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probe "Mutters Lüge" 30 Seiten

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Monika Hürlimann

M U T T E R S L Ü G E

Autobiografischer Roman

Literki Verlag

Für Dagmar O., meine erste Lehrerin in Deutschland, mittlerweile

eine liebe und wichtige Freundin für mich. Sie hat immer an mich

geglaubt.


Die längeren Haare schwebten nicht mehr um meinen Nacken herum

wie noch auszusprechende Worte, die keine Eile haben.

Nein. Nicht mehr.

Der Aufbruch (1984)

«Übermorgen fahren wir nach Deutschland», sagt Mutter.

«Für immer.»

«Nach Deutschland…? Für immer?» Hinter meiner Brust spüre ich

einen dicken Knoten. Mein Zwillingsbruder Tomek führt seinen linken

Mittel- und Ringfinger zur Schläfe, lässt die Hand dann in den Schoß fallen

und öffnet weit den Mund.

«Es ist illegal», betont Mutter.

«Und Joka?», kommt es wie ein Krächzen aus meiner Kehle. Ich kauere

mich nieder zu meiner Hündin und drücke sie fest an mich.

«Kein Wort zu niemandem! Sonst lande ich im Gefängnis, und du,

Marta, darfst nicht ins Lyzeum und wirst nie Medizin studieren»,

bekräftigt Mutter und blickt auf den abgewetzten Spannteppich. «Am

Montag geht ihr zur Schule und ich zur Arbeit. Wie üblich.»

«Aber …» In meinem Kopf rasen so viele Gedanken, dass ich mich

unmöglich auf einen einzelnen konzentrieren kann. Joka löst sich aus der

offensichtlich zu starken Umarmung und legt sich unter den Tisch.

Mutters himmelblaue Augen durchdringen mich förmlich. Es fühlt sich

unangenehm und ungewohnt an, weil sie mich normalerweise nicht

direkt anschaut. «Ihr teilt euch ein Gepäckstück», sagt sie, holt aus dem

Hausflur ein Monster von einem Koffer und stellt ihn mitten ins

Wohnzimmer. «Dieses hier.»

Ein Wunder, dass er nicht schon geklaut wurde, in unserem anonymen

Hochhaus. Eignen sich unsere Pfadfinderrucksäcke denn nicht dafür,

frage ich mich.

«Ich gehe Gassi mit Joka», sagt Mutter, ruft die Hündin und lässt die

Wohnungstür hinter sich zuknallen.

Eisige Stille umhüllte das Sofa, auf dem wir saßen. Tomek stützte seine

Ellbogen auf die Knie und kaute an seiner Faust herum. Mir wurde

plötzlich kalt und mein Unterhemd begann auf dem Rücken zu kleben. Ich

fühlte mich hilflos wie ein Kind, obwohl ich fast stolze fünfzehn Jahre alt


war. War das Ganze ein makabrer Scherz? Was, wenn ich nicht mitwollte?

Was sollte aus Joka werden?

«Wusstest du davon?», fragte Tomek.

«Nein.», antwortete ich bissig.

«Sind da Kommunisten im Spiel?»

«Hast du in der Schule was Gefährliches gesagt?», fuhr ich auf.

«Was denkst du von mir?»

Er konnte mich nicht ganz überzeugen, zumal er gleich wortlos in der

Küche verschwand, in deren Nische sein Bett stand. Ich betrachtete unser

Regal: entlang der ganzen Wand stehend, und voller Bücher. Die machten

mich immer stolz, und jetzt trösteten sie mich. Ich würde mitnehmen, was

ich besaß: den Rock, Hose, Unterhose, zwei Paar Socken, die T-Shirts, den

Pulli, die drei Hemden und die Strumpfhose mit den reparierten

Laufmaschen. Vor allem aber Bücher.

Wir waren noch nie im Ausland gewesen. Es hieß, im Westen herrsche

Freiheit und alles sei besser. Und Joka? Meine Joka! Aber wie sollte ich

mich verständigen? Ich konnte doch nur Schulrussisch. Ich wusste zwar

nicht woher, aber Mutter beherrschte Deutsch fließend. Wieso aber nach

Deutschland, wenn Mutter doch von den Nazis sehr schlimme Dinge

angetan wurden? Und jetzt diese Entscheidung! Mutter hätte uns viel

früher einweihen müssen, dann hätte ich Deutsch gelernt! Wie konnte sie

nur? Ich hoffte, ein warmes Bad würde mir wie sonst auch guttun, also

ließ ich das Wasser einlaufen. Danach würde ich meine Joka knuddeln.

Aus dem Schaum formte ich Lebensmittel und blies in die Masse, bis sie

sich auflöste. Hier in Polen waren die Dinge grau, braun, na ja, außer Obst

oder Gemüse. War im Kapitalismus alles besser und bunt? Konnte man

frei äußern, was man dachte, egal wo und zu wem? Gab es drüben für

jeden ein ganzes Stück Fleisch auf dem Teller?

Ich malte mir ganze Berge aus mit Würsten, Schweinerippen und meinen

geliebten geräucherten ‹Kabanosy›. Ich konnte sie förmlich riechen!

Frisch, nicht mehrfach ausgekocht, um das Aroma an andere

Nahrungsmittel abzugeben. Dort trägt man sicher warme Winterstiefel,

Sommersandalen und die Häuser sind hell angestrichen. Und die

Sportschuhe haben vorne keine Löcher für die größer gewordenen Zehen.

Musste man im Westen auch Schlange stehen, um einzukaufen?

Nachdem ich noch lange mein Gesicht in Jokas Fell vergraben und ihren

einzigartigen, süßlich-modrigen Duft in mich aufgesogen hatte, ging ich

mit einem dumpfen Gefühl ins Bett und schlief erschöpft ein. Mitten in

der Nacht wachte ich aus einem beklemmenden Traum auf. Darin war

meine Hündin unauffindbar und ich hatte Angst, dass sie für immer


verschwunden sein könnte. Ich stand auf, tappte auf Zehenspitzen zu

Jokas Körbchen und bückte mich darüber. Erst die Wärme ihres Körpers

und die Atemzüge überzeugten mich, dass es ihr gut ging. Vom

abkühlenden Schweiß auf meinem Rücken wurde mir kalt. Blöder,

ätzender Traum, dachte ich und legte mich wieder ins Bett. Ich fror: am

Leib und innerlich. Aber der Schlaf blieb weg – offensichtlich sollte mein

Kummer bleiben. Müssen wir wirklich weg? Was erwartet uns da drüben?

Wie soll ich mich auf etwas vorbereiten, was ich nicht kenne? Und

überhaupt, hier ist doch mein Zuhause! Was soll diese merkwürdige und

vor allem plötzliche Entscheidung von Mutter! Immer häufiger drehte ich

mich von der Seite auf den Rücken und wieder zurück, legte das

Kopfkissen weg, mal winkelte ich die Beine an, dann steckte ich sie.

Schließlich wurde mein Pyjama feucht vom Schweiß. Irgendwann warf

ich die Decke zur Seite, ging zu Joka und holte sie zu mir ins Bett, obwohl

ich es eigentlich nicht durfte. Ihr unverwechselbarer Duft und das Kitzeln

des Fells an meiner Haut trösteten mich endlich ein wenig.

Am nächsten Tag, am Sonntag, schlief Tomek bis zum Mittag und Mutter

hatte Dienst im Internat. Wie so oft. ‹Ihre› geistig behinderten Schützlinge

lebten dort, also wechselte sie sich mit einer anderen Erzieherin bei den

Betreuungszeiten ab. Sie musste viel arbeiten, weil wir keinen Vater

hatten. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie sehr gern dort war. Wir

waren es gewohnt, wenig Zeit mit ihr zu verbringen, aber trotzdem, jetzt

wäre ich lieber als Familie zusammen gewesen.

Obwohl mir Religion nicht viel sagte, besuchte ich die Messe und es

fühlte sich überraschend richtig an. Wie üblich sah ich dort einige meiner

Mitschüler, da wir alle in der Nähe wohnten und bis auf eine Atheistin

jeder in der Klasse katholisch war. Aber im Gegensatz zu einer normalen

Situation suchte ich diesmal nach dem Gottesdienst schnell das Weite,

mied Gespräche. Die anderen sollten ja nicht merken, dass etwas

Spezielles mit mir los war. Danach, beim Gassi gehen mit Joka überlegte

ich, wie ich mich am Montag nach der Schule von meinen Freunden

verabschieden würde. Denn einfach nicht mehr da sein ohne eine

Erklärung, das könnte ich nicht übers Herz bringen. Kaum jemand besaß

zu Hause ein Telefon, also würde ich sie spontan am Spätnachmittag

besuchen. Weil es verboten war und damit Tomek auf keine dummen

Gedanken kam, erzählte ich ihm nichts davon.

Bevor ich meine Kofferhälfte packte, begann ich, das meiste aus

meinem Zimmer wegzuwerfen. Einzig alle Polnisch- und Mathehefte

verschnürte ich fein säuberlich, denn ich war stolz auf die gelösten

Aufgaben und auf meine Aufsätze und hoffte, sie irgendwann wieder in

den Händen halten zu können.


Mutter kehrte spät abends nach Hause zurück und tat, als wäre alles

wie immer. So fragte sie nicht, ob wir zu Abend gegessen hatten. Ich legte

mich ins Bett, aber an Lesen war nicht zu denken.

In der zweiten Nacht, bevor wir ein letztes Mal zur Schule gehen

würden, versuchte ich erfolglos, vor meinem geistigen Auge die

unbekannte, hoffentlich nicht zu dunkle Zukunft zu entwerfen.

Sorgenvoll dachte ich an Joka.

Unglaublich müde stand ich auf am Montagmorgen. Es war der 30. April

1984. Um in der Schule nicht aufzufallen, meldete ich mich freiwillig, in

der nächsten Woche ein Referat zu halten. Danach konnte ich meinen

Mitschülern nicht mehr in die Augen sehen. Am Nachmittag spazierte ich

ein letztes Mal durch die meine geliebte Altstadt mit dem großen Ring und

den zwei Marktplätzen. Zuerst sah ich mir die schönen Häuserzeilen mit

den heruntergekommenen Fassaden an, sog den Duft der Geschichte auf,

und erst danach gab ich sämtliche Bücher an meine beiden Bibliotheken

zurück. Ich hatte eine Hassliebe entwickelt für die in braunes Packpapier

eingefassten, modrig riechenden Bände. Sie waren abgegriffen, vergilbt,

die Eselsohren und Fettflecken nervten – und gleichzeitig machten sie

mich glücklich. Weil in Polen seit Langem kaum etwas gedruckt wurde,

nicht einmal Schulbücher, waren Bibliotheken meine Zuflucht.

Ich betrete den Block, in dem viele Schüler aus meiner Klasse wohnen.

Zuerst geht’s zu meinem besten Freund Adam, das ist klar. Statt so rasch

wie möglich in den siebten Stock hinaufzusteigen, nehme ich den

vertrauten Geruch nach angesäuertem Kohl im Treppenhaus diesmal

bewusst auf. Mein Herz klopft wild, meine Handflächen schwitzen, als ich

an der vergilbten Spanplattentür klingele.

«Kommst du mit raus?», frage ich mit bemüht normaler Stimme, als ich

sehe, wie Adam mich wie immer mit großzügig ausfahrendem Arm

hereinbittet. Mir ist eher nach Heulen zumute.

Wir laufen in Richtung Freibad, in dem gewöhnlich die halbe Klasse

ihre Ferien verbringt. Die Hecke um den Spielplatz kommt mir heute

eigenartig dunkel vor, die Gehwegplatten auffallend uneben und

schmutzig.

«Du schweigst so lange, was ist los mit dir?», fragt er.

«Ich muss dir was sagen», hauche ich beinahe stimmlos und räuspere

mich. Die grelle Sonne spiegelt sich in einem Fenster und blendet mich.

Ich fühle mich angespannt wie eine zusammengedrückte Feder.

«Schieß los!»

«Es geht um mich … um meine Zukunft», druckse ich herum.

«Geht’s um das Lyzeum?»

«Du kannst es unmöglich erraten.»


«Du, du redest so komisch.»

«Niemand darf etwas davon erfahren.»

«Wovon?»

«Du, du musst unbedingt dichthalten … Versprichst du mir das?», frage

ich mit Nachdruck und schaue mich rasch um. Er bleibt stehen, sieht mich

an. «Na klar, auf mich ist Verlass.» «Du, ich meine es todernst. In unserer

politischen Situation müssen wir einander vertrauen.» Ich setze mich

wieder in Bewegung.

«Nun sag‘s endlich! Was darf ich niemandem verraten?»

«Heute Abend werden Tomek, Mutter und ich ausreisen», würge ich

mühsam hervor. Ich, die normalerweise um kein Wort verlegen ist.

«Illegal. Für immer». Mein Mund war noch nie trockener.

Wir gehen schneller.

Adam hält mich am Arm zurück, sodass ich mich zu ihm umdrehen

muss und stehen bleibe. Er schaut mich durch seine dicken Brillengläser

durchdringend an.

«Ich werde dich verlieren?» Wir kennen die Gedanken des andern,

lachen zusammen über die dümmsten Witze, darum weiß ich, was er

denkt und fühlt. «Und was ist mit dem Schachspiel? Und den Büchern, die

wir gemeinsam lesen?», ruft er und rüttelt mich an den Schultern.

Ich versuche, seinem Blick auszuweichen und wende mich ab, um

weiter zu laufen. Wie gern hätte ich Joka dabeigehabt. Plötzlich schäme

ich mich. Ich verlasse mein Land, als würde es sich nicht mehr lohnen,

gegen die Kommunisten zu kämpfen. Ich bin ein Feigling. Es überkommt

mich ein fremdartiges, übles Gefühl, denn gleichzeitig freue ich mich auf

die unbekannte Zukunft, auf die neuen Möglichkeiten im Leben. «Du

musst es für dich behalten, versprichst du mir das?»

Adam schaut mich schweigend von der Seite an. «Na klar. Ich weiß von

nichts», sagt er schließlich.

Wir umarmen uns das erste Mal überhaupt und schwören, uns zu

schreiben, obwohl wir ahnen, dass es unrealistisch ist.

Ihm in die Augen zu schauen überfordert mich, eine nicht abstreifbare

Ohnmacht beschleicht mich, als würde sie an mir kleben. Ich habe mich

noch nie so mehrwürdig gefühlt. Ich will ihm natürlich nicht zeigen, wie

aufgewühlt ich bin, so drücke ich seinen Oberarm und sage: «Bitte, geh

alleine nach Hause.»

Ich lief weiter, bis ich mich mutig genug fühlte, um meine beste

Freundin Zosia aufzusuchen. Wie nimmt sie diese Nachricht wohl auf?

Sie, die zerbrechlich wie ein Reh wirkt? Erneut betrat ich den Block, in

dem es immer noch nach Sauerkraut miefte, und klingelte. Ihr

einladendes Lächeln und Geste beschämten mich. Wie so oft bei ihr,


duftete es lieblich aus der winzigen Küche. Schlagartig erinnerte ich mich

an die wunderbaren Plätzchen oder Pfannkuchen, die ihre Mutter uns

manchmal serviert hatte. Die wird es nicht mehr geben. Wir setzten uns

aufs Sofa, und ich brauchte lange, bis ich es endlich aussprechen konnte.

«Aber bald haben wir die Aufnahmeprüfungen für das Bio-Chemie-

Lyzeum! Wir wollen doch Medizin studieren. Zusammen. Durch dick und

dünn gehen. Hast du das vergessen?», sagte sie mit Nachdruck.

«Mutter hat entschieden, wir müssen mit. Ich weiß noch nicht einmal,

was mit unserer Hündin geschieht. Du musst es für dich behalten, hörst

du?» Ich fühlte mich wie jemand, der wider Willen Unrechtes tut und sich

dafür verantworten muss. Schweigend umarmte ich Zosia und ging.

Danach rannte ich nach Hause, um Joka innig zu knuddeln und mit ihr

das letzte Mal Gassi zu gehen. Die üblicherweise quirlige und fröhliche

schwarze Mischlingsdame lief nun steif umher, wedelte nicht mit dem

Schwanz, entfernte sich nicht weit und schaute mich häufiger als sonst an.

Als ahnte sie etwas. Mich plagte ein unendlich schlechtes Gewissen. Es sah

so aus, als müsste ich meine geliebte tierische Schwester im Stich lassen.

Ich wischte meine Tränen sorgfältig ab und räusperte mich, bevor ich

unseren Block betrat.

Wieder zu Hause, gesellte ich mich zu Mutter und Tomek aufs Sofa. Wir

aßen Käsebrote, tranken Tee und starrten wortlos auf den Koffer und

Mutters Reisetasche, die wie verwurzelt in dem erdbraunen Spannteppich

wirkten.

Es dämmert schon, als die Bukowskis kommen. Es ist unsere Familie,

auch wenn wir nicht blutsverwandt miteinander sind. Die allgemeine

Stimmung wirkt unbeschreiblich außergewöhnlich, irgendwie schwer,

starr, wie eine dunkle Wolke, als wären alle Gefühle zubetoniert. Mein

Patenonkel Marcin und seine hochschwangere Frau Donata scheinen

bestens über alles informiert, einzig ihre achtjährige Tochter Agata

begreift wohl nicht, was vor sich geht. Sie bringen eine große, bauchige

Tasche, in der sich vermutlich Proviant für uns befindet.

«Zwillinge», sagt Marcin streng. «Es ist wichtig: Im neuen Reisepass

heißt ihr Kapowski, wie euer Vater. Prägt euch das gut ein.»

Tomek und ich schauen uns entgeistert an. Das erste Mal in unserem

Leben hören wir etwas von unserem Vater, und jetzt hat er einen Namen.

In mir steigt leise eine Art Ärger auf, den ich aber nicht einordnen kann.

Die Bukowskis begleiten uns zu dem weißen Auto, mit dem ein

unbekannter Mann uns in das unbekannte Land, in die unbekannte

Zukunft bringen soll. Joka! Ich küsse und drücke sie so fest, dass sie zu


bellen anfängt. Erschrocken lasse ich die sonst brave Hündin los. Tränen

laufen über meine Wangen. Es ist sehr lange her, dass ich geweint habe.

Erst jetzt merke ich, dass ich neben all den aufregenden und fremden

Gefühlen und traurig bin.

«Bis zur Grenze musst du dich aber beruhigt haben», sagt Tante Donata

sanft lächelnd, als sie mich umarmt. «Es steht viel auf dem Spiel. Niemand

darf missmutig wirken. Auf keinen Fall ungefragt reden. Wir kümmern

uns um Joka, versprochen. Es wird alles gut werden. Bestimmt.»

Marcin legt seine Hand auf meine linke Schulter. Ich bin inzwischen zu

alt, um auf dem Kopf gestreichelt zu werden. Donata drückt Tomek an

ihre Brust. Mutter nimmt Platz auf dem Beifahrersitz, wir Zwillinge auf

der Rückbank. Es ist mir äußerst peinlich, dass ich mich nicht im Griff

gehabt habe.

Während der nächtlichen Autofahrt schwiegen wir. Nicht einmal das

Radio lief. Die vorbeiziehende Landschaft war in Dunkelheit getaucht und

vertiefte meine ungeordneten Gedanken und widersprüchlichen Gefühle.

Ich starrte auf den Fahrer, den ich für mich ‹Drachen› nannte, denn er

sollte uns von der normalen in die unbekannte Welt bringen, wir kannten

seinen Namen nicht und redeten nicht mit ihm. Als entstammte er einem

Fantasie-Roman. Er war weder mager noch dick, sein adrett gebügeltes,

dunkles Hemd passte zur beigefarbenen Hose, sein Hinterkopf mit den

leicht gräulichen, blonden Haaren kam mir eigenartig vor, irgendwie

unwirklich.

Bukowskis’ Schinkenbrötchen schmeckten herrlich – wie die Heimat,

die wir gerade verließen. Ich war sauer, dass Mutter dem ‹Drachen› davon

anbot, denn ich befürchtete, dass sie nicht reichen würden für diese Reise,

deren Dauer wir nicht kannten.

Als wir an der DDR-Grenze ankamen, saß ich steif und innerlich leer

auf meinem Sitz. Tomek war ruhig, was mich verwunderte. Wortlos zeigte

der Fahrer unsere gefälschten Pässe und beantwortete einsilbig zwei

Fragen der Beamten, deren prüfende Blicke schwer auszuhalten waren.

Das Gepäck wurde nicht durchsucht. Mich verunsicherte, dass die Abläufe

wie eine eingeübte Theaterszene anmuteten. Aber eben, wir Zwillinge

durften keine Fragen stellen, wie wir es im Grunde gewohnt waren. Wir

fuhren weiter. Als wir an der Karl-Marx-Stadt vorbeikamen wunderte ich

mich, dass sie den Namen eines Mannes trug, der für mich der Inbegriff

des Bösen war. An der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland zeigte

Mutter nur kurz zwei Blätter, und man winkte uns durch.

Wir waren im Westen!


Im Morgengrauen erreichten wir Friedland bei Göttingen. Ich hatte noch

nie so saubere Straßen gesehen. Wortlos ließ der ‹Drache› uns mitsamt

Gepäck an einem gelben Gebäude aussteigen und fuhr weg.

Es empfing uns eine schlanke, gepflegte Mitarbeiterin des Auffanglagers

für Aussiedler. Es ärgerte mich maßlos, dass ich die Sprache nicht

verstand, während Mutter keine Probleme zu haben schien. Die Frau

führte uns in ein Zimmer in einer der vielen länglichen Baracken. Ich war

doch froh, dass es keine Zelte waren, ich es mir anfänglich vorgestellt

hatte – denn für mich gab es in einem Lager Zelte. Es roch nach

Putzmitteln, die gelblichen Wände waren kahl, unser dürftiges Gepäck

landete neben den zwei Etagenbetten. Einen Tisch oder Schrank gab es

nicht. Die Frau legte eine mit Formularen gefüllte Mappe auf einen der

vier Stühle und überließ uns unserem Schicksal. Keiner redete, alles

fühlte sich fremd an. Ohne auszupacken legten wir uns in unserer

Reisekleidung hin und schliefen bis in den Nachmittag hinein.

Hungrig wachte ich auf – Mutter und Tomek rührten sich nicht. Ich

nahm das vorletzte Brötchen aus unserem Proviant und schlich mich nach

draußen. Wie passend, an diesem ersten Tag im sagenumwobenen

Westen, über dem der strahlend blaue Himmel wachte, allein die Gegend

erkunden zu können.

Merkwürdig: Statt am Tag der Arbeit voller Demonstranten zu sein, waren

die Straßen menschenleer. Wie ich es immer gehasst hatte, die nach

strengen Vorgaben angefertigten Transparente und roten Papierfahnen

zu schwenken und gute Miene zum absurden Zirkus zu machen. Aus

Angst vor schlimmen Folgen hatte ich damals mitgemacht, statt

auszuschlafen.

Ich lief noch eine Weile herum, sah mir die hell angestrichenen

Gebäude an, allesamt in gutem Zustand, die Gehwege ohne Hundekot oder

Abfall entlang der Straßen – sie bestätigten meine bisherigen Annahmen

über den Westen – und kehrte ins Zimmer zurück. Mutter und Tomek

waren nun wach, also gingen wir in die geräumige, nahezu leere Kantine.

Sie erinnerte mich an den sterilen, hallenden Speisesaal in Mutters

Internat. Es gab Linsensuppe mit einer ganzen Wurst für jeden.

Tatsächlich. Ich roch zuerst daran, bevor ich stückchenweise und langsam

davon aß. In Breslau hatte es höchstens alle drei Wochen eine für uns drei

gegeben, und das erst nach stundenlangem Anstehen. Wie üblich stellten

wir Kinder keine Fragen.

Am zweiten Mai ging ich nach dem Frühstück in den Supermarkt

gegenüber dem Lager. Nur alles anschauen, sagte ich mir, ich hatte


schließlich kein Geld. Und ich brauchte ja auch nichts. Zu meinem

Erstaunen waren die blitzeblanken Schaufenster mit farbenfreudigen

Plakaten beklebt, die Tür öffnete und schloss sich ungewohnt lautlos.

Drinnen traf mich buchstäblich der Schlag. Mein Kopf dröhnte, und ich

begann zu schwitzen. Niemand stand an, die Frau an der Kasse begrüßte

mich – das hatte ich noch nie erlebt. In einem breiten Kühlabteil erblickte

ich bunt gestaltete Joghurtbecher mit diversen Geschmacksrichtungen:

Himbeere, Erdbeere, Heidelbeere! Ordentlich aufgereiht und unerwartet

viele verschiedene. Mir wurde schwindlig. Ich entdeckte schön verpackte

Milch, Butter, Käse. Und in einem anderen Regal lagen unterschiedliche

Schinkensorten, mehrere Salamis, Würste. Die hauchdünnen Scheiben

waren sorgfältig fächerförmig übereinandergelegt. Fein geschnittene

Wurstwaren?! Ich kniff mich in die linke Hand und spürte es. Oh, Realität!

Um nichts zu verpassen, versuchte ich, meinen Blick systematisch

schweifen zu lassen. Und ich wollte mir alle deutschen Wörter für alle

Lebensmittel merken. Aber es waren viel zu viele. Es gab mehrere Sorten

Schokolade, Eier, sogar Strumpfhosen und Zigaretten. Was war nun

richtig: Dass es in Polen schwer war, solche Dinge zu ergattern, vielleicht,

damit man als Bürger dankbar blieb? Oder dass hier alles einfach da lag

und man das Problem hatte, zwischen gelb und blau zu wählen? … Oh,

was war das!? Ich hielt die Luft an. Gewaschene und polierte Früchte?

Irrsinnig! Und dann: Bananen!!! Mein Herz hämmerte und ich spürte den

Puls in den Schläfen. Wie der Blitz rannte ich hinaus.

Ich fand Mutter im Verwaltungsgebäude, wo sie in einem schmalen

Gang mit Dokumenten auf dem Schoß saß.

«Im Laden gibt’s Bananen!», flüsterte ich in ihr Ohr. «Ich möchte soooo

gern eine essen! Nur eine! Eine einzige! Kannst du mir bitte Geld dafür

geben?»

«Bananen?»

Ich nickte heftig und trippelte mit den Beinen.

«Was kosten die denn?»

Ich schluckte. In Polen war dies nie die Frage, sondern ob etwas erhältlich

war. «Ich … weiß nicht.», stotterte ich konsterniert.

Mutter seufzte, fingerte in ihrer Hosentasche ungelenk eine fremde,

offensichtlich recht schwere Münze heraus.

«Hier, vielleicht genügt das.»

Mit einer D-Mark in der Hand eilte ich zurück in das Geschäft und kaufte

mir die erste Banane meines Lebens. Ich nahm mir vor, sie schön langsam

abseits des Lagergeländes zu verspeisen. Aber als ich draußen war, warf

ich alle Vorsätze über Bord. Ungeduldig schälte ich meinen Schatz und

schnupperte gierig an der weichen, gelblich-braunen, vanilleartigen

Banane. Das erste Stückchen schmeckte mild, süß, geradezu himmlisch.


Schön langsam essen, ermahnte ich mich. Wenn ich vor dem Schlucken

durch die Nase einatmete, verstärkte sich der Genuss noch. Die braunen

Stellen zergingen leicht auf der Zunge und waren am leckersten. Den

ganzen Nachmittag und Abend blieb ich wie berauscht von meiner

einzigartigen, bananigen Bananenerfahrung. Sie blieb mein Geheimnis.

Mutter verschwand jeweils vormittags im Verwaltungsgebäude,

nachmittags sah ich sie im Foyer sitzen und rauchen. Eine Zigarette nach

der anderen. Tomek ging seiner Wege und ich zog es vor, die Gegend zu

erkunden. So lieh ich mir im Aufenthaltsraum Federballschläger aus und

ging damit hinaus auf die Straße. Früh nachmittags sah ich deutsche

Kinder nach der Schule heimgehen. Sie wirkten irgendwie edel mit ihren

bunten Ranzen, schönen Halbschuhen und ohne Uniform. Als zwei

Jugendliche in meiner Nähe stehen blieben, schaute ich sie an, fasste allen

Mut und sagte: «Gute Tak …»

Der eine blonde, kräftigere Junge lächelte mich an. Ich gab ihm wortlos

einen der beiden Badmintonschläger, er legte seine gigantische

Schultasche auf den Boden und wir begannen zu spielen. Der andere

schaute uns zu. Zwischendurch blickte ich zu seinem Ranzen, weil mich

dessen Masse und die giftgrüne Farbe faszinierten. Wenn der Ball nicht so

flog, wie wir wollten, lachten wir alle.

«Jörg», rief der blonde Junge, als er sich nach dem Ball bückte.

«Jo?», fragte ich verunsichert, weil ich weder verstand, worum es ging,

noch wie dieses Wort genau ausgesprochen wird.

«Nicht Jo. Jörg. J ö r g, ich heiße Jörg», sagte er lachend und zeigte auf

seine Brust.

«Ah, Marta, gute Tak!» Ich vermied es, den merkwürdigen Buchstaben,

das komische ‹ö›, das es im Polnischen nicht gibt, zu wiederholen.

Stattdessen blickte ich den anderen Jungen fragend an.

«Matthias», sagte dieser, lächelte, und übernahm den Schläger von Jörg.

Oh je, ich kann diese ungewöhnlichen Namen nicht einmal aussprechen,

geschweige denn mir merken, dachte ich und nickte in seine Richtung. Ich

muss möglichst alles gut lernen! Als wir irgendwann mit dem Spiel

aufhörten, fragte ich die beiden:

«… klasa?»

«Ich gehe in die sechste Klasse», antwortete Matthias.

«Ich in die siebte», sagte Jörg.

Ich nahm meine Finger zur Hilfe: «Ei, zwei, …»

«Nein. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, …», setzte Matthias an und

lachte laut. Was war daran komisch? Ich konnte es einfach nicht. Also

noch mal.

«Acht klasa», sagte ich und zeigte auf mich.


«Achte Klasse. Echt klasse», meinte Jörg und musterte mich genau.

«Echt klasse», wiederholte ich und die beiden Jungen kringelten sich

vor Lachen. Was haben die? Meine Hose ist zwar etwas kurz und

verwaschen, aber sauber!

Als Matthias sich beruhigt hatte, schaute er auf die Uhr, hob seinen

bunten Ranzen vom Boden und rief: «Tschüss, bis morgen.»

Jörg folgte ihm und winkte zum Abschied.

«Tschus», plapperte ich unbeirrt nach, auch wenn sich das Ganze etwas

holprig anfühlte.

Im Zimmer kramte ich das winzige Wörterbuch hervor, das die

Lagermitarbeiterin uns am ersten Tag gegeben hatte. Es passte in eine

Hand. Ich wollte Vokabeln nachschlagen, die ich am nächsten Tag im

Gespräch mit den Jungs benutzen wollte. Aber ich konnte mich nicht

konzentrieren. Wie es Joka wohl ging. Vermisste sie mich, wie ich sie?

Seit Mutters denkwürdigem Satz «Übermorgen fahren wir nach

Deutschland» fühlte ich mich abwechselnd verunsichert, ohnmächtig und

innerlich unheimlich leer. Die vielen chaotischen Gedanken störten mich.

Um mich davon abzulenken, erzählte ich beim Abendbrot in der Kantine

vom Federballspiel und meinen ersten Versuchen, deutsch zu sprechen.

Tomek hatte auch schon ein wenig Kontakt mit Friedländer Kindern

geknüpft und fand wie ich die Sprache etwas komisch, besonders

Buchstaben wie ‹ö› oder ‹ü›. Statt eines Kommentars blickte Mutter in

Richtung Tür und sagte:

«Morgen reisen wir weiter. Nach Norddeutschland.»

«Ist das weit?», fragte Tomek und richtete sich auf.

«Einige Stunden Zugfahrt.»

«Warum müssen wir da hin?», wollte ich wissen.

«Eure Großtante Elisabeth lebt dort, die Stadt heißt Kiel.»

«Großtante?», rief ich. Mutter war doch als Waisenkind im Heim

aufgewachsen. Deswegen waren ja die Bukowskis unsere Familie, obwohl

wir nicht verwandt waren. Merkwürdig.

«Packt euren Koffer! Ich muss noch etwas erledigen. Heute

gehen wir früh schlafen», sagte Mutter und verließ die Kantine. Ich

schaute ihr nach, sah ihren plumpen Gang, ihre mollige Figur, ihre

kurzen, dichten, schwarzen Haare, um die ich sie immer beneidete.

Als wir am nächsten Morgen in Friedland den langen, erstaunlich leisen

Zug Richtung Kiel bestiegen, ahnte ich, dass jetzt ein neues Leben

beginnen würde. Es war, als wenn man in einem Buch das nächste Kapitel

aufschlug. Aber weder die Schrift noch Sprache kannte. Noch nie hatte ich

so saubere und unbeschädigte Toiletten gesehen, und es gab dort sogar


Klopapier. Ich schaute aus dem unwirklich spiegelblanken Fenster:

ordentlich abgeteilte Felder in der flacher werdenden Landschaft und

friedlich weidendes Vieh. Ein Märchen. War das der sagenumwobene,

bunte, unschlagbar bessere Westen? Ganz anders als alles, was mir

bislang vertraut war? Plötzlich schämte ich mich, weil mir nicht schon

früher, sondern erst jetzt bewusstwurde, dass das bisherige Leben in

Polen durch nichts zu ersetzen war, kostbar wie ein Glücksmoment, der

sich alsbald verflüchtigt haben wird.

Zunächst unmerklich, dann immer klarer tauchte ich gedanklich tief in

die Vergangenheit ein.

*

Schröpfkur

Als Alleinerziehende arbeitete Mutter immerzu, weshalb wir Zwillinge

nach dem Kindergarten selbstständig in die Wohnung zurückkehrten.

Meinen Schlüssel hatte ich um den Hals gehängt. Es knarrte bedrohlich,

wenn ich die breite Spanplattentür, deren mehrschichtige rostbraune

Lackfarbe abblätterte, aufsperrte. Statt mich über den modrigen Geruch

zu ärgern, der mir in die Nase stach, kniete ich mich zu Joka, die schon

intensiv mit dem Schwanz wedelte und küsste sie auf den Kopf. Ich

beschloss, auch den verhassten, schweren, ewig schmutzigen Vorhang,

der die Toilette vom Flur abtrennte, nicht zu beachten. Wenn ich die

Küche betrat, um mir einen Apfel zu holen, hörte ich die Ratten, die in den

Rohren der Badewanne raschelten und so ließ ich kurz das Wasser laufen,

um sie zu verscheuchen.

Furchtbar kalte Luft kam mir entgegen, wenn ich in das einzige Zimmer

ging, dessen Kachelofen Mutter nur abends anfeuerte. Ich sah kurz zur

Decke, deren florale Stuckaturen mir schon so oft geholfen hatten. Sie

dienten mir als Vorlage für gute Giganten und zottige Riesentiere, die ich

mir vorstellte. Den Ranzen lehnte ich an mein Bett und blieb vor der

deckenhohen Wohnwand stehen. Ich mochte das heillose Durcheinander

aus Büchern hinter den rot-schwarzen Schiebetüren aus Glas, wobei die

Bände krachend herausfielen, wenn man die Scheiben öffnete. Nur dieses

eine, beständige Chaos zu Hause mochte ich. Tomek und mir standen je

eine der drei breiten Schubladen zur freien Verfügung – eine Art


Heiligtum. Ich bewahrte dort Zeichnungen, Buntstifte, Gummibälle sowie

Schokolade auf, die ich mir über die ganze Woche einteilte. Mein Bruder

vertilgte seine Süßigkeiten stets sofort und bediente sich danach bei

meinen, was mich zur Weißglut trieb. Aber Mutter reagierte nie auf meine

Beschwerden.

Meine Lieblingskapuzenjacke verfügte über eine große Tasche, in die ich

ein frisches Unterhemd hineinstopfte. Ohne mich darum zu kümmern,

wie es aussah, zog ich meinen Bademantel darüber an und wickelte den

Schal enger um den Hals. Mit geübtem Schwung warf ich mir ein

Frotteetuch über die Schulter, biss in den Apfel und schloss die Tür von

außen zu, indem ich den Schlüssel sorgfältig zweimal umdrehte. Andere

Leute schützten sich mit mehreren Schlössern und dicken Gittern vor

Einbrechern, aber wir nicht. Rasch lief ich über den staubigen Innenhof

in das siebenstöckige Altbau-Mehrfamilienhaus, in dem Oma und Opa

Bukowski wohnten. Im Winter badeten wir Zwillinge bei ihnen, weil es

bei uns zu Hause zu kalt war. Und da war er wieder, mein Zwiespalt: Ich

bevorzugte zwar den Sommer, aber nur im Winter durfte ich bei Oma und

Opa baden!

Am liebsten ging ich allein dorthin, weil ich mich dann wie eine Prinzessin

fühlte. Ich betrat das Treppenhaus und atmete routiniert durch den

Mund, denn gewöhnlich stank es entsetzlich nach feuchter,

verschimmelter Luft, nach Erbrochenem von Betrunkenen, Kot und Urin.

Nur eine sehr schwache Glühbirne leuchtete, sodass ich über verstreute

Kohle auf dem Teppich aus Zigarettenkippen stolperte. Sie stammten von

den überfüllten Eimern, die die Bewohner vom Keller hinauf in ihre

Wohnungen trugen. Obwohl ich das alles kannte erschrak ich, als ich

einen Fuß geräuschvoll in einen metallenen Gegenstand rammte, wohl

einen Teil des Briefkastens.

Ich sah mich schon in der Badewanne voller Schaum, als ich meine

Hand auf dem breiten Holzgeländer entlanggleiten ließ. Plötzlich lief eine

dunkelbraune Ratte mit einem langen, fleischigen Schwanz über meinen

Handrücken und die Brüstung hinauf. Ich quiekte kurz vor Schreck. Zwar

war ich nicht ängstlich, aber es kam unerwartet. So schnell wie noch nie

rannte ich die restlichen vier Stockwerke hinauf und klingelte stürmisch.

Oma öffnete die Tür und sah, wie ich mit aufgerissenen Augen keuchte.

«Meine Kleine, was ist mit dir?»

«Eine fette … glitschige …. Ratte … Auf meiner Hand …», stammelte ich,

nah am Weinen.

«Meine Marta!» Oma umarmte mich fest und lange.

Es war schön warm, im Flur roch es nach alten Büchern, und die Möbel

standen immer am selben Platz. Als ich mich beruhigt hatte, legte ich Oma


das Frotteetuch in die Hände und wartete auf das vertraute Schmunzeln.

Da waren sie, Omas kleine, aufmerksame Augen, die sich ulkig verengten,

wenn sie lächelte. Und die kesse Haarlocke auf der Stirn. Ich zog den

Bademantel und die Jacke aus und betrat das geräumige Zimmer. Oma

ging in die Küche, um Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen.

In der Mitte thronte mein geliebter, wuchtiger Mahagonitisch, auf dem

Teegläser standen und Bücher lagen. Es waren alle da: der hinter einer

aufgeschlagenen Zeitung kaum sichtbare Opa, die Bukowski-Kinder, die

fünfundzwanzigjährige Helenka, die am liebsten auf dem Sofa saß und

meinen Pullover liebevoll zurechtzupfte, wenn ich sie begrüßte, und ihr

vier Jahre jüngerer Bruder Marcin, mein stämmiger Patenonkel. Er

schlürfte seinen Tee, stellte das Glas ab, streichelte mit seiner warmen

Hand meinen Kopf und fragte, wie ich den Tag verbracht hatte. Es

belustigte mich, dass seine Augen denen der Oma glichen, obwohl er ein

Mann war. Wie so oft, zog ich mit den Fingern die feinen Schwünge der

Schnitzereien auf den Stuhllehnen nach und wünschte mir, dieser

gemütliche und lieb gewonnene Moment würde nicht mehr aufhören.

Oma betrat das Zimmer. «Bitte, dein Tee. Möchtest du etwas essen?»

Zwar gab es nirgendwo anders bessere Brötchen mit Butter und

Schinken, aber ich kam, um zu baden, und man soll sich zu benehmen

wissen. Also lehnte ich höflich ab.

Die Bukowski-Kinder holten uns Zwillinge oft vom Kindergarten ab und

nahmen uns mit zu sich nach Hause. Manchmal durften wir das grüne,

schummrige Durchgangszimmer in Beschlag nehmen. Aus dem Tisch, den

Stühlen, dem Schlafsofa sowie alten Vorhängen und Decken bauten wir

Burgen, Häuser, Schlösser und Verstecke. Gräben mit erdachtem Wasser

umringten die Festungsanlagen. Ich fungierte manchmal als

Burgprinzessin oder Krieger, Tomek als Magd, oder umgekehrt. Hoch zu

Ross begab sich der Ritter auf einem Stuhl zu den anderen Edelmännern,

um sie mit einem Regenschirm, der als Schwert diente, zu unterstützen.

Wenn wir weniger Zeit hatten, verwandelten wir uns in Indianer oder

mimten wilde Cowboys mit Revolvern aus Kochlöffeln. Oder wir sprangen

im Schlafzimmer der Großeltern auf dem durchgelegenen Ehebett mit

dem aufwendig geschnitzten Rahmen herum. Gegenüber dem Bett lehnte

ein mannshoher mit Mahagoni umrandeter Spiegel, in dem wir uns beim

Springen sehen konnten, was unser Vergnügen enorm steigerte. Wir

rivalisierten um die größte Höhe oder die besten Figuren, bis das Spiel von

den Erwachsenen beendet wurde. Dann kämmten wir uns vor dem

Spiegel mit Omas Haarbürste oder probierten sämtliche Schuhe an.

Tomek studierte zudem diverse Grimassen mit passenden Gesten ein,

worin er unerreichter Meister war. Oft zog er Helenkas Kleider an und sie


frisierte seinen wallenden Schopf und schminkte seine Augenlider,

Lippen und die Pausbacken. Die anschließende Vorführung sorgte für viel

Gelächter. Ich beneidete Tomek zwar um diese Darbietung, aber so bunt

angemalt gefiel er mir ganz und gar nicht.

Die Erinnerung an die Ratte im Treppenhaus verflog vollends, als ich

summend ins warme Wasser stieg. Kuchen, Klöße und Türme formte ich

aus dem vielen Schaum und stellte sofort wieder neue auf, sobald die

Bläschen wie welke Blumen in sich zusammensanken. Wenn Oma nicht

mit dem ausgebreiteten Tuch die Küche betreten hätte, wäre ich eine

Ewigkeit im sich abkühlenden Wasser geblieben.

«So, raus mit dir!» Oma half mir, mich abzutrocknen und die vielen

Kleiderschichten anzuziehen.

Als ich mich von allen verabschiedete, sagte Marcin:

«Ich begleite dich nach Hause!»

«Ich kenne den Weg, danke!», entgegnete ich stolz.

«Hm, du hast wie immer deinen Kopf. Aber geh wenigstens außen

herum.»

«Aber das ist doch viel zu weit!»

«Marta, Marta, was sollen wir mit dir tun?» Er strich mir über den Kopf

und lächelte breit.

Halb Breslau erfrischte sich in den heißen Sommern in Freibädern.

Mutter ging öfter mit uns Zwillingen in die Olympia-Anlage, weil sie sich

in der Nähe ihres Internats befand. An einem besonders sonnigen Tag

kreisten wir zunächst auf dem Rasen herum, bis Mutter sich an eine

vertrauenswürdig wirkende, ältere Frau wandte:

«Wären Sie so freundlich und würden ein Auge auf meine Zwillinge

werfen?», fragte sie, während sie eine braune Decke ausbreitete, auf die

sie Badetücher sowie Proviant legte.

«Wenn sie brav sind ...», antwortete die Dame und blickte kurz von

ihrem Buch auf.

«Sie machen keine Dummheiten», sagte Mutter und ging.

Von da an hatten wir öfter solche ‹Rasen-Eltern›. Wir nutzten schamlos

aus, dass sich die Leute selten für uns interessierten, und hielten uns die

meiste Zeit im Wasser auf. Wie ein Hund zu paddeln bewahrte uns vor

dem Schlimmsten. Ich liebte die besonderen Geräusche, die entstanden,

wenn ich den Kopf unter Wasser hielt. Sie entführten mich in eine

entschleunigte, unwirkliche Welt. Ich saß auch gern am Beckenrand und

genoss die glitzernde, unruhige und in der Sonne funkelnde Oberfläche.

Für mich waren es Sterne, die tagsüber auf die Erde herunterkamen und

die Menschen beobachteten. Wenn die Tore des Freibades schlossen,

fuhren wir zwei Stationen mit der Straßenbahn in Mutters Internat und


kehrten abends mit ihr zurück nach Hause. Ihr schien es zu genügen, uns

gesund zu sehen, und so fragte sie nicht, was wir so getrieben hatten.

Ein Stockwerk tiefer schräg unter den Bukowskis wohnte Bogdan, mit

dem wir Zwillinge in den Kindergarten gingen. Wenn ich Oma und Opa

besuchte, schaute ich auch bei ihm vorbei.

Als ich wieder einmal bei ihm war, während Tomek mit Tante Alina den

Zoo besuchte, durfte ich mit ihnen zu Mittag essen.

«Nimm noch mehr, du isst sie doch so gern!», sagte Bogdans Mutter und

schöpfte mir noch mal von der Suppe.

«Danke», antwortete ich, um höflich zu sein. Ich mochte diese

merkwürdige, gesalzene Milchsuppe mit Kartoffeln und Nudeln nicht.

Meine Favoriten waren eigentlich Knödel und Hefekuchen.

«Hoffentlich legst du etwas zu.»

Ich rang mir ein Lächeln ab. «Ja.»

«Gehen wir.» Bogdan zupfte an meinem Ärmel, während ich mit dem

Essen kämpfte, um trotzdem alles auszulöffeln. In seinen zwei recht

großen Zimmern, die er als Einzelkind bewohnte, stolperte man oft über

seine vielen Plastikautos, Schwerter, Malblock, Buntstifte und Legosteine.

Ich war froh, einen Grund zu haben, vom Tisch aufzustehen. In jedem Fall

war ich lieber bei ihm als im Aufenthaltsraum des Kindergartens oder in

der kalten Wohnung. Ich half ihm bei den Hausaufgaben und wir spielten

zusammen. Bei ihnen war es warm und sauber, und es roch nach Milch

und Hefeteig. Seine Eltern waren viel älter als Mutter, die uns mit dreißig

bekommen hatte.

Nach dem Essen räumte Bogdans Mutter die Küche auf und putzte die

Wohnung, zumeist in einer viel zu kurzen Polyesterschürze. Ich sah dieser

herzensguten Frau gern zu, wenn sie ihre Kristallvasen vorsichtig aus der

Wohnwand nahm und sorgfältig polierte. Danach stellte sie sie zurück auf

die gehäkelten weißen Spitzenunterlagen und betrachtete sie ehrfürchtig.

Dieses Ritual fand ich beinahe heilig, obwohl ich bei ihnen Bücher

vermisste. Gern wusch ich mir in der Küche die Hände, denn dabei tippte

ich auf die mit vergorener Milch gefüllten faustgroßen

Baumwollsäckchen, die an der Spüle hingen. Mit Wonne schleckte ich die

frische Molke ab, die von ihnen herunter tropfte und freute mich auf den

Quark, der daraus entstehen würde.

Bogdans Vater verfolgte tagtäglich die Resultate der Fußballspiele. Ich

sah ihm gerne zu, wenn er bei der Lotto-Zahlenziehung im Fernsehen

angespannt auf die Richtigen hoffte oder mit ernster Miene die Zeitung

las, ähnlich wie Opa es tat. Bei uns gab es keine festgelegten

Gewohnheiten.


Nicht nur dies war in meinem Zuhause anders. Nachdem Mutter zum

ersten Mal bei Bogdans Eltern zum Kaffee eingeladen war, wurde mir

klar, dass uns bis auf Tante Alina und die Bukowskis niemand besuchte.

Unsere Wohnung wirkte ganz anders als alle anderen, die ich schon mal

gesehen hatte. Weil es unordentlich und im Winter kalt war, nahm ich

lieber keine Kinder mit zu mir nach Hause. Mutter stellte oft

überraschend die Möbel um, sodass wir manchmal am Nachmittag einen

völlig veränderten Raum vorfanden. Ich hätte es lieber immer gleich

gehabt, damit es mir vertraut wäre.

*

«Kommt dich heute niemand besuchen?», fragte die Oma meiner

ebenfalls vierjährigen Bettnachbarin im Kinderkrankenhaus.

«Mutter arbeitet, aber sie kommt nächstes Mal», antwortete ich und

vertiefte mich wieder in das großzügig illustrierte Märchenbuch von H. C.

Andersen. Ich versuchte nämlich eifrig, mir das Lesen beizubringen, denn

wenn ich in die besonderen Welten der Geschichten eintauchte, fühlte ich

mich weniger allein.

«Und dein Vater?»

«Ich hab keinen Vater.»

Betretenes Schweigen. Die mitleidigen Blicke waren unerträglich. Kann

man mich nicht einfach in Ruhe lassen? Schlimm genug, dass die anderen

Kinder Süßigkeiten oder Spielzeug bekamen. Vielleicht gibt’s eine

Beschäftigung für mich im Stationszimmer. Seit Kurzem durfte ich aus

einer Watterolle daumendicke Kugeln wickeln, die als Tupfer bei Spritzen

und Blutentnahmen dienten. Ich war stolz und froh, als ich zusätzlich eine

Vitrine aufräumen sollte, bis die letzten Besucher gegangen waren.

Diesmal hatte es besonders übel angefangen. Vor lauter Schmerzen in den

entzündeten Mandeln konnte ich nicht einmal trinken, und das hohe

Fieber schwächte mich. Als dann noch die Knie weh taten und die Finger

anschwollen, brachte mich Mutter in die Poliklinik. Dort kannte man uns,

die Zwillinge, weil wir oft krank waren.

«Wo tut’s weh?», wollte die in meinen Augen alterslose Ärztin wissen.

Sie fragte mich zuerst!

«Überall, aber am schlimmsten sind die Knie, die sind rot und ich kann

kaum laufen. Sogar in der Nacht tun sie weh. Und die Finger und der Hals,

und mir ist so furchtbar kalt!»


«Arme Maus. Und was sagt die Mama?» Die Ärztin drehte sich zu

Mutter.

«Ja, das ist es. Sie ist schwach und fiebert seit Tagen.»

«Lass mich mal sehen», sagte die Ärztin zu mir und begann mit der

Untersuchung.

Die Gänsehaut vom kalten Stethoskop kannte ich – die musste sein. Was

hört sie denn da? Was bedeutet das? Sie klopfte auf die Rippen, hob meine

Arme hoch und zur Seite und bewegte den Kopf nach allen Richtungen.

Danach musste ich die Zunge herausstrecken und ‹aaaa› sagen. Später

tasteten die Hände der Ärztin behutsam meinen Bauch ab, was manchmal

schmerzte. Ich malte mir aus, wie Tabletten im Magen in winzige

Kügelchen zerfallen und unermüdlich zur kranken Stelle schwimmen.

Wenn ich groß bin, will ich auch erkennen können, was den Kranken fehlt

und ihnen helfen, Medikamente geben, das Fieber und die Schmerzen

nehmen, beschloss ich aufgeregt. Die Ärztin setzte ihre Brille auf und

schrieb etwas in ein riesiges Heft hinein. Dann blickte sie Mutter und mich

ernst an und sagte:

«Es ist das Rheumatische Fieber. Ich behalte dich hier, Mäuschen.»

Wochenlang lag ich schwach im Bett, hing am Tropf und schlief viel.

Erst als es mir deutlich besser ging, begann ich, mich für die anderen

sieben Kinder in unserem riesigen Zimmer mit undichten Fenstern zu

interessieren.

Normalerweise fand ich nichts schlimm im Krankenhaus, nicht einmal

das Blutabnehmen. Einzig zweimal in der Woche quälte ich mich: Ich sah

die Menschentraube vor dem Haupteingang. Mutter kam zumeist nur

sonntags zu mir, weil sie unter der Woche bis einundzwanzig Uhr

arbeitete. Angespannt schaute ich, ob wenigstens Onkel Marcin oder Oma

und Opa kamen. Nein, auch heute nicht. Mit dicken Filzüberziehern über

ihren Schuhen und kuttenähnlichen, hellblauen Gewändern über ihrer

Kleidung betraten die Angehörigen der Patienten die Station. So saß ich

alleine auf meinem Bett und gab vor, eifrig etwas zu lesen. Oder ich half

den Schwestern.

An Heiligabend füllten außerordentlich viele Besucher die Säle und

brachten den anderen Kindern Geschenke. Aber Mutter kam nicht. Tomek

wird von Tante Alina verwöhnt. Und was ist mit mir, dachte ich, als ich

mit winzigen Raupenlinien ganze Blätter ausfüllte. In jeder Zeile brachte

ich zwei ‹Schnürchen› unter, deren unterschiedliche Länge echte Wörter

nachahmen sollte. Ich stellte mir vor, schon richtig schreiben zu können.

Nachdem die Besuchszeit zu Ende gegangen war, gab es das Abendbrot.

Leider ohne wenigstens etwas ‹Bigos›, dem Krautgericht oder ‹Barszcz›,


der Rote Bete-Suppe. Wir sollten schlafen gehen. Dann aber betrat eine

Krankenschwester das Zimmer und flüsterte:

«Marta, komm mit!»

«Ich bin müde», sagte ich mit verweinten Augen.

«Du hast Besuch!»

«Wirklich?», fragte ich sehr verwundert und eilte hinaus.

Der lange Korridor vor dem Haupteingang der Station war schon

abgedunkelt. Neugierig schaute ich zur Treppe und erblickte hinter der

Glastür eine dunkle Gestalt. Es war Mutter – sie war dick in ihren braunen

Wintermantel eingepackt, auf ihrem schwarzen Haar schmolzen

Schneeflocken. Mein Herz klopfte wild. Ohne den Besucherüberwurf und

Schuhstulpen durfte sie die Station nicht betreten, sodass ich zu ihr ging.

Wortlos lächelte sie mich an und wir umarmten uns. Ich spürte die

durchdringende Kälte des Mantels, Mutters weichen Bauch und ihre

kräftigen Arme. Meine Wangen wurden warm von Tränen und ich merkte

erst ein wenig später, dass mein Pyjama feucht davon war.

«Der Weihnachtsmann lässt dir das bringen», sagte Mutter und zeigte

auf einen Karton am Boden.

«Ich bekomme etwas?», rief ich überrascht. In dem Paket lagen braune

Winterstiefel. Für mich! «Da ist ja Fell drin!», flüsterte ich atemlos.

«Zieh sie an!»

Die Schuhe waren zu groß, damit ich sie möglichst lange tragen konnte.

Mit den nackten Füßen spürte ich den weichen Fellersatz, der einen guten

Schutz vor Kälte und Nässe versprach. «Es sind die besten von der

gaaaanzen Welt!», sagte ich leise und schmiegte mich an Mutters kalten

Mantel.

Am nächsten Tag öffnete die Krankenschwester die Zimmertür und schob

einen fürchterlich quietschenden Stahlwagen hinein. In seiner Mitte

thronte ein Bunsenbrenner. Er war umgeben von Türmen von

Wattebäuschchen, Pinzetten und den kugelrunden Gläsern mit einer

daumendicken Öffnung.

«Was ist das?», fragte ich.

«Eine Schröpfkur.»

«Komischer Name. Wofür ist das denn?»

«Das hilft, das Rheuma zu vertreiben.»

«Die Spritzen sind schlimm genug. Es geht mir schon viel, viel besser!»,

hoffte ich, die Tortur vermeiden zu können.

«Leg dich ohne Pyjamaoberteil auf den Bauch. Du musst jetzt tapfer

sein.»

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie neugierige Kinder mit der Nase an

der Glastür klebten, und eine Fratze machten. Das lenkte mich ab. Die


Schwester rieb den Rücken mit kalten und nassen, nach Alkohol

stinkenden Tupfern ab und setzte über der Flamme erhitzte

Schröpfgläschen darauf. Es roch nach Spiritus und verbranntem Gummi

und das verstärkte noch die komischen Empfindungen auf meiner Haut.

«Es zieht irgendwie, ist heiß und brennt. Und kribbelt.»

«Unter dem Gläschen ist weniger Luft als im Zimmer, darum. Ich

komme nachher wieder», erklärte die Pflegerin und verließ mich für eine

Zeit, die mir sehr lang vorkam.

Danach ging ich zur Glastür, in der sich mein Rücken spiegelte und

besah stolz meine Haut. Die anderen Kinder sollten ruhig die perfekt

runden, feuerroten Male bewundern.

Kurz darauf musste ich einen langen Schlauch aus ziegelrotem,

elastischem, stinkendem Gummi schlucken. Aus der Magensonde tropfte

eine zähe Flüssigkeit in auf dem Boden stehende Reagenzgläschen. Von

Zeit zu Zeit zog die Schwester das Teil ein Stück weit heraus, was einen

üblen Geschmack im Mund verursachte. Regelmäßig steckte sie das

äußere Ende des Schlauchs in das nächste, leere Gefäß um, bis alle voll

waren. Die anfangs grünlich-braune Flüssigkeit verfärbte sich langsam

gelblich, bis sie schließlich weißlich-milchig und durchsichtig wurde. Die

Schwester erklärte mir, aus welchen Organen es herausfloss.

Später erzählte ich Oma mit roten Wangen davon: «Die Farben waren

ganz unterschiedlich! Der Schlauch saß im Fingerdarm und in einer Blase!

Dann wurde er in einen Darm für dünne Menschen geschoben und der

Schleim wurde grünlich. Und ich dachte, dass die Haut im Körper rot wie

im Mund ist.»

«Das ist aber spannend! Tapfer, meine Kleine», sagte Oma und umarmte

mich. Der blöde, sauer-salzig-fade Geschmack nach der Entfernung der

Sonde war endgültig vergessen.

Ungefähr ein Jahr später legte ich Mutter eines unserer Kinderbücher auf

den Schoß und verkündete stolz:

«Ich kann lesen wie die älteren Kinder und Erwachsenen!»

Mutter schaute mich erstaunt an. Dann nahm sie genüsslich einen langen

Zug von ihrer Zigarette.

«Aber das lernt man erst in der Schule. Du wirst bald fünf, in die erste

Klasse gehst du aber mit sieben.»

«Ich habe es mir selbst beigebracht. Ich lese dir die Elefanten-Geschichte

vor», sagte ich, nahm das Buch wieder an mich und begann, laut zu

buchstabieren. Langsam las ich einige Zeilen vor.

«Das ist sehr gut, Marta. Aber na ja, du kennst den Text doch auswendig.

Stimmt’s?»


«Ja, so konnte ich Lesen lernen. Und ich kann das jetzt!»

«Okay, versuche mal das.» Mutter stand behäbig auf und kramte im

Wandschrank einen dicken Band hervor, was eine Lawine anderer

Bücher nach sich zog. Eine vertraute Situation. Sie schlug im Buch eine

zufällige Seite auf und gab es mir. Unheimlich holprig und langsam

schaffte ich die ersten drei Sätze der unbekannten Prosa.

«Das war schon nicht schlecht.» Mutter lächelte.

Hatte ich bei ihr einen Hauch von Stolz erkannt?

«Darf ich also schon in die erste Klasse gehen?»

«Marta, du weißt, dass das nicht geht.»

«Ja, du willst mir die Kindheit nicht verkürzen, das sagst du immer.

Aber …»

«Das hatten wir schon, du kommst wie vorgesehen mit sieben in die

Schule, nicht früher.»

Mutter blieb bei ihrer Entscheidung. Ich war mir sicher, dass der Grund

dafür war, dass sie keinen Unterschied zwischen Tomek und mir machen

wollte.

Riesenpilz

Mit sieben wurden wir endlich eingeschult. Die Freizeit verbrachte ich

entweder bei Bogdan oder, wenn’s warm war, in unserer Wohnung, mehr

oder weniger einträchtig mit meinem Bruder. Die Schule langweilte mich,

also fand ich die Zeit danach umso wichtiger. Mutter kam erst spät nach

Hause. Eines Abends, als Tomek und ich in ein Spiel mit Klötzchen vertieft

waren, hörten wir unerwartet früh die schwere Wohnungstür knarren.

«Wir haben Besuch! Begrüßt Kinga schön», rief Mutter fröhlich,

bugsierte zuerst eine breite Tasche ins Zimmer, dann kam eines der

Mädchen aus ihrer Gruppe hinein. Es war nicht das erste Mal, dass sie

einen ihrer drei Lieblingsschützlinge mit zu uns nach Hause brachte.

Wir Zwillinge kannten sie alle, weil wir oft ins Internat gingen und

warteten, bis Feierabend war. Mutter stellte die Tasche neben das Bett

und ließ uns allein.

«Wir bauen eine Burganlage. Machst du mit?», fragte ich lächelnd und

machte Platz neben mir auf dem Spannteppich. Kingas Augen leuchteten

auf, sie nickte und setzte sich dazu.

Begleitet von wilden Motorengeräuschen ließ Tomek sein Miniaturauto

um uns herumfahren. Man hörte das Badewasser einlaufen. Wie fühlten

sich wohl die anderen aus der Gruppe, die nie zu uns kommen durften,

fragte ich mich. Und diejenigen, die bei uns nur kurz so etwas Familie


erlebten. Und wir, wir sahen Mutter doch so wenig. Machte sie sich denn

Gedanken darüber?

Mutter brachte uns belegte Brote und Tee und bezog die Betten. Ich

freute mich schon darauf, nach dem Lichterlöschen zu tuscheln, bis wir

erschöpft einschliefen. Zuerst badete unser Gast, danach ich, später

Tomek. Auf dem Weg zur Küche, wo die Badewanne stand, spürte ich in

der Brust einen heißen Stich: Kinga trug meinen allerliebsten Pyjama aus

bunt gestreiftem, anschmiegsamen, wenn auch ausgeleierten und

verblichenen Frottee-Jersey. Ich liebte seine Kapuze, weil ich sie mir über

die nassen Haare ziehen konnte.

Wortlos stieg ich ins Wasser, doch der Schaum konnte mich nicht

trösten. Ich war maßlos enttäuscht und es tat mir weh, was passiert war.

Selbstverständlich hätte ich Kinga den Anzug ausgeliehen, wenn Mutter

mich vorher gefragt hätte, aber so?

Es gab kein Kichern an diesem Abend und kein schnelles Einschlafen.

Das unangenehme Gefühl war sehr schwer zu verdauen.

Im Spätherbst saß ich allein am Küchenfenster mit Joka an meinen

Beinen, knabberte eine Mohrrübe und blickte in den tristen Innenhof. Ich

malte mir schon aus, wie ich morgen freudig hinüberrennen würde, um

Oma beim Knödelmachen zu helfen. Mutter sollte bald von der ersten

Elternversammlung in der Schule zurückkommen. Ich war gespannt, was

es zu berichten gab, denn meine anfängliche Begeisterung über das

Rechnen und Malen war rasch verflogen.

«Deine Lehrerin hat dich gelobt», sagte Mutter lächelnd, als sie an der Tür

erschien.

Ich hatte sie nicht hineinkommen hören. «Und? Wird sie mich in die

Zweite versetzen?»

«Ich will das aber nicht.»

Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich ärgerte mich so sehr, dass ich zu

schwitzen begann, denn gleichzeitig war klar, dass ich vermutlich nichts

dagegen ausrichten konnte.

«Zeit für mein Käffchen», verkündete Mutter und begann wortlos ihr

Ritual, das wir Zwillinge auf keinen Fall stören durften. Sie setzte Wasser

auf, kippte zwei Teelöffel Kaffeepulver in eines der dünnwandigen,

henkellosen Gläser, goss das kochende Wasser direkt darüber und rührte

das Ganze bedächtig, das sie ‹türkischer Kaffee› nannte und wartete, bis

sich die Körnchen am Boden abgesetzt hatten. Sie schob den knallroten

Kunstledersessel vor das Aquarium, zog die Schuhe aus, zündete sich eine

Zigarette an und ließ sich hineinplumpsen. Abwechselnd rauchend und

schlürfend beobachtete sie die Guppys. In der Stille blubberte einzig die


Luftpumpe im Wasser. Ich mochte den intensiven Kaffeegeruch nicht und

verstand nicht, was so spannend an den Fischen war. Nach dem ersten

Glas goss Mutter den Kaffeesatz noch mal auf und rührte mit

geschlossenen Augen das jetzt nur noch hellbraune Gebräu.

«Ich langweile mich doch, die zweite Klasse ist sicher interessanter», sagte

ich in die Stille hinein. Natürlich wollte ich Mutter nicht stören, aber ich

platzte fast vor Neugier.

Sie hielt die Augen geschlossen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. «Ich

will dir die Kindheit nicht verkürzen.»

Diesen Spruch kannte ich auswendig. Ich nahm allen Mut zusammen:

«Aber sogar die Lehrerin sieht mich eine Klasse höher. Während des

Unterrichts muss ich Tee für sie kochen, Pflanzen gießen oder mich um

ihren verwöhnten Sohn kümmern.»

«Warte, bis es so weit ist.» Sie goss ihr Getränk wieder auf.

«Ein anderes Mädchen durfte neulich in die Zweite wechseln! Dann

kann ich es doch auch!»

«Du bist nicht sie.»

«Aber es ist schrecklich! Glaub mir!»

«Nein.» Sie wandte sich dem Aquarium zu. Zum Glück kam Joka zu mir

und ich konnte mein Gesicht in ihr Fell vergraben.

An einem sommerlichen Samstag musste Mutter arbeiten und nahm mich

mit. Tomek war über das Wochenende bei Tante Alina, und wir wollten

ihn später bei ihr abholen. Noch etwas müde saß ich in der Straßenbahn

und schloss die Augen. Ich mochte die Mädchen aus Mutters Internat und

kam darum lieber mit, als in die Tagesstätte der Schule zu gehen, die

Kindern alleinstehender Eltern bis zur dritten Klasse offenstand.

Nach dem Frühstück bastelten die meisten im Aufenthaltsraum. Ich

sollte der dreizehnjährigen Kinga bei den Rechenaufgaben helfen. «Also,

wir schreiben die Acht unter die Sechs, dann fangen wir hinten an und

zählen alle Zahlen von oben nach unten zusammen. Das Resultat notieren

wir darunter. Wenn es mehr als Zehn ist, dann wird die letzte Zahl

geschrieben und bei der nächst vorderen Reihe eine Eins dazugezählt»,

erklärte ich ihr. «Versuch’s, aber langsam.» Kinga war so richtig stolz, als

sie es irgendwann geschafft hatte.

Am Nachmittag herrschte draußen über allem die Sonne. Man spielte

Volleyball oder Badminton. Als es mir langweilig wurde, suchte ich

Mutter. Wie erwartet fand ich sie an der Längsseite des Gebäudes, wo sie


kniend die Rosen schnitt. Hin und wieder wischte sie sich mit den

zerkratzten, mit Erde beschmutzten Händen den Schweiß von der Stirn.

«Tun die Schrunden weh?»

«Ach wo! Es kommt ja von meinen geliebten Rosen.» Sie begann, welke

Blätter vom Boden zu heben.

«Klar», murmelte ich enttäuscht. Ich wagte nicht, sie zu fragen, wie man

diese Blumen pflegte oder ihr von der Schule zu erzählen.

Am Abend gingen wir zu Fuß nach Hause, weil es angenehm warm und

noch hell war. Ich mochte den Weg über die grün angestrichene Brücke

zur Kathedraleninsel, die wir dabei passierten und freute mich schon auf

Tante Alina. Sie gehörte zu unserer Familie, nachdem sie einst für unsere

rechtzeitige Geburt gesorgt hatte.

«Kommt rein in die gute Stube! Wer hat Lust auf Tee?», begrüßte sie

uns.

«Wir alle, denk’ ich», sagte Mutter, als sie Tomek umarmte.

Ich fühlte mich stets wohl in dieser winzigen, über alle Maßen

vollgestellten, sauberen Wohnung, deren Boden mit mehreren Teppichen

übereinander bedeckt war. Im Gegensatz zu Mutter pflegte ihre Freundin

sich aufwendig: Sie schminkte sich, toupierte ihre blondierten Haare und

drehte sich passend zu ihrer Leibesfülle dicke Locken. Sie cremte ihr

Gesicht sorgfältig ein und benutzte ein Deo sowie ein Parfum. Ich kannte

keine andere Person, die sich die Zehennägel lackierte. Der tiefe

Ausschnitt bot freien Blick auf ihren imposanten Busen, an den sie uns

Kinder bei der Begrüßung heranzog. Sie trug nie Hosen – unter dem

knielangen Rock lugten ihre stämmigen Waden hervor. Manchmal bekam

sie Atemnot und musste sich etwas in den Mund sprühen.

«Das hilft gegen das Asthma, aber es macht fett», sagte sie und schüttelte

kummervoll den Kopf.

«Tomek, wie war dein Tag?», fragte Mutter.

«Ich musste laut Vorlesen üben, aber nachher durfte ich mit dem

Modellauto spielen. Und Softeis essen.»

«Prima. Meine Mädchen haben draußen Ball gespielt.»

«Ich habe Kinga mit Mathe geholfen», ergänzte ich.

«Schön, Marta. Joanna, du hast eine gute Tochter.»

«Alle Kinder sind gleich. Da mache ich keinen Unterschied. Wie du

weißt, ist das meine erzieherische Methode», verkündete Mutter mit

einem nicht überhörbaren Stolz.

Und ihre Rosen hat sie auch lieber als mich. Ich schluckte schwer und

brachte mein leeres Teeglas in die Küche.


Einige Wochen später besuchte uns Tante Alina. Sie hatte weiße

Chrysanthemen im Topf mitgebracht und stellte sie auf das breite

Fensterbrett in unserer Küche.

«Gehören sie nicht eher auf den Friedhof?», fragte Mutter.

«Sie verschönern diesen öden Raum, meine Liebe», sagte ihre Freundin

und bückte sich, um die Blätter aufzusammeln, die auf den Boden gefallen

waren. Plötzlich schrie sie auf: «Was ist das?!»

Sicher hatte sie den mausgrauen Pilz unter dem Fensterbrett gesehen,

der inzwischen größer war als eine Kohlenschaufel.

«Ach, den haben wir schon lange», sagte Mutter unaufgeregt und setzte

Wasser auf.

«Aber was ist das?»

«Schimmel.»

«Das ist ja schrecklich», rief Alina und blickte Mutter erwartungsvoll an.

«Ach wo!»

«Hör’ mal, so geht das nicht!»

«Na ja. Lassen wir das.»

«Denk’ an die Kinder! Du musst dich beschweren.»

«Meinst du? Ich weiß nicht. Lass uns ins Zimmer wechseln.»

Im darauffolgenden Frühling hatte Mutter viel eingekauft und wir

brachten die Lebensmittel zu Tante Alina. Sie war gerade aus dem

Krankenhaus entlassen worden. Weil mich Dinge interessierten, die mit

Medizin zu tun hatten, fragte ich sie nach ihrem Asthma.

«Es geht mir viel besser. Die neuen Medikamente tun gut. Ich soll

unbedingt Schadstoffe in der Luft meiden», erklärte sie. «A apropos,

Joanna, was wurde nun aus eurem Pilz in der Küche?»

«Na ja, als ich das erste Mal zur Hausverwaltung gegangen bin, haben

sie mir nicht geglaubt und mich unverrichteter Dinge wieder

weggeschickt. Beim zweiten Mal war es nicht anders. Dann hast du mir ja

gesagt, ich soll ihnen das Monster zeigen. Also habe ich das Ungeheuer

unter dem Fenster von der Wand abgenommen und es mitsamt der

Schaufel in Plastikfolie eingewickelt. Es ist eine stinkende Staubwolke

entstanden, der arme Tomek musste schlimm husten.»

«Und?»

«Es war ein Spektakel. Ich habe alle gegrüßt und wortlos den grauen

Riesenpilz auf den Schreibtisch der Sachbearbeiterin gelegt. Die hat

angefangen zu schreien, was mir einfalle, das stinke doch, es solle sofort

weg. Dann schoss sie von ihrem Stuhl hoch und fragte, was das überhaupt

sei. Ich habe erklärt, dass ich diesen Pilz frisch unter meinem

Küchenfenster geerntet habe. Ehe ich mich versah, versammelten sich


alle Mitarbeiter um das Ungetüm herum und guckten es angewidert an.

Es war lustig, sage ich dir.»

«Und dann?»

«Der Chef rief, ich solle das wegnehmen, solle erklären, was ich damit

wollte. Also habe ich gesagt, dass meine Kinder dauernd krank sind, dass

etwas passieren müsse.»

«Das hast du richtig gut gemacht, Joanna! Wirklich. Und nun?»

«In einigen Wochen ziehen wir in eine Ersatzwohnung und unsere wird

renoviert. Hättest du gedacht, dass das im Kommunismus möglich ist?»

Helenka war Tomeks Patentante. Sie schminkte gern und oft seine breiten

Augenlider und ging mit ihm in den Zoo. An einem schönen Samstag im

April, als er wieder einmal mit ihr unterwegs war, nahm mich Mutter mit,

um ihre ältere Freundin in einer Villengegend in Breslau zu besuchen. Ich

fand ‹Tante› Jadwiga sympathisch und liebte ihren gepflegten Garten. Es

war windstill und sonnig, sodass wir draußen saßen. Die Frauen tranken

Tee, plauderten und ich bewunderte den üppig blühenden, prächtigen

Kirschbaum. Geschäftige Bienen umschwirrten seine samtig-weißen

Blüten. Als ich ein zweites Stück Kuchen nehmen wollte, entdeckte ich an

Tante Jadwigas linkem Unterarm einen dunklen Verband.

«Was ist das?», fragte ich neugierig.

«Darunter ist eine Nummer tätowiert.»

«Ah ja?» Ich traute mich nicht, weiter zu fragen.

«Vom Konzentrationslager, im Krieg. Willst du sie sehen?»

«Ja-a-a», stammelte ich überrascht und spürte, wie meine Wangen sich

erhitzten.

Mutter nahm schweigend etwas Tee.

Mehrere schwarze Ziffern waren es. Tante Jadwiga deckte die gealterte,

pergamentdünne Haut rasch wieder zu.

«Ich habe auch so eine Nummer. Auf dem Oberschenkel», offenbarte

Mutter plötzlich.

«Auch? » Meine Überraschung könnte nicht größer gewesen sein.

«Wieso nicht auf dem Handgelenk?»

«Weil ich damals ein Kind war.»

«Warst du auch in diesem Lager?»

«Ja, aber das ist eine andere Geschichte.»

Schon wieder diese merkwürdigen, nicht erklärten Sachen, dachte ich.

Daraufhin wartete ich, bis es Sommer wurde und Mutter an heißen Tagen

kurze Hosen trug. Aber außer einer langen, breiten, hellen Narbe am

rechten Oberschenkel entdeckte ich kein Tattoo.


Tante Alinas Mutter, die wir Oma Antonina nannten, lebte auf dem Land.

Ich mochte sie sehr. Leider nahm die alte Frau nur selten den Weg in die

Stadt auf sich. Ich wollte mich gar nicht mehr aus der Umarmung lösen,

wenn wir uns in Breslau sahen. Sie war verwitwet und arbeitete mit ihren

gut siebzig Jahren immer noch täglich in einer Gärtnerei. Mich

faszinierten ihre rauen, sehnigen Hände mit den dicken Venen, die sich

über den merkwürdig verformten Knochen vorwölbten, wenn die

zerborstene Haut mit dicken, von Erde dunkel gefärbten, etwas spitzen

Furchen zwischen meinen Haaren stecken blieben, wenn sie meinen Kopf

streichelte. Oma Antonina war bekannt für zauberhafte Erzählungen, die

mich nicht mehr losließen, im Gegensatz zu den Märchen, die ich im Radio

hörte oder in Büchern las. Das Zimmer verwandelte sich dann immer in

eine Höhle oder einen schummrigen Wald oder eine Steinhütte oder einen

sehr tiefen See mit unbekannten Gestalten, in deren Leben und Abenteuer

ich eintauchen durfte.

Als ich neun Jahre alt wurde, durfte ich in den Sommerferien das erste

Mal ganz allein für zehn Tage zu Oma Antonina fahren. Schon einige Tage

vorher dachte ich nur noch daran und malte mir aus, wie wir beide es uns

abends bei Kerzenlicht gemütlich machen würden. Nun sollte es das erste

Mal sein für mich, das zu erleben. Und die Vorstellung von einer schönen

Zeit tröstete mich ein wenig darüber weg, dass Joka nicht mitdurfte.

Während Oma Antonina arbeitete, schlief ich aus, las viel, wärmte mir

mittags Reste vom Vortag auf und hatte keine weiteren Pflichten. Ich

spazierte im Dorf herum und trat mehrmals täglich an den Zaun der

riesigen Gärtnerei, um Oma zuzuwinken, sobald ich sie, meist über einem

Salatfeld gebückt, erspähte. Ich konnte es kaum erwarten, bis es Abend

wurde und ich ihr in der Küche helfen durfte, während sie uns etwas

Einfaches kochte. Am dritten Tag nahm Oma mich mit zu Frau Wanda,

ihrer Freundin, die quer über den Dorfplatz wohnte. Bei ihr gab es den

Schlummer-Märchen-Trunk, wie sie den Tee nannte und selbst gebackene

Plätzchen. Sie rochen nach Zimt und Nüssen und anderen, süßlichmodrigen,

geheimnisvollen Zutaten. Die beiden alten Frauen zogen die

Vorhänge zu, setzten sich an den Tisch und warfen ihre Gesichter in

eigenartige Falten – aber keine solchen, die nach Sorgen aussahen, nein,

solche, die wehmütig, verklärt und geheimnisvoll wirkten. Freundschaft

seit den nicht immer einfachen Kindertagen zwischen den beiden

Weltkriegen war es, die sie verband. Das sagten sie jeweils vor dem ersten

Schluck des besonderen Getränks. Sie liebten es, hin und wieder

Geschichten aus früheren Zeiten heraufzubeschwören. Wenn Oma

Antonina die Details verschönerte, korrigierte Frau Wanda sie mit ernster

Miene. Dann zwinkerte Oma mir zu und ich musste mir das Schmunzeln


verkneifen. Gerade die geheimen Nebenwege der Erzählungen fand ich

besonders spannend und bekam heiße Ohren beim Zuhören. Nach dem

letzten Schluck des Spezialtees stand Oma auf, stellte das Glas in die Spüle,

umarmte schweigend ihre Freundin und ging zur Tür. Ich machte einen

höflichen Knicks, lächelte und bedankte mich bei Frau Wanda für den

Abend. Auf der Straße hakte ich mich bei Oma ein und wir schlenderten

gemütlich zurück.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, war Oma schon bei der Arbeit. Ich

brühte mir einen Tee und machte es mir damit im Bett gemütlich. Von

dort aus konnte ich die ganze Wohnung überblicken. Grelles Morgenlicht

durchdrang die filigranen Gardinenmuster und zauberte auf dem Boden

Schattenfiguren. Sie waren still und doch bewegten sie sich lebhaft,

tanzten frivol, weil meine Fantasie ihnen Leben einhauchte.

Märchengestalten des vergangenen Abends sah ich darin und neue, die

gerade frisch in meinem Kopf entstanden. Ich vergaß gänzlich, mir eine

Schnitte Brot zuzubereiten.

Ich ging am Mittag und am Nachmittag los, um Oma in der Gärtnerei zu

besuchen und ihr zuzuwinken. Am Abend sah sie besonders müde aus,

ließ sich schwer auf den Stuhl plumpsen, strahlte mich an und sagte:

«Es war schön, dich zu sehen, Marta.»

«Oh, ja! Oma, kann ich nicht hierbleiben und dich immer am Zaun

besuchen? Und auf dich warten, wenn du nach Hause kommst?»

«Das wäre wunderbar, aber ich muss dich bald nach Hause schicken.

Du, wollen wir uns Rühreier und Blumenkohl mit frischer Petersilie

machen?»

«Oh, ja! Ja! Mit Paniermehl und Butter darüber? Oh ja!»

Nach dem Essen besuchten wir Frau Wanda, wo ich erneut in die

geheimnisvolle Welt der Geschichten eintauchen durfte.

Als ich am übernächsten Tag meine Sachen packte, konnte ich meine

Tränen kaum zurückhalten.

Ich hatte gerade meinen Schulranzen für den nächsten Tag gepackt, stellte

mir den öden Unterricht vor und sagte missmutig zu Mutter: «Ich hab’

keine Lust auf Schule. Echt nicht.»

«Du kannst morgen mit mir zur Arbeit kommen», bot Mutter mir zu

meiner Überraschung an.

«Ich kenne die Mädchen aus deiner Gruppe.» Ich schäumte nicht gerade

über vor Begeisterung. Zudem wäre es ja am Nachmittag gewesen, und

ich wollte nicht zur Schule gehen.

«Nicht ins Internat, sondern in den Kindergarten.»

«Kindergarten?»


«Ja, kommst du mit?»

«Na klar!»

Am nächsten Tag fuhren wir gleich frühmorgens los. Im Kindergarten ließ

mich Mutter in eine Art Lager für Musikinstrumente hinein, wo ich still

sein musste, aber durch einen Schlitz zuschauen durfte. Verwundert sah

ich, wie sie sich in dem geräumigen Korridor ans Klavier setzte und sich

an die etwa fünfjährigen Kinder, allesamt in Strumpfhosen und

Polyesterschürzen gekleidet, in einer fremden Sprache richtete!

Offensichtlich konnten sie alles verstehen, denn sie führten die Aufgaben

einheitlich aus. Mutter spielte eine rhythmische Melodie und begann mit

fröhlicher Stimme zu singen. Das Lied fing an mit: ‹ABC, die Katze lief im

Schnee … ›. Sie sang langsam und sehr deutlich, wiederholte die Strophe

mehrmals. Zwar verstand ich nichts, aber diese Worte prägten sich mir

ein. Die Kleinen liefen im Kreis herum, bewegten sich im Takt und

trällerten mit. Dann setzten sie sich auf den Boden und Mutter führte

einfache Dialoge mit ihnen. Danach verteilten sich die Kinder auf ihre

Gruppen. Wenig später kamen Neue an die Reihe. Auch diese Lektion lief

ähnlich ab, aber diesmal schien es eine andere Sprache zu sein. Mutter

stimmte: ‹Pussy-Cat, Pussy-Cat … › an und wieder marschierten die

Kleinen im Kreis, klatschten rhythmisch und sangen. Das nächste Lied

hatte ich mir besonders gemerkt, weil die Kleinen alles mit sichtbar

glücklichen Gesichtern nachmachten. Zu: ‹Sunshine, sunshine, is …!›

streckten sie die Arme nach oben und zeichneten mit ihren Händchen

kleine Sonnen.

Auf dem Weg zur Straßenbahn fragte mich Mutter: «Hat es dir

gefallen?»

«Ja, sehr! Das waren ja Fremdsprachen!»

«Die Erste war Deutsch, die Zweite Englisch.» Sie schien amüsiert, was

mich verwirrte und ärgerte. Ich verstand nicht, warum sie uns noch nie

davon erzählt hatte, dass sie diese beiden Sprachen konnte und wie es

dazu gekommen war.

«Du arbeitest doch im Internat», traute ich mich schließlich, die Sache

zu klären.

«Jeweils vormittags aber bin ich hier und in einem anderen

Kindergarten», sagte Mutter gleichmütig.

«Und wo hast du Klavier spielen gelernt?»

«Ich habe es mir selbst beigebracht.»

Hm, aber wo, weder bei Oma und Opa noch im Internat steht ein

Klavier, überlegte ich erstaunt. «Oh! Und die Sprachen?» Vielleicht würde

ich jetzt mehr erfahren als sonst, wenn mir etwas nicht klar ist und Mutter

gewöhnlich einfach schweigt, die Bedeutung des Themas beschwichtigt

und gleich davon ablenkt.


«Ich war früher öfter in einem Sanatorium. In England. Wir legten dort

Platten mit Kinderliedern und Volksmusik auf.

»Ah, stimmt, die Postkarten von deinen Freunden!»

Die Erkenntnis, dass Mutter einer zusätzlichen Arbeit nachging, zwei

Fremdsprachen beherrschte und sich sogar das Klavierspiel selbst

beigebracht hatte, hatte mich dermaßen beschäftigt, dass ich vergaß,

Mutter noch genauer auch nach ihren Deutschkenntnissen zu fragen.


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