Queer Kids Leseprobe
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Was bedeutet es, heute als junger Mensch queer zu sein? In diesem<br />
Buch erzählen 15 Kinder und Jugendliche aus ihrem Leben:<br />
das Grundschulkind, das genau weiss, dass es ein Mädchen ist,<br />
obschon alle denken, es sei ein Junge. Der schwule Jugendliche<br />
auf dem Land, der in der Schule isoliert ist und einen Treffpunkt<br />
für <strong>Queer</strong>s gründet. Und die non-binäre Aktivist*in, die ihre<br />
«Falschsexualität» selbstbewusst nach aussen trägt.<br />
Das Buch hilft zu verstehen, warum Fragen der Geschlechtsidentität,<br />
der sexuellen Orientierung und des Selbstausdrucks<br />
für Jugendliche heute ein brennendes Thema sind.<br />
Die Porträts werden begleitet von Interviews mit den Fachpersonen<br />
Ad J. Ott (Forschung zu LGBTQ an Schulen), Lydia Staniszewski<br />
(Schulsozialarbeit) und Dagmar Pauli (Medizin im Umgang<br />
mit jungen trans Menschen).<br />
Veranstaltungen und Informationen: www.queerkids.ch
Christina Caprez<br />
<strong>Queer</strong> <strong>Kids</strong><br />
15 Porträts<br />
Mit Fotografien von Judith Schönenberger<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
Für Romeo Koyote Rosen
11 Einleitung<br />
16 Lia, 10<br />
«Für die Kinder war ich die ganze Zeit schon ein Mädchen.»<br />
#Fussball #Jugendtreff #Trans #Community #Film<br />
28 Christelle, 17<br />
«Vielleicht komme ich mal mit einer Frau nach Hause.<br />
So what?»<br />
#Ländlich #Heteronormativität #Dating #Baubranche<br />
#Schreiben<br />
38 Luan, 14<br />
«Es gibt genug Kinder, die geschützt werden müssen,<br />
aber doch nicht vor dem Genderstern!»<br />
#Schwul #Aktivismus #Lehrplan #Eltern #Vorbilder<br />
50 Max, 15<br />
«Meine Online-Kontakte waren meine besten Freunde.»<br />
#Mobbing #SocialMedia #Style #Cartoons<br />
#Schulsozialarbeit<br />
60 Ad J. Ott<br />
«Zwei Drittel der queeren Jugendlichen fühlen sich<br />
an der Schule unwohl.»<br />
#Psychologie #Heteronormativität #Scham #Schule<br />
#Entfaltung<br />
70 Benicio, 15<br />
«Es gibt viele Wege, wie man sich non-binär fühlen kann.»<br />
#Englisch #Non-binär #Rassismus #Puppen #Labels<br />
80 Samira, 16<br />
«Wenn ich sie umarmte, schlug mein Herz richtig fett.»<br />
#Homophobie #Geschlechterrollen #ErsteLiebe<br />
#Gewalt #Bergtal
92 Rayyan, 15<br />
«Die meisten Jugendlichen denken viel mehr nach,<br />
als die Eltern meinen.»<br />
#Arabisch #Non-binär #Trans #SocialMedia<br />
#Gendersprechstunde<br />
102 Lara, 15<br />
«Was man gegen Mobbing tun kann? Nichts.»<br />
#Bergdorf #Trans #Mode #Tagesklinik #ErsteLiebe<br />
116 Lydia Staniszewski<br />
«<strong>Queer</strong>feindlichkeit kann alle treffen.»<br />
#Jugendtreff #<strong>Queer</strong>feindlichkeit #Schulsozialarbeit<br />
#Mobbing #Sensibilisierung<br />
128 Corsin, 17<br />
«Mit dem <strong>Queer</strong> Point wollen wir im Kanton Uri ein<br />
Zeichen setzen.»<br />
#Jugendtreff #Ländlich #Schwul #Schule #Politik<br />
140 Élodie, 17<br />
«Meine Gefühle für dieses Mädchen sind nicht anders,<br />
als wenn ich Gefühle für einen Jungen habe.»<br />
#Lehrplan #Gesang #Ablösung #ErsteLiebe #Labels<br />
152 Sam, 18<br />
«Ich kenne viele Leute, die neurodivergent und queer sind.»<br />
#Theater #Autismus #Non-binär #Psychiatrie #Haarefärben<br />
164 Lou, 16<br />
«Liebe Eltern, schlussendlich ist es das Leben<br />
des Kindes!»<br />
#Community #Psychiatrie #Körper #Medizin #Solarenergie<br />
178 Dagmar Pauli<br />
«Wir alle können von einer Entwicklung profitieren, bei<br />
der unser Geschlechterkorsett sich erweitert.»<br />
#Gendersprechstunde #Medizin #Trans #Selbs t findung<br />
#Generationen
190 Aurelia, 19<br />
«Sollen sie nur gucken, wenn ich mit meiner Freundin<br />
durchs Dorf laufe!»<br />
#Lesbisch #Mobbing #Suizidgedanken #Freundschaft<br />
#Ländler<br />
202 Yaro, 20<br />
«Ich habe alles getan, um das Wort ‹schwul› zu<br />
vermeiden.»<br />
#Religion #Geschlechterrollen #Style #Lachen<br />
#SexualisierteGewalt<br />
216 Charlie, 20<br />
«Mich in meinem Körper wohlzufühlen, gab mir eine<br />
grosse Freiheit zurück.»<br />
#Non-binär #Schule #Feminismus #Generationen<br />
#Aktivismus<br />
230 <strong>Queer</strong> <strong>Kids</strong><br />
«Wir haben alle schon früh gewusst, was wir wollen und<br />
was uns guttut.»<br />
#SichZeigen #Fotografie #<strong>Queer</strong>feindlichkeit #Mobbing<br />
#Kindeswohl<br />
243 Glossar<br />
247 Autorin und Fotografin
Einleitung<br />
Lia weiss, seit sie denken kann, dass sie ein Mädchen ist, obschon<br />
sie bei der Geburt als Junge registriert wurde. Samira<br />
ist überglücklich verliebt, muss ihre Liebe aber vor den Eltern<br />
verstecken. Und Corsin fühlt sich in seinem Bergdorf einsam<br />
und gründet einen Treffpunkt für queere Jugendliche. Lia,<br />
Samira, Corsin und zwölf weitere Kinder und Jugendliche<br />
erzählen in diesem Buch ihre Geschichte – stellvertretend für<br />
die vielen Heranwachsenden, die sich irgendwo auf dem<br />
LGBTQIA+-Spektrum verorten.<br />
Jugendliche sind heute informierter und sensibilisierter<br />
als noch vor ein paar Jahren, queere Schüler*innen wagen<br />
häufiger ein Coming-out. In Umfragen identifizieren sich<br />
immer mehr als nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell,<br />
in der letzten Zürcher Jugendbefragung gar 26% der<br />
weiblichen und 9% der männlichen Jugendlichen in der<br />
neunten Klasse. Zugleich ist das Klima in vielen Schulen rau.<br />
Homo- und Transfeindlichkeit treten teils sehr gewaltsam<br />
zutage. «Schwul» als Schimpfwort ist auf dem Pausenplatz<br />
gang und gäbe und Mobbing weitverbreitet. Wissenschaftliche<br />
Studien zeigen, dass queere Jugendliche ein höheres<br />
Risiko für Suchterkrankungen, Depressionen und Suizidversuche<br />
haben. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger,<br />
dass Eltern, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende und andere<br />
Erwachsene, die mit Jugendlichen zu tun haben, informiert<br />
und sensibilisiert sind. Zwar existieren Ratgeberbücher zum<br />
Thema. Was fehlt, ist jedoch die Sicht der Kinder und Jugendlichen.<br />
In diesem Buch kommen sie zu Wort.<br />
Für meine Recherche habe ich mit rund zwei Dutzend<br />
Kindern und Jugendlichen gesprochen. Gefunden habe ich<br />
sie über Kontakte aus früheren Projekten, im Bekannten-<br />
11
kreis, durch einen Aufruf auf Instagram und durch Mund-zu-<br />
Mund-Propaganda. Es war mir wichtig, eine möglichst grosse<br />
Bandbreite an Lebensentwürfen abzubilden: zwischen Grundschulalter<br />
und Volljährigkeit, in einer Berufsausbildung und<br />
im Gymnasium, Teil einer queeren Community und ausserhalb.<br />
Die porträtierten Jugendlichen leben in der Stadt oder<br />
auf dem Land, sprechen zu Hause Deutsch oder eine andere<br />
Sprache, wachsen mit oder ohne Religion auf. Gemeinsam ist<br />
ihnen die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität,<br />
sexuellen Orientierung und / oder Geschlechterrolle<br />
sowie die Lebensphase.<br />
Was bedeutet es, als Teenager hier und heute zu entdecken,<br />
dass man nicht den heteronormativen Erwartungen<br />
entspricht? «Ich bin lesbisch, und solange wir nicht darüber<br />
reden, geht es allen gut», erzählt Aurelia. Und Max räumt ein:<br />
«Ich würde gern sagen, dass ich stolz bin. Aber ehrlich gesagt<br />
habe ich vor allem Angst, so zu sein.» Luan kann erst nach langem<br />
Ringen mit sich sagen: «Heute empfinde ich es als ein sehr<br />
schönes Gefühl, schwul zu sein.» Keiner der Jugendlichen ist<br />
sich beim Coming-out sicher, dass Erwachsene und Gleichaltrige<br />
positiv reagieren werden. Aber für die meisten ist der<br />
Schritt mit grosser Erleichterung und neuen Erkenntnissen<br />
verbunden. Etwa für die bisexuelle junge Frau, die sich fragt,<br />
wieso sich die meisten Menschen eigentlich nur in ein Geschlecht<br />
verlieben können.<br />
Das Jugendalter ist für jede Person eine Zeit der Selbstfindung,<br />
des Ausprobierens und Verwerfens, bis sie einen Weg<br />
findet, der ihr entspricht. Und auch dieser Weg kann ein vorläufiger<br />
sein und kann sich im Verlauf des Erwachsenenlebens<br />
ändern. Die Aufgabe von Eltern und Lehrpersonen ist<br />
es, die Heranwachsenden auf diesem Weg zu begleiten. Was<br />
aber, wenn dieser Weg durch Gebiete führt, über die die erwachsene<br />
Person kaum etwas weiss, die ihr gar fremd sind?<br />
Die Jugendlichen in diesem Buch beschreiben es als enorm<br />
12
hilfreich, auf Social Media die eigene sexuelle Orientierung<br />
gespiegelt zu sehen oder in einem kleinen Freund*innenkreis<br />
andere Namen und Pronomen ausprobieren zu können, um<br />
herauszufinden, was sich stimmig anfühlt. Eltern und Lehrpersonen<br />
gestehen ihnen diesen Raum jedoch oft nicht zu<br />
und reagieren skeptisch, wenn ihnen ein Kind anvertraut,<br />
dass es nicht cis oder nicht hetero ist.<br />
Viele Erwachsene schauen verwundert auf die junge Generation.<br />
Sie sind mit der Vorstellung aufgewachsen, jeder<br />
Mensch sei entweder Mann oder Frau, und reagieren mit Verunsicherung,<br />
wenn sich Jugendliche als non-binär identifizieren<br />
und althergebrachte Geschlechterkategorien infrage<br />
stellen. Solche Gedanken scheinen manchen Erwachsenen<br />
absurd. «So absurd, wie es etwa für Menschen des 18. Jahrhunderts<br />
geklungen haben mag, wenn jemand die Gleichberechtigung<br />
von Schwarzen Menschen oder Frauen einforderte»,<br />
schreibt die Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli in ihrem lesens<br />
werten Buch «Die anderen Geschlechter». Sie legt den<br />
Erwachsenen einen unvoreingenommenen Blick auf die junge<br />
Generation nahe: «Wir müssen uns auch der Möglichkeit<br />
öffnen, dass hier vielleicht eine völlig neue Denkweise heranreift,<br />
der wir uns stellen müssen; ein Wertewandel, der unsere<br />
Gesellschaft nachhaltig beeinflussen wird.»<br />
Dagmar Pauli ist eine der drei Fachpersonen, die in diesem<br />
Buch Hintergründe zur Lebensrealität der porträtierten<br />
Jugendlichen liefern und Fragen beantworten, die sich<br />
Er wachsene oft stellen. Ad J. Ott von der Pädagogischen Hochschule<br />
Bern gibt Einblick in die Forschung zur Situation von<br />
LGBTQ-Jugendlichen heute. Eine Erkenntnis daraus: Schon<br />
kleine Kinder haben die Abwertung von Menschen, die nicht<br />
heterosexuell sind oder nicht den Geschlechternormen entsprechen,<br />
verinnerlicht. <strong>Queer</strong>e Kinder und Jugendliche<br />
schämen sich oft für ihr Anderssein und geben sich selbst die<br />
Schuld dafür. Dies auch, weil das Thema sexuelle und ge-<br />
13
schlechtliche Vielfalt bis heute nicht selbstverständlich und<br />
unaufgeregt Teil des Unterrichts ist. Vor diesem Hin tergrund<br />
empfiehlt die Sozialarbeiterin Lydia Staniszewski Erwachsenen,<br />
mit Kindern und Jugendlichen über <strong>Queer</strong>feindlichkeit,<br />
Sexismus und Rassismus zu sprechen, und gibt Hinweise,<br />
wie Schulen und Jugendtreffs eine Atmosphäre schaffen können,<br />
in der sich alle Jugendlichen wohlfühlen.<br />
In diesem Buch erzählen 15 Kinder und Jugendliche aus<br />
ihrem Leben und zeigen sich auf einem Foto. Dabei war es mir<br />
wichtig, Sichtbarkeit herzustellen und zugleich Porträtierte<br />
zu schützen, die in ihrem Umfeld nicht out sind. Manche<br />
mussten oder wollten ihr Gesicht verbergen, teilweise wurden<br />
auch Namen und Eckdaten geändert. Andere wollten auf<br />
dem Foto erkennbar sein, wie etwa Sam, der sagt: «Ich kann<br />
zeigen: Eine Person, die viel Bullshit erlebt hat, steht trotzdem<br />
stark oder sogar noch stärker als vorher da.» Das letzte<br />
Wort haben die Kinder und Jugendlichen. In einem Gruppengespräch<br />
kommentieren sie die Interviews mit den Fachpersonen<br />
und tauschen sich darüber aus, wie es sich anfühlt, das<br />
eigene Leben in einem Buch wiederzufinden.<br />
Vor 12 Jahren erschien mein Buch «Familienbande». Darin<br />
porträtierte ich verschiedene Konstellationen, von Patchwork-<br />
über Regenbogenfamilien bis hin zu Wohnge meinschaften<br />
mit Kindern. Damals hiess es, homosexuelle Eltern<br />
seien egoistisch, weil sie ihre Kinder Mobbing aussetzten.<br />
Auch die Erziehungsfähigkeit schwuler Männer wurde teilwei<br />
se infrage gestellt. Seither hat sich viel verändert: Andere<br />
Fa milienformen als die heterosexuelle Kleinfamilie sind<br />
selbst verständlicher geworden, die Ehe für alle erlaubt es auch<br />
gleichgeschlechtlichen Paaren, ein Kind zu adoptieren oder<br />
mittels Samenspende zu zeugen. Heute entzündet sich die<br />
Kritik mehr am Umgang mit trans Kindern und Jugendlichen<br />
und an der geschlechtergerechten Sprache. LGBTQIA+-Themen<br />
werden polarisiert diskutiert und politisch instrumenta-<br />
14
lisiert. Zugleich sind queere Lebensentwürfe – zumindest<br />
hierzulande – akzeptierter denn je.<br />
Mit diesem Buch hoffe ich, zu einer unaufgeregten Diskussion<br />
beizutragen. Dialog und Vermittlung liegen mir bei diesem<br />
Thema besonders am Herzen. Darum plane ich eine Reihe<br />
von Lesungen und Gesprächen, für ein Publikum jeden Alters.<br />
Aktuelle Veranstaltungen sowie weitere Informationen zum<br />
Buch finden sich auf www.queerkids.ch.<br />
Die Begegnungen mit den Jugendlichen waren für mich<br />
sehr inspirierend. Wenn ich abends im Bett lag und einzuschlafen<br />
versuchte, gingen mir manche Gespräche noch nach.<br />
Etwa das mit Christelle, die fragte: «Wie willst du wissen, dass<br />
es noch etwas anderes gibt, wenn es dir nicht beigebracht<br />
wird?» Ich malte mir eine Welt aus, in der schon kleine Kinder<br />
von der ganzen Vielfalt des Lebens erfahren. Eine Welt, in der<br />
Erwachsene auf ein Coming-out nicht mit der Frage «Bist du<br />
sicher?» reagieren, sondern mit der Antwort: «Ich freue mich<br />
für dich, dass du das herausgefunden hast. Ich unterstütze<br />
dich, wo auch immer dein Weg dich noch hinführen wird.»<br />
Mein grosser Dank gilt allen Jugendlichen, die mir ihre Geschichte<br />
erzählt haben. Euch gehört die Zukunft.<br />
Christina Caprez, im Sommer 2024<br />
15
Lia, 10<br />
«Für die Kinder war<br />
ich die ganze Zeit schon<br />
ein Mädchen.»<br />
#Fussball #Jugendtreff #Trans<br />
#Community #Film
Lia lebt mit ihren Eltern in einer Drei-Zimmer-Altbauwohnung in<br />
Bern. Am Eingang begrüsst mich eine aufgeweckte Zehnjährige<br />
in einem weiten violetten Strickpulli und verwaschenen Jeans.<br />
Die blonden glatten Haare reichen ihr bis zum Kinn, an einem<br />
Lederband um den Hals trägt sie einen hellblauen Fischschwanz<br />
als Anhänger. Wir setzen uns im Wohnzimmer an den Esstisch.<br />
Lias Mutter stellt Nüsse und Saft bereit und verschwindet dann<br />
im Nebenraum.<br />
Vor Lia auf dem Tisch liegt ein Heft aus Klarsichthüllen. Die<br />
Fünftklässlerin hat in Regenbogenfarben den Titel «Meine Biografie<br />
von Lia, 5/6 D» gezeichnet, daneben die Sprüche: «Angst<br />
beginnt im Kopf. Mut auch» und «Du musst nicht spitze sein,<br />
um anzufangen. Aber du musst anfangen, um spitze zu werden.»<br />
Ein Foto zeigt Lia als Kleinkind zwischen ihren Eltern, alle<br />
drei tragen Sonnenbrillen. Lia, mit kurzen blonden Locken, trägt<br />
die pinke Brille verkehrt herum auf der Nase und lacht keck in<br />
die Kamera.
Ich bin Lia, und mich interessiert eigentlich fast alles, was<br />
mit Sport zu tun hat: Ich schwimme sehr gern, und ich spiele<br />
in einem Fussballclub. Ich höre mega gern Musik und tanze.<br />
Ich gehe ins Modern Ballett, das ist ein bisschen alle Tanzrichtungen<br />
zusammengemixt. Ich mache sehr gerne Handarbeiten,<br />
Stricken zum Beispiel. Und ich treffe mich gerne mit<br />
meinen Freundinnen. Wir laufen im Quartier herum oder<br />
gehen ins Schwimmbad. Ich habe mich entschieden, bei diesem<br />
Buch mitzumachen, weil mich das Thema interessiert.<br />
Wenn es andere Kinder gibt, die auch trans sind, die mehr<br />
darüber wissen wollen.<br />
Vor Kurzem mussten wir in der Schule eine Biografie über<br />
uns und unsere Familie schreiben. Wir konnten die Themen<br />
selber wählen, und da habe ich eben auch über trans geschrieben,<br />
weil das ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Seit ich<br />
zweieinhalb Jahre alt bin, wollte ich immer ein Kleidchen anziehen.<br />
Ich trug oft einen Rock von Mama über den Schultern,<br />
sodass es aussah wie ein Kleid. Dann hat mich meine Mama<br />
mit Lippenstift schminken müssen, und wir haben Prinzessin<br />
gespielt, stundenlang, fast jeden Tag, auch mit meinem<br />
Papa. Im Kindergarten wollte ich in jedem Spiel «Lia» heissen.<br />
Ich wollte nur noch pinke Sachen anziehen, und ich fand<br />
«Anna und Elsa» aus dem Disneyfilm «Frozen» toll. Meine<br />
Eltern haben sich dann beraten lassen, ob es nur eine Phase<br />
ist. Ich habe meinen Eltern auch gesagt, dass ich ein Mädchen<br />
sein und Lia heissen will. So haben sie bald gemerkt, dass es<br />
keine Phase ist. Am Anfang fiel es ihnen noch schwer. Wenn<br />
ich hingefallen bin, riefen sie mich bei meinem Jungennamen<br />
und korrigierten sich dann schnell.<br />
Als ich viereinhalb Jahre alt war, haben wir einen Kuchen<br />
gebacken und sind damit in den Kindergarten gegangen. Wir<br />
haben dann halt gesagt, dass ich jetzt die Lia bin. Für die Kinder<br />
war das kein Ding, für sie war ich die ganze Zeit schon ein<br />
Mädchen. Weil ich vorher schon immer gesagt hatte, dass ich<br />
19
ein Mädchen bin und Lia heissen will. Das ist jetzt in der<br />
Schule fast mehr ein Ding, da gibt es Kinder, die fies zu mir<br />
sind. So in der dritten Klasse hat es angefangen. In der Tagesschule<br />
(Betreuung ausserhalb des Unterrichts) haben sie gerufen:<br />
«Hallo, du Junge!» Sie haben laut herumgeschrien und<br />
allen gesagt, dass ich ein Junge sei. Jetzt in der Fünften haben<br />
ein paar Kinder einmal beim Mittagessen gespottet: «Ich<br />
verste he es nicht, wie man so sein kann!» Sie hörten nicht auf<br />
zu lästern. Es war zwar eine erwachsene Person im Raum,<br />
aber die Kinder sprachen so leise, dass sie es nicht hören<br />
konnte. Immer, wenn ich es der Erwachsenen sagen wollte,<br />
sagten sie: «Wir hören auf, sorry, sorry!» Aber dann machten<br />
sie trotzdem weiter. Da bin ich mega ausgerastet und habe<br />
geschrien: «Jetzt haltet alle eure Fresse!» Ich rannte nach<br />
draussen, und zwei Freundinnen kamen mir nach. Es lag<br />
Schnee, und wir taten so, als wären die fiesen Kinder ein<br />
Schneeball. Wir schlugen mega fest auf den Schnee. Die Lehrerin<br />
schimpfte dann mit den Kindern, die mich ausgelacht<br />
hatten. Seither haben sie es nicht mehr gemacht, und ich<br />
hoffe, es bleibt auch so.<br />
Ich habe dreimal eine neue Lehrerin bekommen: in der ersten,<br />
dritten und fünften Klasse. Jedes Mal haben meine Eltern<br />
vorher mit der Lehrerin geredet und ihr gesagt, dass ich ein<br />
trans Mädchen bin. Dieses Jahr war ich bei dem Gespräch dabei.<br />
Nervös war ich nicht, denn die Lehrerinnen haben es alle<br />
super akzeptiert. Wenn jemand fies zu mir war, waren sie<br />
immer auf meiner Seite. Fragen haben sie schon gestellt, aber<br />
nie dumme Fragen. Sie fragten zum Beispiel, wie sie mir helfen<br />
könnten, wenn ich gemobbt würde und es mir deswegen<br />
schlecht geht. Sie redeten auch an einem Elternabend darüber:<br />
«Es gibt ein Kind in der Klasse, das trans ist.» Die Eltern<br />
der anderen Kinder haben es alle super angenommen<br />
und verstanden.<br />
In der Vierten hatten wir Schwimmunterricht mit einer<br />
20
anderen Klasse. Dort habe ich mich bei den Mädchen umgezogen.<br />
Ich nahm einfach ein Handtuch um die Hüfte. Im Sport<br />
war es nie ein Problem, da müssen wir uns ja nie nackt ausziehen,<br />
nur die Sportsachen an- und ausziehen. Der Sportunterricht<br />
ist bei uns nicht getrennt, Mädchen und Jungs<br />
turnen zusammen. Und wenn, würde ich zu den Mädchen<br />
gehen. Die Lehrerinnen sagen, ich darf entscheiden, wo ich<br />
hingehe.<br />
Ich wusste früher nicht, was trans ist. Ich sagte halt einfach:<br />
«Ich bin ein Mädchen.» Ein Mädchen oder eine Frau ist<br />
für mich eine Person, die sagt: «Ich bin ein Mädchen» oder<br />
«Ich bin eine Frau». Wenn irgendein Junge als Witz sagt: «Ich<br />
bin eine Frau», dann ist er keine Frau. Aber sonst, wenn jemand<br />
sagt: «Ich bin eine Frau», dann ist diese Person eine<br />
Frau. Das ist für mich ganz klar. Es gibt auch Menschen, die<br />
sagen: «Ich bin eine Frau und ein Mann, manchmal so, manchmal<br />
so.» Das gibt es auch. Aber man kann jetzt nicht jeden<br />
Tag switchen von einem zum anderen. So im Stil: «Heute bin<br />
ich eine Frau, und eine Woche später, ah nein ich bin doch ein<br />
Mann, ah nein, ich bin doch eine Frau.»<br />
Lia streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich frage<br />
sie nach Büchern, die ihr geholfen haben, besser zu verstehen,<br />
was mit ihr los ist. Sie springt auf und holt zwei: eine Sammlung<br />
von Kurzgeschichten über Transgeschlechtlichkeit und ein Kinderbuch<br />
über einen Jungen, der gerne Mädchenkleider trägt.<br />
Das hier ist cool: «Von sie zu er zu mir». Und ich habe noch<br />
eines, das heisst «Kicker im Kleid». Diese Bücher sind mir<br />
wichtig, weil ich etwas über das Thema wissen will. Hier im<br />
Quartier kenne ich keine trans Leute, und dann fühlt man<br />
sich manchmal allein. Wenn ich so ein Buch lese, habe ich das<br />
Gefühl, ich bin nicht allein damit.<br />
Letzten Sommer bin ich mit meiner Mama auf eine gros-<br />
21