkel<br />

gähnende Taltiefe und das nahe, starke Glitzern der doch so<br />

trostlos fernen Sterne, dies alles erschien ihm immer unheimlicher,<br />

je länger es dauerte, und sein lebenswarmes, banges Kinderherz<br />

begann zu verzagen. Er rief jetzt nicht mehr, es war ja nutzlos,<br />

aber nach einer Weile sagte er kleinlaut, mit einem leisen Ton<br />

des Vorwurfs, wie ein Kind, das sich im Dunkel ängstigt: «Vater!»<br />

Zwischen Mitternacht und Tagesgrauen erschrak er beim<br />

dröhnenden Schrei einer fremden Stimme, einem anrufenden<br />

rauhen Jauchzerschrei; gleich darauf hörte er vom Westhang der<br />

Furggel her knirschende Schritte. Er horchte und rief «Halloh!»,<br />

der Mann antwortete und kam rasch herauf.<br />

Es war der Wildhüter; er blickte den Knaben an, sah sich auf<br />

dem Grate um und fragte: «Wo ist der Vater?»<br />

Der Knabe gab Auskunft.<br />

Der Wildhüter schwieg einen Augenblick, dann sagte er:<br />

«Ja … warte du hier! Es kommen noch zwei Mannen herauf, denen<br />

sagst du, sie sollen hier auf mich warten.» Er verstummte<br />

und schien noch etwas zu bedenken. «Die Mutter hat im Tal unten<br />

anfragen lassen», erklärte er darauf ruhig, mit einer Bewegung<br />

des Gesichtes gegen den Knaben hin, um anzudeuten, von<br />

welcher Mutter die Rede sei. «So geh’ ich jetzt nachschauen»,<br />

schloß er und ging weg und stieg über die Geröllhalde ins Rasenband<br />

ein, wo er die Laterne anzündete, die er mitgebracht hatte,<br />

und mit dem schwankenden Lichte verschwand.<br />

Er kehrte bald zurück und löschte die Laterne, kam aber<br />

nicht auf den Grat, sondern stieg die Halde hinab. Seine rutschenden<br />

Schritte knirschten im nachgiebigen Steingeröll, dann<br />

wurden sie fester und entfernten sich unten dem Fuße der Ostwand<br />

entlang.<br />

Über den Schneebergen graute die Morgenfrühe, als wiederum<br />

ein heftig anrufender Jauchzer von der westlichen Alp her<br />

klang. Der Knabe gab mit fast versagender Stimme Antwort, und<br />

20


und vernünftig sein! Du bist ja kein Kind mehr. Und such es halt<br />

in Gottesnamen zu ertragen, man kann’s nicht ändern.»<br />

Der Knabe entzog sich dem Arm des Mannes und kehrte<br />

ihm den Rücken, ein ungeheuerer Schmerz zerriß sein Gesicht,<br />

und Tränen stürzten ihm aus den Augen.<br />

«Laß uns allein!» bat der Wildhüter. «Denk an die Mutter,<br />

sie braucht dich jetzt und wartet auf dich. Leb wohl, du!» Er entfernte<br />

sich langsam der Felswand entlang.<br />

Der Knabe wußte nun, was geschehen war, aber er konnte<br />

es nicht fassen, er wurde wie von einer mächtigen Faust umklammert<br />

und geschüttelt und ging nicht vom Fleck. Langsam sank er<br />

da nieder, wo er stand, blieb mit gekrümmtem Rücken liegen<br />

und konnte kaum mehr atmen vor Schluchzen.<br />

Der Wildhüter sah das noch, er schüttelte den Kopf und<br />

kehrte mitleidig um.<br />

Als aber der Knabe merkte, daß jemand auf ihn zukam,<br />

blickte er auf, erhob sich rasch, mit einem Ausdruck von Trotz im<br />

schmerzverzerrten Gesicht, und stieg die Halde hinan. Auf der<br />

Furggel ging er zu den Rucksäcken, hing sich beide an den Rücken,<br />

zuerst den kleineren, dann den größeren, in dem sich noch<br />

ein Kochgeschirr und Eßwaren befanden und der ihm bis an die<br />

Beine hinabhing. Er stieg den Westhang hinunter, immer weinend,<br />

ging über die verlassene Alpweide und kam zu der felsigen<br />

Enge, die vor ihm aufleuchtete wie ein goldenes Tor. Hier, wo<br />

sich gestern zur selben Stunde vor seinen beglückten Augen diese<br />

mächtige Hochwelt aufgetan hatte, schaute er noch einmal<br />

zurück. Die Sonne blitzte ihm entgegen. Er sah die Furggel, ein<br />

wilder Schmerz riß an seinem Gesichte, und von einem bitteren<br />

Schluchzen geschüttelt wandte er sich ab.<br />

Er stieg in den Wald hinunter und kam zu der Stelle, wo sie<br />

der Herde begegnet waren und der Vater mit dem Rinderhirten<br />

gesprochen hatte, dann zur schmalen Brücke über den stiebenden<br />

Bach, wo sie in die Tiefe des Haupttales hinausgeschaut und<br />

zum letztenmal das Flüßchen gesehen hatten, das auch jetzt unter<br />

dünnen Nebelschwaden in vielen Windungen westwärts zog.<br />

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