Theorien des Wohnens
ISBN 978-3-86859-724-0
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THEORIEN<br />
DES WOHNENS<br />
Kirsten Wagner (Hg.)<br />
EINE KOMMENTIERTE<br />
ANTHOLOGIE<br />
E ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEWEGUNG HAUS LEBEN TRAUM UMFRIED
© 2024 by jovis Verlag<br />
Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston<br />
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Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotograf:innen/Inhaber:innen der Bildrechte.<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Herausgeberin<br />
Entwurf<br />
Realisation<br />
Bildbearbeitung<br />
Übersetzung Quellentexte<br />
Übersetzungslektorat<br />
Korrektorat<br />
Projektleitung jovis Verlag<br />
Produktion<br />
Kirsten Wagner<br />
Sarah Fyrguth, Alessandro Sommer<br />
Sally Bright, Angelika Janzen, Leonie Knapp,<br />
Jana Sehnert, Luis Seyffert, Lars Vieth, Sarah Fyrguth<br />
Ramon van Bentum, Lars Vieth<br />
Kirsten Wagner<br />
Eva Dewes<br />
Miriam Seifert-Waibel<br />
Franziska Schüffler<br />
Susanne Rösler<br />
Gedruckt in der Europäischen Union<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
jovis Verlag<br />
Genthiner Straße 13<br />
10785 Berlin<br />
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ISBN 978-3-86859-724-0<br />
IEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEW
THEORIEN<br />
DES WOHNENS<br />
Kirsten Wagner (Hg.)<br />
EINE KOMMENTIERTE<br />
ANTHOLOGIE<br />
EGUNG HAUS LEBEN TRAUM UMFRIEDUNG • Kirsten Wagner (Hg.) • THEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMEN
Für Levin, Simon und Sven<br />
IERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEWEGUNG HAUS LEBEN TRAUM UMFR
INHALT<br />
Vorwort<br />
Historische Einführung. Von der Praxis zur Theorie <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
ERNST BLOCH<br />
Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien<br />
Kommentar: Architektur als Produktionsversuch menschlicher Heimat.<br />
Wunschbilder <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
MARTIN HEIDEGGER<br />
Bauen Wohnen Denken<br />
Kommentar: Heimatlosigkeit in der Moderne. Wohnen als Existenzial<br />
GASTON BACHELARD<br />
Poetik <strong>des</strong> Raumes. Das Haus vom Keller zum Dachboden<br />
Kommentar: Wohngehäuse als Resonanzräume <strong>des</strong> Leibes.<br />
Topo-Analyse <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
PAUL-HENRY<br />
CHOMBART DE LAUWE<br />
Das Wohnen und seine Entwicklung<br />
Kommentar: Bedürfnisse und Bestrebungen <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong>.<br />
Wohnen als Befreiung<br />
PIERRE BOURDIEU<br />
Das Haus oder die verkehrte Welt<br />
Kommentar: Symbolische und soziale Ordnungen <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong>.<br />
Binäre Logiken <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
9<br />
15<br />
75<br />
89<br />
109<br />
133<br />
167<br />
199<br />
233<br />
261<br />
285<br />
309<br />
IEDUNG • Kirsten Wagner (Hg.) • THEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIE
GEORGES-HUBERT<br />
Entwicklungsgeschichte und Strukturen <strong>des</strong> Wohnraumes<br />
Kommentar: Sedentäres und nomadisches Wohnen.<br />
Vom Ort zum Halt, vom Weg zur Bewegungsbahn<br />
Das Eigenheim. Vorwort zur Studie » L’habitat pavillonnaire «<br />
Kommentar: Die Welt <strong>des</strong> Eigenheims. Wohnen als Poiesis<br />
Hausform und Kultur<br />
Kommentar: Lebens- und Wohnformen.<br />
Soziokulturelle Faktoren <strong>des</strong> Hausbaus<br />
HERMANN SCHMITZ<br />
Die Wohnung. Umfriedung im Gefühlsraum<br />
Kommentar: Die Mächte <strong>des</strong> Draußen.<br />
Apotropäische Markierungen <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
MICHEL DE CERTEAU<br />
Die Wiedergänger der Stadt – Private Räume<br />
Kommentar: Wohnen als Praxis. Die Taktiken <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
Nachweis der Quellentexte<br />
Bibliografie<br />
Sachregister<br />
Namensregister<br />
Bildnachweise<br />
DE RADKOWSKI<br />
HENRI LEFEBVRE<br />
AMOS RAPOPORT<br />
– LUCE GIARD<br />
339<br />
367<br />
397<br />
423<br />
451<br />
475<br />
507<br />
529<br />
555<br />
577<br />
611<br />
613<br />
631<br />
643<br />
649<br />
IS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEWEGUNG HAUS LEBEN TRAUM UMFRIEDUNG • Kirsten Wagner (Hg.) • T
HEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAX
INE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEWEGUNG HAUS LEBEN
HISTORISCHE EINFÜHRUNG.<br />
VON DER PRAXIS<br />
ZUR THEORIE DES WOHNENS<br />
Zum Menschen gehört das Wohnen, es ist eine anthropologische Tatsache.<br />
Wohnen ist zudem eine Praxis, die sich über verschiedene Handlungen<br />
vollzieht : vom Bauen und Einrichten von Räumen wie auch<br />
vom Sich-Aufhalten und Tätig-Sein in ihnen. Diese Praxis ist durch<br />
soziale und kulturelle Ordnungen geprägt und findet ihre Verkörperung<br />
in materiellen Wohnformen. Wohnformen werden dabei tradiert, oft<br />
über längere Zeiträume hinweg, auch wenn sich die ihnen zugrundeliegenden<br />
sozialen und kulturellen Ordnungen bereits gewandelt haben.<br />
Der umgekehrte Fall ist gleichermaßen möglich : Produktionstechnische<br />
und ästhetische Entwicklungen in der Architektur bringen neue<br />
Wohnformen hervor, während die Lebensweisen gleichgeblieben sind<br />
oder sich auf überkommene Ordnungen zurückziehen. Wenn solche<br />
Wandlungen vor sich gehen und zu einer Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen<br />
Lebensweisen und materiellen Wohnformen führen, kommt<br />
es zu einer Reflexion <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong>. Im Moment der »Störung« tritt das<br />
Wohnen, das in seiner Alltäglichkeit und Habitualität zumeist unbewusst<br />
bleibt, als spezifische Praxis zutage. Dieser allgemeine Befund<br />
lässt sich sowohl für das 19. Jahrhundert, in dem es zu einer Diskursivierung<br />
bisher unbekannten Ausmaßes <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> kommt, als auch<br />
für die im 20. Jahrhundert verfassten Wohntheorien festmachen. Beide<br />
Theoretisierungsschübe <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> sind ebenso miteinander verbun-<br />
15<br />
TRAUM UMFRIEDUNG • Kirsten Wagner (Hg.) • THEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE
1 Vgl. Achille Guillard, Éléments de statistique humaine<br />
ou Démographie comparée, Paris: Guillaumin, 1855.<br />
2 Vgl. die von Michel Foucault geleitete, von Jean-Marie Alliaume, Blandine Barret-<br />
Kriegel, François Béguin, Danielle Rancière und Anne Thalamy durchgeführte Studie<br />
Politiques de l’habitat ( 1800–1850 ), Paris: CORDA, 1977, insbesondere die Teilstudie<br />
von Barret-Kriegel, »Les demeures de la misère. Le cholera-morbus et l’émergence de<br />
l’›Habitat‹«, S. 73–143, hier S. 134. Zum Begriff <strong>des</strong> Habitats vgl. ferner Thierry Paquot,<br />
»Introduction. ›Habitat‹, ›habitation‹, ›habiter‹, précisions sur trois termes parents«,<br />
in: ders., Michel Lussault, Chris Younès ( Hg. ), Habiter, le propre de l’humain. Villes,<br />
territoires et philosophie, Paris: La Découverte, 2007, S. 7–16.<br />
den, wie sie sich voneinander unterscheiden. Als gemeinsamen Ausgangspunkt<br />
haben sie die radikale Transformation <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> in der<br />
Moderne, die wesentlich durch die industrielle Produktion, das Bevölkerungswachstum<br />
und die Urbanisierung ausgelöst worden ist.<br />
Eine Verbindung besteht ferner in methodischer Hinsicht. Die Diskursivierung<br />
<strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> im 19. Jahrhundert basiert auf der medizinischen<br />
Topografie, welche sich über die zweite Hälfte <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />
herausgebildet hatte, und der um die Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts<br />
ausformulierten Demografie als einer auf die Bevölkerung angewandten<br />
Statistik und Wissenschaft. 1 Mit ihren Erhebungen, Berechnungen und<br />
grafischen Visualisierungen stellten beide eine unmittelbare Beziehung<br />
zwischen den Umweltbedingungen einerseits, den Natalitäts-, Krankheits-<br />
und Mortalitätsraten der Bevölkerung andererseits her. Diese<br />
Umwelt war eine <strong>des</strong> städtischen Raumes, bevor sie als eine <strong>des</strong> Wohnraumes<br />
definiert wurde. So ging es der medizinischen Topografie zunächst<br />
im Maßstab der Stadt um eine Erfassung und Beseitigung all jener<br />
Miasmen, von denen eine Krankheitsübertragung angenommen wurde.<br />
Die geforderte freie Luftzirkulation hatte verschiedene Eingriffe in und<br />
Neuordnungen <strong>des</strong> städtischen Raumes zur Folge : darunter die Verbreiterung<br />
von Straßen, den Abriss von Gebäuden, die Auslagerung<br />
bestimmter Funktionen der Ver- und Entsorgung in den Untergrund<br />
oder aber aus den Grenzen der Stadt heraus. Erst in den 1830er Jahren,<br />
flankiert von der ersten Cholera-Epidemie, verschob sich der Fokus vom<br />
städtischen in den Wohnraum hinein und führte zu einer »ausgeprägten<br />
Wahrnehmung der Wohnungsfrage« oder zu der Geburt <strong>des</strong>sen, was als<br />
Habitat in die moderne Geschichte der Architektur und <strong>des</strong> Städtebaus<br />
eingegangen ist. 2 Aus den Ansätzen der medizinischen Topografie und<br />
der Demografie gingen eigenständige statistische Erhebungen zu den<br />
allgemeinen Wohnbedingungen der Bevölkerung hervor, die noch den<br />
methodischen Hintergrund für die soziologischen Wohntheorien <strong>des</strong><br />
20. Jahrhunderts abgaben.<br />
Der Unterschied zwischen beiden Theoretisierungsschüben liegt<br />
in einem Perspektivenwechsel : Während im 19. Jahrhundert die materiellen<br />
Wohnformen oder Wohnbedingungen zum diskursiven Gegenstand<br />
werden, ist es im 20. Jahrhundert, pauschal gesagt, das Wohnen<br />
selbst. Ein Kennzeichen der vorliegenden Wohntheorien ist, dass sie<br />
jeweils einen eigenen Begriff <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> zu entwickeln unternehmen.<br />
• 2024 • POIESIS WOHNUNG UTOPIE ORT PRAXIS BEWEGUNG HAUS LEBEN TRAUM UMFRIEDUNG • Kirsten W
In hermeneutischer Absicht stellen sie die Frage nach dem Wohnen<br />
zum einen als ontologische Frage. Sie wollen wissen beziehungsweise<br />
verstehen, was das Wohnen seinem Wesen nach ist. Zum anderen fragen<br />
sie nach den Praktiken, die das Wohnen als Wohnen konstituieren.<br />
Darüber treten die Bewohner:innen und ihre Handlungen in den Vordergrund.<br />
Kündigt sich diese Schwerpunktverlagerung bereits in der<br />
Architektur der 1920er und 1930er Jahre an, dann handelt es sich bei den<br />
dort adressierten Bewohner:innen noch um universale Größen, die sich<br />
weitgehend auf physiologische Bedürfnisse reduzierten. Erst die soziologischen<br />
Wohntheorien der 1950er Jahre setzen nach Alter, Geschlecht,<br />
Profession und sozialer Schicht unterschiedene Bewohner:innen mit je<br />
individuellen Wohnbedürfnissen und Wünschen voraus. Wo die materiellen<br />
Wohnformen innerhalb der zwischen 1930 und 1980 entstandenen<br />
Wohntheorien Untersuchungsgegenstand bleiben, werden sie drittens<br />
auf das Wechselverhältnis zwischen Raumordnung und soziokultureller<br />
Ordnung hin reflektiert. Das Korpus an Wohntheorien aus dem 20. Jahrhundert<br />
spiegelt damit auf seine Weise die kulturalistische und performative<br />
Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften wider.<br />
Die folgende historische Einführung beschränkt sich auf den ersten<br />
Theoretisierungsschub <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> vom frühen 19. bis frühen 20. Jahrhundert.<br />
Innerhalb der inzwischen umfangreichen Wohnforschung<br />
wurden, auch weil die Einführung nicht mehr als kursorisch sein kann,<br />
Schwerpunkte auf die beiden Felder gelegt, auf denen es zu einer besonderen<br />
Diskursivierung <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong> kommt : einerseits die Arbeiterwohnfrage<br />
und den an ihr sich manifestierenden Konflikt zwischen<br />
individuellem und kollektivem Wohnen; andererseits die Entdeckung<br />
historischer europäischer und außereuropäischer Wohnformen. Quer<br />
zu diesen beiden Feldern liegt der Aspekt der medialen und modellhaften<br />
Darstellung von Wohnbauten.<br />
17<br />
agner (Hg.) • THEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOGIE • 2024 • POIESIS WOHNUNG UTO
79 Bourdieu 1962 ( Anm. 6 ), S. 50.<br />
80 Ebd., S. 435.<br />
81 Vgl. zusammenfassend Claude Lévi-Strauss, » Maison «, in : Pierre Bonté,<br />
Michel Izard ( Hg. ), Dictionnaire de l’ethnologie et de l’anthropologie, Paris :<br />
Presses Universitaires de France, 1991, S. 434–436.<br />
Bourdieu schloss an dieser Stelle an seine frühen Studien im Béarn<br />
an. Für die ländliche Bevölkerung <strong>des</strong> Béarn erfüllte das Haus als Wohnund<br />
Wirtschaftssitz einer Familie die nämliche Funktion : » Gesamtheit<br />
der beweglichen und unbeweglichen Güter, die die ökonomische Grundlage<br />
der Familie bilden, Erbe, das ungeteilt über die Generationen hinweg<br />
erhalten werden muss, kollektive Einheit, der je<strong>des</strong> Familienmitglied<br />
seine Interessen und Gefühle unterzuordnen hat, ist › das Haus ‹ der<br />
Wert aller Werte, auf den sich das ganze System bezieht. « 79 Heiratsregeln<br />
und Vererbungsrecht waren auf den Erhalt <strong>des</strong> Wohn- und Wirtschaftssitzes,<br />
der eine Abstammungslinie verkörperte und nicht selten<br />
metonymisch den Namen dieser Linie trug, ausgerichtet. Bourdieu hatte<br />
im Béarn offensichtlich etwas vorgefunden, das Claude Lévi-Strauss im<br />
Anschluss an Untersuchungen zum Adelssitz in der mittelalterlichen<br />
Ständegesellschaft ab den späten 1970er Jahren » sociétés › à maisons ‹«<br />
nennen sollte. 80 In solchen Gesellschaften bildet das Haus eine institutionelle<br />
Einheit und dient jenseits einer rein patri- oder matrilinear<br />
ausgerichteten Familienstruktur der sozialen Organisation. Nach Lévi-<br />
Strauss ist für die sociétés » à maisons « kennzeichnend, dass » das Haus<br />
eine Rechtsperson « ist, ihm ein Landsitz angehört und es » gleichzeitig<br />
aus materiellen und immateriellen Gütern « besteht ; ferner dass es<br />
durch » die Übertragung seines Namens, seines Vermögens und seiner<br />
Titel in realer oder fiktiver Linie « fortbesteht, dabei » unter der Bedingung<br />
als rechtmäßig angesehen wird, dass sich diese Kontinuität in die<br />
Sprache der Verwandtschaft oder <strong>des</strong> Bündnisses übersetzen lässt, oder,<br />
was am meisten vorkommt, bei<strong>des</strong> zusammen «. 81 Man könnte hier auch<br />
vom Haus als einem genealogischen Akteur sprechen. Bourdieu sah den<br />
Zusammenhang zwischen seinen Beobachtungen im Béarn und Lévi-<br />
Strauss’ Begriff <strong>des</strong> Hauses, auf den er in der Eigenheimstudie hinwies.<br />
Die Studie zeigte auf diese Weise, dass sich die historischen, in Agrargesellschaften<br />
entwickelten Funktionen und Bedeutungen <strong>des</strong> Hauses<br />
noch auf die Wohnformen in den modernen Industriegesellschaften<br />
auswirkten, und sei es nur als rhetorisches, nichts<strong>des</strong>totrotz gesellschaftspolitisch<br />
einflussreiches Zeichen auf dem Feld <strong>des</strong> Marketing.<br />
FRAU MANN FEUERSTELLE RAUM WELT SCHWELLE TÜR SYSTEM GEGENSÄTZE • Pierre Bourdieu • DAS HAUS O
ORT<br />
HABITAT<br />
Georges -Hubert<br />
NATUR<br />
de Radkowski<br />
MENSCH<br />
WOHNEN<br />
ZEIT<br />
1964<br />
KULTUR<br />
NOMADE<br />
RAUM<br />
WOHNSTÄTTE<br />
Georges-Hubert de Radkowski • ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STRUKTUREN DES WOHNRAUMES • 1964 • OR
T MENSCH RAUM WOHNSTÄTTE WOHNEN SOZIAL NATUR ZEIT NOMADE KULTUR • Georges-Hubert de Radkow
GESCHICHTE<br />
UND<br />
Georges-Hubert de Radkowski<br />
STRUKTUREN<br />
DES WOHNRAUMES<br />
Was besagt der Begriff » Habitat « ?<br />
Das Konzept <strong>des</strong> Habitats ist ein Grundkonzept einer Reihe<br />
von Humanwissenschaften. Es ist allerdings schwer zu definieren.<br />
Das Konzept <strong>des</strong> Habitats 1 ist eines der Grundkonzepte einer ganzen Reihe<br />
von Disziplinen : Ethnologie, Soziologie, Humangeografie, Geschichte … Und<br />
doch auch eines der irritierendsten : Sobald man versucht, die mit diesem Begriff<br />
bezeichnete Wirklichkeit zu erfassen, zerrinnt sie nach allen Seiten durch<br />
unsere Finger wie eine » Hand voll Wasser «.<br />
Auf der einen Seite scheint es unmöglich, seine Ausdehnung<br />
zu definieren ( » Habitat « als Substantiv ) : Wo findet sich die<br />
Grenze <strong>des</strong>sen, was wir mit dem Wort » Habitat « getauft haben ?<br />
Tatsächlich erkennen wir intuitiv, dass das Habitat eine bestimmte physische,<br />
empirisch fassbare Wirklichkeit darstellt. Wo muss man jedoch beim Analysieren<br />
<strong>des</strong> Habitats als » Substantiv «, als » Sache « – um die Ausdehnung dieses<br />
341<br />
ENTWICKLUNGSski<br />
• ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STRUKTUREN DES WOHNRAUMES • 1964 • ORT MENSCH RAUM WOHN
1 Anm. K. W. : Georges-Hubert de Radkowski verwendet den<br />
Begriff <strong>des</strong> Habitats in seiner doppelten Bedeutung als<br />
Lebens- und Wohnraum. Systematisch konnotiert Habitat mal<br />
den größer gefassten Lebensraum einer Ethnie (Land und<br />
Ökumene), mal den kleiner gefassten, von einzelnen Individuen<br />
bewohnten Raum (Wohnsitz oder Wohnstätte).<br />
2 Strukturell existiert eine ziemlich frappierende Verwandtschaft zwischen beispielsweise<br />
der » Cité radieuse« von Le Corbusier und dem » großen Haus « archaischer Zivilisationen,<br />
wenn nur das Prinzip <strong>des</strong> Zusammenschlusses der Bewohner berufsbezogen oder administrativ<br />
und nicht familiär und wenn der » private « Raum im ersten Fall klarer differenziert wäre.<br />
3 Denn warum schließt man die Werkstatt <strong>des</strong> Handwerkers oder Künstlers, die<br />
Praxis <strong>des</strong> Mediziners oder das Arbeitszimmer <strong>des</strong> Schriftstellers aus dem Habitat<br />
aus ? Weil die moderne Epoche dazu neigt, die Sphäre der » privaten « von derjenigen<br />
der beruflichen Aktivitäten zu trennen ? … Und warum das Haus <strong>des</strong> Bauern vom Rest<br />
seines Bauernhofes trennen ? Geht dieser Bauernhof nicht oft auf ein Habitat zurück,<br />
wo die Menschen und die Tiere zusammen schliefen ?<br />
Konzeptes zu bestimmen – aufhören ? Bei der städtischen Etagenwohnung<br />
einer Großsiedlung, 2 beim Mehrfamilienhaus, von dem sie ein Teil ist, beim<br />
Mehrfamilienhaus mit seinen Nebengebäuden ( zum Beispiel mit einer Garage<br />
), beim Mehrfamilienhaus plus seinem sozialen und kommerziellen » Zentrum<br />
«, beim gesamten » Ensemble «, beim städtischen Komplex oder der städtischen<br />
Region, zu der es gehört ?<br />
Oder gar im Fall eines Landbesitzes : allein beim Herrenhaus, beim Herrenhaus<br />
mit seinem Hof und seinen Nebengebäuden, mit seinem Park und<br />
seinen zugehörigen Pavillons, mit der Obstbaumwiese, dem Gemüsegarten<br />
und dem Bauernhof, also warum nicht mit seinen Ländereien ?<br />
Eine ähnliche Schwierigkeit besteht hinsichtlich <strong>des</strong> bäuerlichen Wohnsitzes<br />
( <strong>des</strong> Familienwohnhauses, <strong>des</strong> gesamten Bauernhofs …? ) Oder zum Beispiel<br />
für das Haus eines Händlers oder mittelalterlichen Handwerkers mit seinem<br />
Laden oder seiner Werkstatt.<br />
Indem wir den Bedeutungsumfang <strong>des</strong> Habitat-Begriffes enger fassen,<br />
riskieren wir, rein willkürliche Schnitte und Grenzen einzuführen ; 3 wir verwässern<br />
ihn dagegen, wenn wir ihn auf die gesamte Umwelt beziehen.<br />
Andererseits besteht dieselbe Schwierigkeit bei der Definition<br />
<strong>des</strong>sen, was wir darunter verstehen ( » wohnen «<br />
als Verb ) : Was ist » Wohnen « ? » Wohnen « ist nicht gleichbedeutend<br />
mit » Schutz suchen «.<br />
Doch es gibt noch mehr : Indem wir dieses Konzept enger fassen, um die<br />
Wurzel freizulegen, die » Essenz « <strong>des</strong> Habitats, stoßen wir auf eine neue<br />
Schwierigkeit, auf das Verständnisproblem dieses Konzeptes. Was will das<br />
Verb wohnen sagen ?<br />
Die erste Verwechslung, die vermieden werden soll, bestünde in der<br />
Gleichsetzung von » Wohnen « und » Schutz suchen «. Schutz bezeichnet eine<br />
Abwehr [ parade ] ( sagen wir, eine besondere Art der Abwehr – um die Dinge<br />
STÄTTE WOHNEN SOZIAL NATUR ZEIT NOMADE KULTUR • Georges-Hubert de Radkowski • ENTWICKLUNGSGES
4 Anm. K. W. : Im 20. Jahrhundert noch geläufige,<br />
inzwischen aber überholte Namen für indigene Bevölkerungsgruppen<br />
wurden in der Übersetzung entsprechend aktualisiert.<br />
ein wenig kenntlicher zu machen – eine immobile, nicht bewegliche Abwehr ) ;<br />
und es gibt ebenso viele Unterschlupfmöglichkeiten wie Arten sich zu wehren :<br />
gegen meteorologische Niederschläge, Hitze, Feuchtigkeit, Insekten, Tiere,<br />
Menschen, schlechte Geister … Auf der malaiischen Halbinsel dienten nicht die<br />
Pfahlbauten der Abwehr von Elefantenangriffen, sondern eine Plattform, die zu<br />
diesem Zweck auf einem benachbarten Baum errichtet wurde ; für die Südaustralier<br />
gewährleisteten nicht ihre Reisighütten Schutz vor den strengen, kalten<br />
Nächten, sondern das Feuer ihrer Lagerplätze … In bestimmten Wohnstätten<br />
ist die Schutzfunktion nahezu auf nichts reduziert : Schirme gegen den Wind<br />
bei den Ona <strong>des</strong> Südens und den Tasmaniern.<br />
Einerseits stellt die Wohnstätte folglich niemals die totale, sondern nur<br />
eine partielle und sehr bedingte Abwehr sicher ( uns eingeschlossen, um nur<br />
die Probleme zu benennen, die den Lärm und den Schallschutz betreffen ), andererseits<br />
muss man nicht Besitzer eines Wohnraumes sein, um über einen<br />
Unterschlupf zu verfügen : Das Blattwerk eines Baumes stellt einen exzellenten<br />
Schutz vor der Sonne dar, und das von einem durch einen Schneesturm<br />
überraschten Inuit 4 auf » freiem Feld « gebaute Iglu stellt einen anderen Schutz<br />
dar, und zwar gegen einen ansonsten sicheren Tod …<br />
Ebenso erfordern alle anderen Funktionen, die üblicherweise als<br />
» häuslich « betrachtet werden, selbst nicht den Wohnraum.<br />
Der Wohnraum ist nicht für den Schutz erforderlich und auch nicht zum<br />
» Schlafen «, noch zum » Essen «, noch zum » Ausruhen «, noch zum » Erzeugen<br />
und Gebären «, noch zur » Zusammenkunft « mit seiner Familie oder seinen<br />
Freunden. Wenn wir gewöhnt sind, die Gesamtheit dieser Tätigkeiten und<br />
» Leiden schaften « unter dem einzigen Verb » wohnen « zusammenzufassen, bedeutet<br />
das nicht, dass diese Synthese in der » Natur der Sache « liegt : Die Polynesier<br />
– um nur sie zu erwähnen – haben diese Funktionen bis zum Äußersten<br />
» spezialisiert « : autonome Küche, Versammlungshaus, Speisehaus, Geburtshütte<br />
etc. ; die Gärtner Melanesiens besaßen in oft weit von ihrem Wohnraum<br />
entfernten Gärten » Hütten «, wo sie einen Teil der Zeit lebten ; die alten Chinesen<br />
verbrachten nur die Sommerflaute in ihrem Haus, den Rest der Zeit aber<br />
auf den Feldern ; die Irokesen verließen zwei oder drei Jahre lang ihre Lager für<br />
Jagd- und Raubzüge etc. Und selbst bei uns kann man im Restaurant » essen «, im<br />
Hotel » schlafen «, in einer Klinik » entbinden «, im Café » zusammenkommen «<br />
und » sich ausruhen « … beinahe gleich wo ( das Leben eines Handlungsvertreters ).<br />
343<br />
CHICHTE UND STRUKTUREN DES WOHNRAUMES • 1964 • ORT MENSCH RAUM WOHNSTÄTTE WOHNEN SOZIAL
5 » Aufbewahren « nach bestimmten Bedingungen – der und<br />
der Dauer, den und den Maßen, Arten und Weisen etc. der<br />
Aufbewahrung – durch das technische Niveau, das diesem Silo<br />
gegeben ist. Daher kann das gleiche Objekt für die einen ein<br />
Silo repräsentieren, für die anderen aber nicht. […]<br />
Diese Unmöglichkeit, die eigentliche Funktion <strong>des</strong><br />
Wohnraumes zu definieren, zieht die Unmöglichkeit nach<br />
sich, die Wirklichkeit zu erfassen, die deren Produkt wäre.<br />
Tatsächlich entspricht jede vom Menschen gemachte Sache<br />
( alle Artefakte ) zumin<strong>des</strong>t einer Funktion, die sie bestimmt.<br />
Doch ohne zu wissen, worin die Funktion <strong>des</strong> » <strong>Wohnens</strong> « besteht, ist es unmöglich<br />
zu wissen, worin die Wirklichkeit besteht, die das Produkt daraus ist :<br />
der » Wohnraum «. Woraus besteht sie und ist sie gemacht, diese durch den<br />
» Wohnraum « bezeichnete » Sache «. Alles vom Menschen Hergestellte – und<br />
der Wohnraum gehört dazu ( auf den Punkt <strong>des</strong> » natürlichen « Lebensraumes<br />
werde ich an anderer Stelle zurückkommen ) – ist » funktionell « : Zu » existieren «<br />
bedeutet in seinem Fall, min<strong>des</strong>tens einer Funktion – aktuell oder virtuell –<br />
zu entsprechen. Andernfalls würde das Artefakt bei Verlust seiner Daseinsberechtigung<br />
nicht materiell, jedoch funktionell aufhören zu existieren. Wenn ein<br />
» Schabeisen « nicht min<strong>des</strong>tens » schaben « kann – denn es kann auch andere<br />
Funktionen erfüllen –, dann hört es auf, ein » Schabeisen « zu sein ; wenn ein<br />
» Silo « kein Korn aufbewahren kann, ist es kein » Silo « mehr. 5 Jede Beschaffenheit<br />
eines menschlichen Produktes, eines Artefaktes – alles, woraus es gemacht<br />
ist – antwortet auf diese Funktion( en ) und erklärt sich durch sie.<br />
Welches ist nun die fundamentale, die Basisfunktion, die von der Beschaffenheit<br />
<strong>des</strong> Wohnraumes zeugt und deren Wegfall seinen eigenen Wegfall<br />
nach sich ziehen müsste, wenn es wahr ist, dass er ein Produkt unter anderen<br />
Produkten menschlicher Tätigkeiten ist ?<br />
Die alltäglichen Funktionen <strong>des</strong> Wohnraumes sind nicht<br />
durch ihn selbst, sondern durch seine Elemente gesichert;<br />
ohne dass <strong>des</strong>halb der Wohnraum das Produkt ihrer Synthese<br />
wäre oder die Funktion je<strong>des</strong> System-Elements sich<br />
in die Funktion <strong>des</strong> Ganzen einfügt und zu ihr beiträgt.<br />
Doch welches ist die Funktion der » Wohnmaschine « ?<br />
Wie wir gerade festgestellt haben, sind sie nicht allein verschieden und veränderlich<br />
( und die einen von den anderen anscheinend auch unabhän gig ), noch<br />
erfordert jede von ihnen den Wohnraum selbst, sondern nur eines der Elemente,<br />
L NATUR ZEIT NOMADE KULTUR • Georges-Hubert de Radkowski • ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STRUKTU
6 In Wirklichkeit erfüllen diese Letzteren – die Wände im Allgemeinen – eine zweifache<br />
Funktion im Wohnraum : Sie bilden, wie wir später sehen werden, die eigentlich konstitutiven<br />
Elemente <strong>des</strong> Wohnraumes als solche ; dann aber ist ihre Funktion jene der » reinen « Wand :<br />
was den Raum formt und begrenzt ; und anschließend, sobald diese » primäre « Funktion gesichert<br />
ist, antworten sie auf eine eigentlich technische Funktion : thermische, phonische oder<br />
andere Isolation. Es ist dies Letztere, das über ihre eigentlich physische Natur Rechenschaft<br />
ablegt : bestimmte Materialien, bestimmte Stärke, bestimmte Dachneigung etc. Das ist es<br />
auch, was daraus die Elemente häuslicher Einrichtung schafft.<br />
7 Der Unterschied ist hier nicht der, der zwischen einer Mühle und einem<br />
Turbogenerator besteht, sondern vergleichbarer zu dem zwischen einer<br />
Handmühle und einer elektrischen Mühle. Selbst in unserer Zivilisation<br />
wird eine Bude ohne Heizung, Parkettboden, Decke oder Fenster, die von<br />
Obdachlosen bewohnt wird, ein regelrechter Wohnraum.<br />
mit denen er ausgestattet ist : Lagerstätte oder Bett, Tisch, Herd oder Kamin,<br />
Fenster, Dach oder Decke, Boden oder Parkett, Mauern oder Wände etc. 6<br />
Zu sagen, dass sie alle konstitutive Elemente <strong>des</strong> Wohnraumes bilden,<br />
wobei Letzterer das Produkt ihrer Synthese darstellt, liefert nur eine Pseudo-<br />
Antwort –, abgesehen davon, dass dies durch den anscheinend willkürlichen<br />
Charakter der Synthese widerlegt wird : In allen funktionellen Systemen, für<br />
die uns irgendeine Maschine ein gutes Beispiel gibt, wirken alle konstitutiven<br />
Elemente auf das Ganze hin ; in ihm ist ihre individuelle Funktion gänzlich<br />
durch seine eigene globale Funktion bestimmt. ( Das ist eine Funktion der<br />
Funktion, eine durch die erste Funktion bestimmte zweite Funktion ). Anderes<br />
System, andere Elemente, und umgekehrt. Doch was ist die Funktion der<br />
» Wohnmaschine «? Und außerdem : andere Elemente, anderer Wohnraum ? …<br />
Anderer Typus, aber keine andere Art <strong>des</strong> Wohnraumes. 7<br />
Es ist so, als würden seine Elemente<br />
den Wohnraum ausstatten, der bereits einer ist.<br />
In Wahrheit scheint es so zu sein, als würden diese verschiedenen Elemente,<br />
die weit davon entfernt sind, den Wohnraum selbst zu bilden, nur – im Gegensatz<br />
zu anderen menschlichen Einrichtungen – einen bereits existierenden<br />
Wohnraum ausstatten ( » bereits « bezeichnet hier offensichtlich eine logische<br />
und nicht chronologische Priorität ) : Weil der Mensch seinen Wohnraum geschaffen<br />
hat, hat er auch begonnen, sich den Problemen der Ausstattung <strong>des</strong><br />
Wohnraumes zu stellen – und sie mehr oder weniger zu lösen. ( Wir sprechen<br />
selbstverständlich davon, ein » Haus « mit der Heizung, mit einer Wärmeisolierung<br />
etc. » auszustatten « ).<br />
Was ist aber nun der Wohnraum ?<br />
Da kommen wir an den Ausgangspunkt zurück : der » Wohnraum « [ habitat ],<br />
» wohnen «, was soll das heißen ? Wäre das eines dieser vagen Wörter, die<br />
nichts bedeuten, weil sie auf alles angewendet werden können : » Ding «,<br />
» Zeug «, » Sache « ?<br />
345<br />
REN DES WOHNRAUMES • 1964 • ORT MENSCH RAUM WOHNSTÄTTE WOHNEN SOZIAL NATUR ZEIT NOMADE
Quelle<br />
Radkowski, Georges-Hubert de :<br />
» La genèse et les structures de l’espace<br />
habitable «, in : ders., Anthropologie de<br />
l’habiter. Vers le nomadisme. Vorwort<br />
von Augustin Berque, Nachwort von<br />
Michel Deguy, Paris : Presses Universitaires<br />
de France, 2002, S. 23–40, 43–52.<br />
Die Textauszüge aus der genannten Quelle<br />
erscheinen hier mit freundlicher Genehmigung<br />
der Presses Universitaires de France.<br />
Bibliografie<br />
Radkowski, Georges-Hubert de : » Nous,<br />
les noma<strong>des</strong> «, in : La table ronde.<br />
Revue Européenne de recherche chrétienne,<br />
H. 182 ( 1963 ), S. 92–100.<br />
Radkowski, Georges-Hubert de : » Les<br />
caractéristiques formelles de l’habitat<br />
dans les sociétés noma<strong>des</strong>, sédentaires<br />
et industrielles. Un programme de recherche<br />
«, in : Cahiers d’étude <strong>des</strong> sociétés<br />
industrielles et de l’automation, H. 6<br />
( 1964 ), S. 199–213.<br />
Radkowski, Georges-Hubert de :<br />
» Le crépuscule <strong>des</strong> sédentaires «, in : Janus,<br />
H. 13 ( 1967 ), S. 43–50.<br />
Radkowski, Georges-Hubert de : Les jeux<br />
du désir. De la technique à l’économie, Paris :<br />
Presses Universitaires de France, 1980.<br />
Radkowski, Georges-Hubert de :<br />
Anthropologie générale, Paris : L’Harmattan,<br />
1996.<br />
Berque, Augustin : Écoumène.<br />
Introduction à l’étude <strong>des</strong> milieux<br />
humains, Paris : Belin, 2001.<br />
Berque, Augustin : Histoire de l’habitat<br />
idéal – De l’Orient vers l’Occident, Paris :<br />
Félin, 2010.<br />
Lepape, Yann ( Hg. ) : Monde ouvert,<br />
pensée nomade, En l’honneur de<br />
Georges-Hubert de Radkowski, Paris :<br />
L’Harmattan, 1999.<br />
Leroi-Gourhan, André : Hand und<br />
Wort. Die Evolution von Technik,<br />
Sprache und Kunst ( frz. 1964–1965 ),<br />
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.<br />
Lévi-Strauss, Claude : Traurige<br />
Tropen ( frz. 1955 ), Frankfurt a. M.:<br />
Suhrkamp, 1978.<br />
ESCHICHTE UND STRUKTUREN DES WOHNRAUMES • 1964 • ORT MENSCH RAUM WOHNSTÄTTE WOHNEN SOZI
SEDENTÄRES UND<br />
NOMADISCHES WOHNEN.<br />
VOM ORT ZUM HALT,<br />
VOM WEG<br />
Kommentar<br />
ZUR BEWEGUNGSBAHN<br />
Der heute kaum noch bekannte Philosoph Georges-Hubert de Radkowski<br />
( 1924–1987 ) verbrachte seine Kindheit und Jugend in Polen. 1 Während<br />
<strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges engagierte er sich in der Widerstandsbewegung<br />
und nahm 1944 am Warschauer Aufstand gegen die nationalsozialistische<br />
Besatzung teil. 1946 gründete er die katholische Kulturzeitschrift<br />
Znak [ dt. Zeichen ]. Kurze Zeit später verließ er das inzwischen<br />
kommunistische Polen und ging nach Paris, wo er sein Diplom in Philosophie<br />
an der Sorbonne ablegte. In den 1960er Jahren begann er, über<br />
einen neuen » Nomadismus « zu schreiben. Der im Rahmen einer<br />
Bewerbung am Centre National de la Recherche Scientifique verfasste<br />
Text Entwicklungsgeschichte und Strukturen <strong>des</strong> Wohnraumes, der in<br />
Auszügen auch in die Anthologie aufgenommen ist, ließ den Altphilologen<br />
und Religionshistoriker Jean-Pierre Vernant sowie Henri Lefebvre<br />
auf Radkowski aufmerksam werden. 2 Auf ihre Unterstützung hin<br />
trat Radkowski 1967 dem Pariser Institut d’Urbanisme bei, an dem er bis<br />
367<br />
AL NATUR ZEIT NOMADE KULTUR • Georges-Hubert de Radkowski • ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STRUKT
1 Zur Bio- und Bibliografie Radkowskis vgl. ders.,<br />
Anthropologie générale, Paris : L’Harmattan, 1996, S. 137‒141.<br />
2 Vgl. Augustin Berque, » Préface «, in : Georges-Hubert de Radkowski, Anthropologie de<br />
l'habiter. Vers le nomadisme, Paris : Presses Universitaires de France, 2002, S. 7‒14, hier S. 7‒8.<br />
3 Vgl. den Beitrag von Henri<br />
Lefebvre in dieser Anthologie. 4 Vgl. Radkowski 2002 ( Anm. 2 ).<br />
5 Vgl. Augustin Berque, Écoumène. Introduction à<br />
l’étude <strong>des</strong> milieux humains, Paris : Belin, 2000; und zudem<br />
den Beitrag von Martin Heidegger in dieser Anthologie.<br />
6 Vgl. Bernard Klasen, Habiter. Une philosophie<br />
de l’habitat, Paris : Salvator, 2018; zu Radkowski vgl.<br />
insb. S. 89‒113.<br />
zu seinem Tod arbeitete und lehrte. Das hier ebenfalls abgedruckte Vorwort<br />
Lefebvres zur Kollektivstudie L’habitat pavillonnaire zeigt, dass sich<br />
Lefebvre mit den Arbeiten Radkowskis auseinandergesetzt hat. 3 Radkowskis<br />
gesammelte Schriften zum sedentären und nomadischen<br />
Wohnen aus den Jahren 1963 bis 1968 wurden posthum von seiner Frau<br />
Angèle de Radkowski unter dem Titel Anthropologie de l’habiter. Vers<br />
le nomadisme herausgegeben. 4 Die Einleitung in den Band übernahm<br />
der Geograf und Orientalist Augustin Berque, der den bereits für Radkowski<br />
zentralen Begriff der Ökumene weiter ausgearbeitet hat. Für<br />
eine » Ontologie der Geografie « griff Berque zugleich auf die Schriften<br />
Martin Heideggers zurück. 5 In den 1990er und 2000er Jahren wurde<br />
Radkowski tatsächlich mehr in der Humangeografie und der Anthropologie<br />
als im Urbanismus gelesen, was auf die Verbindung <strong>des</strong> <strong>Wohnens</strong><br />
mit dem geografischen Lebens- und Siedlungsraum bei Radkowski<br />
verweist. Im französischen habitat, einem auf den Wohnraum als<br />
Lebensmilieu bezogenen Begriff, der ursprünglich aus der Botanik,<br />
Zoologie und Geografie stammt, ist diese doppelte Bedeutung bereits<br />
angelegt. Ein wesentlicher Aspekt von Radkowskis Beitrag Entwicklungsgeschichte<br />
und Strukturen <strong>des</strong> Wohnraumes besteht in einer Klärung<br />
<strong>des</strong>sen, was der Begriff <strong>des</strong> Habitats hinsichtlich der verschiedenen<br />
Raumrelationen nomadischer und sedentärer Gesellschaften<br />
bezeichnet. Erst in jüngeren Wohntheorien ist Radkowski wiederentdeckt<br />
worden, um dort mit seiner Reflexion eines nomadischen, entwurzelten<br />
<strong>Wohnens</strong> essenzialistischen Ansätzen eines sedentären,<br />
verwurzelten <strong>Wohnens</strong>, allen voran eines Heidegger, gegenübergestellt<br />
zu werden. 6<br />
Von sesshaften zu nomadischen Gesellschaften<br />
Radkowski entwickelte seine These, dass die modernen Industriegesellschaften<br />
keine sedentären, dafür nomadische Gesellschaften seien, in<br />
dem Beitrag » Nous, les noma<strong>des</strong> … « von 1963. 7 Er erschien in der<br />
Literaturzeitschrift La table ronde. Der Publikationsort ist <strong>des</strong>halb<br />
erwähnenswert, weil die entsprechende Ausgabe, » Civilisation du<br />
néant «, von La table ronde Begriffe der Negation, <strong>des</strong> Nihilismus und<br />
<strong>des</strong> Nichts in der Philosophie <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts zum Gegenstand<br />
hatte. Es standen damit wesentlich die Schriften von Friedrich Nietzsche,<br />
UREN DES WOHNRAUMES • 1964 • ORT MENSCH RAUM WOHNSTÄTTE WOHNEN SOZIAL NATUR ZEIT NOMAD
7 Vgl. Georges-Hubert de Radkowski, » Nous, les noma<strong>des</strong> … «, in : La table ronde.<br />
Revue européenne de recherche chrétienne, H. 182 ( 1963 ), S. 92‒100.<br />
8 Ohne dass Heideggers Begriff der Heimatlosigkeit explizit angeführt wird, zeigen<br />
die Beiträge aus La table ronde, dass der 1957 in französischer Übersetzung<br />
vorliegende Brief Über den Humanismus, in dem Heidegger auf programmatische<br />
Weise von einer Heimatlosigkeit <strong>des</strong> Seins in der Moderne gesprochen hatte,<br />
rezipiert wurde. Radkowski griff in seinem Beitrag Heideggers Begriff der » Ek-sistenz «<br />
auf, der unter anderem im Brief Über den Humanismus und Holzwege auftauchte,<br />
um das Ekstatische <strong>des</strong> Daseins zu markieren. Fumet bezog sich auf die deutsche<br />
Ausgabe von Heideggers Holzwege.<br />
9 Radkowski war mit der Tochter von Stanislas Fumet,<br />
Angèle, verheiratet.<br />
10 Vgl. Christie Orsini, » Monde ouvert et pensée nomade «, in : Yann Lepape ( Hg. ),<br />
Monde ouvert, pensée nomade. En l’honneur de Georges-Hubert de Radkowski,<br />
Paris : L’Harmattan, 1999, S. 7‒19, hier S. 8.<br />
Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre zur Diskussion. In La table<br />
ronde, einer eher konservativen Zeitschrift, die sich gegen die von<br />
Sartre und Simone de Beauvoir herausgegebene Zeitschrift Les temps<br />
modernes positionierte, unterlag Sartre einer deutlicheren Kritik als<br />
Heidegger. Jean Beaufret, der die französische Heidegger-Rezeption<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg beflügelt hatte, hob wie auch Stanislas<br />
Fumet in seinem Beitrag für das nämliche Themenheft auf den ebenso<br />
grundlegenden wie produktiven Zusammenhang von Sein und Nichts<br />
bei Heidegger ab. Fumet stellte diesen Zusammenhang darüber hinaus<br />
in eine Tradition mit der deutschen Mystik. Demgegenüber erschien<br />
Sartre mit seinem vom Sein entkoppelten Begriff <strong>des</strong> Nichts als Protagonist<br />
einer totalen Kontingenzerfahrung in der Moderne. Jenseits der<br />
Auseinandersetzung um Heidegger und Sartre vermittelt La table ronde<br />
den Kontext, in dem Radkowskis frühe Überlegungen zu einem modernen<br />
Nomadentum stehen. Er ist durch Erfahrungen der Kontingenz, bei<br />
Heidegger der » Heimatlosigkeit « <strong>des</strong> Seins in einer säkularisierten, von<br />
der Technik beherrschten Moderne angegeben. 8 Radkowski bezog diese<br />
Erfahrungen auf den Verlust eines seins- und sinnstiftenden Ortes. Für<br />
sesshafte Gesellschaften noch konstitutiv, erweist sich ein solcher Ort<br />
für nomadische Lebensformen als unbedeutend. Es kann vorausgesetzt<br />
werden, dass Radkowski Heidegger sowohl selbst als auch über Stanilas<br />
Fumet rezipiert hat. 9 Insofern mag zwar bedingt gelten, dass sich Radkowski<br />
einer Beschäftigung mit Heidegger aufgrund einer zu großen<br />
Nähe, was die Reflexion der Moderne anhand der Technik oder <strong>des</strong><br />
<strong>Wohnens</strong> betrifft, nachgerade verweigern musste. 10 Nichts<strong>des</strong>totrotz<br />
lassen sich bei Radkowski Bezüge auf Heidegger finden. Aber anders<br />
und über Heidegger hinaus versuchte Radkowski, historische Grundzüge<br />
eines faktischen <strong>Wohnens</strong> unter Einbeziehung paläoanthropologischer<br />
und ethnografischer Studien herauszuarbeiten.<br />
» Wohin gehen wir ? «, wo steht und wohin bewegt sich die Menschheit<br />
im ausgehenden zweiten Jahrtausend, auf welcher Erde wird der<br />
Mensch der Zukunft wohnen ? Mit diesen und weiteren Fragen setzten<br />
Radkowskis Überlegungen in La table ronde zum mutmaßliche Übergang<br />
369<br />
E KULTUR • Georges-Hubert de Radkowski • ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STRUKTUREN DES WOHNRAUMES
RWORT ZUR STUDIE » L’HABITAT PAVILLONNAIRE « • 1966 • WOHNEN POIESIS IDEOLOGIE ANEIGNUNG ZEIT PR
Amos<br />
KULTUR<br />
HAUSFORM<br />
ZEIT<br />
GEBÄUDE<br />
TRADITION<br />
VERNAKULÄR<br />
Rapoport<br />
EINHEIMISCH<br />
LEBEN<br />
RAUM<br />
1969<br />
GENRE DE VIE<br />
Amos Rapoport • HAUSFORM UND KULTUR • 1969 • KULTUR HAUSFORM VERNAKULÄR ZEIT GEBÄUDE EINHEI
MISCH TRADITION RAUM LEBEN GENRE DE VIE • Amos Rapoport • HAUSFORM UND KULTUR • 1969 • KULTUR H
HAUSFORM<br />
Amos RapoportUND<br />
KULTUR<br />
ART UND DEFINITION<br />
DES GEBIETES<br />
Architekturtheorie und -geschichte haben sich traditionell mit dem Studium<br />
von Monumenten beschäftigt. Sie haben die Arbeit genialer Köpfe hervorgehoben,<br />
das Ungewöhnliche, das Seltene. Wenngleich das rechtens ist, hat es<br />
dazu geführt, dass wir zu vergessen neigen, dass die Arbeit <strong>des</strong> Designers,<br />
ganz zu schweigen vom genialen Designer, zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur<br />
einen kleinen, oftmals unbedeutenden Anteil der Bauaktivität ausgemacht hat.<br />
Die physische Umwelt <strong>des</strong> Menschen, insbesondere die gebaute Umwelt,<br />
wurde nicht durch den Designer bestimmt und wird es noch immer nicht. Diese<br />
Umwelt ist das Ergebnis vernakulärer ( oder volkstümlicher, oder populärer )<br />
Architektur, von der Architekturgeschichte und -theorie wurde sie weitgehend<br />
ignoriert. Und doch ist sie die Umwelt <strong>des</strong> Athen der Akropolis gewesen, der<br />
Städte der Maya und der Städte neben den ägyptischen Tempeln und Gräbern<br />
oder rund um die gotischen Kathedralen – wie sie auch die Umwelt abgeschiedener<br />
Dörfer und Inseln gewesen ist, ob Griechenlands oder der Südsee. Darüber<br />
hinaus müssen die Gebäude eines gehobenen Baustils für gewöhnlich in<br />
Beziehung zur und im Kontext der vernakulären Matrix gesehen werden. Außerhalb<br />
dieses Kontextes, besonders wie er zu der Zeit bestand, als sie entworfen<br />
und gebaut wurden, sind sie in der Tat nicht zu verstehen.<br />
In der Archäologie verschob sich das Interesse vor einiger Zeit von den<br />
Tempeln, Palästen und Gräbern zur gesamten Stadt als dem Ausdruck einer<br />
453<br />
AUSFORM VERNAKULÄR ZEIT GEBÄUDE EINHEIMISCH TRADITION RAUM LEBEN GENRE DE VIE • Amos Rapopo
1 Anm. K. W. : Der Begriff » primitiv « ist ein Begriff der Anthropologie <strong>des</strong><br />
19. Jahrhunderts, in den aus eurozentristischer Perspektive ein entwicklungsgeschichtliches<br />
Fortschrittsdenken und nicht selten rassenideologische Narrative eingeschrieben sind.<br />
Rapoport setzt sich damit indirekt auseinander, ohne jedoch einen anderen Begriff zu<br />
finden. Da er inzwischen überholt ist, ist er in der vorliegenden Übersetzung durchgehend<br />
typografisch markiert worden. Ähnliches gilt für den Begriff <strong>des</strong> » Volkes «, der in<br />
der vorliegenden Übersetzung weitgehend durch » soziale Gruppe « ersetzt worden ist.<br />
2 Diese grundlegende Unterscheidung entspricht einer Reihe von Untersuchungen.<br />
Vgl. etwa Dwight Macdonald, Against the American Grain. Essays on the Effect of<br />
Mass Culture, New York : Random House, 1962 ; Robert Redfield, The Primitive World<br />
and its Transformations, Ithaca : Cornell University Press, 1953 ; ders., Peasant Society<br />
and Culture, Chicago : University of Chicago Press, 1965. [ … ]<br />
Kultur und Lebensweise, gleichwohl das Haus, der typischste vernakuläre Gebäudetyp,<br />
oft noch ignoriert wird. In gewissem Umfang haben sich ähnliche<br />
Interessensverlagerungen in der allgemeinen Geschichte, der Kunstgeschichte<br />
und in jener der Musik vollzogen. In der Architektur allerdings hat ein solches<br />
Interesse gerade erst eingesetzt und ist weder sehr weit noch über das rein<br />
Visuelle hinausgegangen. Es handelt sich also um ein Thema, das bisher eher<br />
vernachlässigt worden ist.<br />
Diese Vernachlässigung eines Großteils der gebauten Umwelt, die Tendenz,<br />
Lehmhütten oder unbedeutende Grashütten zu sehen, wo tatsächlich<br />
Gebäude hoher Qualität sind, die uns viel lehren, hat zwei Maßstäbe zur Folge<br />
gehabt – einen für » bedeutende « Gebäude, besonders jene der Vergangenheit,<br />
und einen anderen für » unbedeutende « Gebäude und die aus ihnen gebildete<br />
Umwelt. Dieser Zugang suggeriert, dass Architektur nur in den Monumenten<br />
zu finden ist und dass es einen Unterschied in der Art und Weise gibt, wie man<br />
ein Meisterwerk der Vergangenheit oder von heute im Vergleich mit dem<br />
Haus bewertet, in dem man lebt oder in dem der Bauer lebte ; die Royal plaza<br />
und die Straße, die zu ihr führt, oder die eigene Straße. Wir müssen jedoch auf<br />
die gesamte Umwelt schauen, um sie zu verstehen, und in ebendieser Hinsicht<br />
müssen wir die Geschichte der gebauten Form erforschen. Wenn wir nur<br />
auf den kleinsten Teil <strong>des</strong> Werkes schauen, neigt dieser Teil dazu, eine übermäßige<br />
Bedeutung anzunehmen ; wenn wir ihn isoliert betrachten, können wir<br />
seine komplexe und subtile Beziehung zur vernakulären Matrix, mit der er ein<br />
totales räumliches und hierarchisches System bildet, nicht erfassen. Die<br />
Gleichgültigkeit gegenüber den vernakulären Gebäuden, die die Umwelt bilden,<br />
hat den Effekt gehabt, Letztere unbedeutend erscheinen zu lassen ; infolge<strong>des</strong>sen<br />
werden sie physisch vernachlässigt und verfallen regelmäßig.<br />
Was verstehen wir also unter volkstümlicher Architektur und den Begriffen<br />
» primitiv « 1 und » vernakulär «, wo sie auf Bauformen angewendet werden?<br />
Zunächst einmal ist es möglich, zwischen Bauten zu unterscheiden,<br />
die der großen Designtradition angehören, und solchen der volkstümlichen<br />
Tradition. 2<br />
rt • HAUSFORM UND KULTUR • 1969 • KULTUR HAUSFORM VERNAKULÄR ZEIT GEBÄUDE EINHEIMISCH TRAD
3 Noch heute beträgt die Zahl an Gebäuden, die von einem<br />
Architekten entworfen sind, nach zuverlässiger Schätzung weltweit<br />
nur 5 Prozent. Vgl. Constantinos A. Doxiadis, Architecture in<br />
Transition, London : Hutchinson, 1964, S. 71–75. [ … ]<br />
4 Das Wörterbuch definiert » populär « als der allgemeinen Bevölkerung entstammend, ihr zugehörend<br />
oder von ihr herrührend im Unterschied zu einem ausgewählten Teil. » Vernakulär « wird definiert als<br />
einheimisch, gebraucht von der Bevölkerung ; » anonym « als etwas von unbekannter Autorschaft ; » Volk «,<br />
» volkstümlich « [ folk ] als die Masse an Menschen der unteren Kultur sowie herrührend oder weithin<br />
gebraucht von den einfachen Leuten. [ … ] Vgl. [hierzu äquivalente Unterscheidungen bei, Anm. K. W.]<br />
Redfield 1953 ( Anm. 2 ) ; Gideon Sjoberg, The Preindustrial City – Past and Present, Glenoce / Ill. : Free<br />
Press, 1960 ; David Riesman, The Lonely Crowd, New Haven : Yale University Press, 1950.<br />
5 Zur Definition von » primitiv « vgl. zusammenfassend Julius Gould, William L.<br />
Kolb ( Hg. ), A Dictionary of the Social Sciences, New York : Free Press, 1964.<br />
Man kann sagen, dass Monumente – Bauten der großen Designtradition – errichtet<br />
werden, um entweder die Bevölkerung mit der Macht <strong>des</strong> Mäzens oder<br />
die Peergroup an Designern und Experten mit der Geschicklichkeit <strong>des</strong> Gestalters<br />
und dem guten Geschmack <strong>des</strong> Mäzens zu beeindrucken. Die volkstümliche<br />
Tradition auf der anderen Seite ist die direkte und unbewusste Übersetzung<br />
einer Kultur, ihrer Bedürfnisse und Werte – ebenso wie der Wünsche,<br />
Träume und Leidenschaften einer sozialen Gruppe – in die physische Form.<br />
Sie ist die Weltanschauung im Kleinen, die in Bauten und Siedlungen ausgedrückte<br />
» ideale « Umwelt einer sozialen Gruppe, ohne Designer, Künstler oder<br />
Architekten, der privaten Zwecken zu dienen hat (bis zu welchem Grad der<br />
Designer wirklich ein Formgeber ist, ist dabei ein strittiger Punkt ). Die volkstümliche<br />
Tradition steht in engerer Beziehung zur Mehrheitskultur und zum<br />
Leben, wie es wirklich gelebt wird, als die große Designtradition, die die Kultur<br />
der Elite repräsentiert. Die volkstümliche Tradition stellt noch dazu den Großteil<br />
der gebauten Umwelt dar. 3<br />
Innerhalb dieser volkstümlichen Tradition können wir zwischen » primitiven<br />
« und vernakulären Bauten unterscheiden, Letztere beinhalten die vorindustriellen<br />
vernakulären und die modernen vernakulären Bauten. Heutiges<br />
Design, als Teil der großen Designtradition, ist charakterisiert durch ein größeres<br />
Maß an Institutionalisierung und Spezialisierung.<br />
» Primitiv « ist viel leichter zu definieren als » vernakulär «. Weder » vernakulär<br />
« noch » anonym « sind besonders befriedigende Begriffe, um die<br />
damit gemeinte Form der Architektur zu bestimmen. Der französische Begriff<br />
der » volkstümlichen Architektur « [ architecture populaire ] mag der<br />
befriedigendste sein. 4<br />
» Primitives « Bauwerk bezieht sich ganz einfach auf das, was nach der<br />
Definition von Anthropologen » primitive « Gesellschaften herstellen. Es verweist<br />
weitgehend auf bestimmte technologische wie ökonomische Entwicklungsstufen,<br />
aber schließt auch Aspekte der sozialen Organisation mit ein. 5<br />
Während die in solch einer Kultur hergestellten Behausungen auf den ersten<br />
Blick und gemessen an unseren » technologischen « Standards einfach erscheinen<br />
mögen, sind sie tatsächlich von Menschen gebaut, die ihre Intelligenz, ihre<br />
von unseren nicht unterschiedenen Fähigkeiten und ihre Mittel in vollem Umfang<br />
genutzt haben. Der Begriff » primitiv « bezieht sich <strong>des</strong>halb nicht auf die<br />
455<br />
ITION RAUM LEBEN GENRE DE VIE • Amos Rapoport • HAUSFORM UND KULTUR • 1969 • KULTUR HAUSFORM V
7 Vgl. Redfield 1953 ( Anm. 2 ), S. xi.<br />
6 Vgl. Redfield 1965 ( Anm. 2 ), S. 72–73.<br />
8 In einigen » primitiven « Gesellschaften, wie der Polynesiens, wird das gewöhnliche Haus<br />
von seinen Bewohnern gebaut und das Haus <strong>des</strong> Oberhauptes oder das Gemeinschaftshaus<br />
von professionellen Zimmerleuten. In Melanesien werden Häuser individuell gebaut,<br />
während das <strong>des</strong> Oberhauptes und heilige Kanu-Häuser vom ganzen Dorf errichtet werden<br />
und in die Zuständigkeit <strong>des</strong> Dorfes fallen. Im Allgemeinen gilt jedoch, dass » primitive «<br />
Gesellschaften spezialisierte Arbeit geringschätzen und dass dies, eher noch als das Fehlen<br />
ökonomischer Initiative, das Fehlen an Spezialisierung erklärt. Vgl. Lewis Mumford,<br />
The City in History, Harcourt : Brace & World, 1961, S. 102.<br />
Absichten oder die Fähigkeiten der Erbauer, sondern eher auf die Gesellschaft,<br />
in der sie bauen. Er ist selbstverständlich ein relativer Begriff ; für zukünftige<br />
Gesellschaften werden wir zweifelsohne ziemlich » primitiv « erscheinen.<br />
Redfield weist darauf hin, dass es in » primitiven « Gesellschaften ein diffuses<br />
Wissen von allem durch alle gibt, und jeder Aspekt <strong>des</strong> Stammeslebens<br />
betrifft jeden. 6 Es gibt kein technisches Vokabular, weil es jenseits von Alter<br />
und Geschlecht kaum eine Spezialisierung gibt, obgleich ein gewisses Spezialistentum<br />
im Bereich <strong>des</strong> religiösen Wissens gelegentlich zu finden ist. Das ist<br />
natürlich mit Redfields Definition von » primitiv « als schriftlos verbunden, 7<br />
und in Bezug auf das Bauen bedeutet das, dass jeder in der Lage ist, seine eigene<br />
Behausung zu bauen – und es üblicherweise tut. Gewerke sind kaum differenziert,<br />
und die durchschnittliche Familie besitzt all das verfügbare technische<br />
Wissen. Je<strong>des</strong> Mitglied der Gruppe kann die Bauten bauen, die die<br />
Gruppe braucht, auch wenn das aus sozialen wie technischen Gründen in vielen<br />
Fällen gemeinschaftlich von einer größeren Gruppe gemacht wird. 8<br />
Da das durchschnittliche Mitglied der Gruppe sein eigenes Haus baut,<br />
versteht es die Bedürfnisse und Anforderungen, die es in Bezug auf das Haus<br />
hat, vollkommen ; alle auftretenden Probleme werden den Erbauer persönlich<br />
betreffen und von ihm bearbeitet. Es gibt freilich vorgeschriebene Arten, wie<br />
man Dinge macht oder nicht macht. Bestimmte Formen werden als selbstverständlich<br />
betrachtet und widersetzen sich stark dem Wandel, da Gesellschaften<br />
wie diese dazu tendieren, sehr traditionsorientiert zu sein. Das erklärt die<br />
enge Beziehung zwischen den Formen und der Kultur, in die sie eingebettet<br />
sind, und auch die Tatsache, dass einige dieser Formen über lange Zeiträume<br />
fortbestehen. In dieser Beständigkeit wird das Modell schließlich so lange angepasst,<br />
bis es die meisten kulturellen, materiellen und Erhaltungsanforderungen<br />
befriedigt. Das Modell ist völlig gleichförmig, und in einer » primitiven « Gesellschaft<br />
sind alle Behausungen im Wesentlichen identisch.<br />
Wie ich bereits angedeutet habe, ist eine zufriedenstellende Definition<br />
von » vernakulär « schwieriger. Momentan scheint die erfolgreichste Art, den<br />
Begriff zu beschreiben, vermittels <strong>des</strong> Prozesses zu sein – wie etwas » entworfen<br />
« und gebaut wird.<br />
ERNAKULÄR ZEIT GEBÄUDE EINHEIMISCH TRADITION RAUM LEBEN GENRE DE VIE • Amos Rapoport • HAUSFO
9 Eine alternative Weise, zwischen » primitiv « und vernakulär zu unterscheiden, wird durch einen<br />
Vergleich mit Redfield 1965 ( Anm. 2 ), S. 68–69, 71, nahegelegt, wo » primitiv « als isoliert und in sich<br />
geschlossen definiert wird – wenn nicht hinsichtlich anderer » primitiver« Kulturen dann in Bezug<br />
auf eine gewisse » Hochkultur « –, während Bauernkulturen ( das heißt vernakuläre Kulturen ) im<br />
Zusammenhang mit nebeneinander bestehenden Hochkulturen zu sehen sind. Sie werden durch die<br />
Hochkultur angereichert und beeinflusst, weil sie von ihr Kenntnis haben, und die Hoch- und die<br />
vernakuläre Kultur sind miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. Ein Beispiel<br />
wäre der Einfluss <strong>des</strong> Barock auf die Holzbauernhäuser der Schweiz und Österreichs. Es gibt eine<br />
Verbindung zwischen vernakulären Bauten und solchen <strong>des</strong> gehobenen Stils ( wenn auch kausale<br />
Beziehungen schwer herzustellen sind ), während diese Verbindung in » primitiven « Kulturen, die<br />
keine Kenntnis einer äußeren Hochkultur haben, » nicht « existiert.<br />
10 Vgl. Jens A. Bundgaard, Mnesicles. A Greek Architect at Work,<br />
Kopenhagen : Gyldendal, 1957, in dem er nahelegt, dass griechische<br />
Tempel in dieser Hinsicht vernakuläre Formen sind.<br />
Wenn Bauhandwerker für die Errichtung der meisten Behausungen eingesetzt<br />
werden, könnten wir nach freiem Ermessen sagen, dass das » primitive<br />
« Gebäude dem » vorindustriellen Vernakulären « weicht. 9 Aber noch in diesem<br />
Fall kennt jeder der Gesellschaft die Gebäudetypen und weiß sie zu<br />
bauen, sodass die Expertise <strong>des</strong> Bauhandwerkers eine graduelle Frage ist. Der<br />
bäuerliche Besitzer ist nach wie vor mehr » Beteiligter « im Gestaltungsprozess<br />
als einfach nur » Konsument « ; das trifft in größerem Maß auf den Städter einer<br />
vorindustriellen Kultur zu als auf den Städter von heute, da die Partizipation<br />
mit der Urbanisierung und der größeren Spezialisierung geringer zu werden<br />
tendiert. Dieser Wandel hin zum Einsatz von Handwerkern bezeichnet<br />
den Anfang eines Prozesses zunehmender Spezialisierung von Gewerken,<br />
obschon zu Beginn dieses Prozesses der Handwerker nur ein Teilzeithandwerker<br />
und auch noch Bauer ist. Die beiden Verfahrensweisen <strong>des</strong> Bauens<br />
können, wie sie es im » primitiven « Kontext tun, in der Tat nebeneinander<br />
bestehen. Im vorindustriellen Vernakulären existiert die allgemein anerkannte<br />
» Form « noch, auf diese Weise wird mit der Beachtung <strong>des</strong> » Gestaltungsprozesses<br />
« eine Möglichkeit geboten, zu einer Definition <strong>des</strong> Vernakulären zu<br />
kommen.<br />
Der vernakuläre Gestaltungsprozess ist einer von Modellen und Anpassungen<br />
oder Variationen, und es gibt mehr individuelle Variabilität und Ausdifferenzierung<br />
als bei » primitiven « Bauten ; es sind » einzelne Exemplare «, die<br />
verändert werden, nicht der » Typ «. Wenn ein Handwerker ein Bauernhaus für<br />
einen Bauern errichtet, kennen beide den infrage kommenden Typ, die Form<br />
oder das Modell, und sogar die Materialien. Was festzulegen bleibt, sind die Besonderheiten<br />
– die Anforderungen der Familie ( auch wenn dies ebenfalls weniger<br />
variabel ist als heute ), die Größe ( vom Wohlstand abhängig ) und das Verhältnis<br />
zur Gegend und zum Mikro-Klima. 10 Da beide, Handwerker und Bauer,<br />
darin übereinstimmen, was gewünscht wird, gibt es in der Tat ein Modell, das<br />
fortschreitend angeglichen und angepasst wird. [ … ]<br />
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RM UND KULTUR • 1969 • KULTUR HAUSFORM VERNAKULÄR ZEIT GEBÄUDE EINHEIMISCH TRADITION RAUM
EN TRAUM UMFRIEDUNG • Kirsten Wagner (Hg.) • THEORIEN DES WOHNENS • EINE KOMMENTIERTE ANTHOLOG